Fb 4906³ 20 1908.8199 „Die Welt, von der man nicht ſpricht!" (Aus den Papieren einer Polizei⸗Beamtin.) Zuſammengeſtellt und bearbeitet von Anna Pappritz. 3. Auflage. Leipzig Felix Dietrich 1908. „Die Welt, von der man nicht ſpricht!" (Aus den Papieren einer Polizei⸗Beamtin.) Zuſammengeſtellt und bearbeitet Anna Pappritz. von 3. Auflage. 1. Aufl.1907. Leipzig Felix Dietrich 1908. 4906³ Fb 20 Ex Biblioth. Regia Berolinensi. Inhalt. I. ,Was gehts uns an?“ . . . . . . . . . . . . . . Seite 5 II. Wer ſind die Opfer der Proſtitution?. . . . . . . . . . . 7 III. Lebenslauf der Proſtituierten . . . . . . . . . . . . „, 14 IV. Gibt es „geborene“ Proſtituierte? . . . . . . . . . . . „, 28 V. Sind Proſtituierte zu retten?. . . . . . . . . . . . . „, 34 VI. Bordellſtraßen. . . . . . . . . . . . . . . . . . „ 29 VII. Reformvorſchläge . . . . . . . . . . . . . . . . . „. 45 I. „Was geht's uns an?“ Neben und unter der Sphäre der bürgerlichen Welt, mit ihrer Arbeit und ihren Freuden, mit ihren Familienbeziehungen, ihren Beſtrebungen, Erfolgen und Enttäuſchungen, die täglich vom hellſten Licht der breiteſten Öffentlichkeit beſtrahlt werden, gibt es eine zweite Welt, von der man nicht ſpricht, oder beſſer geſagt, von der man nicht öffentlich ſpricht. Man weiß, oder man ahnt wenigſtens ihre Exiſtenz, aber man ignoriert ſie; und wenn einmal durch ein Verbrechen oder einen öffentlichen Skandal ein grelles Schlaglicht auf dieſe Welt geworfen wird, wenn einige Blaſen aus dieſem übel⸗ riechenden Sumpfe emporſteigen, ſo iſt jeder bemüht, gar bald den Schleier wieder über dieſe Zuſtände zu decken und acht Tage ſpäter betreibt man ihnen gegenüber dieſelbe Vogel⸗Strauß⸗Politik, wie vordem. Der Schleier aber, mit dem die wohlanſtändige bürgerliche Ge⸗ ſellſchaft die Welt, von der man nicht ſpricht, zu verdecken ſucht, iſt nicht dicht genug, um ſie zu verhüllen, ſondern ſo durchſichtig, um die Phantaſie anzuſtacheln, die Neugier zu reizen; der Schleier ver⸗ deckt die häßlichſten Abgründe und läßt nur das Verlockende, die Sinne kitzelnde durchſchimmern. Darin liegt die große moraliſche Gefahr dieſer Verſchleierung. Selbſt die Schriftſteller, die in dieſe Welt hineingeleuchtet haben, wagten nie, ſie in ihrer nackten Gräßlichkeit zu ſchildern und haben auf dieſe Weiſe, wenngleich vielfach von den beſten Mötiven beſeelt, nur dazu beigetragen, die pikante Literatur zu bereichern und die Halbwelt mit einer Glorie zu umgeben, die durch ihren trügeriſchen Schein manch argloſes Gemut ins Verderben locken kann. Der Jüngling, deſſen Knabenphantaſie bereits durch ſchlechte Lektüre und die noch ſchlechteren Witze und Anſpielungen ſeiner älteren Kameraden vergiftet wurde, brennt darauf, dieſe Schleier zu lüften und hinabzutauchen in die „Welt, von der man nicht ſpricht“, deren genaue Kenntnis ihm aber als notwendigſtes Attri⸗ but der Männlichkeit erſcheint. Die Phantaſie der jungen Mädchen aber ſpielt in lüſterner Neugier, um das verbotene Grenzgebiet der Welt, „in der man ſich nicht langweilt“, und die Frauenwelt lächelt nachſichtig, wenn die Männer ſich in dieſer Welt amüſieren und austoben. „Was geht's uns an? was ſchadet es uns?“ ſagen ſie gleichgültig. Die tugendſtrengen Frauen aber wollen nichts hören 6 und ſehen, von der Welt, in der „jene ſchlechten, gemeinen Frauen⸗ zimmer“ herrſchen, die ſie aufs tiefſte verachten und heimlich viel⸗ leicht ein wenig — beneiden. Weiſt man auf das Elend der unglücklichen Opfer hin, die in dieſem Sumpfe verſinken, ſo erklären ſie kalt: „Dieſe Weiber haben's ja nicht anders gewollt — nicht beſſer verdient“, und jedem Einwand ſetzen ſie ein gleichgültiges: „Was geht's uns an?“ entgegen. Was geht's uns an? Dieſe gleichgültige Frage würde auf der Lippe erſtarren und ſich in blaſſes Entſetzen verwandeln, wenn man dieſen Ahnungsloſen einmal einen Einblick gewähren könnte, in jene „Welt, von der man nicht ſpricht“, wenn man ihnen den ganzen Jammer an Elend, Krankheit, Schmerzen, tieriſcher Gier, perverſer Grauſamkeit und ſeelentötender Öde aufdecken könnte und ihnen zeigen, daß dieſe Welt uns unmittelbar angeht, daß tau⸗ ſend Fäden uns mit ihr verbinden, daß ſie nicht außerhalb oder unterhalb „unſerer Welt“ exiſtiert, ſondern eng mit ihr verwachſen iſt. Dieſelben Bande, die man ſonſt im bürgerlichen Leben als „Bande des Blutes“ oder als „verwandtſchaftliche Beziehung“ hoch und heilig hält, verknüpfen uns mit dieſer Welt und ihren Be⸗ wohnern. Wer kann mit Sicherheit behaupten, daß er unter jenen „Verworfenen“ nicht eine „natürliche“ Schweſter, Nichte oder Stief⸗ tochter hat? Finden doch die unehelichen Kinder am häufigſten ihr Ende im Sumpf der Proſtitution.. Die tugendſtrenge Frau, die mit verächtlichem Abſcheu ihr Kleid zuſammenrafft und die Tram⸗ bahn verläßt, wenn eins „jener Weſen“ ſich neben ſie ſetzt, ahnt nicht. daß vielleicht ihr Bruder, oder gar ihr Gatte, in den intimſten Be⸗ ziehungen mit jener Verachteten geſtanden hat, die Lippen geküßt, deren Hauch ſie mit Ekel erfüllt, den Körper geliebkoſt, deſſen Nähe ſie wie eine Beleidigung empfindet. Vielleicht ſpielten ſich dieſe Be⸗ ziehungen auch nicht in der Vergangenheit ab, ſondern ſie beſtehen fort, und ahnungslos küßt manche Mutter die „reine“ Stirn ihres Sohnes, auf der noch vor wenig Stunden die Lippen der geſchmink⸗ ten. Dirne geruht haben. „Jede anſtändige Frau iſt mit Proſtituierten verſchwägert! ſagte einſt ein Redner in der Verſammlung eines Sittlichkeitsvereins. Dieſes Wort enthält ebenſoviel Wahrheit, wie jener Ausſpruch einer Proſtituierten: „Die anſtändigen Frauen haſſen und verachten uns deswegen ſo, weil ſie von den Männern nur das kriegen, was wir ihnen übrig laſſen.“ Eine höhere Auffaſſung hatte eine andere Proſtituierte von ihrem Beruf: „Die anſtändigen Frauen ſollten uns doch eigentlich zu Dank verpflichtet ſein,“ ſagte ſie, „wir erhalten ihnen die Männer geſund, und wenn ſie in der Ehe geſchont werden müſſen, ſo ſind wir eben da; wir müſſen uns verbrauchen laſſen, damit ſie ſich pflegen können.“ Dieſe Auffaſſung (der man übrigens ſehr häufig begegnet), daß die Proſtituierte geſundheitserhaltend wirkt, erſcheint dem Uneingeweihten ebenſo frivol wie unverſtändlich, iſt aber voll⸗ kommen erklärlich, wenn man die ſtaatlichen Einrichtungen und Be⸗ 7 dingungen kennt, unter denen die Proſtituierten ihrem traurigen Gewerbe nachgehen. Sie fühlen ſich direkt als „Staatsbeamtinnen“, und manche hat ſich ſchon über die Ungerechtigkeit beklagt, daß ſie nicht penſionsberechtigt iſt. Wie aber iſt eine ſolche Verwirrung der ſittlichen Begriffe möglich? Wir können die Antwort auf dieſe Frage nur finden, wenn wir es einmal wagen, hineinzuleuchten in jene Welt, von der man nicht ſpricht und ſie zu ſehen, wie ſie in Wirklichkeit beſchaffen iſt. Wir wollen ihr den trügeriſchen Schleier von dem Antlitz reißen, die Schminke abwaſchen, die betäubenden Parfüms durch den ſcharfen Lufthauch der Wahrheit verſcheuchen und ſie in ihrer ganzen Häß⸗ lichkeit, Verderbtheit und ihrem herzzerreißenden Elend zeigen. II. Wer ſind die Opfer der Proſtitution? Zuerſt müſſen wir die Antwort auf die Frage ſuchen: Aus welchen Schichten rekrutieren ſich die Opfer jener dunklen Sphäre; welche Lebensumſtände haben ſie hineingeſchleudert in den Sumpf? Die Antwort der Philantropen lautet: „Die Not — das ſoziale Elend.“ Die Sittlichkeitsapoſtel aber ſagen: „Nein, es war die Sünde, der Hang zum Wohlleben, zum Nichtstun.“ — „Angeborene Laſterhaftigkeit — Prädeſtination“, behaupten dagegen die Ärzte und Sozialpolitiker aus der Schule Lombroſos. Wer hat nun recht? Einige Beiſpiele aus dem wirklichen Leben werden beſſer als langatmige Abhandlungen eine Antwort auf dieſe Fragen geben. Ein 17 jähriges Mädchen war von ſeinem Vater ſo mißhandelt worden, daß es ſchwachſinnig wurde. Es lief von Hauſe fort, konnte aber keinen Dienſt ordentlich verſehen und wurde ſchließlich wegen Herumtreibens auf der Polizei eingeliefert. Dies iſt einer jener Fälle, von dem ein oberflächlicher Be⸗ urteiler ſagen würde: „Da ſieht man's ja, wie recht Lombroſo hat; hier liegt augenfällig die Prädeſtination zur Proſtitution vor.“ Man ſieht ſich einem ſchwachſinnigen Mädchen gegenüber, das nicht reif iſt für die Idiotenanſtalt, aber ebenſowenig reif, den Kampf ums Daſein aus eigener Kraft aufzunehmen, und ſchnell iſt man mit dem grauſamen Urteil bei der Hand: „Zur Proſtitution prä⸗ deſtiniert.“ Es iſt ja auch viel bequemer, ein ſolches, mit dem Mantel der Wiſſenſchaft verbrämtes Urteil zu fällen, als ſich zu fragen: „Was wäre aus dem Mädchen geworden, wenn es unter der Obhut und Fürſorge liebevoller, pflichttreuer Eltern aufge⸗ wachſen wäre? Und da das Schickſal ihm dies Glück verſagte, wäre es nicht Pflicht der Menſchlichkeit geweſen, das unglückliche Geſchöpf rechtzeitig ſeinem unmenſchlichen Vater zu entreißen und es in geeignete Pflege zu geben?“ Dieſe Fragen, die an das Ge⸗ wiſſen, das Pflichtgefühl und die Selbſtloſigkeit der Menſchen appel⸗ 8 lieren, ſind aber höchſt unbequem, man ſchiebt ſie gern beiſeite und beruhigt ſein Gewiſſen mit dem bequemen Schlagwort „Prädeſti⸗ nation“. Jetzt iſt das unglückliche Geſchöpf auf Veranlaſſung einer menſchenfreundlichen Polizeiaſſiſtentin in eine Erziehungsanſtalt ge⸗ bracht, wo man es nur mit großer Mühe an ein geordnetes Leben gewöhnen kann. Wird der ſchwierige Verſuch gelingen? das bleibt natürlich hingeſtellt. Vor 10 bis 12 Jahren wäre es natürlich leichter geweſen. Das iſt ja eben das Unheilvolle, daß alle derartige Rettungsverſuche meiſt zu ſpät einſetzen und darum vielfach ergeb⸗ nislos bleiben. Ein zweiter Fall ſcheint die Lombroſoſche Theorie noch mehr zu beſtätigen: Ein 21 jähriges Mädchen aus ordentlicher Familie war durch unmäßigen Alkoholgenuß ſo tief im Laſter verſunken, daß man kaum glaubte, ſie noch retten zu können. Sie kam in ein Mäd⸗ chenaſyl, hielt ſich dort einige Zeit gut, wurde entlaſſen, fing dann aber von neuem an zu trinken und wurde wieder auf der Polizei ein⸗ geliefert. Zum zweitenmal wurde ſie in ein Magdalenenaſyl ge⸗ bracht, wo ſie ſich bis jetzt gut hält. Es war leider nicht möglich, die Familiengeſchichte dieſes Mäd⸗ chens zu ermitteln; aller Wahrſcheinlichkeit nach aber war bereits der Vater ein Trinker und hat dieſe traurige Neigung, verbunden mit der ſie faſt immer begleitenden Willensſchwäche, auf ſein Kind vererbt. Hier hätte alſo die bewahrende Fürſorge bereits beim Vater einſetzen müſſen. Er hätte in eine Anſtalt gemußt und vor allen Dingen, er hätte auf die Fortpflanzung verzich⸗ ten müſſen! Gewiß iſt Lombroſos Lehre inſoweit ganz richtig, als es un⸗ zählige Menſchen gibt, die dem Vagabundentum, der Proſtitution anheim fallen, weil ſie nicht die ſittliche Kraft und das moraliſche Verantwortungsgefühl haben, um ein geordnetes, arbeitſames Leben zu führen, um den Verſuchungen zu widerſtehen, die gerade in den niederen Volksſchichten der unerfahrenen Jugend auflauern. Dieſe ſind aber nicht von der Natur für ihr trauriges Los vorher⸗ beſtimmt, nicht prädeſtiniert, ſondern durch Vererbung und ſoziale Umſtände prädisponiert, das heißt, ſie ſind weni⸗ ger widerſtandsfähig dem Schlechten gegenüber, leichter empfänglich für die Verlockungen des Laſters. Dieſelben Menſchen würden, in einem andern Milieu aufgewachſen, nicht unrettbar dieſelben Bahnen einſchlagen, ſondern zu guten, anſtändigen Mitgliedern der menſch⸗ lichen Geſellſchaft heranwachſen. Die ſoziale Fürſorge müßte ſich alſo ganz beſonders dieſer erblich belaſteten, durch ihre häuslichen Ver⸗ hältniſſe doppelt gefährdeten Kinder annehmen, dann würde es ge⸗ lingen, einen großen Prozentſatz der ſogenannten „Prädeſtinierten“ vor dem Hinabgleiten in den Sumpf der Proſtitution zu bewahren. Dieſe Erkenntnis — ſo unbequem ſie vielen ſein mag — aber legt der Allgemeinheit die Pflicht auf, alles daranzuſetzen, daß die trau⸗ rigen Konſequenzen vermieden werden. Tut ſie es nicht, ſo macht 9 ſich eben die Allgemeinheit zur Mitſchuldigen an dem leider immer anwachſenden Verbrechertum in jeder Geſtalt. Wenn wir in den Papieren einer Polizeiaſſiſtentin leſen: „Ein einjähriges Mädchen wurde in troſtloſem Zuſtande aufgefunden. Es war körperlich und geiſtig zurückgeblieben, hatte die engliſche Krankheit und machte einen ganz blöden Eindruck. Die Mutter, eine ledige Fabrikarbeiterin, die noch vier andere Kinder hatte, gab an, ſie hätte das Kind zuerſt in Koſt gegeben, mußte es aber dann wieder zu ſich nehmen, weil ſie kein Koſtgeld zahlen konnte. Da ſie ſelbſt auch nichts Rechtes zu eſſen habe, könne ſie dem Kinde auch nichts als ſchwarzen Kaffee geben, und dabei könne ſich das Kind eben nicht entwickeln —“ ſo müſſen wir uns doch fragen: „Was wäre aus dem Kinde geworden, wenn man es nicht rechtzeitig dieſen Verhältniſſen entriſſen und es in ein Kinderaſyl gegeben hätte? Wenn der Tod es nicht erlöſt, ſo gibt folgender Fall wohl die beſte Antwort auf dieſe Frage: „Luiſe L., 30 Jahre alt, erzählte bei ihrer Einlieferung, daß ihre Eltern ſie ſchon zum Schlechten angehalten hätten, als ſie noch ganz klein war. Sie habe ſchon alle Vergehen verübt, die man nur verüben könne: Diebſtahl, Betrug, Meineid, Kuppelei, Urkunden⸗ fälſchung uſw. Jetzt komme ſie aus der Schweiz, wo ſie 3 Jahre im Zuchthaus wegen Beihilfe zum Raub geweſen ſei. „Ich kann alles,“ fügte ſie hinzu, „nur nichts Rechtes. Ich habe daheim nie etwas Gutes geſehen und gehört. Mein Vater war mehrfach im Zuchthaus und iſt vor einem Jahre bei einer Rauferei ums Leben gekommen. Meine Mutter iſt faſt immer betrunken, zurzeit verbüßt ſie eine längere Gefängnisſtrafe wegen Kuppelei, mein Bruder des⸗ gleichen wegen Diebſtahls, eine Schweſter iſt im Bordell, ein Bruder und eine Schweſter ſind verſchollen. Einen geſitteten Lebenswandel kann ich mir gar nicht vorſtellen, ich glaube auch nicht, daß ich mich dafür eignen würde. An den Teufel glaube ich nicht, an Gott und einen Heiland noch weniger. Wenn ich mich einmal tot getrunken habe, dann ſterbe ich, gerade, wie ein anderer Menſch auch. Sie ſetzte jedem Beſſerungsverſuch hartnäckigen Widerſtand ent⸗ gegen. Das Verbrechertum der Eltern iſt eben in den häufigſten Fällen die Urſache von Kinderelend und Kinderlaſter, das ſeinerſeits dann wieder in den Sumpf der Proſtitution führt. „Das eben iſt der Fluch der böſen Tat, daß ſie fortzeugend Böſes muß gebären.“ Vielfach werden die Töchter von ihren eigenen Müttern direkt der Proſtitution zugeführt. Sie tun den erſten verhängnisvollen Schritt ahnungslos — beſonders in voller Unkenntnis der grauen⸗ haften Folgen. So wurde ein 16 jähriges Mädchen von ihrer Mutter zu einem höheren Offizier geſandt. „Sie ſollte nur einen Gruß beſtellen, dann wüßte der Herr ſchon Beſcheid.“ Der Herr empfängt ſie denn auch mit der größten Liebenswürdigkeit, ſetzt ihr ein Glas 10 Wein vor. Das Kind wird infolge des ungewohnten Genuſſes bald betrunken; der Herr vergewaltigt ſie und ſchickt ſie mit einem ſchönen Gruß und einem 20 Markſtück heim zur Mutter. Für das Mädchen bedeutete dies Erlebnis das erſte Hinab⸗ gleiten auf. der ſchiefen Ebene, die ins Verderben führt. Der Ehren⸗ mann aber hat ſich ſicherlich keine grauen Haare darüber wachſen laſſen, daß er ein Menſchenleben auf dem Gewiſſen hat. Er wird ſich ſicherlich mit dem Mephiſtoausſpruch getröſtet haben — falls ihn wirklich einmal ſein Gewiſſen etwas beunruhigt haben ſollte —: „Sie war die Erſte nicht und wird nicht die Letzte ſein.“ Die Mutter aber würde, einem Vorwurf gegenüber, ſicherlich geantwortet haben, wie dies in ähnlichen Fällen vielfach geſchieht: „Einer nimmt ſie ſich doch mal, von dem weiß ich wenigſtens, daß er ein anſtändiger Menſch iſt!