Nd 8973 Nd 8973 P 1905.3348 Grundfragen der Mädchenschulreform Von Helene Lange Berlim W. Moeser Buchdruckerei o o Stallschreiberstrasse 34. 35 o o 1903 Preis 40 Pfennige Grundfragen der Mädchenschulreform Von Helene Lange Berlin W. Moeser Buchdruckerei o o stallschreiberstrasse 34. 35 o o preis 4o pfennige Ex Biblioth. Regia Berolinenli. Wo heute über Mädchenbildung verhandelt wird, ſehen wir meiſtens GFO einzelne praktiſche Fragen, wie ſie die drängenden wirtſchaftlichen und ſozialen Verhältniſſe zeitigen, in den Vordergrund treten. Früher, wo die Möglichkeit einer ſelbſtändigen wirtſchaftlichen Exiſtenz der Frau mit ihren beſonderen Anforderungen noch nicht in Frage kam, erging man ſich gern mit einer gewiſſen Muße und Beſchaulichkeit in einer Programmmache im großen, die ein ganzes Syſtem weiblicher Bildung nach einem beſtimmten Grundprinzip ausbaute. Sie beginnt bewußt erſt mit Rouſſeau. Eine Art unbewußter Programmmache liegt freilich ſchon vorher der Mädchenbildung zu Grunde. Das dabei vorſchwebende Ziel iſt, die Frau mit dem auszurüſten, was ihre Rolle als Frau ihres Mannes erfordert. Unter dieſen Geſichts⸗ punkt fällt zum Teil ſchon die einzige Zeit einer der männlichen gleichwertigen Frauenkultur, die unſere Geſchichte aufweiſt: die Zeit der geiſtlichen Bildung der Frau in den Klöſtern und der weltlichen geſellſchaftlichen Kultur der ritterlichen Frauen. War in den Klöſtern vielfach das wirkliche Intereſſe an der Wiſſenſchaft ausſchlaggebend, ſo iſt das Endziel der Bildung der ritter⸗ lichen Frau ihre Ausrüſtung für die Rolle, die ſie als Angehörige ihres Standes in geſellſchaftlichem Sinne zu ſpielen hat. In dem den Ritterſtand ablöſenden Bürgertum, das in ſeiner breiten Maſſe die Frau nicht mehr, wie einſt der Minnedienſt, zum Mittelpunkt des geſelligen Lebens machte, ſchwand auch das Bedürfnis, ſie an dem Wiſſen der Zeit teilnehmen zu laſſen. Nur was die Kirche von ihren Gläubigen verlangte, wurde auch den Frauen auf eine oder die andere Weiſe notdürftig beigebracht. Rät doch ein lateiniſches Lehrgedicht des 13. Jahrhunderts dem verunglückten Gelehrten: Kannſt du die Grammatik auch nicht ſo recht erfaſſen, Biſt du ſchwachen Geiſts vielleicht oder ſchwach bei Kaſſen, Lerne nur den Pſalter gut und die Horen richtig, So biſt du ſchließlich immer noch zum Mädchenlehrer tüchtig.!) ¹) S. Handbuch der Frauenbewegung, Teil III. Geſchichte und Stand der Frauenbildung in Deutſchland. 1* Daß auch zur rechten Erfüllung der einfachſten Aufgaben der ſchlichten Haus⸗ frau und Mutter im Volke ein ſcheinbar gar nicht damit zuſammenhängendes Wiſſen wertvoll werden könne, dieſen Gedanken vertritt zuerſt wieder Luther; daß dies Wiſſen nicht beſchränkter zu ſein brauche als das des Mannes, ein Jahrhundert ſpäter Comenius. Das praktiſche Leben aber beherrſcht nach wie vor der Grundſatz: die Frau hat zu lernen, was die Stellung des Mannes von ihr erfordert, und wir ſehen dieſem Gedanken in naivſter Form noch durch die Popularpädagogen des 17. Jahrhunderts Ausdruck gegeben, wenn z. B. Moſcheroſch den Mädchen empfiehlt, rechnen zu lernen, „auf daß, ſo ihr durch Gottes gnädige Schickung in einen Heirat kommen ſolltet, da verrechnete Dienſte ſind, ihr eurem Mann möchtet zu Hülfe ſein“, oder wenn ſpäter Flattich ſich rühmt: „Ich habe meine Töchter im Leiblichen und Geiſtlichen nicht begehrt raffiniert zu machen. Sie ſind ſo in der Einfalt nach der Weiſe der Patriarchen aufgezogen . . . Was noch fehlet, kann ein maritus ſelbſt erſtatten und ſie gewöhnen, wie er ſie haben will.“ Auch die breiten Schichten des Volkes dachten nicht anders. Mit dem Eindringen der ſchlüpfrigen italieniſchen und franzöſiſchen galanten Roman⸗ literatur, mit der Angſt vor den verwegenen, ketzeriſchen neuen Gedanken der aufſteigenden Naturwiſſenſchaften wächſt noch die allgemeine Abneigung gegen das Schulwiſſen der Mädchen. Verſtändige Behörden, wie man ſie hier und da findet, kämpfen einen harten Kampf gegen den Widerſtand der Eltern, ihre Töchter ſchreiben und leſen lernen zu laſſen, ja ſie ſehen ſich häufig zu der Konzeſſion gezwungen, Schreiben wenigſtens nur von den Mädchen zu ver⸗ langen, deren Eltern es ausdrücklich geſtatten. Sind doch viele bis in das 19. Jahrhundert hinein der Anſicht jenes alten Schulmeiſters: „bei den virginibus iſt das Schreiben nur ein vehiculum der Lüderlichkeit.