“ Unter „anſtändiger Menſch“ verſtehen dieſe Frauen, daß er zahlt und das Kind nicht mißhandelt. Ja, ſie ſind erſtaunlich beſcheiden, dieſe Mütter aus dem Volke, die es als ſelbſtverſtändlich anſehen, daß ihre Töchter das Proſtitutionsmaterial zum Genuß für die herrſchenden Klaſſen ab⸗ geben. Aber wehe dem, der einmal das Gift der Unzufriedenheit und Empörung in dieſe beſcheidenen Seelen träufelt! Er wird als „Um⸗ ſtürzler“ gebrandmarkt, während die beſtehenden Zuſtände ſich ſchein⸗ bar mit den Anſichten über die göttliche Weltordnung der wohl⸗ geſinnten Staatserhalter ganz gut vertragen. Derartige Fälle aber ſtehen durchaus nicht vereinzelt da. Eine Polizeiaſſiſtentin ſchreibt darüber: „Meiner Erfahrung nach be⸗ ginnen die meiſten Proſtituierten das liederliche Leben zwiſchen dem 15. und 18. Jahre. Sie ſtammen größtenteils aus Arbeiterfamilien, wohingegen ihre Verführer meiſtenteils den beſſeren Kreiſen an⸗ gehören. Die Veranlaſſung zum erſten Fall iſt in erſter Linie die überredung vonſeiten des Mannes, die Ausſicht auf einen leichten Verdienſt, Stellenloſigkeit, Not, Zerwürfnis mit den Angehörigen und ſo weiter. Die Hauptrolle ſpielt nicht der Geliebte, ſondern das Geld, und da die Männer ſich hauptſächlich für ganz jugendliche Mädchen intereſſieren, ſo werden die Kupplerinnen für dieſe (für ſogenanntes „Kalbfleiſch“) am beſten bezahlt. Es iſt klar, daß die Herren, d. h. die gut zahlenden, die Urheber der ſchrecklichen Zu⸗ hälter⸗ und Kuppeleiwirtſchaft ſind. Bei Kuppeleiprozeſſen aber wird allein die Kupplerin und die ſogenannte „Dirne“ geſtraft. Man ſchont ſorgfältig die Männer, die der Kupplerin ihre Ware abge⸗ nommen haben. Nicht einmal die Namen werden in öffentlicher Sitzung genannt. Ja, man iſt den Herren noch dankbar, wenn ſie nachträglich Anzeige machen. Selbſt ein Kriminalbeamter, der einer derartigen Verhandlung beigewohnt hatte, ſagte: „Wenn man dar⸗ über nachdenkt, ſo müßte man als anſtändiger Menſch empört ſein. Wie wenige Menſchen aber denken über derartige Verhältniſſe überhaupt nach?! 11 „Solche Dinge ſind immer vorgekommen und werden immer wieder vorkommen; wir können ſie nicht aus der Welt ſchaffen!“ das iſt der billige Troſt, mit dem man ein unbequemes Nachdenken über ähnliche Vorkommniſſe beiſeite ſchiebt. Und doch ließen ſich dieſe Zuſtände, wenn auch nicht aus der Welt ſchaffen, ſo doch er⸗ heblich einſchränken und mildern, wenn man den Verfehlungen auf dem Gebiete der geſchlechtlichen Sittlichkeit gegenüber das doch ſonſt gültige Prinzip der Gerechtigkeit, der Gleichheit aller vor dem Geſetz wahren wollte. Dies geſchieht aber nicht, man ſtraft nur die Frau, während man den Mann, der durch ſeine Nachfrage doch erſt die Proſtitution ſchafft, frei ausgehen läßt. Wie iſt dieſe Ungerechtig⸗ keit zu erklären? Wie iſt es möglich, daß der Staat dem Uebel der Proſtitution gegenüber eine ſo unlogiſche und darum unwirk⸗ ſame Kampfesweiſe führt? Der Grund dafür iſt darin zu ſuchen, daß die Männerwelt erklärt: „ſie brauche die Proſtitution“. Es iſt alſo nirgends der wirklich feſte Wille vorhanden, die Proſtitution auszurotten, ſondern man iſt nur bemüht, ſie zu aſſanieren, d. h. phyſiſch unſchädlich zu machen und ihre Erſcheinungsformen ſo zu geſtalten, daß ſie äußerlich kein allzu anſtößiges Gebahren an den Tag legt. Darum ſchuf der Staat die Reglemen⸗ tierung der Proſtitution. Ihr iſt es zu danken, daß das ſittliche Gefühl breiter Maſſen auf dem Gebiete der ſexuellen Moral ein korrumpiertes geworden iſt. Der Mann glaubt ſich berechtigt, einen Teil des weiblichen Geſchlechtes ſeinen ſexuellen Begierden zu opfern und dieſen Un⸗ glücklichen gegenüber kennt er keine Schonung, kein Verantwortlich⸗ keitsgefühl, keine Ehrenhaftigkeit. Die Polizei aber iſt durch die Geſetze gezwungen, dieſe männliche Gewiſſenloſigkeit noch zu unter⸗ ſtützen, indem ſie nicht nachfragen darf: wer iſt hier der Schuldige? ſondern nur die Pflicht hat, die wegen Gewerbsunzucht denunzierte Perſon der Kontrolle zu unterwerfen, falls auch nur der Schatten eines Beweiſes gegen ſie ſpricht. Eine Anzahl von Beiſpielen möge das Geſagte illuſtrieren: Ein Liebespaar entzweit ſich. Der Bräutigam nähert ſich der Freundin ſeiner Geliebten, verſpricht, ſie zu heiraten und verführt ſie, ſich ihm hinzugeben. Später ſöhnt er ſich mit ſeiner erſten Braut aus. Dieſe will ſich an der Freundin rächen und veranlaßt den Mann, bei der Polizei anzuzeigen, daß er ſich bei ihr an einer Ge⸗ ſchlechtskrankheit angeſteckt habe. Auf eine anonyme Anzeige dieſer beiden wird die Freundin auf die Polizei geladen, zwangsweiſe unterſucht und — geſund befunden. Wäre ſie jedoch krank geweſen, alſo von jenem Denunzianten angeſteckt, ſo hätte man ſie in die Ge⸗ fangenenabteilung des Spitals zwangsweiſe interniert, während ihn, den Anſtecker, niemand zur Rechenſchaft gezogen hätte. Ein 17 jähriges Dienſtmäidchen vom Lande, in einer größeren Stadt in Stellung, wird von ihrem Dienſtherrn, in Abweſenheit ſeiner Ehefrau, verführt, von dieſer ſpäter auf die Straße geworfen. 12 Allein, mittellos, verzweifelt treibt ſie ſich in den Straßen der großen, ihr unbekannten Stadt umher. Ein „feiner Herr“ nimmt ſie zu ſich in ſeine Wohnung. Die Hausbewohner denunzieren ſie; ſie wird auf die Polizei gebracht, ärztlich unterſucht, krank befunden und in das Gefängnishoſpital für Proſtituierte interniert. Aus der unglücklichen Verführten iſt eine „gewerbsmäßige Proſtituierte“ ge⸗ worden. Der Weg iſt ihr vorgezeichnet, auf dem ſie nun zu gehen hat. Das Heer der Proſtituierten iſt um eine junge Rekrutin ver⸗ größert, die Männerwelt hat ein Genußobjekt mehr, an dem ſie ſich ohne Skrupel ſchadlos halten kann, die Betreffende hat es ja nicht beſſer verdient, nicht anders gewollt . . . . . es war ja ihr eigener freier Wille, den Weg zu gehen, dies Ende zu finden. — Ein 15 jähriges Mädchen, das zwangsweiſe in einer Rettungs⸗ anſtalt untergebracht war, weil der eigene Vater ſich an ihr ver⸗ gangen hatte und die Mutter eine notoriſche Dirne war, wurde von der Mutter und deren Galan aus der Anſtalt gelockt und von der Mutter wiederholt zu Diebſtählen und zur Unzucht gezwungen. In nicht weniger als 25 Städten ließ ſich dieſes im Verlauf von vier Monaten nachweiſen. Die Männer, welche mit dem Mädchen Un⸗ zucht trieben, in Gegenwart der Mutter, und mit der Mutter in Gegenwart des Mädchens, waren zum Teil aus guten Geſellſchafts⸗ kreiſen, auch Verheiratete, Väter, die Erzieher ihrer Söhne und Töchter, Ehemänner, welche auf ihre Frauen die furchtbarſten Krank⸗ heiten übertrugen, an denen dieſe Unſchuldigen faſt zugrunde gingen, ohne je zu ahnen, wem ſie dieſes namenloſe Elend zu verdanken haben. Und doch werden dieſe Männer hochgeachtet und überall in der guten Geſellſchaft empfangen, in derſelben Geſellſchaft, wo man zu Gericht ſitzt über dieſe Mädchen und ſich mit Ekel von dieſem „Aus⸗ wurf der Menſchheit“ abwendet. Ein 19 jähriges Dienſtmädchen aus einfacher, aber ſehr acht⸗ barer Familie, wurde nach 3 jährigem Widerſtreben von dem 22 jährigen Sohne ihrer reichen Dienſtherrſchaft unter feſtem Ehc⸗ verſprechen entführt. Als ſie einige Tage verſchwunden waren, ſetzte der Vater des Mädchens die Polizei in Kenntnis, welche die beiden Liebenden feſtnahm. Das Mädchen machte einen durchaus unverdorbenen Eindruck. Sie ſagte, ſie liebe den jungen Menſchen ſchon lange, aber trotz ſeiner Bitten und des feſten Heiratsver⸗ ſprechens habe ſie ſich ihm vor der Ehe nicht hingeben wollen. An Tage ihrer Flucht ſei er ſehr erregt zu ihr gekommen, habe ihr ein Fläſchchen Cyankali gezeigt und gedroht, ſich vor ihren Augen zu vergiften, wenn ſie nicht nachgebe. Aus namenloſer Angſt habe ſie ſich dann bereit erklärt, mit ihm zu fliehen. Er erklärte, daß er die feſte Abſicht habe, das Mädchen zu heiraten und daß er ein Ehrloſer ſein müßte, wenn er die Verführte im Stiche ließe. — Einige Wochen nach dieſem Vorfall beſuchte der tiefgebeugte Vater des Mädchens die Polizeiaſſiſtentin und erzählte ihr das Ende des Romans. Nachdem der Liebesrauſch des Jünglings verflogen, kehrte 13 Doppelmoral er als verlorener Sohn zu ſeiner Familie zurück, welche — um ſich auf ehrenhafte Weiſe aus der Affäre zu ziehen — ihren Spröß⸗ ling in eine Kaltwaſſer⸗Heilanſtalt brachte, wo er nach 4 Wochen als „geheilt“ entlaſſen wurde. In den Augen ſeiner Eltern war es bei ihm eben eine krankhafte Verirrung, das Mädchen dagegen eine Dirne, die ſich dem reichen Jüngling an den Hals geworfen. — Das Mädchen iſt nun für immer gebrandmarkt, eine ehrenwerte Familie an den Pranger geſtellt, und der junge Mann freit ſpäter um ein Mädchen aus feinem Stande, die voller Verachtung auf dieſe „Dirne“ herabſchaut. Ein 15 jähriges Mädchen wird von zwei Jünglingen in den Wald gelockt, dort mit ſeiner Einwilligung von beiden gebraucht. Sie werden ertappt, und da die Jünglinge angeben, daß ſie dem Mädchen verſprochen hätten, ihm etwas „zur Veſper“ zu kaufen, ſo wird das Mädchen wegen Gewerbsunzucht auf das Polizeiamt ge⸗ bracht, wohingegen die Jünglinge frei ausgingen. Da das Mädchen bisher unſchuldig war, wurde ſie ihrer Mutter übergeben. Dieſe holte ſie ab und fragte: „Was geſchieht denn nun mit den Ver⸗ führern meiner Tochter?“ „Nichts!“ „Nichts? Ja, aber die haben ja meine Tochter ſoweit gebracht!“ Ein Achſelzucken des Beamten war die Antwort. Die einfache Bauernfrau kann es nicht faſſen, daß man ungeſtraft ein ahnungsloſes Kind ins Verderben locken darf. — Ein 17 jähriges Mädchen wird von einem Studenten ange⸗ ſprochen. Er überredet ſie, nach einigem Zögern ihrerſeits, mit ihm zu gehen. Sie fragt: „Was bekomme ich dafür?“ Ein Kriminal⸗ beamter tritt hinzu, interpelliert den Studenten, der ihm die Frage des Mädchens wiederholt. Darauf wird das Mädchen wegen „Ver⸗ dachtes der Gewerbsunzucht“ verhaftet und bei dem Studenten bedankt man ſich für die freundliche Auskunft, ohne welche man das Mädchen nicht hätte faſſen können. Eine beſonders gemeine Art von Denunziation aber iſt es, wenn ein Mann ſeine Geliebte anzeigt, um ſich ihrer zu entledigen, ein Fall, der überaus häufig vorkommt. So wurde kürzlich in S. eine 20 jährige Perſon wegen Gewerbsunzucht und groben Unfugs ver⸗ haftet und mit Arreſt beſtraft. Der Sachverhalt war folgender: Ein Herr, mit dem ſie ſeit längerer Zeit ein Verhältnis unter⸗ hielt, hatte ſie auf ſeiner Reiſe von M. nach S. mitgenommen. Hier wollte er ſich ihrer entledigen und ſchlug folgenden Weg ein. Er ging mit ihr aus, ſprach einen Schutzmann an, denunzierte ſie als „Dirne“, die er bezahlte, und ſo wurde ſie arretiert. Der „Geliebte“ begleitete ſie noch zur Polizeiwache, indem er dem Beamten die näheren Angaben machte. Das Mädchen geriet daraufhin ganz außer ſich, ſchimpfte, ſchrie, wehrte ſich und wurde nun noch wegen groben Unfugs angezeigt. Während es ſeine Strafe abbüßte, ver⸗ ſchwand der Herr auf Nimmerwiederſehen. Dem Mädchen aber blieb nichts anders übrig, als ſich, nachdem ſie ihre Freiheit wieder⸗ erlangt, nun wirklich der gewerblichen Unzucht zu ergeben. 14 III. Lebenslauf der Proſtituierten.*) Nachdem wir geſehen haben, durch welche Umſtände viele junge Mädchen in den Sumpf der Proſtitution geſtoßen werden, wollen wir uns an einigen Beiſpielen klarmachen, wie ſich das Leben ge⸗ ſtaltet in jener „Welt, von der man nicht ſpricht“, die man ſtets mit beſchönigenden Bezeichnungen, wie „Venusberg“, „Freudenviertel“ und ſo weiter verherrlicht, ohne ſich klar zu machen, wie bar jeder Freude, wie ausgeſetzt jeder Mißhandlung die unglücklichen ſo⸗ genannten Freudenmädchen ſind. 1. G. war Verkäuferin vom 16.—19. Jahr; verkehrte mit einer leichtſinnigen Kollegin, die ſie verleitete, mit ihr abends auszugehen, lernte einen Ingenieur kennen, von dem ſie in die Hoffnung kam. Ihre Eltern verſtießen ſie. Der Ingenieur meinte es ernſt mit ihr, wollte ſie heiraten, verlangte aber, daß ſie mit der Freundin nicht mehr nachts ausging. Sie langweilte ſich aber abends, wenn er nicht kam, ging doch mit der Freundin und anderen Herren in Cafés, und da erklärte er, daß er ſolche vergnügungsſüchtige Frau nicht brauchen könne und gab den Verkehr mit ihr ganz auf. Als das Kind geboren wurde, zahlte er das Wochenbett und Alimente. Sie verlor die Stelle und ging jetzt mit der Freundin auf den Strich. Sie beſuchte Cafés und Theater und nahm ſich von dort die Herren mit heim. Sie erhielt gewöhnlich 10 Mark von den Herren. manchmal auch 20 Mark. Die ſchönen Kleider, die ſie kaufen konnte, waren der Hauptreiz für G. In einem Dirnencafé lernte ſie einen ehemaligen Offizier kennen — Graf, wie ſie ſagt — in den ſie ſich verliebt und den ſie volle 7 Jahre aushielt. Auf die Frage, ob er ihr Herren zuführte, entgegnet ſie: „O nein, unſere Zuhälter ſind keine ſo gewöhnlichen Louis, wie die von den ganz gemeinen Mädels, die mit 'nem geknoteten Halstuch um den Hals gehen, weil ſie keinen Kragen haben. Wir beſſeren Mädels, die wie Damen leben, haben ſo etwas nicht nötig, wir verdienen genug Geld und haben einen Geliebten, weil wir einen Menſchen brauchen, mit dem man ſich mal ausſpricht, der uns beſucht, ab und zu mit uns reiſt, kurz, einen Menſchen, den wir lieben und der uns liebt.“ Sie ging, nachdem der „Geliebte“ ſie verlaſſen, nach H. in ein Bordell. Es war dort ſehr fein, aber ſie konnte ſich nicht viel erſparen. Die Wirtin, welche das Haus führt, war ein früheres Kontrollmädchen. *) Dieſe Lebensläufe ſind nicht identiſch mit denen, die Dr. med. W. Hammer in ſeiner Broſchüre „Zehn Lebensläufe Berliner Kontrollmädchen“ ſchildert, im 23. Heft der Groſ ſtadt⸗Dokumente. Verlag von H. Seemann Nachf. Leipzig⸗Berlin. 15 Die Herren mußten beim Portier läuten und zahlten gleich an der Kaſſe: „Deutſch“, d. h. auf natürlichem Wege 10 Mark „franzöſiſch“, d. h. pervers, je nach dem, von 20 Mark aufwärts. Es ſind dort 20—30 Mädchen in einem Salon, der Herr ſucht ſich eine aus und dieſe erhält dann von der Wirtin eine Blechmarke, worauf ſteht, was er bezahlt hat und was ſie leiſten muß. Jedes Mädchen muß Perverſitäten treiben (ſchlagen oder ſich ſchlagen laſſen, wobei ſie für jede Strieme 10 Mark rechnen kann, ſtechen, mit Füßen treten und ſo weiter), ſonſt würde ſie nichts verdienen. Vorher wird ordentlich getrunken. Ein Mädchen, das nicht trinkt, könnte keine rechte Dirne ſein, ſonſt würde ſie ſich zu ſehr ekeln. Die Wirtin kennt die Kundſchaft genau und weiß, was jeder Herr wünſcht und wie er es liebt, ſie zeigt es gewöhnlich den neu ankommenden Mäd⸗ chen. Für Kleidung und Wäſche ſorgt die Wirtin, rechnet aber alles viel teurer, als ſie es zahlt. Von der Einnahme bekommt ſie die Hälfte, dafür brauchen die Mädchen nur 4 Mark Koſtgeld pro Tag zu zahlen. Von H. ging ſie in verſchiedene andere Bordelle. Mehr⸗ fach hatte ſie die Abſicht, dieſes Leben aufzugeben, aber was wollte ſie werden? Dienſtmädchen oder wieder Verkäuferin? Dazu war ſie zu faul und verwöhnt. So führte ſie denn das ſchreckliche Leben weiter. Vom 19.—27. Jahre war ſie in 6 Bordellen und vielen Privathäuſern. In St. beſuchte ſie häufig ein junger Student, den ſie ſehr gerne hatte, aber ihre Bedienungsfrau, welche ſie — da ſie immer betrunken war — entlaſſen mußte, kundſchaftete ſeinen Namen aus, ſchrieb an ſeine Eltern, und der Vater kam und holte ganz entſetzt ſeinen Sohn ab. Das war ihr ein großer Schmerz, denn am Sonntag hatten ſie oft Ausflüge miteinander gemacht, waren ausgeradelt, und das Leben ſchien ihr ſo ganz erträglich. Jetzt hat ſie keinen Geliebten. Wenn ihr das Leben eklig wird, radelt ſie fort. Sie denkt nur noch ans Geldverdienen und ſchreckt vor nichts mehr zurück. In ihrem Hauſe wohnt eine Kollegin, die die ekelhaften Perverſitäten nicht macht, ſondern ihr die Männer überweiſt. Sie nimmt alle an und tut alles. Sie hat viel Geld erſpart und will ſpäter ein Zigarrengeſchäft oder eine Weinſtube übernehmen. Sie verdient an manchem Abend 100-200 Mark. 2. S. war Waiſe; ſie wurde von einem Tiſchlermeiſter in Wien an Kindesſtatt angenommen. Kinderloſe, brave, ſehr religiöſe (kath.) Familie. S. beſuchte eine beſſere Schule und genoß eine gute Er⸗ ziehung. Sie hatte ſchon als Kind Hang zum Stehlen, nahm den Pflegeeltern Geld fort und kaufte dafür Schleckereien, ſtahl auf dem Friedhof Blumen, die ſie dann auf dem Markt verkaufte und hinterging die Leute, wo ſie konnte. Als ſie 15 Jahre alt war, trat ſie in eine Stelle als Kindermädchen, unterſchlug mehrmals Geld, wurde zu ihren Pflegeeltern zurückgeſchickt, die ſie jedoch nicht mehr aufnahmen, ſondern ihrer Heimatbehörde zurückſandten. Dieſe er⸗ 16 klärte, keine Verpflichtung dem Mädchen gegenüber zu haben und ließ ſie durch einen Transporteur bis zur nächſten Bahnſtation bringen. Auf der Landſtraße dorthin vergewaltigt ſie der Trans⸗ porteur. Er löſte ihr dann eine Fahrkarte bis zum nächſten größeren Ort, wo ſie ſich nach Stellung umſehen ſollte. Dort an⸗ gekommen, armſelig bekleidet, ihre wenigen Habſeligkeiten in einem Bündel auf dem Rücken tragend, lief ſie planlos durch die Straßen. Geld hatte ſie nicht, aber großen Hunger. Sie ſetzte ſich endlich ganz erſchöpft auf eine Kirchentreppe und brach in Tränen aus. Kein Menſch nahm ſich ihrer an. Alles haſtete eilig an ihr vorüber. Endlich erſchien eine Frau und fragte, warum ſie weine. Als ſie ihr Leid geklagt, verſprach die Frau, für ſie zu ſorgen. Sie nahm ſie mit heim, in ein ganz gemeines böhmiſches Bordell, wo nur wenige Mädchen waren. Die Zimmer lagen zu ebener Erde. Sie wurde herausgeputzt, mußte immer am Fenſter ſitzen und klopfen, wenn jemand vorbeiging. Die Beſucher konnten ſchon für wenige Groſchen ein Mädchen haben und beſtanden aus Arbeitern und ganz heruntergekommenen, ſchmutzigen Leuten, die ſich nichts Beſſeres leiſten konnten. Das Geld erhielt die Frau und gab ihr dafür Kleider und Wäſche, auch das Eſſen, aber ſie mußte viel Hunger leiden. Sie wurde immer eingeſchloſſen, mußte an die Türe klopfen, wenn ſie ein Bedürfnis hatte und durfte nie ausgehen. Nach 1/4 Jahr gelang es ihr aber, heimlich durchzugehen. Sie lief direkt in ein beſſeres Bordell, wo die Mädchen allerdings auch eingeſchloſſen wurden, aber feinere Kundſchaft und beſſere Verpflegung hatten. Ein brutaler Beſucher (Sadiſt) richtete ſie einmal derart zu, daß ſie für längere Zeit ins Spital mußte. Die Wärterinnen waren dort ſehr roh mit ihr. Sie war dann in kurzer Zeit in 8 verſchiedenen Städten im Bordell. Die Perverſitäten lernte ſie von den dortigen Kolleginnen und von den Männern ſelbſt. In M. lernte ſie einen Kaufmann kennen, der ſie gern hatte und oft beſuchte. Sie korre⸗ ſpondierten in einer Geheimſchrift miteinander, wenn er verreiſte, und als er zu ſeinen Angehörigen nach L. ging, ſchrieben ſie ſich oft und ſie ſandte ihm Handarbeiten. Seine Mutter kam dahinter, er mußte ihr beichten und dann das feſte Verſprechen geben, nie mehr an die Dirne zu ſchreiben. Seither hat ſie nichts von ihm gehört, iſt aber ſehr unglücklich darüber. Einen Zuhälter hat ſie nie ge⸗ habt, „das Geld könne man ſparen, wenn man nicht auf den Strich geht“. Vor einem Jahr ging ſie als Friſeuſe nach E., gewann auch nette Kundſchaft; die Schutzleute fragten jedoch häufig nach ihr; dadurch wurden die Hausleute aufmerkſam und die Kundſchaft blieb allmählich fort. Da ging ſie nach St. unter Kontrolle, fühlt ſich ſehr einſam, hat aber 5000 Mark geſpart und will ſpäter als Haus⸗ hälterin ins Ausland gehen. 3. B. iſt 25 Jahre alt, ſteht unter Kontrolle. Ihr Vater war Verwalter in der Nähe von F., wo ſie Schneiderei in einem Damen⸗ 17 Bordelle konfektionsgeſchäft lernte; abends fuhr ſie heim. Eines Abends ver⸗ ſäumte ſie den Zug, wurde von einem Herrn eingeladen, mit ihm ins Theater zu gehen, blieb dann die Nacht bei ihm und wagte am andern Tage nicht mehr heim zu gehen. Sie war damals 20 Jahre alt. Der betreffende Herr, ein Apotheker, redete ihr ein, daß er ſie heiraten würde. Sie blieb 6 Nächte bei ihm. Die Eltern hatten ſich inzwiſchen an die Polizei gewandt, ein Onkel von ihr war Schutzmann in F. Sie wurde gefunden und von ihrem Onkel heimgebracht. Die Eltern waren empört über die mißratene Toch⸗ ter. Sie wurde geſchimpft und geſchlagen, und als das eine Zeit⸗ lang ſo fortging, lief ſie davon. Sie ging wieder nach F., lernte dort einen Kellner kennen, der ſie mit in ſeine Wohnung nahm, und einige Tage bei ſich behielt. Dann reiſte er mit ihr nach E. Er ſagte, daß er ſie liebe und heiraten wolle, aber als Kellner könne er das nicht, ſie müßten erſt Geld haben, um ſich ein Reſtaurant aufmachen zu können. Das Geld könnte ſie am beſten beſchaffen, wenn ſie auf den Strich ginge. Sie tat es, wagte jedoch nie, die Herren um Geld zu bitten, verdiente wenig und wurde deshalb von ihm immer ausgezankt. Nach 3 Wochen erſchien die Kriminalpolizei im Hotel; er wurde wegen Zuhälterei feſtgenommen, ſie wegen Ge⸗ werbsunzucht, mußte einige Tage „brummen“, und wurde dann unter Zwangskontrolle geſtellt. Später lernte ſie wieder einen Kellner in einem Dirnencafé kennen, der ſie nach D. mitnahm, dort in ein Haus brachte, wo die Wirtin, ehemaliges Kontrollmädchen, nur 2 Mädchen hatte, feine Kundſchaft, hauptſächlich ältere Herren, faſt alle verheiratet. Hier erhielt ſie gleich für 100 Mark Kleider und für ebenſoviel Wäſche, mußte täglich 4 Mark Koſtgeld zahlen und die Hälfte von der Einnahme. Die Kutſcher in D. brachten viele Herren und erhielten pro Fahrgaſt 4 Mark von den Mädchen, ſo daß dieſen ſo gut wie gar kein Verdienſt blieb. Es wurde viel Getränk verabreicht, an denen die Mädchen jedoch nichts verdienten. B. kam dort ſo in Schulden, daß ſie nicht fortkonnte. Ein Mädchen verwandte ſich dann für ſie, und ſie wurde von einem andern Bordell ausgelöſt. Hier waren zwar dieſelben Bedingungen, wie in D., aber es war bedeutend mehr Verkehr. Die Mädchen ſtanden unter der Haustüre und lockten die Männer an, waren halb entkleidet und entblößten ſich ganz, wenn ein Mann eintrat. Dort beſuchte ſie oft ein Herr, gab ſich als Arzt aus, zahlte gut, war elegant gekleidet und veranlaßte ſie, mit ihm auf Reiſen zu gehen. Nach 4 Wochen entpuppte er ſich als Louis, der in Berlin mit einer Kontrolldirne verheiratet war, er drohte ihr, ſie umzubringen und prügelte ſie ſolange, bis ſie auf den Strich ging. Sie wohnte privat, ſtahl einem Herrn ſein Portemonnaie, kam ins Gefängnis und dann ins Arbeitshaus. Von ihrem Zuhälter hat ſie ſeither nichts mehr gehört. Sie ging dann nach L. in ein Bordell. Dort beſuchte ſie von Zeit zu Zeit ein junger Kaufmann, in den ſie ſich leiden⸗ ſchaftlich verliebte. Einmal überredete ſie ihn, 2 Tage bei ihr zu bleiben. Er tat es und wurde infolgedeſſen aus ſeiner Stellung Pappritz, A.: Welt, von der man nicht ſpricht 2 18 entlaſſen. So kam er in Geldverlegenheit, ſie half ihm aus, zahlte ſeine Penſion und Kleidung, nach einigen Wochen ward er dieſes Lebens überdrüſſig und wollte fort von ihr, ſie ließ ihn aber nicht und drohte, wenn er ſie nicht heirate, brächte ſie ihn wegen Zuhälterei ins Gefängnis. Er war verzweifelt, wußte keinen Ausweg, und wenige Tage nach dieſer Unterredung fand man ihn erſchoſſen im Stadtpark. „Die Zuhälter ſind nicht alle ſo ſchlimm, wie man glaubt“, ſagt B., „wir Dirnen ſind meiſtens viel ge⸗ meiner. Wie mein kleiner Kaufmann werden viele unerfahrene junge Leute von uns eingefangen und zugrunde gerichtet. Die Leidenſchaft verblendet ſie, und wenn ſie aus dem Rauſch erwachen, heißt es: Zuhälter, Ehemann einer Dirne oder Gefängnis. Die meiſten Männer fügen ſich, ſinken immer tiefer, gehen von einer Dirne zur andern, ſpielen, trinken und enden ſchließlich doch im Gefängnis.“ B. macht noch immer gute Geſchäfte, wird viel weiter empfohlen und gedenkt, noch lange im Beruf bleiben zu können. Zuhälter 4. W. iſt 28 Jahre alt, ſteht unter Kontrolle. Vater war Be⸗ amter, ſie hatte eine gute Erziehung genoſſen, die Mittelſchule beſucht und wurde Buchhalterin. Als ſie 19 Jahre alt war, knüpfte ſie ein Verhältnis mit einem Bahnbeamten an, der ſie heiraten wollte, ſie aber ſchon nach wenigen Wochen im Stich ließ. Sie wurde ſchwanger und daraufhin von den Eltern verſtoßen. Sie kam in der Entbindungsanſtalt nieder, hatte keine Unterkunft für das Kind, keine Mittel, keine Stelle. Ein Mädchen, das zu gleicher Zeit entbunden wurde, gab ihr, als ſie ſie einmal weinen ſah, die Adreſſe einer Frau, die nur „gute Kundſchaft“ habe. W. wollte durchaus nicht hingehen. Als ſie jedoch gänzlich verlaſſen mit ihrem Kinde auf der Straße ſtand, ging ſie doch zu der Frau. Dieſe nahm ſie auf, brachte das Kind unter und arbeitete ſie in allen Fächern des Gewerbes ein. W. blieb längere Zeit dort, hatte noch ein Kind und mußte nun für beide Kinder zahlen. Sie wurde dann geſchlechtskrank, kam ins Spital und dort beſuchte ſie eine fromme Dame, die ſie überredete, wieder einen ſoliden Lebenswandel anzufangen. Sie brachte ſie als Zimmermädchen unter, wo W. ſich 1/4 Jahr gut hielt. Für das eine Kind mußte ſie ſorgen, das andere kam in die Obhut eines Vereins. Nach 1/4 Jahr erkundigte ſich die Polizei bei ihrer Herrſchaft nach ihr, ſagte, daß ſie früher liederlich war, und daraufhin wurde ſie ſofort entlaſſen. Sie ging wieder auf den Strich. Das Kind, für das ſie zu ſorgen hatte, ſtarb. Sie ging jetzt wieder in ein Bordell, wurde wieder geſchlechtskrank und die Krankenſchweſtern konnten ſie wieder überreden, in einen Dienſt zu gehen. Sie mußte ſich jedoch mehrfach bei der Polizei melden, die Herrſchaft fragte, was ſie vorher geweſen ſei, ſie ver⸗ ſtrickte ſich in ein ganzes Lügengewebe und lief ſchließlich ſelbſt da⸗ 19 von. Sie ging wieder in ein Bordell, ſparte viel Geld und über⸗ nahm dann einen Spezereiladen, was ihr gut gefiel. Daneben friſierte ſie im Hauſe. Es kam jedoch nach einem halben Jahre heraus, daß ſie eine öffentliche Dirne war, ſie verlor die Kundſchaft und ging jetzt nach St. unter Kontrolle. Das Leben iſt ihr jedoch zuwider. Sie will noch einen Verſuch machen, ſolide zu werden und ins Ausland als Friſeuſe gehen. Ihr 9jähriges Kind beſucht ſie von Zeit zu Zeit, ſie hängt ſehr an demſelben und will es ſpäter zu ſich nehmen und ihm eine gute Erziehung geben. 5. C. ſteht unter Kontrolle, iſt 22 Jahre alt, Wienerin, unehelich geboren. Ihre Mutter war Stickerin, hatte 9 uneheliche Kinder von verſchiedenen Vätern, 4 Kinder leben, die andern ſind jung ge⸗ ſtorben. Die Mutter war ſehr beſchränkt, glaubte jedem Manne, daß er ſie heiraten würde, ihr ganzes Sehnen und Trachten ging danach, zu heiraten. Der Großvater war Trinker, die Großmutter iſt im Irrenhauſe geſtorben. Ein Bruder der C. iſt Zuhälter, nennt ſich Artiſt, hat Frau und Kinder, iſt als Zuhälter der eigenen Schweſter ſchon beſtraft; eine Schweſter, die im katholiſchen Waiſen⸗ haus erzogen iſt, blieb brav. Sie iſt Schneiderin, lebt in Wien, arbeitet von morgens bis abends und in der freien Zeit geht ſie in den katholiſchen Jungfrauenverein und zur Kirche. C. lernte bei der Mutter nicht viel Gutes, wurde aber auch nicht zu Schlechtig⸗ keiten angehalten. Sie kam mit 14 Jahren in einen Dienſt. Ihr eigener Vater (wovon er lebte, weiß ſie nicht) fing jetzt an, ſich für ſie zu intereſſieren, lud ſie ein, mit ihm auszugehen, machte ſie ein⸗ mal betrunken und deflorierte ſie. Sie wußte nicht, was eigentlich mit ihr geſchehen war. Ihre Dienſtherrin merkte es, und als ſie ſie ſcharf ins Gebet nahm, ſchämte ſie ſich einzugeſtehen, daß der Vater ſie verführt hatte, ſagte, es war ein Unbekannter. Die Frau war ſehr nett zu ihr. Nach einigen Monaten bekam C. Blinddarm⸗ entzündung, mußte ins Krankenhaus und war nachher ſo ſchwach, daß ſie in keine Stelle konnte. Sie wurde im katholiſchen Marien⸗ heim aufgenommen, um dort das Nähen zu erlernen. Eines Nach⸗ mittags ſprach ſie ein Einjähriger auf der Straße an, und da er ſich als Herr „von“ vorſtellte, imponierte er ihr ganz beſonders, und ſie ließ ſich verleiten, die Nacht in ſeiner Wohnung zu bleiben. Am andern Morgen ging ſie in das Marienheim, wurde aber nicht wieder aufgenommen. Sie hatte nun kein Geld, wußte nicht, was anzufangen und ging mit jedem Herrn, der ſie anſprach. Sie be⸗ ſuchte aber immer noch die Kirche, und als ſie eines Sonntags aus der Kirche kam, ſchlug ihr das Gewiſſen. Sie ging wieder ins Marienheim und bat die Oberin, ſie wieder aufzunehmen. Dieſe fragte, was ſie inzwiſchen getrieben. Sie verſuchte ſich herauszu⸗ lügen, um ja nicht abgewieſen zu werden, verſtrickte ſich aber immer 2* 20 mehr in Lügen und da erklärte ihr die Oberin, daß ſie ſolch lieder⸗ liches Geſchöpf in ihrem Hauſe nicht brauchen könne. Sie ſtand nun wieder auf der Straße und führte das alte Sündenleben weiter. Nach einigen Tagen — ſie war jetzt 16 Jahre — lernte ſie einen Louis kennen, ſehr elegant gekleidet, mit Brillantring und Brillant⸗ nadel, der Prokuriſt war und von ſeinem „Nebenerwerb“ ſeine ganze Familie — Mutter, 2 Brüder und 2 Schweſtern — unterhielt. Eine Schweſter hatte er gut verheiratet, einen Bruder ließ er Jura ſtudieren. Dieſer gab ſich als Heiratskandidat aus, „er habe ſich auf den erſten Blick in ſie verliebt“ und die Hochzeit könne ſtatt⸗ finden, ſobald er die Mittel zur ſtandesgemäßen Wohnungseinrich⸗ tung habe. Dieſe Mittel müßte ſie auftreiben. Sie war beglückt, aus dem Elend zu kommen und als anſtändige Frau leben zu können. Er brachte ſie direkt in ein Strichhaus. Die Wirtin hatte dort mehrere Mädchen, die unter Kontrolle ſtanden und auf den Strich gehen mußten, um gut verdienen zu können. Die Frau nahm ſie auf und ging am folgenden Morgen mit ihr zum Diſtriktskommiſſar, um ſie „einſchreiben“ zu laſſen. Dieſer ſchrie die Frau aber an, ob ſie nichts Beſſeres zu tun habe, als 16 jährige Mädchen zu ver⸗ kuppeln, wenn ſie noch einmal ſo ein junges Ding brächte, würde er ſie einſtecken und ins Arbeitshaus bringen laſſen. Die Frau hatte nun Angſt, ſie aufzunehmen, aber der Prokuriſt ſagte, ſie müſſe noch eine Weile auf den Strich gehen. Sie merkte bald, daß er es nicht ernſt mit dem Heiraten meinte, und da er ſehr brutal war und ſie prügelte, wenn ſie nicht genug Geld heimbrachte, wollte ſie ſich von ihm losmachen. Er drohte jedoch, ſie anzuzeigen und dann käme ſie auf einige Jahre ins Arbeitshaus, müßte den Kanal putzen und kriegte nichts zu eſſen; da bekam ſie einen gewaltigen Schreck und gab den Widerſtand auf. Sie wurde aber ſehr bald von der Polizei aufgegriffen und wegen Syphilis ins Krankenhaus gebracht. Nach ihrer Entlaſſung brachte ihr Zuhälter ſie in ein geſchloſſenes Bordell, das in einem andern Stadtteil lag. Der dortige Diſtriktskommiſſar fragte bei ihrer Mutter an, ob dieſe einverftanden ſei, daß ihre Tochter ins Bordell ginge, und da die Mutter gerade wieder mit einem Mann verkehrte, den ſie gerne heiraten wollte, gab ſie ſo⸗ fort die Einwilligung, um die Tochter los zu werden. C. wurde nun „eingeſchrieben“. In dem Bordell waren viele Mädchen. Sie wurden jedoch immer eingeſchloſſen, und wenn ſie zur ärztlichen Viſite mußten, fuhr die Wirtin oder Bedienungsfrau im geſchloſſenen Wagen mit, damit die Mädchen nur nicht durchbrennen konnten. Die Wirtin kreidete ihnen für Kleidung und Verpflegung ſoviel an, daß ſie in kurzer Zeit eine unerſchwingliche Schuldenlaſt hatten. Der Prokuriſt beſuchte ſie als „Kunde“ und nahm ihr dann alles ab, was ſie verdiente. Nach 4 Wochen gelang es ihr durchzubrennen. Sie ging jetzt wieder in ein Strichhaus und hoffte, den Prokuriſten los zu ſein. Er fand ſie aber ſehr bald, kam in ihr Zimmer, be⸗ arbeitete ſie mit. Meſſerſtichen, und drohte, ihr beide Augen auszu⸗ ſtechen, wenn ſie ihm kein Geld mehr geben oder ihn denunzieren 21 würde. Sie ſchrie um Hilfe, die Wirtin ſchickte nach der Polizei, er wurde feſtgenommen, aber freigelaſſen, weil er bei einer erſt⸗ klaſſigen Firma jahrelang in Stellung war, einen guten Leumund hatte und weil ſie aus lauter Angſt vor ihm nichts eingeſtand. Er ließ ſie jetzt aber endlich in Frieden. Als ſie 8 Monate in dem „Strichhaus“ war, lernte ſie einen Kellner kennen, der ſie aufrichtig liebte, ihre Schulden bezahlte und ſie veranlaßte, ſich nach einer anſtändigen Stellung umzuſehen. Sie tat es, wurde jedoch nir⸗ gends angenommen, weil ſie keine Zeugniſſe hatte und nicht an⸗ geben konnte, wo ſie zuletzt gearbeitet habe. Sie war jetzt 17 Jahre, der Kellner 22 Jahre. Es gelang ihr endlich, eine Stelle als Kell⸗ nerin zu erhalten, ſie lebte mit ihm im Konkubinat und war 1/2 Jahr ſolid. Dann bekam ſie Streit mit ihm, lief fort und ging wieder in ein Strichhaus. Er ſuchte ſie auf und veranlaßte ſie, wieder zurückzukehren. Sie brauche gar nicht zu arbeiten, ſondern ſolle ihm nur den Haushalt führen. Er