“ Wenn Auguſt Hermann Francke in ſeinem Gynaeceum, der „Anſtalt für Herren Standes, adeliche und ſonſt fürnehmer Leute Töchter“, wenn die gelehrten Sprachgeſellſchaften auf eine höhere Bildung der Frauen dringen, ſo iſt das eben deshalb, weil die Geſellſchaft wieder einmal die Aneignung einer fremden Kultur verlangte. Die Franzöſin iſt ſchließlich doch auch in dem Gynaeceum des urdeutſchen Francke die Hauptperſon. Man verſteht das Eifern des kern⸗ haften Juſtus Moeſer gegen dieſe franzöſierende Verbildung; freilich ſchüttet er unter dem Beiſtand ſeiner „guten Seligen“ das Kind mit dem Bade aus. Höchſt ſeltſam berührt es nun, daß der erſte, der ein feſtgefügtes Syſtem aus dieſer Bildung der Frau für den Mann und ſo weit es dem Manne bequem war, machte, daß Rouſſeau weit zahlreichere und tatkräftigere Anhänger in Deutſchland gefunden hat als in Frankreich. Und das bis in unſere Tage hinein. Als in den achtziger Jahren des vergangenen Jahr⸗ hunderts Frankreich durch ſeine lex Camille Sée einen dem Knabenunterricht gleichwertigen Mädchenunterricht ſchuf, ſtand das deutſche Mädchenbildungsweſen noch unter dem ausſchließlichen Einfluß der Weimarer Mädchenſchulpädagogen 4 und ihrer unſterblichen Theſe: Das Weib muß gebildet werden, damit der deutſche Mann nicht durch ihre geiſtige Kurzſichtigkeit und Engherzigkeit an dem häuslichen Herde gelangweilt werde. So befremdlich vielen von uns dieſer Ausſpruch heute klingen mag, ſo begreiflich erſcheint er dem, der tiefer in die pädagogiſche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts hineingeſehen hat. Von dem direkteſten Schüler Rouſſeaus, Baſedow, an, der das Programm des Franzoſen, freilich mit ſehr wenig Grazie, einfach ins Deutſche überträgt, bis in den Schluß des 19. Jahr⸗ hunderts hinein finden wir eine Reihe bekannter und glänzender Namen der pädagogiſchen und gelehrten Welt als Träger der Theorie vom abſoluten Gegenſatz der Geſchlechter und einer daraus abzuleitenden abſoluten Ungleich⸗ heit der Bildung, und von der Unterordnung des einen Geſchlechts unter das andere. So meint der einflußreiche Pädagoge Schwarz die Garantie für eine bequeme Lebensgefährtin zu haben, wenn er dem Mädchen „Seelenſtille, Seelen⸗ reinheit, Seelenſchönheit“ anerzieht, und der große Kant macht ſchon jene bekannte ſaubere Zweiteilung zwiſchen dem vernünftelnden Mann und der empfindenden Frau und folgert ganz korrekt: Von dem Weltgebäude werden die Frauen „nichts mehr zu kennen nötig haben, als nötig iſt, den Anblick des Himmels an einem ſchönen Abende ihnen rührend zu machen, wenn ſie einigermaßen begriffen haben, daß noch mehr Welten und daſelbſt noch mehr ſchöne Geſchöpfe anzutreffen ſeyn“. Auf ganz derſelben. Grundlage ruht eines der erſten praktiſchen Mädchen⸗ ſchulprogramme, das des ſeinerzeit vielgenannten Berliner Rektors Spilleke, der ſämtliche Lehrfächer der höheren Mädchenſchule einordnet in die zwei Rubriken: unmittelbarer Religionsunterricht und mittelbarer Religionsunterricht. Als Religionsunterricht muß ſeiner Anſicht nach in der Mädchenſchule jeder Unterrichtsgegenſtand im letzten Grunde aufgefaßt werden, um dem Gemüt die wünſchenswerte Form geben zu können. Man ſollte nun meinen, ſolche Stimmen ſeien zum Schweigen gebracht worden in dem Augenblick, wo nicht mehr ausſchließlich das oft verſpottete und geleugnete geiſtige Bedürfnis der Frau in Frage kam, ſondern die drängende Not der Zeit ihr eine tiefere Bildung zur Lebensbedingung machte. Aber im Gegenteil. Bis in die achtziger Jahre hinein werden dieſe Stimmen immer wieder laut, ja in noch ſchärferem Ton, in dem manchmal eine höhniſche Note mitklingt. Wenigſtens wird man es kaum anders nennen können, wenn Paul de Lagarde in ſeinem Programm der konſervativen Partei verlangt, daß aus den Häuſern alle Welt⸗ und Literaturgeſchichten verſchwinden, wenn aus den Mädchen etwas werden ſolle. Denn, ſo behauptet er: „ein einziger Mann, der in ſeiner Pflichttreue und Begeiſterung einem Mädchen bekannt wird, das er ſogar ignorieren darf, wirkt bildender als alle die getonten und bedruckten Haderfilze Deutſchlands zuſammen ... Jedes Mädchen lernt nur von dem Manne, den es liebt, und es lernt dasjenige, was, und ſo viel, wie 5 der geliebte Mann durch ſeine Liebe als ihn erfreuend haben will.“ Aus dem gleichen Geiſt bedauert Profeſſor v. Nathuſius, daß man „dem Manne ſo viel tägliches Vergnügen raube, indem man die Mädchen zu gelehrt mache.“ Es würde leicht ſein, die Zahl dieſer Belegſtellen noch um viele zu vermehren.¹) Selten, ſehr ſelten klingt bei maßgebenden Männern ein Ton an, der auf die Erkenntnis hindeutete, daß die Frau zur ſelbſtändigen Perſönlichkeit gebildet werden müſſe, um ihrer ſelbſt willen und vor allem um ihrer Kinder willen. Dieſen Gedanken finden wir faſt ausſchließlich durch Frauen vertreten. Er hat ſich, durch den Zwang der äußeren Verhältniſſe unterſtützt, ſehr langſam durchgeſetzt; wir dürfen wohl ſagen, daß er heute im Beginn des neuen Jahrhunderts als ſtillſchweigende Vorausſetzung hinter allen Reformbeſtrebungen ſteht, die auf dem Gebiete der Mädchen⸗ bildung von den verſchiedenſten Seiten eingeleitet werden. Wer nun auf dem Boden der Auffaſſung ſteht, daß die Frau ihrem tiefſten Weſen nach anders geartet iſt, als der Mann, und ich bekenne mich vollſtändig zu dieſer Auffaſſung, der wird ſich zu fragen haben, inwiefern dieſe Verſchiedenheit, die natürlich keineswegs einen abſoluten Gegenſatz in ſich ſchließt, Abweichungen der Mädchenbildung von der der Knaben bedingt. Wir werden am beſten zur Klarheit kommen, wenn wir die Aufgabe der (Schule nach ihren verſchiedenen Seiten auf eine bequeme Formel zu bringen ſuchen. Mir ſcheint der Inhalt dieſer Aufgabe in folgenden drei Punkten ausgedrückt