hütete ſie aber eiferſüchtig, ließ ſie nie allein ausgehen, verbot ihr das viele Trinken, das ſie ſich — wie alle Dirnen — ſehr angewöhnt hatte, und ſo wurde das ſolide Leben ihr auf die Dauer recht langweilig. Er imponierte ihr auch zu wenig, denn er war leicht zu Tränen gerührt, zu weich mit ihr. Er ſchlug ſie nie, und wenn ſie Streit hatten, prügelte ſie ihn und traktierte ihn mit Fußtritten, ohne daß er ſich je revanchierte. Vier⸗ mal ging ſie ihm durch und immer wieder holte er ſie. Er wollte ſie dann zu ſeinen Eltern, die brave Bauersleute waren, bringen, weil er hoffte, daß ſie ſich unter deren Einfluß vielleicht beſſern würde, aber ſie lachte ihn aus. Sie verließ ihn ſchließlich, ging in ver⸗ ſchiedene Bäder und verdiente ſoviel, daß ſie ſich jetzt als Friſeuſe einen eigenen Haushalt gründen will. 6. M. iſt Oeſterreicherin, 23 Jahre alt, ſteht unter Kontrolle. Sie wurde ſehr ſtreng erzogen, iſt aber durch ihre ältere Schweſter verführt worden. Dieſe ging als Stubenmädchen in ein Hotel nach Wien, wo ſie den Umgang mit Männern anfing, ſchließlich ganz liederlich wurde und nur von der Unzucht lebt. Die Mutter ahnte dies aber nicht. M. hatte das Kleidernähen zu Hauſe erlernt, und wenn die Schweſter zum Beſuch kam, ſo redete ſie ihr zu, auch nach Wien zu gehen, wo ſie ſich viel mehr verdienen könnte. Die Mutter war anfangs dagegen, willigte aber ſchließlich ein und M. fand bei einer Schneiderin Stellung. Die Schweſter erzählte ihr, ſie ſei Kaſſiererin in einem Nachtcafé. Sie war immer chic gekleidet und gab an, daß ſie das Geld zur Toilette von Beſuchern des Cafés erhielte. M., die ein ſehr kleines Gehalt hatte und damit nicht auskommen konnte, beneidete die Schweſter ſehr. Eine Freundin ihrer Schweſter redete ihr zu, ſich mit Herren abzugeben, dann könne ſie auch ſo gut leben, und eines Abends nahm ſie ſie mit zu einem 22 ihrer Bekannten. Sie unterhandelte längere Zeit leiſe mit ihm und M. ſah, wie er ihr mehrere Goldſtücke gab. Sie ſagte dann, ſie wolle noch einen Gang machen, M. möchte bei dem Herrn bleiben, bis ſie ſie abholen käme. M. war dies ſehr peinlich. Als der Herr ihr zuredete, ſich in ſein Bett zu legen, wollte ſie fort, er verſchloß jedoch die Türe und drohte ſie anzuzeigen, wenn ſie Lärm machen würde. Er ſagte, er meine es gut mit ihr und habe der Freundin Geld gegeben, damit ſie ihr ſchöne Kleider kaufen könne, er würde ihr ja kein Leid antun, und einmal müßte es ja doch das erſte Mal ſein, von ihrem Gehalt könne ſie ja doch nicht leben. Er ließ ihr ein gutes Eſſen holen und ſchenkte ihr reichlich Wein ein, und da widerſtand ſie nicht länger. Am folgenden Morgen reiſte der Herr ins Ausland. Die Freundin traf ſie noch oft, erhielt aber keinen Pfennig von ihr. Die Schweſter ſagte ihr dann auch, ſie dürfte nicht ſo dumm ſein, das machten alle, die nicht verhungern wollten und daran gewöhne man ſich. So ging ſie denn auch ab und zu mit Herren, wagte aber nie um Geld zu bitten. Schließlich gab ſie das Nähen ganz auf und lebte nur von der Unzucht. Nach 1/2 Jahr wurde die Mutter krank. Sie reiſte zur Pflege heim, ſollte ganz zu Hauſe bleiben, aber es wurde ihr zu langweilig bei der ſtrengen Aufſicht der Mutter, und ſo kehrte ſie, als dieſe wieder geſund war, nach Wien zurück. Sie fing wieder die Schneiderei an, hatte aber ein reiches Verhältnis dabei. Sie lernte dann ein Mädchen kennen, das nach Innsbruck unter Kontrolle ging und ihr das Leben dort in ſo glühenden Farben ſchilderte, daß M. ſich entſchloß, das Gleiche zu tun. Sie blieb dort 1 Jahr, ſchrieb der Mutter, daß ſie eine gute Stelle habe und unterſtützte ſie reichlich. Sie bekam dann aber Angſt, daß die Mutter erfahren könnte, was ſie treibe und ging nach Straßburg in ein Bordell, dann nach S., wo ſie wieder die Schneiderei anfing. Dort lernte ſie einen Schauſpieler kennen, ſie liebten ſich gegenſeitig, wollten ſich heiraten, waren bereits auf⸗ geboten und in 8 Tagen ſollte die Hochzeit ſtattfinden. Da kam die Mutter des Schauſpielers, erkundigte ſich nach ihrer Vergangen⸗ heit, erfuhr, daß ſie eine Dirne geweſen ſei und beſchwor ſie, ihren Sohn frei zu geben, da er mit einer ſolchen Perſon ja nur unglück⸗ lich werden könnte. Der Bräutigam, dem M. vorher alles ge⸗ beichtet hatte, ſchwankte mehrere Tage zwiſchen Mutter und Braut hin und her, dann gab er die Heirat auf, und ſie ging direkt noch K. unter Kontrolle. Von dort kam ſie nach St. Sie ſteht jetzt im ganzen 4 Jahre unter Kontrolle. Viel Geld hat ſie nie verdient, weil ſie es nicht verſteht, ſich beliebt zu machen; ſie will aber noch einige Zeit dabei bleiben, um wenigſtens ſo viel Geld zu erſparen. daß ſie wieder die Schneiderei anfangen und die Mutter, die ſie ſtets unterſtützt hat, zu ſich nehmen kann. 7. F. ſtammt aus ſchlechten Familienverhältniſſen. Ihr Vater war ein arbeitsſcheuer Menſch, Trinker, bettelte; Mutter mehrfach 23 vorbeſtraft, Kupplerin, ſehr bösartig. F. iſt vorehelich geboren, die eigene Mutter konnte ſie nie leiden, ſie mußte als Kind, ebenſo wie ihre beiden Schweſtern und ihr Bruder, betteln und ſtehlen, wo ſie etwas erwiſchen konnten. Es herrſchte ſtets die bitterſte Armut im Hauſe, weil die Eltern beide nicht arbeiteten und nur gelegentlich „Geſchäfte“ machten. Kam dann einer von beiden ins Gefängnis, ſo war die Not noch größer. Der Vater war gutmütig, die Mutter dagegen ſehr heftig; ſie führte ſtets die gemeinſten Redensarten im Munde, prügelte die Kinder, beſonders F., wenn ſie nicht genügend Geld heimbrachten. Die älteſte Tochter verkuppelte ſie mit 16 Jahren, kam dafür ins Zuchthaus, das Mädchen ging nach Frankfurt „auf den Strich“. Der Bruder wurde mehrfach beim Stehlen abgefaßt, kam ins Gefängnis und Arbeitshaus. Wo er jetzt iſt, weiß man nicht. F. vermutet, daß er Louis iſt. „Da braucht man nicht zu arbeiten und lebt wie ein Baron.“ Als F. 15 Jahre war und die Mutter ſie einmal beſonders geprügelt hatte und geſchrien: „Du verſtehſt noch nicht mal zu huren, trotz deiner 15 Jahre“ und ſie der Hunger auch arg plagte, lief ſie zu einer Bekannten. Dieſe konnte ſie aber nicht behalten, machte ſie jedoch mit einer Frau bekannt, welche Bedienungsfrau bei einem unter Kontrolle ſtehenden Mädchen war. Dieſe riet ihr, auch unter Kon⸗ trolle zu gehen. Da ſie als „unſchuldig“ aber nicht eingeſchrieben würde, verkuppelte die Frau ſie an einen Herrn, älteren Offizier, der ſie deflorierte. Dafür ſpendierte er ihr eine Wurſt und ein Bier. „Dieſe Mahlzeit“, erzählte ſie, „war der ſchönſte Moment meines Lebens. Nie wieder habe ich mit ſolchem Wohlbehagen, mit ſolchem Appetit geſpeiſt. Eine ganze Wurſt, ein ganzes Glas Bier. Wie glückſelig war ich, und der Gedanke, mich jetzt täglich ſatt eſſen zu können, ſchöne Kleider zu tragen, nicht mehr betteln und ſtehlen zu müſſen, keine Prügel mehr zu kriegen, dieſer Gedanke ließ mir den Entſchluß, unter Kontrolle zu gehen, leicht werden. Was verſtand ich auch davon, ein 15 jähriges, verprügeltes, ſchüch⸗ ternes Kind! Meine Eltern, die um ihre Einwilligung gefragt wurden, gaben dieſelbe ſogleich. Die Mutter ſagte, ich ſolle jetzt nur ſchön die armen Eltern unterſtützen, ſo hübſche Töchter könnten noch ein Segen für ihre Angehörigen werden. So kam ich denn unter Kontrolle. Schon nach kurzer Zeit wurde ich ſyphiliskrank und kam ins Spital. Bei meiner Entlaſſung beſuchte mich die Mutter und brachte mir ein friſches Hemd und ein Stück Moſchus⸗ ſeife, damit ich wenigſtens das Notwendigſte zur Wiederaufnahme meines Erwerbes habe. Ich war ſeither in vielen Bordellen, habe die Eltern ſtets unterſtützt. Dann lernte ich im „Geſchäft“ einen Menſchen kennen, der ſich als ehemaliger Student ausgab und be⸗ hauptete, Vermögen zu haben. Er wollte mich heiraten, wie er ſagte „aus dem Sumpf herausziehen“, und da mir dieſes Leben ganz verleidet war — ich zählte damals 20 Jahre — ſo willigte ich ein. Nach der Hochzeit machten wir eine Reiſe, aber ſchon in Köln machte er mir klar, daß er kein Vermögen habe und daß ich 24 ihn ernähren müſſe. Er prügelte mich, verſetzte mir einige Meſſer⸗ ſtiche und vor lauter Angſt gab ich nach und ging „ſtrichen“. Das Geld ſteckte er ein, und als ein Herr einmal nicht ordentlich blechen wollte und er aus der Entfernung — denn er folgte mir immer — dieſes beobachtete, hieb er ihn mit ſeinem ſchweren Knüttel einige Hiebe über den Kopf, daß mein Verehrer blutüberſtrömt zuſammen⸗ brach. Zum Glück für mich, wurde mein lieber Mann abgefaßt, kam ins Gefängnis, und ich ließ mich dann ſcheiden. Seither hauſiere ich und bin ſolide.“ (Letzteres iſt nicht wahr! Anm. d. Verf.) 8. M., ein 24 jähriges Mädchen, das längere Zeit in Berlin unter ſittenpolizeilicher Kontrolle geſtanden hatte, kam freiwillig in die Sprechſtunde einer Polizeidame und bat um Rat und Hilfe. Es erzählte über ſein Leben folgendes: Die Mutter war Beamten⸗ witwe in B. und war nach dem Tode des Vaters in guten Verhält⸗ niſſen. Sie hat ſich aber wieder verheiratet mit einem Menſchen, der einen ganz gemeinen Charakter hat, nur von ihrem Gelde lebt und ihre 3 Kinder, die ihm im Wege waren, mißhandelte und chikanierte, bis dieſe das Leben zu Hauſe nicht mehr ertragen konn⸗ ten. Der Bruder ging zur See, wurde bei einem Sturm über Bord geweht und ertrank; die ältere Schweſter heiratete nach Süd⸗ deutſchland und die Jüngere — Marie — um die es ſich hier han⸗ delt — ging als Kinderfräulein nach Berlin. Ihre willenſchwache Mutter, welche nicht die Kraft hatte, ihre Kinder gegen den böſen Stiefvater zu verteidigen, gab ihr die Adreſſe einer Verwandten in Berlin, an die ſie ſich halten ſollte. Was dieſe Verwandte trieb, wußte die Mutter nicht, da ſie ſeit Jahren nichts mehr von ihr ge⸗ hört hatte. Marie, die damals erſt 18 Jahre zählte und in großer Unerfahrenheit auf dem Lande aufgewachſen war, beſuchte die Tante ſogleich bei ihrer Ankunft in Berlin, erfuhr, daß ſie Wohnungs⸗ vermieterin ſei und lernte dort viele liebenswürdige, elegant ge⸗ kleidete junge Damen kennen, welche ihr die freundliche Tante als Schauſpielerinnen vorſtellte. Sie wurde eingeladen, vorerſt im Hauſe zu bleiben, bis ſich eine paſſende Stelle für ſie fände. Unter den verſchiedenen Herren, die ſie auch im Hauſe kennen lernte, an⸗ geblich Verwandte und Brüder der Schauſpielerinnen, war auch ein gebildeter, wohlhabender, junger Ingenieur, der ihr ſchon nach wenigen Tagen einen Heiratsantrag machte. In ihrer Unerfahren⸗ heit glaubte ſie an ſeine Liebe und ließ ſich in ein Verhältnis mit ihm ein. Das Erwachen aus dieſem Liebestraum war ſehr bitter. Der Heiratskandidat entpuppte ſich bald als ein Zuhälter von der gemeinſten Sorte, der Marie — die mittellos und ganz verlaſſen in der großen Stadt war — zur Proſtitution zwang. Die freundliche Tante zeigte ſich jetzt auch von einer anderen Seite und drohte ſie zu verklagen, wenn ſie ihr für Koſt und Logis im Hauſe nicht eine 25 anſtändige Vergütung zahlen würde. Marie wußte keinen Ausweg. Der Ingenieur ging nun täglich mit ihr aus, verſah ſie reichlich mit Getränken, nahm das verdiente Geld in Empfang und ſorgte für Eſſen und Kleidung. Schließlich kam Marie unter ſittenpolizei⸗ liche Kontrolle, erkrankte und verlor auf einem Auge ganz die Seh⸗ kraft, während ſie auf dem andern halb erblindete. Sie machte ſich bittere Vorwürfe, zur Dirne herabgeſunken zu ſein und wurde in⸗ folgedeſſen ganz ſchwermütig. Aber trotz dieſes bejammernswerten Zuſtandes mußte ſie nach ihrer Entlaſſung aus dem Krankenhaus aus bitterer Not bei ihrem ſchändlichen Gewerbe bleiben, denn irgend eine andere Stellung anzunehmen, war ja unter dieſen Um⸗ ſtänden ganz ausgeſchloſſen. Die ältere Schweſter von Marie, die ſeit Jahren nichts mehr von ihr gehört hatte, wandte ſich einige Zeit ſpäter (nachdem Marie bereits 6 Jahre in Berlin war) an das Kgl. Polizeipräſidium zu Berlin mit der Bitte, ihre Schweſter aus⸗ findig zu machen. Wer beſchreibt ihren Jammer und ihr Entſetzen, als ſie erfuhr, daß ihre Schweſter eine Dirne ſei! Sie, wie ihr Gatte, waren aber trotz alledem ſofort bereit, die verlorene Schweſter liebevoll in ihr Heim aufzunehmen, ſandten das Reiſegeld nach Berlin und mit dem nächſten Zuge kam Marie nach St. Die Ab⸗ ſicht der Verwandten war, Marie ſolange bei ſich zu behalten, bis ſie eine Stelle annehmen konnte. Sie gingen mit ihr ſogleich zum Arzt und erfuhren dort mit tiefem Schmerz, daß ſowohl das Augen⸗ leiden, als der Geiſteszuſtand der armen Marie unheilbar wären, daß ein blühendes Menſchenleben durch die vielen Jahre in dieſem ſchmachvollen Gewerbe ganz zugrunde gerichtet ſei. Da Schweſter und Schwager nur in beſcheidenen Verhältniſſen lebten, konnten ſie Marie nicht bei ſich behalten, und da ſie keinen Rat wußten, kamen ſie mit dem unglücklichen Mädchen in die Sprechſtunde der Polizei⸗ aſſiſtentin und baten um Hilfe. Die Polizeiaſſiſtentin ſchrieb an das Bürgermeiſter⸗ und Pfarramt der Heimatgemeinde des Mäd⸗ chens, welche ihr die traurige Lebensgeſchichte beſtätigten und ſich bereit erklärten, die Koſten in einem Magdalenenaſyl für Marie zu beſtreiten. So wurde Marie denn auf Koſten der Polizeiaſſiſtentin in ihre Heimat geſandt und in ein Magdalenenaſyl in liebevolle Obhut gebracht. 9. L. iſt Jüdin; hatte mit 20 Jahren ein Verhältnis mit einem Chriſten, das die Eltern, die ſehr fromme Juden ſind, nicht dulden wollten; ſie ging mit ihm durch nach Baden⸗Baden. Er bezahlte im Hotel, gab ihr auch Taſchengeld, ſie blieben 14 Tage dort, dann wurde es ihm langweilig, und er wollte ſie los werden. Als ſie ſich energiſch widerſetzte, zeigte er ſie wegen Gewerbsunzucht bei der Polizei an. Während ſie — weil es das erſte Mal war — nur verwarnt wurde, aber mehrere Stunden auf der Polizei bleiben mußte, machte er ſich aus dem Staube. Von der Polizei entlaſſen, 26 ſtand ſie auf der Straße. Heim durfte ſie nicht, Mittel hatte ſie nicht, leichtſinnig und ſinnlich veranlagt war ſie. Mit dem erſten Beſten ging ſie, dem folgten andere. „Und wenn ſie erſt der Eine hat, ſo hat ſie bald die ganze Stadt“ (Fauſt). Einmal lernte ſie auf der Straße ein Mädchen kennen, die in verſchiedenen Bordellen bekannt war und ihr zuredete, mit ihr in ein ſolches zu gehen. Sie reiſten nach Wien, gingen dort zuerſt in ein Strichhaus (wohin die Mädchen die Herren von der Straße bringen), dann in ein eigent⸗ liches Bordell. Da ſie dort aber von der Wirtin ſehr ausgenutzt wurde und hörte, daß das „Geſchäft“ in St. viel beſſer ginge, kam ſie nach St. Hier war ſie 1/4 Jahr, mußte täglich 8 Mark für ein kleines, ſchlecht möbliertes Zimmer zahlen, 4 Mark für Be⸗ dienung und weitere 8 Mark für Eſſen und Trinken, zuſammen 20 Mark. Trotzdem konnte ſie neben der Anſchaffung von Wäſche und Kleidung und Schmuck in verhältnismäßig kurzer Zeit 4000 Mark ſparen. Sie hatte die ganze Judenkundſchaft, empfing täglich 20 bis 30 Männer, galt unter den „Kolleginnen“ für eine ganz beſonders ſchamloſe perverſe Perſon und wurde ſchließlich ſo nervenkrank, daß ſie ſich an die Polizeiaſſiſtentin wandte mit der Bitte ihr zu helfen. Dieſe ging mit ihr in die Wohnung, packte alle ihre Sachen zu⸗ ſammen und brachte das Mädchen im Voraſyl unter. L. ſchien reuig, verſprach einen ganz neuen Lebenswandel anzufangen, wenn ihre Eltern, von denen ſie ſeit 3 Jahren nichts mehr gehört hatte, ihr verzeihen würden. Auf mehrfache Briefe der Polizeiaſſiſtentin an die Eltern erfolgte keine Antwort. Darauf reiſte dieſe mit L. ohne Anmeldung nach der Heimat, dem kleinen Städtchen S. in Baden. Auf dem Bahnhof erfuhren ſie von Leuten, welche die L. nicht er⸗ kannten, daß der Vater vor 2 Jahren aus Gram über den liederlichen Lebenswandel ſeiner älteſten Tochter geſtorben ſei, daß der Bruder, der dort ein gutgehendes Geſchäft hatte, mit Frau und Kind nach dem Preußiſchen verzogen ſei, wo niemand von der Schande ſeiner Schweſter etwas wiſſe, daß ihre jüngere 20 jährige Schweſter, welche längere Zeit im Ausland geweſen ſei, wegen der Ähnlichkeit mit der älteren Schweſter oft für dieſe gehalten wurde und ihr durch böſe Reden und Geſten auf der Straße das Leben ſo ſchwer gemacht worden war, daß die Mutter ſie vor einem Jahr zu einer Couſine nach Amerika ſandte. „Seither iſt die alte Frau ganz verlaſſen“, ſagte einer der Erzähler, ſie iſt ſo verzweifelt, wie erſtarrt in ihrem Schmerz und ihrer Einſamkeit, daß ſie gar nicht mehr das Haus verläßt, ſich einſchließt und niemand ſie beſuchen darf. Dieſes Luder von L. hat die ganze Familie zugrunde gerichtet, totſchlagen ſollte man ſie. „L. ſchwieg und mit bangem Herzen ſuchten die Polizei⸗ aſſiſtentin und ihr Schützling die Wohnung der Mutter auf. Je näher ſie kamen, je verzagter wurde L. Endlich klopfte ſie an die Türe, doch wurde ihnen beharrlich der Eintritt verwehrt. Schließ⸗ lich gelang es der Polizeiaſſiſtentin, ſich Einlaß zu verſchaffen. Sie fand die alte Frau ganz gebrochen, tiefer Gram ſprach aus ihren Zügen. Die Polizeiaſſiſtentin ſagte ihr, daß L. ſich endlich beſſern 27 wolle, daß ſie jetzt die verlorene Tochter nicht von ſich ſtoßen dürfe, da ſie dereinſt vor Gott Rechenſchaft werde ablegen müſſen uſw. Als L. nach einigen Stunden eintreten durfte, warf ſie ſich der Mutter zu Füßen, küßte ihre Hände und Kleider und ſchwor bei dem An⸗ denken an den ſeligen Vater, jetzt ein reines Leben zu führen und die Mutter zu entſchädigen für alle die Jahre voll ſchweren Herze⸗ leids, die ſie ihr bereitet. Es war eine erſchütternde Szene. Da L. nicht in ihrer Heimat bleiben konnte, ſo beſchloſſen ſie, nach H. zu gehen, wo ſie die Schneiderei erlernen wollte. Es liegt in der Nähe von S., und ſo konnte ſie jeden Sonnabend abend zu ihrer Mutter kommen und bis Montag dort bleiben. Zwei Monate hielt L. ſich gut. Die Mutter lebte nach langen Jahren wieder auf und hoffte, ſpäter mit ihrer Tochter zuſammen ziehen zu können. Da erhielt die Polizeiaſſiſtentin eines Tages eine Anfrage von der alten Frau, wie es ihrer Tochter ginge. Sie ſei am letzten Sonnabend nicht gekommen und auf ihre Anfrage habe ſie kein Lebenszeichen erhalten, ſie werde ſich doch nicht überarbeitet haben, die Arme, in ihrem Eifer, der Mutter den Lebensabend möglichſt zu verſchönern. Die Polizei⸗ Aſſiſtentin ſchrieb ſofort an die Wirtin der L. Dieſe antwortete, daß L. in letzter Zeit mehrfach Briefe aus einem öffentlichen Haus in M. erhalten habe, mit der Aufforderung zurückzukehren; doch habe ſie dieſe Briefe anſcheinend gar nicht beachtet. Da ſei eines Morgens ein Eilbrief gekommen, mit der Nachricht, daß jetzt das Geſchäft ſo gut ginge und ein Platz frei wäre. Den Brief habe L. lange Zeit geleſen und immer wieder geleſen, dann habe ſie ihre Sachen gepackt und ſei verſchwunden. Den Brief fand die Wirtin unter ihrem Bett: L. muß ihn wohl in der Eile verloren haben. 10. Ein Mädchen, Anfang der 40 er Jahre, das im ganzen ſechsmal Aufnahme im Voraſyl fand, ſtand früher unter ſittenpolizeilicher Kontrolle. Unehelich geboren und ohne rechte Erziehung aufge⸗ wachſen, kam ſie gleich nach ihrer Konfirmation in eine Fabrik, wo ſie unter leichtſinnigen Mädchen und Männern bald verführt wurde und immer mehr in das Laſter verſank. Mit 18 Jahren wurde ſie dann von einem wohlhabenden, verheirateten Ingenieur ganz unterhalten. Sie hatte eigne Wohnung, Wagen, Pferde und Diener⸗ ſchaft, konnte ſich elegant kleiden, Theater und Konzerte beſuchen und ſah keinen ihrer Wünſche unerfüllt. Fünf Jahre lang führte ſie dieſes Leben, dann wurde ſie desſelben überdrüſſig, lief heimlich fort und ging zu ihrer Mutter. Aber die Reue hielt nicht lange vor. Als ihr erſpartes Geld zu Ende ging und ſie ſich durch ihrer Hände Arbeit hätte ihr Brot verdienen müſſen, fielen auch ihre guten Vor⸗ ſätze wieder zuſammen. Sie ging abermals von der Mutter und der Heimat fort und lebte nun ganz von ihrem ſchändlichen Gewerbe. Sie wurde bald zwangsweiſe unter Kontrolle geſtellt und nach einigen 28 Jahren in einem Arbeitshaus untergebracht. Hier wurde ſie von ihren Genoſſinnen vollends in alle Gaunertriks eingeweiht und ent⸗ wickelte dann auch nach ihrer Entlaſſung in allen dunklen Künſten, wie Diebſtahl, Hehlerei, Zechprellerei uſw. eine ganz bedenkliche Fertigkeit. Viele Jahre verbrachte ſie hierauf im Gefängniſſe und Zuchthaus und wurde dann in einer Rettungsanſtalt aufgenommen. Sie hatte im Gefängnis das Nähen und Sticken erlernt, und da ſie dies gern und mit viel Geſchick betrieb, ſich auch manierlich aufführte, war ſie bald in der Anſtalt ſehr beliebt. Sie konnte ſich jedoch auf die Dauer nicht an ein geordnetes Leben gewöhnen; nach 4 Monaten bat ſie um ihre Entlaſſung und kehrte freiwillig ins Voraſyl zurück Sie bekam einen Monatsdienſt, blieb aber im Voraſyl wohnen. Oft klagte ſie der Hausmutter, daß ſie ſich nicht mehr an ein anſtändiges Leben gewöhnen könne und es ſie täglich einen großen Kampf koſte um nicht wieder rückfällig zu werden. Die Hausmutter gab ihr den Rat, ſie möchte, ſo oft ſie in Verſuchung komme, das Vaterunſer beten, was ſie zu befolgen feſt verſprach. Sie kam nun oft ganz atemlos nach Hauſe und erzählte, daß ſie auf dem Heimwege, um der Verſuchung zu widerſtehen, gebetet habe und ſo raſch, als möglich gelaufen ſei, um ſtark zu bleiben. So ging es einige Wochen fort. Sie fand dann eine feſte Anſtellung als Aufſeherin in der Waſchküche eines Kranken⸗ hauſes, wo ſie ſich 14 Tage zur vollen Zufriedenheit hielt. Dann er⸗ fuhr die Oberin jedoch, was ſie früher geweſen und erklärte, ſie nicht behalten zu können. S. kehrte ſehr verbittert in das Voraſyl zurück, ſah ſich nach neuer Stellung um, blieb dabei aber oft eine Nacht fort, fing an zu trinken und mußte daher entlaſſen werden. Sie führt jetzt das alte Sündenleben weiter und verbüßt augenblicklich eine längere Gefängnisſtrafe wegen Diebſtahls. IV. Gibt es „geborene“ Proſtituierte? Wenn wir nun, — nachdem wir an einigen Beiſpielen geſehen, durch welche Umſtände junge Mädchen der Proſtitution verfallen und den Lebenslauf einiger Proſtituierten kennen gelernt haben, — uns wieder die Frage vorlegen: Wer hat recht? Der Philantrop, der die „Not“ als Urſache der Proſtitution anſieht, oder der Moraliſt, der die „Sünde“, oder der Schüler Lombroſos, der „Prä⸗ deſtination“ für die Triebfeder des Laſters hält, ſo werden viele Menſchen ſicherlich zu dem Reſultate kommen: Alle drei haben recht! Es liegt eine gewiſſe Wahrheit in dieſem Urteil, und doch ſtehen wir nicht an, zu behaupten, daß es faſt in allen Fällen wirtſchaftliche Urſachen, d. h. die Not, das ſoziale Elend ſind, die die Mädchen der 29 Proſtitution auslieferten.*) Selbſt in den Fällen, wo ſcheinbar die anderen Urſachen vorliegen. In dieſen Fällen müſſen wir uns eben fragen: Woraus entſpringt denn dieſe jugendliche Laſterhaftigkeit? Und wenn wir den Dingen auf den Grund gehen, ſo werden wir ſehen, daß ſie teils die Frucht mangelhafter Erziehung, böſen Beiſpiels, früher Verwahrloſung oder gar Verführung von ſeiten der eigenen Angehörigen iſt (alles Dinge, die im ſozialen Elend wurzeln) oder daß ſie einer pathologiſchen Veranlagung, einer erb⸗ lichen Belaſtung entſpringt. Dieſe erbliche Belaſtung aber hat wiederum ihren Urſprung in dem Milieu, dem die Eltern und Groß⸗ eltern entſtammten, alſo ſtoßen wir auch hier auf die Wurzel, die „ſoziales Elend“ heißt. Und doch wird das Argument von der „geborenen Proſtituierten“ von vielen wohlmeinenden Leuten aufrecht erhalten und durch den Beweis geſtützt, daß die Proſtituierten häufig einen unausrottbaren Hang zum Laſter zeigen und jedem Rettungsverſuch paſſiven Wider⸗ ſtand entgegenſetzen. Sie bedenken bei dieſem Urteil nicht, daß es Tauſende von Frauen gibt, die keine Würde zu verlieren haben, weil ſie niemals auch nur die allerelementarſten Begriffe von Sittlichkeit und Scham⸗ haftigkeit kennen lernten. Nicht ihre „eingeborenen, laſterhaften Triebe“, wohl aber das ganze Milieu in dem ſie aufwuchſen, prä⸗ deſtiniert ſie zu dem Laſterleben. Jeder, der einmal die pſychiſche Entwickelung behüteter Kinder beobachtet hat, weiß, daß dem Kinde Schamgefühl nichts an⸗ geborenes iſt, ſondern ihm anerzogen wird; beim Kinde iſt Unſchuld und Harmloſigkeit (d.h. Mangel an Schamgefühl) identiſch; es lernt die Wahrung der Schicklichkeit, wie es andere, rein äußer⸗ liche Anſtandsregeln lernt, ohne ſich des tieferen Sinnes bewußt zu werden. Dies anerzogene Anſtandsgefühl aber geht nach und nach ſo in Fleiſch und Blut des Kindes über, daß es tatſächlich zu einem Teil ſeiner Weſensart wird und darum als etwas eingeborenes erſcheint; zur Zeit der Geſchlechtsreife, der erwachenden Triebe, aber wird dies ſittliche Feingefühl zu einer mächtigen Schutzwehr vor jeder Verſuchung. Und zwar in doppelter Hinſicht: Nicht nur das junge Mädchen ſcheut vor allem Unreinen zurück, ſondern der Mann reſpektiert dieſe Reinheit, er wüirde es als etwas ſchmachbolles be⸗ trachten, ſie zu beſudeln. Die Keuſchheit des jungen Mädchens iſt ihm heilig, verehrungswürdig — ja, mehr noch, es iſt ihm ein Bedürfnis. Erholung und Ruhe in reiner Atmosphäre zu ſuchen, nachdem er im Schmutz gewatet. Dabei macht er ſich nicht klar, daß Reinheit eben⸗ ſowenig Naturanlage iſt, wie Schamloſigkeit, daß beides vielmehr als ein Produkt der Verhältniſſe anzuſehen iſt, und daß es vielfach das Verdienſt reſp. die Schuld des Mannes, mehr als die der betreffenden ¹ Vergl. A. Pappritz: Die wirtſchaflichen Urſachen der Proſtitution, Verlag. von Walther, Berlin. 30 Frauen ſelbſt iſt, ob ſie zu der einen oder der anderen Kategorie ge⸗ hören. Der junge Mann, der der Tochter des Hauſes mit ausgeſuchter Ehrerbietung begegnet, erlaubt ſich fünf Minuten ſpäter dem Dienſt mädchen gegenüber eine unpaſſende Vertraulichkeit, und doch würde er es mit Entrüiſtung zurückweiſen, wenn man ihm Mangel an Ach⸗ tung vor der Frau vorwürfe. Die Frage, warum er der „Dame“ gegenüber eine Vertraulichkeit, die er ſich mit dem Dienſtmädchen ge⸗ ſtattet, nicht wagen würde, beantwortet er mit einem Hinweis auf ſeine „Erfahrungen“. So glaubt der Mann, daß ein großer Teil des weiblichen Geſchlechtes „dazu geſchaffen iſt“, daß er dieſem gegenüber die in der Theorie ſo oft beteuerte „Achtung vor dem Weibe“ hintenan ſetzen darf, ohne ſeiner Ehrbarkeit und Gewiſſenhaftigkeit etwas zu vergeben, und er grübelt garnicht über das wunderbare Naturſpiel nach, daß die Natur, die ihre Gaben doch ſonſt gleichmäßig verteilt, die ſchöne Gabe der Keuſchheit nur für einen engumkränzten Kreis von weiblichen Weſen reſerviert. Jeder Mann aber, der die Reinheit ſeiner Gattin und Tochter als koſtbarſten Schmuck bewertet, ſollte ſich klar machen, daß ſie unter denſelben Umſtänden aufgewachſen, auch nichts anderes geworden wären als jene, die er in ſeiner Jugend als Genußobjekte gebrauchte, um ſie nachher zu verachten. Wie kann Schamhaftigkeit überhaupt in dem Gemüt von Kindern erweckt werden, die in den engen Großſtadtbehauſungen, mit Erwachſenen beiderlei Geſchlechts das Zimmer, wenn nicht gar das Bett, teilen, denen die intimſten ſexuellen Vorgänge kein Geheimnis bleiben, ja deren Augen und Ohren von früh an Zeugen abſcheulicher Roheiten ſind? Statt der Schamhaftigkeit, die, wie wir wiſſen, einen ſegens⸗ reichen Schutzwall für die erwachenden Triebe bildet, wird vielmehr die Sinnlichkeit dieſer Kinder früh geweckt und in ungeſunder Weiſe aufgeſtachelt. Ab und zu dringt dann die Kunde abſcheulicher Ver⸗ brechen an unſer Ohr, die wir mit Schaudern leſen, aber ſo bald wie möglich wieder aus unſerm Gedächtnis zu löſchen ſuchen, indem wir uns damit tröſten, daß es ſich ja nur um „vereinzelte Aus⸗ nahmefälle“ handelt. Derartige Scheußlichkeiten ſind aber viel häufiger, als man im allgemeinen annimmt. Wenn wir leſen, daß kürzlich vor dem Landgericht zu Berlin vier Kinder wegen Sittlich⸗ keitsverbrechen und Blutſchande verurteilt wurden, von denen das Mädchen 14 Jahre, die drei Knaben 12 und 13 Jahre alt waren, ſo müſſen wir uns ſagen, daß dies nur ein Symptom der inneren Fäul⸗ nis iſt, ein Geſchwür, daß einmal an einer ſichtbaren Stelle zu Tage tritt, während ſonſt der Eiter am inneren Organismus zehrt. Zeugen in dieſem Prozeß waren Knaben und Mädchen, die ſich derſelben Sache ſchuldig gemacht hatten, die aber nicht angeklagt werden konnten, weil ſie noch nicht das ſtrafmündige Alter von 12 Jahren erreicht hatten. Was wird nun aus dieſen Kindern? Die Strafe von 3—12 Monaten, welche die älteren zudiktiert erhielten, wird dieſe nicht beſſern; ſie kehren höchſtens noch raffinierter in dieſelben Verhäll⸗ 31 niſſe zurück und werden zu Lehrmeiſtern des Laſters für die Jüngeren. Und das Ende? Verbrechen, Zuhältertum, Proſtitution! Aus der Gerichtsverhandlung ging hervor, daß die Eltern der angeſchul⸗ digten Kinder in den ärmlichſten Verhältniſſen leben, daß ſie auf Wohnungen angewieſen waren, die nur aus einer Stube beſtanden ². Wie hundortfältig aber mögen derartige Verhältniſſe zu ähnlichen Zuſtänden führen, ohne daß es an die Oeffentlichkeit dringt! Und wenn die Kinder auch nicht tatſächlich zu Verbrechern werden, ſo wachſen ſie doch in einer Zuchtloſigkeit auf, ſo wird ihre Phantaſie doch mit Bildern genährt, die ſie ſpäter naturgemäß auf die Straße treibt. Das ſind dann die ſogenannten „geborenen“ Proſtituierten. Sind ſie es aber nicht vielmehr geworden, geworden aus zwingenden Umſtänden heraus, ebenſo wie die anderen zu reinen Frauen wurden, weil das Milieu, in dem ſie erwuchſen, ſie dazu machte? — Es iſt ſtatiſtiſch nachgewieſen, daß die meiſten Proſtitu⸗ jerten bereits mit dem 16. und 17. Jahre auf die Bahn des Laſters getrieben werden, und auch hier iſt, wie Dr. Bonhoeffer aus Breslau“) ſehr richtig bemerkt, die Proſtitntion eine „gewiſſermaßen ſelbſtver⸗ ſtändliche, polizeilich beaufſichtigte Fortſetzung bisheriger Gewohn⸗ heiten“. Wie viele Tauſende von Mädchen wachſen auf, denen dieſe „Gewohnheiten“ als etwas naturgemäßes erſcheinen. Auch in dieſer Hinſicht ſind die Enthüllungen der Gerichtsſäle nichts anderes als ſymptomatiſche Beweiſe. Der „Fall Sternberg“ iſt durchaus keine allzuſeltene Ausnahme. Schreiberin dieſer Zeilen hatte ſich bei einem Bureau für Zeitungsausſchnitte zum Zwecke einer ſtatiſtiſchen Arbeit auf Nachrichten über Sittlichkeitsverbrechen abonniert; im Laufe der erſten Woche liefen 40 „Fälle“ ein. Vielfach handelte es ſich um die Aushebung von Kupplerhöhlen. So ſagt ein Berliner Bericht: „M. R. bewohnte eine aus zwei Zimmerchen und einer Kiiche beſtehende Woh⸗ nung (folgt genaue Angabe der Straße ².). Ihr Treiben, auch die Tatſache, daß ſchulpflichtige Mädchen die Wohnung beſuchten, war in der Nachbarſchaft wohlbekannt. Der Herrenbeſuch ſoll äußerſt zahl⸗ reich geweſen ſein, und zwar kamen die Beſucher faſt nie zur Nacht⸗ zeit, ſondern gewöhnlich während der Nachmittagsſtunden. Die Herren waren durchweg elegant gekleidet und machten, wie ein Bewohner des Hauſes verſichert, den Eindruck, als ob ſie viel Geld in der Taſche hätten, und etwas ſpringen ließen“. Es ging dort ſehr luſtig zu; die R. mußte ſich einen Bedienten anſchaffen, der vollauf damit zu tun hatte, Vier und Wein für die Gäſte zu holen. Im zweiten Stock des⸗ ſelben Hauſes betrieb eine andere Frau ein ähnliches Geſchäft. Das Einvernehmen zwiſchen den beiden Inſtituten ſoll ein ſehr kordiales geweſen ſein. Wenn der Herrenbeſuch in dem ein en Eta⸗ bliſſement zu zahlreich war, ſo machte ſich das andere ein Vergnügen daraus, mit ſeinem „Perſonal“ auszuhelfen“. — Die Kupplerin wandert natürlich ins Zuchthaus, die Kinder werden ſpäter *) Im 23. Band der „Zeitſchrift für die geſamte Strafrechtswiſſenſchaft“ 32 die Liſten der Sittenkontrolle reſp. die Bordells füllen, und die „Herren“ — — —? Sie werden ſtets in derartigen Berichten tot⸗ geſchwiegen. Es ſcheint niemals zu gelingen, ſich ihrer zu bemäch⸗ tigen. Die Kinder, um die es ſich in dieſem Falle handelt, waren Mädchen von 11 Jahren. Aus anderen Berichten leſen wir, daß ein Bildhauer das vierjährige Töchterchen ſeiner Wirtsleute, an deren Tiſch er teilnahm, mißbrauchte; ein Stiefvater ſeine elfjährige Stief⸗ tochter, ein Vater ſeine eigenen drei Töchter von 5, 9 und 12 Jahren, ein Kellner das 8 jährige Töchterchen ſeiner Wirtin. In allen dieſen Fällen wurden die Kinder mit einer Geſchlechtskrankheit angeſteckt und dieſe