zu ſein: Die Schule ſoll die Fähigkeiten entwickeln, ſie ſoll in das Verſtändnis der Umwelt einführen, und ſie ſoll wenigſtens die erſte Hand⸗ habung der Werkzeuge lehren, mit denen man ſich in dieſer Umwelt behauptet. Was zunächſt den erſten Punkt betrifft: die Entwicklung der Fähig⸗ keiten, ſo kann es natürlich nicht meine Aufgabe ſein, zu unterſuchen, welche Fähigkeiten die Schule überhaupt entwickeln ſollte, ein Punkt, über den die Zukunft vermutlich ganz anders urteilen wird, als wir von heute. Ich kann nur mit den Verhältniſſen von heute rechnen und muß mich darauf beſchränken, zur Erörterung zu ſtellen, ob die Differenz, unter die man gerade in dieſem Punkt die Knaben⸗ und Mädchenbildung zu ſtellen pflegt, das Rechte trifft oder nicht. Dieſe Differenz hat nun nicht nur nach dem bisher erörterten Programm, ſondern nach der bei vielen Mädchenſchulpädagogen auch heute noch herrſchenden Tradition hauptſächlich darin zu beſtehen, daß bei dem Knaben vorzugsweiſe der Verſtand, bei dem Mädchen das Gemüt zu entwickeln ſei. Als Begründung dafür weiſt man auf eine von der ¹) Wer ſich für die Frage intereſſiert, ſei auf die Darſtellung der deutſchen Frauen⸗ bewegung und des deutſchen Mädchenſchulweſens im I. und III. Teil des Handbuchs der Frauenbewegung (W. Moeſer, Berlin 1901, 1902) verwieſen, dem die vorſtehenden Citate zum größten Teil entnommen ſind. 6 Natur gegebene, nach dieſen Richtungen zielende Anlage hin, ſowie auf den ſtärkeren Verbrauch, den das Leben vom Mann an Verſtand, von der Frau an Gemüt fordere. Laſſen wir zunächſt einmal dieſe Argumentation zu, und fragen wir uns: wie wird denn dieſe beſondere Pflege des Gemüts bei den Mädchen betrieben, und was kommt dabei heraus? Die Zeiten des alten Spilleke, der ein ſo köſtlich einfaches Rezept für dieſe Gemütspflege wußte, nämlich jedes Fach als mittelbaren oder unmittelbaren Religionsunterricht zu behandeln, ſind vorüber. Wir müſſen der höheren Mädchenſchule — die Volksmädchenſchule hat ein von der Knabenſchule abweichendes Programm überhaupt nicht aufgeſtellt — die Gerechtigkeit wider⸗ fahren laſſen, zuzugeſtehen, daß ſie ſeit der Falk'ſchen Aera keinen Verſuch einer Zwangsgruppierung dieſer Art mehr gemacht hat. Für die Pflege des Gemüts kommen daher eigentlich nur zwei, oder, wenn der Geſchichtslehrer danach iſt, drei Fächer in Betracht, Religion, Deutſch und Geſchichte. Inwiefern läßt ſich nun eine beſondere Pflege des Gemüts in dieſen Disziplinen denken, oder mit anderen Worten: wie iſt hier das Plus gedacht, das dem Knabenunterricht gegenüber herauskommen ſoll? Denn offenbar ſoll doch auch der Knabenunterricht die religiös⸗ſittlichen Fähigkeiten entwickeln, das Verſtändnis für die große Welt unſerer Dichter und das Weſen ihrer künſtleriſchen Verkörperung, ſowie das Vermögen, die Idee des Edelmenſchlichen, Sittlich⸗Großen aus den Perſönlichkeiten und den Entwicklungszuſammenhängen der Geſchichte auf ſich wirken zu laſſen. Was den Mädchen an Plus gegeben werden kann und tatſächlich meiſtens gegeben wird, iſt ein ſtärkerer Appell an ihre Gefühle, der denn auch auf eine ſtärkere Entwicklung des Gefühls⸗ lebens nicht ohne Einfluß bleibt. Iſt nun das identiſch mit Entwicklung des Gemüts? Ich glaube, daß gerade hier der fundamentale Irrtum in unſerer Mädchenerziehung liegt. Davon ſollte ſchon das Reſultat, das auf den Händen liegende Reſultat dieſer Erziehung überzeugen: jene unleugbare Überſpanntheit der Gefühle, die in der ſpezifiſch deutſchen Schwärmerei für Religions⸗ und Literaturlehrer und in jenem Sichabwenden vom wirklichen Leben liegt, das der Tochter mit dem zehn Jahre lang ſo intenſiv gebildeten Gemüt ruhig geſtattet, ſich in Roman⸗ welten zu verſenken, ohne der geplagten Mutter beizuſpringen, obwohl ſie bei der in Mädchenſchulen gewöhnlich recht eingehend erörterten Stelle: „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Beſtimmung“ ihrem Lehrer die treffendſten und feinfühligſten Antworten gegeben hatte. Dieſe intenſive Gemüts⸗ bildung läßt es zu, daß das junge Mädchen von Ball zu Ball flattert, ohne von dem ſozialen Elend, das durchaus in ihrer Geſichtsweite liegt, auch nur im geringſten Notiz zu nehmen. Das fein kultivierte Gemüt läßt es in nicht ſeltenen Fällen ſogar zu, daß das Mädchen über die innerlichſten Forderungen ihrer Perſönlichkeit hinweg mit recht irdiſch⸗derben Kompromiſſen in die Ehe tritt. 