wurde zur Verräterin des Verbrechens. Wie viele tauſend Fälle aber blieben unentdeckt; ſelbſt dann, wenn eine Anſteckung er⸗ folgte, wird dieſelbe aus Scham, Unkenntnis oder Trägheit nur zu häufig verheimlicht. Unter den im Jahre 1899 in den öffentlichen Krankenhäuſern im Königreich Preußen behandelten geſchlechts⸗ kranken Frauen (im ganzen 13971) befanden ſich 434 Kinder unter 14 Jahren und 4 268 Mädchen von 15—20 Jahren. In wie vielen Fällen mag hier ein Verbrechen zu Grunde liegen?! Wenn man be⸗ denkt, wie ſelten eine derartige Erkrankung zur Spitalbehandlung kommt, ſo wird man die Zahl getroſt mit 4 multiplizieren können, ehe man ihre tatſächliche Höhe erreicht. — Beachtenswert ſind auch die Tatſachen. die Dr. Bonhoeffer in ſeiner bereits erwähnten Studie angibt. Von den 190 Proſtituierten, an denen er Beobachtungen ge⸗ macht hat, waren 102 Kinder von Alkoholikern, 95 ſelbſt regelrechte Alkoholiſtinnen, 115 beſaßen auch nicht die allerelementarſten Schul⸗ kenntniſſe, bei 72 war eine ſchlechte Erziehung nachweisbar. — Dieſe Zahlen decken ſich vollkommen mit dem Material anderer Fachleute und ſollten eigentlich genügen, um die immer wieder aufgetiſchte Behaup⸗ tung zu entkräften, daß die Mädchen aus „Putzſucht, Vergnüguns⸗ ſucht und Sinnlichkeit“ einen bequemen Verdienſt auf der Straßc ſuchen. Gewiß ſollen dieſe Motive keineswegs ganz abgeleugnet werden, man ſoll nur nicht die daraus ſo häufig gezogene Schluß⸗ folgerung unterſchreiben, daß es ſich hier um „angeborene Ver⸗ anlagung“ handelt, die auch durch ſoziale Reformen nicht zu heben ſein würde. Dies iſt ein fundamentaler Irrtum, der gar nicht ener⸗ giſch genug bekämpft werden kann: Naturtriebe, die jedem Menſchen innewohnen, können durch Erziehung gebändigt, verfeinert, in ſitt⸗ liche Bahnen gelenkt werden. Die Natur ſchuf nicht „ſinnliche“ Frauen, die ſie als Luſtſklavinnen zu Unzuchtszwecken prädeſtinierte und „keuſche Frauen“ zu Fortpflanzungszwecken innerhalb der Ehc, ſondern auch die Frauen ſind, ebenſo wie die Männer, das Produkt von Naturanlagen und ſozialen Verhältniſſen. Sind dieſe letzteren derartig geſchaffen, daß ſie die Entwickelung des Schamgefühls zur Unmöglichkeit machen, die Sinnlichkeit durch Unterernährung, böſes Beiſpiel, vorzeitige Reizung aufſtacheln, ſo fehlt dem Mädchen jedes hemmende Motiv, das ſie vor dem Fall bewahren könnte. Eine ſtarke ſinnliche Veranlagung iſt an ſich nicht als „zur Pro⸗ ſtitution prädeſtinierend“ anzuſehen. Wenn wir uns das Leben be⸗ 33 rühmter Frauen ins Gedächtnis zurückrufen, ſo werden wir unter ihnen manche finden, die ſich durch ſtarke Sinnlichkeit auszeichneten und trotzdem edle Naturen waren; in dem Milieu eines groß⸗ ſtädtiſchen Proletariats aufgewachſen, würden dieſe Frauen, die eine Zierde ihres Geſchlechtes waren, in der Goſſe geendet haben. Dasſelbe gilt von unzähligen „behüteten“ Frauen. Es bedarf durchaus nicht immer einer beſonders ſtarken ſinnlichen Veranlagung, um die Mäd⸗ chen dem traurigen Los der Proſtitution zuzuführen. Die Beiſpiele, die hier angeführt wurden, und die ins Unendliche vermehrt werden könnten, ſprechen von kleinen Kindern, deren Sinnlichkeit phyſiolo⸗ giſch noch gar nicht geweckt ſein kann und trotzdem die Opfer der troſt⸗ loſen ſozialen Verhältniſſe wurden, die die Frühverdorbenen natur⸗ gemäß zur Proſtitution drängen. Wenn wir das Leben jeder einzelnen Proſtituierten verfolgen könnten, würden wir vielleicht erkennen, daß in den meiſten Fällen die Keime der Fäulnis, die ihr Leib und Secle verdarben, weit, weit zurückliegen, ſie in einer Zeit vergifteten, wo von perſönlichem Ver⸗ ſchulden noch garnicht die Rede ſein kann, wo demnach auch jeder Vor⸗ wurf ſchweigen muß. Wer dieſe Zuſtände einmal rückſichtslos ent⸗ ſchleiert und ihnen ohne Voreingenommenheit auf den Grund geht, der wird die Frage: Gibt es „geborene“ Proſtituierte? mit einem „nein“ beantworten. Selbſtredend gibt es auch unter den Proſtituier⸗ ten erblich belaſtete, anormale, pathologiſche Frauen, aber es gibt keinen Frauen⸗Typus, den man, anthropologiſch geſprochen, als „zur Proſtitution prädeſtiniert“ bezeichnen könnte. Die meiſten „anor⸗ malen“ Proſtituierten aber wurden erſt pſychiſch defekt durch das traurige Gewerbe, das ſie treiben; bei ihnen iſt „moral insanity nicht die Urſache, ſondern die Wirkung des Laſterlebens Wenn nun trotz all der wiſſenſchaftlichen Studien, die das Gegenteil beweiſen, immer wieder die Behauptung aufgeſtellt wird, daß es die „Sinn⸗ lich keit undangeborene Laſterhaftigkeit“ ſei, die die Frau zur Proſtitution treibt, ſo iſt dies eine bewußte oder unbewußte Verleugnung der realen Tatſachen, die aus Bequemlichkeit, oder um das eigne und ſoziale Gewiſſen einzuſchläfern, nachgeſprochen wird. Es ſollte aber vielmehr das Beſtreben aller ſein, das ſoziale Gewiſſen zu wecken und es jedem Einzelnen immer und immer wieder ins Bewußtſein zurüickzurufen: „Es gibt keine von der Natur zur Un⸗ zucht prädeſtinierten Frauen, keine geborenen Proſtituierten, deren man ſich ohne Gewiſſensſkrupel bedienen darf; die es wurden, wurden es unter dem Zwange ſozialer Verhältniſſe und jeder, der aus dieſen Verhältniſſen Vorteil zieht, oder ſie nur duldet, ſtatt ſie mit aller Energie zu bekämpfen, macht ſich zum Mitſchuldigen an dem ſeeliſchen und phyſiſchen Verderben von Tauſenden unſerer Volks⸗ genoſſen. Pappritz, A.: Welt, von der man nicht ſpricht. 6 34 V. Sind Proſtituierte zu retten? Dieſe Frage läßt ſich mit einem glatten „nein“ beantworten, ſobald es ſich um die obengenannten „Erblich Belaſteten“ handelt, jene unglücklichen Geſchöpfe, die ohne den moraliſchen Halt zur Arbeit und zur Selbſtzucht zu beſitzen, der Spielball ihrer eignen Triebe und der Bosheit anderer ſind. Man könnte ſie „geborens Anſtaltsmenſchen“ nennen. Ein genauer Kenner dieſer Ver⸗ hältniſſe, Paſtor Iſermeyer ſchildert uns die Perſönlichkeit ſolcher unglücklichen pſychopathiſch⸗minderwertigen Perſonen in ſeiner Bro⸗ ſchüre: „Bilder aus dem Frauenheim in Hildes⸗ heim.“*) Er ſchreibt darüber: „Manche mußten aber wegen körperlichen und geiſtigen Defektes im Frauenheim behalten werden, weil ihre häuslichen Verhältniſſe nicht derart waren, daß wir ſie in ihre Familien zurückführen konnten. Ein großer Teil dieſer letzteren iſt erblich belaſtet. Die Eltern ſind entweder geiſtesgeſtört geweſen oder waren der Trunkſucht er⸗ geben. In Folge davon iſt auch der Prozentſatz der ſchwachſinnigen und pſychiſch verkehrten Perſonen, die im Frauenheim geſtrandet ſind, ſehr groß. Zu dieſem angeborenen Schwachſinn iſt dann noch die mangelhafte, liebloſe Erziehung getreten, und ſo iſt es nicht zu ver⸗ wundern, daß ſie ſo geworden, wie ſie eben ſind. Wiederholt ſind dieſe unglücklichen Menſchenkinder früher von ihren Eltern oder Vormündern in Dienſtſtellungen gebracht, denen ſie garnicht gewachſen waren, ſind dann noch von einem Dienſt zum andern gelaufen, wiederholt iſt ihnen das als Bosheit ausgelegt, das nichts anderes als ein Ausfluß des Schwachſinnes war, indem man Urſache und Wirkung verwechſelte. Sie waren eben nur beſchränkt arbeitsfähig, weil ſie durch ihre pſychiſch⸗perverſe Anlage in ihrem Willen gebunden und auf die Dauer unfäihig waren, den Befehlen der Herrſchaft nachzukommen. Wohl für einen Augenblick reichte ihre Willenskraft aus, ein Stüick Arbeit zu tun, aber ſehr bald trat einc ſolche Erſchlaffung ein, daß bei der oft durch den Schwachſinn ge⸗ hemmten Energie nur ein geringer Teil von Arbeit, die ein normaler Menſch leiften kann, ausgeführt werden konnte. — Dieſe pſycho⸗ patiſch⸗minderwertigen Perſonen, denen wir in unſerem nervöſen Zeitalter ſo oft begegnen, gehören ja zu den Schmerzens⸗ und Sorgenkindern jeder Familie. Während aber in den chriſtlichen Familien die Mutter gerade das ſchwächſte und zarteſte Kind am meiſten pflegt und mit aufopfernder Liebe und großer Geduld er⸗ *) Gebr. Wengler, Linden⸗Hannover. 1897. 35 zieht, ſo iſt in den unordentlichen Familien, aus denen unſere Aſy⸗ liſtinnen zum größten Teile ſtammen, das umgekehrte Verhältnis der Fall. Hier werden ſie oft beiſeite geſtoßen und auf das Erbärmlichſte mißhandelt. Durch liebloſe, verkehrte Erziehung ſind dieſe geiſtig defekten, oft ſkrophulöſen, blutarmen, bleichſüchtigen Mädchen noch ſtarrſinniger und verſtockter geworden. So geraten ſie auf dieStraße, werden Proſtituierte, manche kommen ins Gefängnis und ſtranden zuletzt im Frauenheim. — Zu dieſen bedauernswerten, ſchwachſinnigen jugendlichen Perſonen, von denen man immer noch hoffen kann, daß ſie nach Beendigung der Entwickelungsjahre zurecht kommen, müſſen wir diejenigen älteren Perſonen zählen, die nach einem jammer⸗ vollen Leben von Not und Elend, von Sünde und Schande, durch Trunkſucht oder Liederlichkeit ſo heruntergekommen ſind, deren Willenskraft durch eigene Schuld ſo ſchwach geworden iſt, daß ſie, auch wenn ſie keinen Tropfen Branntwein mehr trinken, ſich draußen in der großen Welt nicht mehr zurechtfinden und ohne Familienanhang und ohne Heimat, ganz auf ſich angewieſen, in ihrem hohen Alter nicht mehr auf eigenen Füßen ſtehen und ſich ihr Brot auf ehrliche Weiſe nicht mehr verdienen können. Es ſind dies vor Allem die alten geheilten Trinkerinnen, frühere Corrigendinnen oder Gefangene, die ſich oft muſterhaft in der Anſtalt führen und fleißig arbeiten, die aber einen Menſchen nötig haben, der für ſie denkt und ſorgt, der ſie leitet und führt. Es iſt ſehr zu bedauern, daß derartige Unglückliche lediglich auf die Wohltätigkeit ihrer Mitmenſchen angewieſen ſind, die natürlich nicht ausreichen kann, um ſie alle ihrem elenden Daſein zu entreißen, in dem ſie ſich ſelbſt und andere und damit die Allgemeinheit auf das Empfindlichſte ſchädigen.“ Wir müßten ſtaatliche Aſyle für dieſe „moraliſchen Krüppel“ haben, in denen ſie ihrer Befähigung entſprechend ausgebildet und zu nützlicher Arbeit angehalten werden. Statt deſſen glaubt die Ge⸗ ſellſchaft ſich berechtigt, ſie als Sklavinnen des Laſters in ſexueller Hinſicht auszubeuten, um ſie erſt, wenn ſie alt und häßlich geworden, der mitleidigen Fürſorge zu überantworten. Eine Rettung iſt jedoch möglich, ſobald die Gefallenen an ſich normal ſind, aber die Opfer der ungünſtigen Lebens⸗ umſtände wurden, die wir in den vorhergehenden Kapiteln eingehend geſchildert haben. Schwierig iſt die Rettung natürlich auch dann, hauptſächlich wegen des Mißtrauens, das dieſen Unglücklichen immer wieder entgegengebracht wird. Mißtrauen von ſeiten der Gutgeſinnten und Verlockung von ſeiten der Leichtfertigen und Laſterhaften, denen dieſe Armen, ſelbſt wenn ſie dem Sumpf entronnen ſind, immer noch als „Freiwild“, als leichte und bequeme Beute erſcheinen. Dieſe Schwierigkeit wächſt natürlich, je älter die Betreffende iſt, je länger ſie im Dienſte der Proſtitution geſtanden hat, denn dieſe wirkt der⸗ artig zerrüttend auf Leib und Seele, daß ſelbſt diejenigen, die an⸗ fangs „normal“ waren, durch ein längeres Verweilen in dieſem 3* 36 Sumpf „degenerieren“. Sie verlieren die phyſiſche und moraliſche Kraft, in ein geordnetes Leben zurückzukehren, ſie ſind wie der Trinker, der einen Abſcheu hat vor ſich ſelbſt und vor dem Alkohol, den es doch aber immer wieder mit unüberwindlicher Macht zu dieſem betäubenden Gifte zieht. Sind doch auch die meiſten Proſtituierten tatſächlich Alkoholikerinnen. Ein großer Fehler iſt es auch, wenn man in den Rettungs⸗ anſtalten die Gefallenen mit zu großer Strenge behandelt, ihnen immer wieder ihre „Sünde“ vorhält, ſie als Büßerinnen betrachtet und von ihnen Zerknirſchung und Reue verlangt. Die Klügſten unter ihnen bäumen ſich gegen dieſen Zwang auf; ſie ſagen ſich, daß ſie nicht ſchlechter, nur unglücklicher ſind, als andere; daß diejenigen, die ihnen in phariſäerhaftem Hochmut „Buße“ predigen, in ähnlicher Lage wahrſcheinlich ebenſo geſunken wären. Damit ſoll nicht etwa die Macht des religiöſen Einfluſſes geleugnet werden; er hat ſich viel⸗ fach als ſegensreicher Faktor erwieſen, doch ſoll es eine Religion der Milde und des Verſtändniſſes ſein, die den Gefallenen entgegenge⸗ bracht wird, und vor allem ſoll man dem berechtigten Wunſch der Jugend nach Lebensfreude, Abwechslung und Genuß Rechnung tragen. Es iſt m. E. der Erfolg, den die Rettungsanſtalten in England haben, darauf zurückzuführen, daß ſie einen heiteren, lebensfreundlichen Charakter tragen; ſie ſind mehr Erziehungs⸗ anſtalten als eigentliche Magdalenen⸗Aſyle; ſchon dieſe Bezeichnung ſollte ein für allemal für derartige Anſtalten vermieden werden. — Man ſollte die Gefallenen mehr als Unglückliche behandeln, denen man die rettende Hand reicht, nicht als Sünderinnen, die man durch ſtrafende Worte noch tiefer in ihrer Selbſtachtung herabdrückt.. Es ſtellt ſich ſonſt zu leicht bei ihnen das Gefühl ein: „ich bin ja nun doch einmal ſchlecht und verachtet, da iſts ja gleichgültig, was ich tue“ und in dieſem Gefühl iſt ein Zurückgleiten in den alten Sumpf leich⸗ ter, als wenn man im Menſchen das Gefühl der Selbſtachtung zu er⸗ wecken und zu kräftigen verſteht. Es gibt Frauen, die dieſen Schlüſſel zum Menſchenherzen be⸗ ſitzen. Laſſen wir uns von ihnen erzählen, welche Erfahrungen ſie auf dem Gebiete der Rettungsarbeit geſammelt haben. Eine Polizeiaſſiſtentin ſchreibt darüber: Wie aus der Statiſtik erſichtlich, ſchlugen die Verſuche, die Mäd⸗ chen in Privathäuſer zu bringen, in faſt allen Fällen fehl. Das Zweck⸗ mäßigſte ſind die Erziehungs⸗ reſp. Rettungsanſtalten, wo die Mädchen körperlich und geiſtig die richtige Pflege genießen, und all⸗ mählich wieder zu geſitteten, brauchbaren Menſchen erzogen werden. Wie ſchwer es iſt, dieſe Mädchen an ein geordnetes Leben zu ge⸗ wöhnen und ſie von ihren zum Teil ererbten Fehlern zu befreien, wird mir allerſeits beſtätigt. Beſonders groß iſt der Hang zur Un⸗ wahrheit, Trägheit, Sinnlichkeit; auch ſind die Mädchen ſehr empfind⸗ lich und geraten ohne Urſache oft in maßloſen Zorn. Seitens des Erziehungsperſonales bedarf es einer großen Wachſamkeit, Ausdauer, 37 Geduld und der weitgehendſten Milde, um dieſes Erziehungswerk ausführen zu können. Im ganzen ſind die Erziehungsreſultate günſtiger, als man gewöhnlich annimmt. Allerdings, wo die Er⸗ ziehung ſchon ſeit den erſten Kindheitsjahren vernachläſſigt wurde, wo die Kinder nur das ſchlechteſte Beiſpiel vor Augen gehabt haben, und erblich ſtark belaſtet ſind, iſt ein günſtiger Erfolg ſelten. Wenn dagegen ein Mädchen erſt in ſpäteren Jahren ins Unglück kam — und mag es noch ſo tief gefallen ſein — iſt Ausſicht auf Beſſerung vor⸗ handen, falls es zunächſt gelingt dasſelbe auf 2 Jahre — die Durch⸗ ſchnittszeit — in der Anſtalt zu behalten. Meiſt tritt die Aenderung allmählich, manchmal auch ſehr raſch ein. Manche, bei denen man kaum auf Erfolg hoffte, zeigten plötzlich eine raſche Umwvandlung und dann meiſtens eine gründliche und anhaltende Umkehr. Von großer Wichtigkeit iſt es, daß die Mädchen nach Verlaſſen der Anſtalt nicht wieder in die Gefahren der Großſtadt zurückkehren, ſondern in gefahr⸗ freie Stellung unter gute Aufſicht kommen, wo ſich die Hausfrau liebevoll ihrer annimmt; ſonſt ſind ſtets Rückfälle zu befürchten, da die Mädchen in ſich ſelten genügend moraliſchen Halt haben, um der Sünde zu widerſtehen. Viele Rückfällige kehren aber aus eignem Antriebe wieder reuig in die Anſtalt zurück und ſind traurig, wenn ſie dieſelbe wieder ver⸗ laſſen müſſen. Alle wirklich Geretteten betrachten die Anſtalt ganz als ihre Heimat, verleben dort ihren Urlaub und wenden ſich münd⸗ lich oder ſchriftlich ſtets an die Hausmutter, wenn ſie mütterlichen Rat brauchen. Wie unendlich ſchwer es aber auch den Mädchen fällt, gegen die Sünde zu kämpfen, erſehe ich aus zahlreichen Briefen. So ſchreibt mir ein 19 jähriges Dienſtmädchen: Liebe Schweſter H.! „Im Namen der anderen Mädchen möchte ich Ihnen herzlich danken dafür, daß ſie uns den Weg in dieſes Haus gewieſen haben. Wir füihlen uns ja ſo glücklich bei den lieben Schweſtern, die ſich ſo viel Mühe geben, uns zu brauchbaren Menſchen zu erziehen. Leider müſſen wir geſtehen, daß wir ihnen die Arbeit oft recht erſchweren durch unſere vielen Fehler, die zu bekämpfen ſind. Es fällt uns oft ſchwer im Kampf gegen die Süinde und dann beten wir: Jeſu hilf ſiegen und Jeſus hilft immer, wenn unſer Gebet ernſtlich iſt. Aber auch zu danken haben wir täglich Gelegenheit. Wir dürfen ſo viel Schönes und Gutes hören, dürfen ſo vielerlei lernen und haben außerdem viele herzliche Freude, welche die Welt nicht kennt und verſteht. Am 27. September durften wir unſer Erntefeſt feiern. Unſer verehrter Herr Stadtpfarrer ſprach ſo ſchön von der Beſchaffenheit des Paradieſesmenſchen; er ſoll fröhlich, dankbar und arbeitſam ſein. Wir Mädchen könnten alle ſo werden und unſer Haus in ein Paradies Gottes umgeſtalten, das es ſein ſollte. Noch eine große Bitte haben wir noch an Sie. Bitte beſuchen Sie uns recht bald wieder; wir freuen uns immer ſo herzlich, wenn 38 Sie kommen. Seien Sie innigſt gegrüßt von allen, beſonders aber von Ihrer dankbaren L. Und eine andere, 18 Jahre alt, ſchreibt: „Heute ſind es gerade 8 Wochen, daß ich hier bin. Es gefällt mir recht gut, nur hie und da kommt Satan mit ſeinen Verfüh⸗ rungen, da heißt es dann immer feſt beten, daß man der Verſuchung widerſteht, uſw. Wenn, wie wir geſehen haben, eine Rettung möglich, obgleich ſchwierig iſt, ſo dürfen wir jedoch niemals vergeſſen, daß es ſich bei jeder Rettungsarbeit immer nur um verſchwindend wenige handelt, daß das eigentliche Uebel der Proſtitution dadurch nicht gehoben wird. Um dieſes einzudämmen, bedarf es anderer ſozialpolitiſcher Maßregeln von weiteſtem Umfange; es bedarf einer Sozialreform, der es gelingt, die Jugendlichen vor dem Herabſinken in das Laſter zu ſchützen. Bewahrung, nicht Rettung muß die Parole heißen.