7 Um den fundamentalen Irrtum, der hier zu Grunde liegt, mit einem Wort zu bezeichnen: das Gemüt kann eben nicht durch Gedankenſchwelgereien gebildet werden, nicht durch ein abſichtliches Aufſpüren und Demonſtrieren von Gefühlsmomenten über das hinaus, was die großen Gegenſtände, deren erſte Vermittlung die Schule übernimmt, an ſich, unter bloßer Interpretation des Lehrers, zu ſagen haben; das Gemüt findet ſeine tiefere Durchbildung nur durch Taten, durch die Erfüllung an uns herantretender ſittlicher Forderungen. Wenn nun ſchon durch das ſtarke Fiasko, das die Mädchenſchule an dieſem Punkt aufzuweiſen hat, die herrſchende Methode gerichtet erſcheint, ſo auch durch eine ganz einfache pſychologiſche Erwägung. Es iſt völlig richtig, daß bei dem Mädchen die Gefühls⸗, bei dem Knaben die Verſtandesanlage vorherrſcht, richtig, daß die böſen Schulbuben, die bei Anderſen dem kleinen Mädchen die Puppe hoch oben in den Baum ſetzen, den tiefen Seelenſchmerz der Eigentümerin dieſer Puppe gar nicht nachzuempfinden vermögen. Aber iſt denn daraus zu ſchließen, daß dieſe von der Natur gegebene und daher auch ſchwerlich je verlierbare Verſchiedenheit weit über die Grenzen des von der Natur Gewollten hinaus geſteigert wird? Iſt etwa der bei uns heute vielfach herrſchende Zuſtand ein naturgewollter, daß Mann und Frau zwei verſchiedene Sprachen reden, daß ihn nur noch Tatſachen, ſie nur noch Perſonen und die damit zuſammenhängenden Gefühlskreiſe intereſſieren? Sollte nicht vielmehr eine vernünftige Schulbildung alles thun, um die ſchon durch ſo manche andere Einrichtung unſeres geſellſchaftlichen Lebens geförderte Hypertrophie des Gefühls bei den Frauen zurückzubilden zur natürlichen und zweckmäßigen Stärke? Iſt es denn nicht überdies eine jämmerliche Phraſe, daß die Hausfrau und Mutter in erſter Linie des Gefühls bedürfe? Nach meiner Auffaſſung bedarf ſie davon nicht mehr und nicht weniger, als die Natur ihr mitgegeben hat. Ihre weibliche Anlage wird ſich ganz von ſelbſt in der Auffaſſung und Aneignung des von der Schule Gebotenen betätigen und entfalten, ohne daß ſie durch beſondere Nachhilfe, durch eine Art von Gemütsmaſtkur, beſonders, d. h. auf Koſten der anderen Seiten ihres Weſens, gepflegt wird. Was die Kultur ihr dazu geben muß, iſt die logiſche Schulung, die ihr ermöglicht, im praktiſchen Leben die Gefühlselemente in ſich intellektuell durchzubilden und zu beherrſchen, iſt die Einführung in die tatſächlichen Ver⸗ hältniſſe, in denen die Frau den Kulturwert ihrer ſpezifiſchen Geſchlechts⸗ anlagen nachher zur Geltung bringen ſoll. Und das bringt uns zu dem zweiten Punkt: wie ſteht es mit der Ein⸗ führung der Frauen in die Verhältniſſe der realen Welt? Auch hier kann es unmöglich meine Aufgabe ſein, alles zu kennzeichnen, was mir in unſerm heutigen Schulweſen unrichtig erſcheint. Das würde ſonſt auf eine meinem Thema fern liegende Kritik auch des Knabenunterrichts hinauslaufen. Denn daß es auch hier mit der Einführung in die wirkliche Welt hapert, dürfte 8 niemand beſtreiten wollen. Um aber in dem mir hier geſteckten Rahmen zu einem greifbaren und verwertbaren Reſultat zu gelangen, muß ich mich wieder beſchränken auf das, was die Mädchenſchule von der Knabenſchule unterſcheidet. Es iſt klar, daß unter Einführung in unſere Umwelt nicht etwa nur die Vermittlung der dem jugendlichen Alter entſprechenden Kenntnis der heutigen Welt und der ſie weſentlich beſtimmenden Faktoren zu verſtehen iſt; dieſe Einführung umfaßt vielmehr auch den geſchichtlichen Werdegang, auch das Verſtändnis der Gedankenwelt vergangener Epochen. Bis auf den heutigen Tag noch herrſcht in dieſer Beziehung ganz ausgeſprochen ein doppeltes Prinzip für Mädchen⸗ und Knabenſchulen. Aus dem 18. Jahrhundert, wo die populär⸗wiſſenſchaftlichen Bücher für Frauen: „Weltweisheit für das Frauen⸗ zimmer“, „Mathematik für das ſchöne Geſchlecht“ u. ſ. w. ins Kraut ſchoſſen, haben ſich die Lehrbücher ad usum puellae bis in die Gegenwart hinein⸗ gerettet. Man braucht aber auch nur die Lehrziele ins Auge zu faſſen, die in den preußiſchen Beſtimmungen über den Geſchichtsunterricht den Mädchen⸗ ſchulen im Gegenſatz zu den Knabenſchulen geſtellt ſind, um zu begreifen, daß auf ſolcher Grundlage allerdings beſondere Leitfäden für Mädchenſchulen nötig ſind. Für die Knabenſchulen ſoll erreicht werden: Kenntnis der Geſchichte „im Zuſammenhang ihrer Urſachen und Wirkungen und Entwicklung des geſchichtlichen Sinns“; in der Mädchenſchule dagegen „fällt dem Geſchichts⸗ unterricht im Verein mit dem Unterricht in der Religion und im Deutſchen die Aufgabe zu, den heranwachſenden Mädchen eine höhere ſittliche Auf⸗ faſſung des Lebens zu vermitteln, die Liebe zum Vaterlande und zur Menſchheit in ihnen feſter zu begründen.“ Alſo auf der einen Seite Entwicklung des geſchichtlichen Sinns, Ein⸗ führung in die großen Kauſalzuſammenhänge — auf der andern Seite als Endziel Befeſtigung der „Liebe zur Menſchheit!“ Wenn man darauf verzichtet hat, die doch gewiß auch für den heranwachſenden Knaben ſehr wünſchenswerte „Liebe zur Menſchheit“ auf dieſe einfache Weiſe einzutrichtern, ſo iſt das wohl damit in Zuſammenhang zu bringen, daß man ſich bei der ernſt zu nehmenden Knabenſchule der geſchwollenen Phraſenhaftigkeit dieſes Ausdrucks zu deutlich bewußt ſein mußte. Gerade unſere Zeit mit ihren Reformverſuchen auf allen Gebieten, mit der großen Mitverantwortlichkeit, die die konſtitutionelle Organiſation unſeres geſamten öffentlichen Lebens dem einzelnen auferlegt, verlangt vor allem den geſchichtlichen Sinn, das heißt die Fühlung für die Bedingtheiten und Entwicklungsmöglichkeiten des geſchichtlichen Lebens. Sie tut in einer Zeit, wo die Frauen mehr und mehr in die Offentlichkeit hinaustreten, gerade ihnen, den auf die Gefühle gedrillten, doppelt not. Eine „Liebe zur Menſchheit,“ die ſich mit dem Einblick in die geſchichtlichen Zuſammenhänge nicht verträgt, iſt eine Gefühlsduſelei. Sie als Ziel zu ſetzen, öffnet der Tendenzmache Tür und Tor. Daß die Mädchen ſehr wohl für einen ganz im Sinne des Knabenunterrichts gehandhabten Geſchichtsunterricht 9 zugänglich ſind, daß ſie ihm lebhaftes Intereſſe entgegenbringen, davon haben mich jahrelange Erfahrungen in der Leitung der Berliner Gymnaſial⸗ kurſe überzeugt. Übrigens: an ihren Früchten ſollt ihr ſie erkennen. Wir dürfen wohl wiederum fragen, wo iſt denn dieſe durch den Geſchichtsunterricht nach amtlicher Überzeugung doch wohl erweckte „Liebe zur Menſchheit“ bei unſeren jungen Mädchen zu finden? Um es noch einmal zu wiederholen: gerade das ſoziale Intereſſe, und das wäre doch die konkrete Geſtaltung der nebelhaften „Liebe zur Menſchheit“, iſt der am allerwenigſten ausgebildete Zug der aus der höheren Mädchenſchule hervorgegangenen Frauen. Wenn ſich auch in den Beſtimmungen über den deutſchen Unterricht für Mädchen und Knaben Spuren jenes Gegenſatzes von „Liebe“ einerſeits und geſchichtlichem Verſtändnis andrerſeits finden, ſo doch nicht in ſo kraſſer Form. In der Praxis herrſcht aber auch hier in nicht berechtigtem Umfang das Prinzip der Differenzierung. Während neun Zehntel der Jugend unſeres Volkes die nationale Literatur in einem gleichen Ausſchnitt, aus denſelben Leſebüchern kennen lernt, hält man bei der Jugend der ſogenannten höheren Stände eine Trennung für abſolut geboten, als ob man die Gedankenkreiſe nicht weit genug auseinanderreißen könnte. Es bedarf kaum eines beſonderen Hinweiſes darauf, daß das Gefühlselement in den Leſebüchern für Mädchen eine ſtärkere Betonung erfährt. Es ſind nicht eben die ſchlecht veranlagten Mädchen, die an den Leſebüchern ihrer Brüder größeres Gefallen finden als an ihren eigenen. Wenn wir das augenblicklich in dankenswerter Weiſe angeſtrebte Ideal eines guten Leſebuches erreichen, das neben der klaſſiſchen auch die wertvolle moderne Literatur darbietet — und wir haben ja ſchon Bücher, die dieſem Ideal nahekommen — dann iſt abſolut nicht einzuſehen, weshalb ein ſolches Buch nicht für beide Geſchlechter ſein ſollte. Es würde überdies den Knaben ſehr wohltun, wenn ſie einmal auch über das bisher nur verſchämt in Mädchenſchulbücher eingeſchmuggelte Wirken tüchtiger Frauen etwas erführen, ebenſo wohl wie den Mädchen eine gründlichere Einführung in die große geſchichtliche Literatur. Aber auch abgeſehen vom Leſebuch ſtellt ſich der deutſche Unterricht in Mädchenſchulen vielfach als eine liebevolle Pflege der natürlichen Einſeitig⸗ keiten der Mädchen dar. Wenn die preußiſchen Beſtimmungen vorſchreiben, „die gewählten Gedichte dürfen dem weiblichen Anſchauungs⸗ und Empfindungs⸗ kreiſe nicht fern liegen“, ſo bedeutet das, abgeſehen von dem Kautſchukartigen dieſer Beſtimmung, die Ausſchließung einer wertvollen und wichtigen Seite des menſchlichen Geiſteslebens aus dem Geſichtskreis der Frau, eine Einengung ihrer Verſtändnisfähigkeit. Hier liegt eine der feinen Wurzeln der bis zur gegenſeitigen geiſtigen Fremdheit gehenden Intereſſenverſchiedenheit der Geſchlechter in Deutſchland. Man hat — um zu einem konkreten Beiſpiel zu kommen — wohl behauptet, daß der Wallenſtein den Mädchen durch den Unterricht nicht nahe zu bringen ſei, oder daß das Verſtändnis für Uhlandſche 10 Balladen, wie „die Schlacht von Reutlingen“ wegen des ſpezifiſch männlich⸗ ritterlichen Ehrgefühls, das dort die Grundlage bildet, bei Mädchen nicht zu erreichen ſei. Das kann nach meiner Erfahrung zunächſt nur in ſehr beſchränktem Grade zugegeben werden.. Es liegt eben das, wie vieles andere, beim Lehrer. Aber ſelbſt wenn das Verſtändnis für eine ſo ſpezifiſch männliche Handlungs⸗ weiſe noch ferner läge, als es tatſächlich der Fall iſt, ſo würde daraus keines⸗ wegs die Zurückſetzung ſolcher Dichtungen in der Mädchenſchule zu folgern ſein. Es handelt ſich doch nur um eine einfache Anſchauung menſchlicher Handlungsweiſe, die dem Mädchen als Tatſache gegenüberſteht, und die ſie als Tatſache anerkennen und zu verſtehen verſuchen muß, ob ſie ſie nun mit ihren tiefſten Sympathieen erfaßt oder nicht. Übrigens iſt es für den durch die Verhältniſſe gezeitigten wachſenden Wirklichkeitsſinn der jungen Mädchen von heute bezeichnend, daß ſich — wie mir vielfache Erfahrungen bewieſen haben — ihr Intereſſe weit mehr Wallenſtein zuwendet, als dem früher im Mittelpunkt der Mädchenträume ſtehenden Max Piccolomini. Es iſt nicht möglich, alle Schuldisziplinen in dieſer Weiſe durchzugehen. Nur ein Wort über die Naturwiſſenſchaften ſei noch geſtattet. Hier iſt eine Gleichheit der Ziele ſchon durch den einfachen Umſtand ausgeſchloſſen, daß die Mädchenſchule keine Mathematik fordert. Der Lehrer iſt daher auf großen Gebieten auf die Darbietung fertiger Reſultate angewieſen. Daß dieſe Reſultate auf dem feſten Grunde mathematiſcher Beweisführung ſtehen, daß ſie erarbeitet