*) Für die bewahrende Tätigkeit gibt das Preußiſche Fürſorge⸗ Erziehungsgeſetz eine Handhabe, doch reicht dieſelbe nicht annähernd aus, und das Geſetz bedarf noch in hohem Maße der Erweiterung. Beſonders klagen alle Sachverſtändigen darüiber, daß es in ſehr vielen Fällen zu ſpät, d. h. erſt dann zur Anwendung kommt, wenn die ſitt⸗ liche Verwahrloſung bereits eingetreten iſt, während das Geſetz vor⸗ beugend wirken, d. h. die Gefährdeten ihrem Milieu ent⸗ reißen und ſie vor der Verwahrloſung ſchützen ſollte. Eine Beſſerung der Zuſtände auf dieſem Gebiet wird aber erſt dann eintreten, wenn die Geſellſchaft endlich mit dem Vorurteil bricht, daß eine Proſtitution notwendig iſt. Aus den oben erzählten Bei⸗ ſpielen geht nur zu deutlich hervor, wie ſchnell bereit viele Eltern ſind, ihre einmal gefallene Tochter zu verſtoßen, wie jeder Leichtſinn ihr ſofort als völlige Verderbtheit ausgelegt wird; und ebenſo iſt die Welt bereit, dieſe Verſtoßene immer tiefer in den Sumpf zu drängen, ſtatt ihr die rettende Hand zu reichen. Mit ganz anderer Nachſicht und Milde geht man den Knaben, dem jungen Manne nach, der auf Abwege geraten iſt, um ihn vor der Verbrecherlaufbahn zu bewahren. Warum? weil man in dem Verbrecher den ſozialen Schädling aner⸗ kennt, während man die Proſtituierte als ſoziale Notwendigkeit be⸗ trachtet, die die Geſellſchaft nun einmal braucht. Selbſtverſtändlich ſind ſich die meiſten Menſchen deſſen nicht bewußt, aber ganz unwill⸗ kürlich, ganz inſtinktiv und unbewußt laſſen ſie ſich von dieſem Motiv leiten. Das Dogma von der ſozialen Notwendigkeit der Proſtitution hat von jeher die Handlungsweiſe der Menſchen ſo beeinflußt, daß ſich ihr Trachten weniger darauf gerichtet hat, die Proſtitution möglichſt auszurotten, ſondern darauf, ſie zu „ſanieren“, ſie phyſiſch unſchädlich zu machen. *) Vergl. „Die poſitiven Aufgaben der Föderation“ Herausgegeben von A. Pappritz u. K. Scheven. Verlag des „Abolitioniſt“. Dresden, Angelikaſtr. 23. 39 Wird man dieſes Ziel je erreichen? Das Mittel, das man vorgeſchlagen hat, die Proſtituierten auf einzelne Straßen zu konzentrieren, ſie zu kaſernieren, um auf dieſe Weiſe eine möglichſt ſorgfältige ſanitäre Ueberwachung zu ermög⸗ lichen, wird noch heute von vielen Aerzten befürwortet. Verſpricht dieſes Syſtem der ſogenannten „Bordellſtraßen“ ſeinen Zweck, die Volksgeſundheit zu ſchützen, zu erfüllen? Eine Antwort auf dieſe Frage wollen wir im nächſten Kapitel zu finden ſuchen. VI. Bordellſtraßen.*) Es iſt in den erſten Kapiteln bereits auf die Schädlichkeit der Bordelle im eigentlichen Sinne, d. h. der geſchloſſenen Zwangsbordelle hingcwieſen worden. Dieſe Schädlichkeit iſt augenfällig und daher leicht zu definieren. Sie beſteht in erſter Linie in ihrem engen Zu⸗ ſammenhang mit dem Mädchenhandel, denn ohne dieſen können die Bordelle keine „neue Ware“ herbeiſchaffen; ferner in der entſetzlichen Verſklavung der Mädchen, die ſtets in einem gewiſſen Schuldverhält⸗ nis zu den Wirten bleiben und nichts von ihrem Verdienſt erübrigen. Schließlich liegt die Hauptgefahr der Bordelle darin, daß die ent⸗ laſſenen Mädchen (entlaſſen, vielfach weil ſie krank ſind) der Winkel⸗ proſtitution anheimfallen, ſodaß auf dieſe Weiſe die Bordelle geradezu zu den Nährquellen der geheimen Proſtitution und der Geſchlechts⸗ krankheiten werden. Dieſen Bedenken gegenüber pflegen nun die Befürworter der „Kaſernierung“ das Syſtem der Bordellſtraßen zu empfehlen, die, angeblich frei von dieſen Schändlichkeiten, den Zweck erfüllen ſollen, die Straßen zu ſäubern und die Kinder und Jugendlichen vor dem ſchlechten Beiſpiel und der Verführung zu be⸗ hüten. Es iſt nicht zu leugnen, daß die Bordellſtraßen für die Inſaſſinnen das Beſſere und das Humanere ſind, denn ſie dürfen ihren eigenen Verdienſt behalten, ſie brauchen nicht jeden Mann an⸗ zunehmen und ſie können leichter in geordnete Verhältniſſe zurück⸗ kehren. Ausgenützt werden natürlich auch ſie, denn ſie zahlen ihren Wirten täglich 8 Mark für ein Zimmer (die Möbel müſſen ſie ſelbſt ſtellen), ihrer Bedienungsfrau 6 Mark, fiir ihre Beköſtigung rechnen ſie 2 Mark, alſo Summa täglich 16 Mark. Das bedeutet, daß ſie täglich drei Männer annehmen müſſen, nur um wohnen und leben zu können. Für ihre Kleidung und ſonſtige Ausgaben fällt dabei noch nichts ab. Das Merkwürdige dabei iſt, daß die Polizei dieſe Verhält⸗ niſſe nicht nur kennt, ſondern die Kontrollmädchen ſogar anweiſt, in den betreffenden Wohnungen zu logieren, trotzdem ſie von Rechts *) Vergl. A. Pappritz. Die geſundheitlichen Gefahren der Proſtitution. Agehenen. 2ie Uebel der Reglementierung. Verlag des „Abolitioniſt“. Dresden, Angelikaſtr. 23. 40 wegen doch gegen ſolche Vermieterinnen wegen Kuppelei (§ 180) An⸗ zeige erſtatten müßte. Sie unterläßt aber nicht nur die Anzeige, ſondern erteilt der Vermieterin bezw. der Bedienungsfrau auch die Konzeſſion zum Verkauf alkoholiſcher Getränke, woraus die be⸗ treffende Dame einen weiteren Sündenlohn zieht, indem ſie ſich für eine Flaſche Wein, die eine Mark wert iſt, das Dreifache zahlen läßt; eine Flaſche deutſcher Sekt zu 3 Mark koſtet 10 Mark, eine Flaſche einfaches Bier eine Mark. Trotz dieſer Mißſtände iſt, wie geſagt, für die Proſtituierten ſelbſt die Bordellſtraße dem geſchloſſenen Zwangsbordell vorzuziehen, haupt⸗ ſächlich deswegen, weil ſie nicht jeden Mann anzunehmen brauchen; ſie können Kranke zurückweiſen, ſie brauchen ſich keinen Perverſitäten hinzugeben und ſie können die Zahl ihrer Beſucher einſchränken, wenn ſie ſich elend fühlen und der Ruhe bedürfen. Hierbei ſtoßen wir wieder auf eine merkwirdige Inkonſequenz: der kranke Mann (die Proſti⸗ tuierte unterſucht ſelbſt ihre Beſucher) weigert ſich vielfach, ſich fort⸗ ſchicken zu laſſen; es kommt zu lauten Lärmſzenen, bei denen ſchließ⸗ lich polizeiliche Hilfe requiriert werden muß. Die Polizei veranlaßt zwar den Herrn, ſich zu entfernen, aber ſie denkt nicht daran, ihn einer Zwangsbehandlung zu unterſtellen, obgleich man doch über⸗ zeugt ſein kann, daß er ſein Vorhaben nicht aufgeben, ſondern anders⸗ wo ſein Gliick verſuchen und ein anderes Mädchen anſtecken wird, denn der Bordellbeſucher beſchränkt ſich keineswegs darauf, im Bordell allein ſeine Befriedigung zu ſuchen. Die Bordellmädchen finden häu⸗ fig bei ihren regelmäßigen Kunden, daß dieſe anderswo ſich infiziert haben und die Anſteckung ins Bordell tragen würden, wenn ſie ſelbſt ſich nicht zu ſchützen verſtehen. Dies beweiſt einmal wieder aufs ſchlagendſte, daß auch die Kaſernierung der Proſtitution in Bordellſtraßen keinen geſundheitlichen Schutz bietet. Aber ſie ſoll wenigſtens einen moraliſchen Schutz bieten, wie ihre Freunde uns verſichern, ſie ſoll zur Säuberung der Straßen beitragen und die Jugend vor der moraliſchen Anſteckung behüten. Unterſuchen wir einmal, inwieweit die Bordellſtraße imſtande iſt, dieſe Forderung zu erfüllen. In Mittelſtädten hält man eine Bordellſtraße von 300-500 In⸗ ſaſſinnen für notwendig, für das „Ideal“ — wie mir wiederholt von maßgebenden Perſönlichkeiten verſichert wurde. Glauben dieſe Per⸗ ſönlichkeiten nun wirklich, daß eine ſolche Einrichtung die gewünſchte Sicherung des öffentlichen Anſtandes herbeiführen würde? Die Er⸗ fahrung lehrt das Gegenteil. Die Einwohnerinnen der Bordellſtraßen müſſen ſchließlich doch auch an die friſche Luft; ſie müſſen ſpazieren gehen, Beſorgungen machen. Daß ſie dieſe Wege dazu benutzen, um eventuell ihre „Kundſchaft“ zu vergrößern, iſt nur zu natürlich. Schlimmer als die Verletzung des öffentlichen Anſtandes, die von dieſer Seite droht, iſt jedoch das Gebahren der Männerwelt, die in den betreffenden Straßen oft vor den einzelnen Häuſern Queue bildet. Bei Gelegenheit von Sänger⸗, Radler⸗, Turnfeſten uſw. ziehen die 41 angeheiterten Feſtteilnehmer oft zu Hunderten in die berüchtigten Straßen; die Jugend ſammelt ſich nun neugierig, ihrem Einzug und mit noch größerem Gaudium dem Rückzug der Herren zuzuſchauen, während die Bewohnerſchaft der benachbarten und angrenzenden Häuſer durch dies zyniſche Treiben aufs tiefſte verletzt wird. In ſolche Straßen werden aber auch die Laufburſchen und Mädchen aus den Geſchäften geſchickt; Bäcker, Fleiſcher, Milchmädchen, Kinder, die Zeitungen austragen, Friſeuſen, Näherinnen und Wäſcherinnen werden durch ihr Metier ebenſo in dieſe, wie in andere Straßen ge⸗ füihrt. Es handelt ſich alſo faſt immer um jugendliche Individuen, die auf dieſe Weiſe in einen verderblicheren Kontakt mit der Pro⸗ ſtitution gebracht werden, als wenn die freie Proſtituierte vereinzelt unter dem anſtändigen Teil der Bürgerſchaft wohnt. Aber ſelbſt Kinder werden von der Berührung mit dieſen Elementen nicht ge⸗ ſchützt.“ Die Bedienungsfrauen haben ſelbſt Kinder und Anverwandte, die ſie durchaus nicht immer fern von dieſen Stätten des Laſters halten. Eine Proſtituierte erzählte mir mit tiefſter Entrüſtung, daß ihre Bedienung ihre 12⸗, 9⸗ und 5 jährigen Kinder beſtändig bei ſich hat und daß dieſe die häßlichſten Ausdrücke wie etwas ſelbſtverſtänd⸗ liches gebrauchen. „Was ſoll einmal aus den armen Würmern werden, wenn ſie von klein auf ſo etwas hören und ſehen?“ rief das Mädchen mit ehrlichſter Empörung. Die Empörung war wirklich ungeheuchelt, denn die Betreffende hatte im übrigen mit der größten Ungeniert⸗ heit, ja Harmloſigkeit von ihrem Metier zu mir geſprochen. Sie nannte es zwar ein „ſchmutziges Geſchäft“ — ebenſo wie etwa ein Schornſteinfeger oder ein Töpfer von ſeiner unſauberen Arbeit ſpricht, — aber ohne jeden moraliſchen Skrupel, ſcheinbar ohne jedes Gefühl für das Menſchenunwürdige ihrer Lage. Um ſo größer war dagegen ihr phyſiſcher Ekel. Sie ſprach von ihren Kunden in Ausdrücken, die nicht zu wiederholen ſind und ſagte häufig: „Wir tun's doch ſchließlich nur des Geldes wegen, leben muß der Menſch, verhungern kann man nicht, man muß für die Zukunft ſparen, aber ivenn ſo'n feiner Herr ſolche Schweinereien zum Vergnügen macht, ſo kann man doch bloß vor ihm ausſpucken“. Dieſe Anſchauung iſt durch⸗ aus typiſch; die tiefe, moraliſche Verachtung vor ihren Kunden, der Ekel vor dem Manne iſt mir vielfach bei Proſtituierten begegnet, die ſich offen geben, die ſich nicht als „reuige Sünderinnen“ aufſpielen. Einem Manne gegenüber werden ſie dieſe Gefühle natürlich aufs ſorgfältigſte verbergen, ſelbſt wenn der betreffende Mann nicht ihr „Beſucher“, ſondern etwa ihr Arzt oder ein Seelſorger iſt. Die Auf⸗ faſſung, die Handlung des Mannes verächtlich und ekelhaft zu finden, während ſie ihr eigenes Leben als die Ausübung eines berechtigten Berufes anſehen, dieſe Auffaſſung war mir zuerſt natürlich ſehr frappierend, da man ihr doch ſonſt in der „anſtändigen“ Geſellſchaft nirgends begegnet. Immerhin hat ſie eine gewiſſe pſychologiſche Be⸗ rechtigung. Man beurteilt eben eine Sache, die man von Berufs wegen tut, anders, als wenn man dasſelbe zum Vergniigen tut. Die Köchin, die Hühner abſchlachtet, erſcheint uns nicht „roh“, würde aber 42 eine andere Perſon dies aus Vergnügen am Schlachten tun, ſo würde man ihre Paſſion für eine Freude an Roheit und Grauſamkeit em⸗ pfinden und verurteilen. So beurteilt die Proſtituierte augenſcheinlich ihre und ihres „Kunden“ Handlungsweiſe. Daß ſie ihr eigenes Tun aber als einen „berechtigten Beruf“ anſieht, iſt die Folge des ſtaatlich ſanktionierten Reglementierungs⸗ und Bordellſyſtems. Bei der hohen autoritativen Bedeutung, die der Staat, beſonders bei uns in Deutſchland genießt, iſt es ganz natürlich, daß Perſonen, die inner⸗ halb irgend einer ſtaatlichen Inſtitution tätig ſind, ſich als Staats⸗ beamtinnen fühlen, und dies iſt tatſächlich bei den Bordell⸗ mädchen der Fall; iſt es doch, wie bereits erwähnt, wiederholt vor⸗ gekommen, daß ſie ſich als „penſionsberechtigt“ anſehen und ſich bitter beklagten, daß ihnen die wohlverdiente Penſion vorenthalten würde. Daß bei dieſen Anſchauungen Rettungsverſuche (ſeltene Ausnahmen ausgenommen) ganz ausſichtslos ſind, iſt wohl ſelbſtverſtändlich, ganz abgeſehen davon, daß die Betreffenden durch ihr Leben auch phy⸗ ſiſch ſo entnervt und verweichlicht wurden, daß ſie zu irgend einer ſyſtematiſchen, energiſchen Arbeit unfähig ſind. Dieſe vollkommene moraliſche Stumpfheit, der das Bordellmädchen anheimfällt, erſtreckt ſich aber durchaus nicht auf die Geſammtheit ihres Innenlebens. Die Beſorgnis für Kinder, die durch die oben angeführte Aeuße⸗ rung illuſtriert wird, zeigt ſich oft in rührender, tatkräftiger Weiſe. Es iſt wiederholt vorgekommen, daß „eingeſchriebene“ Pro⸗ ſtituierte, wenn ſie von einer erſtmalig Inhaftierten hören, die gänz⸗ lich mittellos, nur aus Not zu dem Gewerbe der Schande gegriffen hat, dieſe durch Geld unterſtützt haben, ja ihr eine Ausſtattung be⸗ ſorgten, um ihr den Eintritt in ein Rettungshaus zu ermöglichen. Der mütterliche Inſtinkt ſcheint bei ihnen überhaupt ſtark entwickelt, und da er keine normale Befriedigung finden kann, nehmen ſie mit Surrogaten vorlieb. So beobachtet man häufig, daß Proſtituierte ſich Hunde halten und mit Puppen ſpielen, für die ſie die reizendſten Koſtüme ſchneidern. Auch ihre alten Eltern und Geſchwiſter unter⸗ ſtützen ſie vielfach durch Geldſendungen, natürlich ohne den wahren Urſprung des Geldes zu verraten. Ganz beſonders frappiert es mich, über den Betten einiger Einwohnerinnen einer Bordellſtraße ein⸗ gerahmte Bibelſprüche und religiöſe Bilder zu finden. Die Vor⸗ ſtellung, daß angeſichts eines gekreuzigten Chriſtus die ſcheußlichſten ſexuellen Exzeſſe begangen werden, hat ſelbſt für einen nicht poſitiv gläubigen Menſchen etwas ungemein Verletzendes. Ich konnte denn auch eine erſtaunte Bemerkung nicht unterdrüicken und erhielt die Ant⸗ wort: „Ja, wenn wir auch ein ſchlechtes Leben führen, ſo glauben wir doch auch an die Gnade Gottes; wenn wir daran nicht mehr glauben könnten, ſo müßten wir ja verzweifeln.“ Im erſten Moment hatte ich das Gefühl, hier einer grenzenloſen ſittlichen Verworrenheit gegenüberzuſtehen, bis ich mir klar machte, daß Tauſende von „gläu⸗ bigen, religiöſen“ gebildeten Männern ſich mit ganz demſelben Kompromiß abfinden und Kirche und Bordell mit derſelben Regel⸗ mäßigkeit beſuchen. 