werden wollen, bleibt den Mädchen fremd. Das mag einer der Gründe ſein, die die Naturwiſſenſchaften auch in ihren anderen Disziplinen zum Stiefkind der Mädchenſchule werden ließen, die ſie über etwas Spieleriſches nicht hinauskommen laſſen und eine feſte Aneignung ſelbſt elementarer Tatſachen hindern. (Wenn es vor kurzem geſchehen konnte, daß in einer von Frauen redigierten Zeitſchrift Eier legende Raupen dem billig erſtaunten Publikum vorgeführt wurden, ſo iſt das wohl zu dieſer Behauptung die beſte Illuſtration.) Das Reſultat iſt, daß die Frau — auch hier wieder im Gegenſatz zum Mann — das gewaltige Gebiet der Naturwiſſenſchaften nicht frühzeitig genug in den Kreis ihrer Anſchauungen aufnimmt, um einer⸗ ſeits ſeine poſitive Bedeutung recht zu würdigen, andrerſeits, wenn ſie zur intellektuellen Selbſtändigkeit ſich durcharbeitet, für die philoſophiſchen Grenzen der naturwiſſenſchaftlichen Erkenntnis die richtige Abſchätzung zu haben. Und daraus folgt wieder die heute bei ſo vielen halbgebildeten Frauen beobachtete unbegrenzte Hochachtung vor der ſogenannten naturwiſſenſchaftlichen Welt⸗ anſchauung, die keinen anderen Faktor kennt, als eben die Naturwiſſen⸗ ſchaften, und ſich über die ſchwierigſten erkenntnistheoretiſchen Probleme mit einem kühnen salto mortale hinwegſetzt. Gerade der dilettantiſche Bildungs⸗ eifer der Frauen in bezug auf dieſes Gebiet dürfte beweiſen, daß ein Intereſſe für die exakten Wiſſenſchaften bei ihnen nicht fehlt. Daß die Mädchenſchule aber auch dieſe Fächer genau ſo behandeln könnte, wie die Knabenſchule, das 11 beweiſen wiederum nicht nur die Reſultate in den deutſchen Mädchen⸗ Gymnaſialanſtalten, ſondern auch die längſt vorhandene Gewohnheit fremder Kulturländer. Der dritte Punkt ſchließt ſich nun unmittelbar an und iſt raſch zu erledigen: die Schule ſoll das Mädchen ſo gut wie den Knaben die erſte Handhabung der Mittel lehren, durch die ſie ſich in der Umwelt, das heißt heute, wo wir noch Standesſchulen haben, in ihrer ſozialen Sphäre behauptet. Unſre heutigen Schulen ſind Standesſchulen und bis zu einem gewiſſen Grade Vorbereitungsſchulen auf einen Beruf, oder beſſer geſagt, auf die Berufe, die innerhalb der Geſellſchaftsſphäre liegen, der die Schüler angehören. Man hat das in der Theorie vielfach leidenſchaftlich beſtritten, aber jedes objektive Urteil muß zugeben, daß tatſächlich die Lehrpläne der Gymnaſien, der Realſchulen ec. auf beſtimmte Gruppen von gelehrten oder praktiſch⸗ techniſchen Berufen zugeſchnitten ſind. Für die weiteſten Kreiſe unſres Volks, aus denen ſich die Schüler der Volksſchule rekrutieren, hat man es nun gar nicht in Frage geſtellt, daß die Frau die Bildung des Mannes teilt, daß ſie dieſelben — hier leider nur elementaren — Hilfsmittel handhaben muß, wie er, Hilfsmittel, ohne die ein Fortkommen heute nicht denkbar iſt. Bei den Mädchen der höheren Stände liegen die Sachen anders. Hier bietet die höhere Mädchenſchule nur das, was für das Sichbehaupten in der geſellſchaftlichen Sphäre der betreffenden Kreiſe in Betracht kommt, die Kenntniſſe, ohne die man ſich blamiert; für das Sichbehaupten im Leben ſind ſie überall unzureichend. Aber was heißt denn für eine Frau: ſich im Leben behaupten? Oder in anderer Frageſtellung: was iſt ihr Beruf? Das kann ſie beſonders in den für die höhere Mädchenſchule in Betracht kommenden Ständen im voraus niemals wiſſen. Sie kann zu den 60—70Prozent gehören, die ſich ver⸗ heiraten. Sie kann aber auch von Anfang an auf ſich ſelbſt geſtellt bleiben. Iſt ſie verheiratet, ſo kann ſie mitverdienen müſſen; ſie kann Mutter werden und Kinder zu erziehen haben, ſie kann auch Witwe werden und dieſe Kinder zu ernähren haben. Das bedeutet unleugbar eine große Schwierigkeit für die Geſtaltung der Mädchenbildung. Und dennoch ſcheint mir, daß dieſer Schwierigkeit nicht ſo ſchwer zu begegnen ſei. Es iſt offenbar, daß ein gewiſſes mittleres Niveau der Ausbildung erreicht werden muß, das der Frau die Möglichkeit offen läßt, ſich einem der bürgerlichen Berufe mit der gleichen Ausſicht auf Erfolg zuzuwenden wie der Mann; es iſt ebenſo offenbar, daß eine ſolche Ausbildung ihr als Frau und Mutter nur zu ſtatten kommen kann. Es wird hinzukommen müſſen, was der ſpezifiſche Frauenberuf erheiſcht an Handfertigkeiten, wirtſchaftlichen und pädagogiſchen Vorkenntniſſen, Dinge, deren Fehlen bei der Frau, ob ſie Hausfrau und Mutter wird oder nicht, unter allen Umſtänden von ihr ſelbſt und anderen als Mangel empfunden werden wird. Eine mehr als 12 propädeutiſche Vorbildung kann freilich für dieſes Gebiet ſo wenig wie für andere Aufgabe der Schule ſein. Das würde etwa für die Allgemeinheit gelten können. Daß für die Frau mit beſonderen Anlagen und Neigungen, ebenſo wie für den Mann, Gelegenheiten vorhanden ſein müſſen, ſich zu dem von ihr gewünſchten Beruf auszurüſten, erſcheint als eine ſo einfache Forderung der Gerechtigkeit, daß der lange Kampf, den man ſpeziell in Deutſchland darum kämpfen muß, auf ſpätere Generationen ſehr befremdend wirken wird. Faſſen wir das Ergebnis unſerer