43 Die Pſychologie der „wilden“ Proſtituierten iſt ganz verſchieden von der des Bordellmädchens. Die wegen Unzucht aufgegriffenen Mädchen haben durchaus nicht das Gefühl einer harmloſen Selbſt⸗ verſtändlichkeit, ſondern ſind im Gegenteil ſcheu, abſprechend, ver⸗ logen, ſo daß ihr Auftreten im erſten Augenblick einen abſtoßen⸗ deren Eindruck macht, als das ihrer „offiziellen beamteten“ Kollegin. Gerade dieſe Verlogenheit iſt doch aber ein Beweis von Scham, ein Beweis, daß ſie ſich des Schlechten ihrer Handlungsweiſe noch be⸗ wußt ſind, und damit geben ſie auch eine Handhabe für Beſſerungs⸗ verſuche. Daß dieſelben auch hier ſchwierig ſind und ſelten reuſſieren, ſoll nicht geleugnet werden, immerhin liegt der Fehler in ſolchen Fällen vielfach an dem Mangel geeigneter Anſtalten, die die ungliicklichen Entgleiſten und Verirrten erſt einmal zu ordentlichen Menſchen erziehen. Denn in den meiſten Fällen ſind dieſe Verirrten nur ganz ungenügend für den Kampf ums Daſein ausgerüiſtet; es iſt unmöglich, ſie in Dienſtſtellen oder anderen Erwerbszweigen unter⸗ zubringen, weil es ihnen nicht nur an den techniſchen Fertigkeiten, ſondern auch an Charakterfeſtigkeit und moraliſchem Halt gebricht. Aber weder die kurzen Haftſtrafen noch das Arbeitshaus, wie es jetzt eingerichtet iſt, können ihnen das eine oder das andere vermitteln, im Gegenteil, gerade die kurze Haft im Gefängnis trägt nur dazu bei, ſie noch mehr zu verderben, denn dort tritt die raffinierte und routinierte Gewerbsproſtituierte an die Anfängerin heran und ſagt ihr: „Warum biſt du ſo dumm, laß dich doch unter Kontrolle ſtellen, und du haſt ein bequemes Leben.“ Auf dieſe Weiſe ſind erfahrungs⸗ gemäß viele Verirrte erſt dauernd auf die Bahn des Laſters geraten. Wir ſollten eben in allen ſolchen Fällen das Prinzip der Strafe ausſchalten und das Prinzip der Erziehung befolgen, denn es handelt ſich faſt immer um unreife, unfertige Perſonen, die erſt ſyſte⸗ matiſch zur Arbeit herangebildet werden müßten. Dementſprechend dürften derartige Anſtalten auch nicht den Charakter von Gefängniſſen tragen, denn es gilt vielmehr, gebrochene oder ſchwankende Eri⸗ ſtenzen aufzurichten, ſtatt ſie durch das beſtändige Wachhalten des Furcht⸗ und Sündegedankens noch mehr zu deprimieren. Der erzieheriſche Zweck derartiger Maßregeln würde aber beeinträchtigt, wenn anderſeits Bordellſtraßen eingerichtet werden, die ſich allen ſchwankenden Elementen der weiblichen Jugend als bequemes Refugium peccatorum anbieten und auch für die Männerwelt zum Verführer werden. Nirgends bewahrheitet ſich die Richtigkeit des Sprichwortes: „Gelegenheit macht Diebe“ in ſo eklatanter Weiſe, wie gerade auf dieſem Gebiete. Der freie Proſtitutionsverkehr bietet dem Manne, beſonders demjenigen, der als Durchreiſender in eine Stadt kommt, doch gewiſſe Schwierigkeiten, ja Gefahren, die gerade der junge, unerfahrene Menſch ſcheut; befindet ſich aber in einer Stadt eine organiſierte Bordellſtraße, auf die ihn jeder Kellner, jeder Dienſtmann oder Kneiptiſchnachbar hinweiſt, ſo geht er hin, vielleicht zuerſt lediglich aus „Neugierde“, um dann unrettbar der Verführung. der Ausbeutung, vielleicht einer Anſteckung zu unterliegen. Denn 44 wenn die Bordelle ſelbſt täglich ärztlich viſitiert würden, ſo gäbe dies noch keine abſolute Sicherheit vor Anſteckung, da die Mädchen vielfach die Krankheit ihrer Kunden nicht konſtatieren können und ihnen nicht die Zeit bleibt, zwiſchen den einzelnen Beſuchen desinfi⸗ zierende Ausſpülungen zu machen. Die Vordellſtraße kann alſo weder in geſundheitlicher, noch in moraliſcher Beziehung einen Schutz gewähren. Für die Sauberkeit der Straßen ſollte die Polizei ſorgen; unter unſerem jetzigen Regle⸗ mentierungsſyſtem aber muß ſie ſowohl den „Renommierbummel“ der Proſtituierten, wie das Queueſtehen der Männer in den Bordell⸗ ſtraßen dulden, denn beide befinden ſich ja in ihrem guten Recht. Wären alle provozierenden, den öffentlichen Anſtand verletzenden Aeußerungen des Proſtitutionsbetriebes ſtreng verboten, ſo könnte die Sittenpolizei wirklich das ſein, was ihr Name ſagt, nähmlich eine Hüterin der Sitte; in erſter Linie wüirde dazu gehören, die ſchamloſe Reklame gewiſſer Animierkneipen mit „intereſſanter, inter⸗ nationaler Damenbedienung“ aufs energiſchſte zu unterdrücken. Gewiß würde der Erfolg derartiger Maßregeln zunäch ſt nur darin beſtehen, das Laſter in verſchwiegenere Schlupfwinkel zu verbannen, aber ſelbſt dieſes wäre meines Erachtens ſchon ein kleiner Schritt zur Beſſerung; denn gerade das Provozierende trägt unendlich viel dazu bei, der Proſtitution immer neue Opfer zuzuführen. Es gilt aber in erſter Linie, dieſen neuen Zufluß abzudämmen, indem man der Jugend beiderlei Geſchlechts die Verſuchung aus dem Wege räumt; dadurch allein vermindert man das Anwachſen und damit die Gefah⸗ ren der Proſtitution. Um die Jugend zu ſchützen, muß man bereits bei den Kindern anfangen, ſie der vergiftenden Atmoſphäre zu ent⸗ ziehen. Dazu kann uns allein ein ſorgfältig ausgebautes Fürſorge⸗ geſetz und ein rationelles Wohnungsgeſetz, verbunden mit Wohnungs⸗ pflege und Wohnungsinſpektion, verhelfen. Der Schutz unſerer Ju⸗ gend vor phyſiſcher und moraliſcher Verſeuchung ſollte durch andere Mittel gewährleiſtet werden, als durch die Einrichtung von Borde ll⸗ ſtraßen, die in dieſer Hinſicht bisher nur verſchlimmernd gewirkt haben und aus den dargelegten Gründen ihrer ganzen Natur nach immer ſchädigend wirken müſſen. VII. Reformvorſchläge. Wonn wir nun einerſeits geſehen haben, daß die „Welt von der man nicht ſpricht“ einen Abgrund von Qual, Elend und Verworfenheit verbirgt, und andrerſeits, daß von dieſer Welt ein Gifthauch überſtrömt in die ſogenannte gute und ehrbare Geſellſchaft; wenn wir geſehen haben, daß Tauſende und Abertauſende von jungen Mädchen, beſonders aus den Arbeiterkreiſen, in dieſer Welt die Opfer des Laſters, der Ausbeutung und der entſetzlichſten Krankheiten 45 werden und die jungen Männer aller Stände ſich phyſiſch und mora⸗ liſch in ihr infizieren und ruinieren, ſo müſſen wir uns doch fragen: „Was können wir tun, um dieſe Zuſtände zu reformieren? Eine Antwort auf dieſe Frage ſucht (neben anderen Vereinen) die Internationale Abolitioniſtiſche Föderation, die folgende Grund⸗ ſätze vertritt: Die Internationale Abolitioniſtiſche Föderation verfolgt den Zweck, die Reglementierung der Proſtitution als geſetzliche oder ge⸗ duldete Inſtitution zu beſeitigen. Sie verwirft die geſetzliche Regelung der Proſtitution, weil die⸗ ſelbe ihren Zweck, die Geſundheit des Volkes zu ſchützen, nicht erfüllt, und weil jede ſittenpolizeiliche Ausnahmemaßregel eine ſoziale Un⸗ gerechtigkeit iſt, denn, indem der Staat eine Regelung einſetzt, die dem Manne Sicherheit und Unverantwortlichkeit in der Unſittlich⸗ keit zu verſchaffen ſucht und mit den geſetzlichen Konſequenzen eines gemeinſamen Aktes nur die Frau belaſtet, verbreitet er die unheil⸗ volle Idee, als ob es für jedes Geſchlecht eine beſondere Moral gäbe. Die Förderation befindet ſich in ihren Beſtrebungen im Einklang mit den Anſichten vieler hervorragender Aerzte, Juriſten, National⸗ ökonomen und Theologen, welche alle in ihrem Urteil darin überein⸗ ſtimmen, daß die Reglementierung unhygieniſch, unmora⸗ liſch, zwecklos undungeſetzlich iſt. Die Förderation bekämpft die Reglementierung hauptſächlich aus moraliſchen Griinden. Sie erblickt in der ſtaatlichen Regelung eine Sanktion des Laſters, geeignet das Volksgewiſſen abzuſtumpfen und zu verwirren, und die Proſtitution als einen legitimen Handel hinzuſtellen, bei welchem niemand eine moraliſche Verantwortung trifft. So lange dieſes Bollwerk der Unzucht beſteht, wird man ver⸗ geblich von dem männlichen Geſchlecht eine höhere Moral und ſtrengere Selbſtzucht fordern. Da aber dieſer Kompromiß des Staates mit dem Laſter im Namen der Volksgeſundheit vollzogen worden iſt, ſo hat die Födera⸗ tion von jeher der hygieniſchen Seite der Frage außerordentliche Be⸗ achtung geſchenkt. Sie weiß ſehr wohl, daß alle Forderungen, die vom Stand⸗ punkte der Moral und der Gerechtigkeit gegen die Reglementierung erhoben werden, ungehört verhallen, ſo lange der Glaube an ihre ſanitäre Nützlichkeit und Notwendigkeit beſteht. Die in ihren Reihen ſtehenden Aerzte haben deshalb eingehende Unterſuchungen über die Wirkſamkeit des Syſtems angeſtellt und ſo⸗ wohl in reglementierten als in nicht reglementierten Ländern ſta⸗ tiſtiſche Erhebungen über die Krankheitsfrequenz veranſtaltet, welche die völlige Wertloſigkeit des Syſtems in hygieniſcher Hinſicht nach⸗ gewieſen haben. Darum muß das Reglementierungsſyſtem nicht nur als unmoraliſch ſondern als direkt ſchädlich bezeichnet werden, da es abſolut nicht zu halten imſtande iſt, was es zu verſprechen ſcheint. 46 nämlich Garantie gegen Anſteckungsgefahr. Die Föderation tritt deshalb für ſeine Abſchaffung ein und verlangt ſtatt deſſen die Ein⸗ führung geſetzgeberiſcher Maßnahmen, welche ſowohl geeignet ſind, der Proſtitution den Nährboden zu entziehen und damit auch ihre Folgekrankheiten einzuſchränken, als die verbrecheriſchen Auswiichſe der Proſtitution ſtrenger als bisher zu beſtrafen. Wir müſſen uns eben mit dem Gedanken vertraut machen, daß das große ſoziale Uebel der Proſtitution mit ſeinen furchtbaren Begleit⸗ und Folge⸗ erſcheinungen der ſittlichen und phyſiſchen Volksverſeuchung nur in ſeinen Urſachen zu bekämpfen iſt. Wir ſchlagen deshalb folgende prophylaktiſche und repreſſive Maßregeln vor: a) Prophylaktiſche Maßregeln: Aufklärung der Jugend; Jugendfürſorge; obligatoriſche Fortbildungsſchulen für beide Geſchlechter; freies Vereins⸗ und Verſummlungsrecht; Organi⸗ ſation der Arbeiterinnen zur Erlangung eines auskömmlichen Lohnes; Arbeiterinnen⸗ und Wöchnerinnenſchutz; Ausdehnung der Kranken⸗ verſicherung auf alle, die ein Jahreseinkommen von weniger als 3000 Mark haben; Ausdehnung und Ausbau der Krankenkaſſenkontrolle“); freie Behandlung unbemittelter Geſchlechtskranker beiderlei Geſchlechts in ſtädtiſchen Krankenhäuſern; Ambulatorien, Polikliniken; Woh⸗ nunsreform; Gründung von Ledigenheimen, Arbeiterinnenklubs; billige und edle Volksunterhaltungen, Spiele etc. etc. b) Repreſſiv⸗Maßregeln. Abſchaffung des § 361, 6; an Stelle deſſen Ausbau des § 180 dahin, daß jeder organiſierte Unzuchtstrieb (Bordell) und jede Form der ſchweren Kuppelei verboten und ſtrenger als bisher geahndet wird, ſtrengſte Verfolgung des Mädchenhandels, Beſtrafung auch in den Fällen, wo es ſich um volljährige Mädchen handelt und eine Aus⸗ beutung der Notlage vorliegt; Einfügung des ſogenannten „Arbeit⸗ geberparagraphen“ in unſer Strafgeſetzbuch; Beſtrafung der vene⸗ riſchen Anſteckung (Antragsdelikt); energiſche Anwendung des § 33, Ziffer 1 der Gewerbeordnung (Verbot zur Betreibung des Gaſtwirt⸗ gewerbes, wenn das Gewerbe zur Förderung von Spiel, Unſittlich⸗ keit zc. mißbraucht wird), Ausbau des § 360, 11 (grober Unfug) dahin, daß die Polizei befugt iſt, den öffentlichen Anſtand auf den Straßen und in öffentlichen Lokalen zu wahren. Dieſe Maßregeln zuſammengenommen, werden das Fundament bilden miiſſen, auf dem wir den Kampf gegen die Unſittlichkeit auf⸗ nehmen. Dieſer Kampf kann aber nur dann zum Ziele füihren, wenn wir feſthalten an dem Prinzip der Gleichberechtigung der Frau, dem Prinzip, das in der Forderung gipfelt: Gleiche Moral und gleiches Geſetz für Mann und Frau. Nur wenn wir an dieſem Prinzep feſthalten, wird es gelingen, die heranwachſende männliche Jugend zu der Achtung vor der Frau zu erziehen, die die beſte Gewähr für eine Höherentwicklung der ſexuellen Ethik iſt. *) Vergl. Kampffmeyer: „Keine ſittenpolizeiliche Kontrolle, ſondern Kranken⸗ fürſorge.“ Abolitioniſt N. 5 v. I. Mai 1903. 47 Es iſt ein ſehr umfaſſendes Programm, das wir hier in kurzen Worten ſkizziert haben, ein Programm, das unlösbar mit der ganzen ſozialen Frage verbunden iſt und deſſen Verwirklichung viele Jahr⸗ zehnte in Anſpruch nehmen wird. Der erſte Schritt zu dieſer Ver⸗ wirklichung iſt aber der, den verſchönernden Schleier hinwegzureißen von der „Welt, von der man nicht ſpricht“, ſie in ihrer gan⸗ zen unverhüllten Scheußlichkeit zu zeigen, um in allen Gutgeſinnten den heißen Wunſch zu erwecken, mit Hand anzulegen in dem Kampf, der dieſer Welt des Elends den Untergang bereiten will, um an die Stelle ihrer die Jugend vergiftenden Orgien reine Stätten wahrer Lebensfreude und echter Jugendluſt zu errichten. im Verlage von Felix Dietrich, Nuee Erscheinungen Gautzsch b. Leipzig, Kregelstr. 5. (Von der Presse warm empfohlen. Ausführliche Prospekte mit Urteilen gratis und franko.) Die ldeenwelt des Anarchismus. Von Dr. W. Borgius. 68 S. M. 1.—. Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen im Auslande. Von Dr. Heinrich Pudor. I. Band: Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen an den skandinavischen Ländern. ca. 12 Bogen, mit vielen statistischen Ta- bellen, Sachregister etc. M. 7.50: geb. in Halbfranz M. 9.—. Fideikommiss-Schutz in Deutschland versus Landarbeiterheimschutz in Dänemark. Von Dr. Heinrich Pudor. 2. Ausg. 75 Pf. Die Flottenfrage unter den wirtschaftspolitischen und technischen Voraussetzun- gen der Gegenwart dargestellt von Erich Neuhaus. 4 Bogen. M. 1.—. Wo bleibt die Schulreform? Ein Weckruf an das Volk der Denker. Von Dr. Rhenius. 10 Bogen. M. 2.50. (Maurenbrecher. M. 1.—.) Gebildete Hebammen? Ein Beitrag zur Frauenberufsfrage. Von Hulda) Ecce mater! (Siehe eine Mutter!) Sozialer Roman von Ruth Bré. M. 3.—. eleg. geb. M. 4—. Ein Tendenzroman im Sinne der Bestrebungen der Verfasse- rin, den Schutz der unehelichen Mutter betreffend und sehr geeignet, weitere Kreise zum Nachdenken über alle hier in Betracht kommenden Fragen anzuregen. Die geschlechtliche Aufklärung der Jugend. Von Dr. M. Marcuse., Vor- trag, gehalten am 5. April 1905 in der öffentlichen Versammlung des „Bundes für Mutterschutz“, Berlin. 16 S. 30 Pf. (In Partien billiger.) Wald und Waldverwüstung. Von Frz. Hoermann. Auf Veranlassung des Deutschen Vereins für ländliche Wohlfahrts- und Heimatspflege herausge- geben. ca. 4 Bogen. M. 1.—. Rechtsfragen. Heft 1: Treu, Max: Strafjustiz, Strafvollzug und Depor- tation. 2 Bogen. 50 Pf. —Heft 2: Bré, Ruth: Keine Alimentations- Klage mehr! Schutz den Müttern! 2 Bogen. 2. Tausend. 50 Pf. — Heft 3: Schirmacher, Frl. Dr. Käthe: Die Frauenarbeit im Hause, ihre öko- nomische, rechtliche und soziale Wertung. 2 Bogen. 50 Pf. — Heft 4: Rennert, Malwine: In den menschlichen Dschungeln. Wie deutsche Mädchen im Auslande rechtlos sind. Ein Weckruf. 1 1/2 Bogen. 50 Pf. F. A. Esche's Vagabunden-Geschichten. Broschiert M. 1.—, geb. M. 1.50. F. A. Esche: Tintenkleckse und Fettflecke! Humoristisch-satirische Skizzen aus dem Bureaukratenleben und Anderes. Brosch. M. 1.—, geb. M. 1.50. Die in Finsternis wandeln. Ruthen. Novellen von 8. Zemlak. Deutsch von J. Hermann. M. 2.—; geb. M. 2.75. Onkel Ilja und andere Dorfgeschichten. Von I. S. Ssemenoff. Mit Vor- wort von Graf Leo Tolstoj. 2 Bände. M. 3—; geb. M. 3.75. Tolstoj, Graf Leo: Die große soziale Sünde. Mit Vorwort von Ad. Da- maschke. 50 Pf. [Dr. med. G. Vorberg. 60 Pf.) Die Syphilis, eine soziale Gefahr. Von Prof. Dr. Fournier. Deutsch von) Wie es in der Welt zugeht. Zeit-Tagebuch mit Lebensausschnitten, Glossen, Streiflichtern, interess. Lesefrüchten. Hrsg von L. Katscher. Kart. M. 1.— Patriotismus und Ethik. Eine kritische Skizze von Dr. Rob. Michels. Vortrag gehalt. am 17./I. 1906 zu Berlin in der „Gesellschaft für ethische Kultur-. 50 Pf Die wirtschaftliche Reform der Ehe. Referat, gehalten auf dem III. Verbands- tag fortschrittlicher Frauenvereine, Berlin, 2.-4. Oktober 1905. Von Dr. Kaethe Schirmacher. 40 Pf. Das Elend des deutschen Bauernstandes. Seine Rettung vor dem drohenden Untergang. Von Werner Stauffacher. 2. Auflage. M. 1.20. Die volkswirtschaftl. Irrtümer der sog. Bodenreformer inbezug auf die Agrarfrage. Von M. Stauffacher. Vorwort v. Prof. Dr. Rohling. 50 Pf. Kulturideale und Frauentum. Von Henriette Fürth. 60 Pf. „Die Welt, von der man nicht spricht“. (Aus den Papieren einer Polizei⸗ Beamtin.) Zusammengestellt und bearbeitet von Anna Pappritz. 2. Aufl. 60 Pf. Mutterdienst. Von M. v. Schmid. 40 Pf. Druck. Fr. Andrä's Nachf., Leipzig 18018 3 SBB Buchbinderei PREY Wilmersdorfer Str. 60/61 10627 Berlin Ruf 323 40 64 November 2009 N12<151599619010