Erörterungen noch einmal zuſammen, um dann daraus die konkreten Forderungen abzuleiten. Es wird auf folgendes hinauslaufen: Wenn auch Mann und Frau ihrer ganzen Anlage nach verſchieden ſind, ſo ergibt ſich daraus die Forderung einer durchaus verſchiedenen geiſtigen Nahrung ebenſo wenig für die höheren Stufen der Schule wie für die Volks⸗ ſchule. Wie ſich aus der gleichen Nahrung der weibliche wie der männliche Körper jeder nach ſeinem eigenen organiſchen Prinzip verſchieden baut, ſo wächſt die Pſyche des Mädchens wie die des Knaben nach der von der Natur geprägten Form durch den Stoff, den die Umwelt bietet, und den die Schule der jeweiligen Entwicklungsſtufe entſprechend auszuwählen und zu vermitteln hat. Unter dem erſten Geſichtspunkt, unter dem wir die Aufgabe der Schule betrachteten, nämlich im Hinblick auf die Entwicklung der Fähigkeiten, iſt die übliche Differenzierung der Mädchen⸗ und Knabenbildung nicht gerechtfertigt. Ebenſo wenig gerechtfertigt iſt ein Unterſchied in den Stoffen, d. h. in den Unterrichtsgegenſtänden. Denn die Kultur, die unſer geiſtiges und ſoziales Leben beſtimmt, iſt die gleiche für Mann und Frau; die Frau von wichtigen Gebieten derſelben ausſchließen, heißt, den Abſtand zwiſchen Mann und Frau zwiſchen ihrer und ſeiner Intereſſenſphäre, künſtlich zur Kluft erweitern. Und ſchließlich iſt es gerade in unſerer Zeit am allerwenigſten gerechtfertigt, die Frau ohne die Hilfsmittel zu laſſen, die ihr ſowohl als Frau und Mutter, wie als Berufsarbeiterin die Möglichkeit einer vollen Erfüllung ihres Lebenskreiſes geben. Die konkrete Verwirklichung dieſer Schlußfolgerungen wäre der Erſatz der mittleren und höheren Mädchenſchule durch Anſtalten, die den Realſchulen und Oberrealſchulen der Knaben etwa entſprächen, ſoweit dieſe, beſonders die Oberrealſchule, nicht eine ganz ſpezielle Zuſpitzung auf die für die Frau vorläufig wenigſtens wenig in Betracht kommenden techniſchen Wiſſenſchaften zeigen. Von den elf Wochenſtunden, die, ſpeziell mit Rückſicht auf dieſe Berufe, den mathematiſch⸗naturwiſſenſchaftlichen Disziplinen auf der Oberſtufe der Oberrealſchule zugewieſen ſind, ließe ſich leicht erübrigen, was für die dem ſpezifiſchen Frauenberuf dienenden Disziplinen notwendig wäre. Solche 13 Anſtalten würden dem allgemeinen Bildungsbedürfnis der Mädchen entſprechen; die Errichtung einer Anzahl gymnaſialer Bildungsanſtalten müßte ſelbſt⸗ verſtändlich hinzukommen. Die ſich daraus von ſelbſt ergebende Verlängerung des Bildungsganges unſerer jungen Mädchen würde angeſichts der bei uns herrſchenden geſelligen Verhältniſſe als ein wahres Glück zu betrachten ſein, um ſo mehr, als damit ein gründlicher Strich durch die Pſeudobildung der Penſionate gemacht würde. Inwieweit die Beſchaffung der genannten Unter⸗ richtsanſtalten für die Mädchen durch das Mittel der gemeinſamen Erziehung der Geſchlechter geſchehen könnte, das ſcheint mir im Augenblick weniger eine Frage der prinzipiellen Erörterung als der praktiſchen Verſuche. Was hier gefordert worden iſt, hat bei anderen Kulturvölkern ſeine Verwirklichung längſt gefunden. Bei uns wurden ähnliche Forderungen ſchon 1872 bei der Tagung des Allgemeinen deutſchen Frauenvereins zu Eiſenach geſtellt; ſie ſind ſeitdem häufig vertreten worden, von mir ſelbſt u. a. auf dem Bundestag der deutſchen Frauenvereine in Caſſel (1896). Hier habe ich nun verſucht, dieſe Forderungen, für die in erſter Linie praktiſche Geſichts⸗ punkte maßgebend waren, auch innerlich zu begründen. Was mir ihrer Erfüllung hauptſächlich entgegenzuſtehen ſcheint, iſt die Angſt vor der Angleichung an die Knabenſchule, die Furcht, den Mädchen möchte die Weiblichkeit verloren gehen. Dieſe Furcht, die nur bei uns eine ſolche Rolle ſpielt, ſcheint mir in einem freilich nicht zu klarem Bewußtſein gelangenden Kauſalzuſammenhang mit dem auch nur bei uns ſo ausgedehnten Brauch zu ſtehen, die Mädchen durch Männer erziehen zu laſſen. Hier ſcheint mir der Grund dafür zu liegen, daß man immer glaubt, durch künſtliche Mittel, durch Treibhauskultur, das weibliche Element in den Mädchen beſonders pflegen zu müſſen. Liegt die Erziehung in der Hand von Männern, ſo muß künſtlich geſucht werden, was ſich bei der Erziehung durch Frauen von ſelbſt ergibt: die zwangloſe, das Innerlichſte der weiblichen Natur ergreifende Anpaſſung des Unterrichts an die Eigenart des Mädchens, jene feine, als Methode gar nicht lehrbare Anpaſſung, von der die Wirkſamkeit beſonders der ethiſchen Momente des Unterrichts im tiefſten Grunde abhängig iſt. Ohne den Mann von der Mitarbeit an der Mädchenbildung ausſchließen zu wollen, müſſen wir doch die ſchon ſeit Jahren erhobene Forderung feſthalten, daß der Frau der leitende Einfluß zufalle, wie er dem Mann beim Knaben gebührt und gegeben iſt; die Forderung ferner, daß ihr zunächſt in der kommunalen, und, ſobald ſie die dazu erforderlichen Bedingungen erfüllen kann, auch in der ſtaatlichen Schulverwaltung Sitz und Stimme gegeben werde. Die Erfüllung dieſer Forderungen, die erſt die Mädchenſchule mutatis mutandis unter dieſelben Bedingungen ſtellen würde, wie die Knabenſchule, würde in Verbindung mit der erörterten Unterrichtsreform das Problem der Mädchenbildung bis zu einem gewiſſen Grade löſen. Ein Ideal würde natürlich noch nicht erreicht werden. Iſt doch die Knabenſchule auch keines. 14 Aber die immer weiter werdende Kluft zwiſchen Mann und Frau würde ſich mehr und mehr ſchließen. Und die Weiterentwicklung der Schule könnte dann von beiden Geſchlechtern und für beide Geſchlechter in gemeinſamer Arbeit gefördert werden. Damit erſt wäre die unentbehrliche Grundlage für eine vollwertige Ergänzung in der Arbeit der Geſchlechter auf allen Lebensgebieten geſchaffen, damit erſt das Ziel in erreichbare Nähe gerückt, auf das immer deutlicher die Entwicklungstendenzen unſerer Zeit weiſen: eine voll⸗menſchliche, nicht nur einſeitig von einem Geſchlecht beſtimmte Kultur. Mißt man nun die Möglichkeit der Durchführung dieſer Pläne an dem offiziellen Gradmeſſer, der Stimmung der Volksvertretung, ſo kommt man für den „führenden“ deutſchen Staat, Preußen, nach den letzten Landtags⸗ verhandlungen zu einem ſehr traurigen Ergebnis. Und wer ſehen will, muß ſehen: der geſchloſſene Vorſtoß der Feinde, die Lauheit der erſt zur Abwehr herzukommenden Freunde, die matte Haltung der Regierung, das alles bewies ſchlagend das Illuſoriſche der Auffaſſung, daß die Rechte der Frauen in der „Volksvertretung“ genügend durch Männer gewahrt werden. Wir ſind bei Verhandlungen des preußiſchen Abgeordnetenhauſes über die Mädchenbildung nicht eben an ein hohes Niveau der Debatten gewöhnt. So niedrig aber wie diesmal hat es ſeit einem Jahrzehnt nicht geſtanden. Den Eindruck aus den Reden der Mehrheitsparteien insbeſondere kann man nur mit dem Miniſter Dr Studt dahin zuſammenfaſſen: dann könne man ja mit dem ganzen höheren Mädchenſchulweſen überhaupt aufräumen, vielleicht höchſtens die Mädchen das Alphabet lehren, ſonſt ſie aber nur der körperlichen Ausbildung und ihrer Geſundheit ſich widmen laſſen. Es verlohnt ſich nicht, auf die Programmreden der Mehrheitsparteien, aus denen im Grunde nur die Angſt vor der denkenden Frau ſpricht, hier näher einzugehen. Nur eine Theſe des Abgeordneten Dittrich ſei hervorgehoben, die in direkter Beziehung zu der von mir vertretenen Auffaſſung ſteht. Sie lautet: „Die Frauenſeele iſt etwas anderes als die Männerſeele, und daraus folgt, daß die Frauen auf einem anderen Wege zur Bildung geführt werden müſſen als die Männer.“ Die Parallele zu dieſer Schlußfolgerung würde zu dem Brauch wilder Völkerſchaften zurückführen, gewiſſe kräftigende Stoffe ausſchließlich für den Aufbau des Männerkörpers zu reſervieren. Es ſoll übrigens auch noch deutſche Hausväter geben, die ihren Männerkörper für beſonders geeignet halten, durch Beefſteaks, Braten und allerlei angenehme Zutaten aufgebaut zu werden. Neuerungsſüchtige Ärzte, welche die ſogenannte weibliche Bedürfnisloſigkeit nur für eine ſchlechte Angewohnheit halten, wollen allerdings behaupten, daß auch der Frauenkörper ſich aus ſolchen Stoffen vorzüglich aufbauen laſſe. 15 Im übrigen fragen wir den Abgeordneten Dittrich, wie er es mit ſeinem Gewiſſen vereinbaren kann, nicht alljährlich beim Kultusetat einen geharniſchten Proteſt dagegen zu erheben, daß neun Zehntel der deutſchen Mädchenjugend, die Volksſchülerinnen, zu Männerſeelen herangebildet werden? Oder iſt ihm etwa die „Männerſeele“ nur unbequem bei den eigenen Standesangehörigen, die er lieber zu gefügigen, freundlich tändelnden Haustöchtern als zu ſelbſtändigen Perſönlichkeiten erziehen möchte? Wer die gegenwärtige politiſche Konſtellation überſieht, wird ſich ſagen, daß bei ſolchen Mehrheitsparteien auch der beſte Wille der Regierung wenig Ausſicht hätte, ſich durchzuſetzen. So ſcheint mir, wenigſtens für Preußen, auch für die Mädchenrealſchulen die einzige Chance in der Initiative der Privaten und der Städte zu liegen, denen wir auch die erſten Gymnaſial⸗ anſtalten verdanken. An der endlichen Durchführung unſeres Programms zweifeln wir nicht. Denn in den deutſchen Frauen von heute iſt das Wort eines Predigers in der Wüſte zur innerlich befreienden Macht geworden, das Wort Schleiermachers: „Laß dich gelüſten nach der Männer Bildung, Kunſt, Weisheit und Ehre! 16 W. Moeler Buchhandlung Berlin S. I4, Stallschreiben-Strasse 34. 35 In unſerem Verlage iſt erſchienen: Handbuch der Frauenbewegung Herausgegeben von Helene Lange und Gertrud Bäumer. I. Teil. Die Geschichte der Frauenbewegung in den Kulturländern. XVI und 400 Seiten gr. 89, geheftet Alk. 9. —, in Teinen geb⸗ Ak. 11—. II. Teil. Frauenbewegung und soziale Frauentätigkeit in Deutlchland nach Einzelgehieten. VIII und 26? Seiten gr. 89, geheftet AlIk. 5., in Leinen geb. Alk. 6.50. III. Teil. Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern. XVI und 464 Seiten und h Cabellen gr. 89, geheftet AIk. 8.60, in Teinen geb. Ak. 10.40. IV. Teil. Wie deutlche Frau im Beruf. XVI und 4ſ8 Seiten gr. 82 geheftet AIk. 8., in Teinen geb. Alk. 9.60 leder Band iſt einzeln Käuflich! Helene Lange: Intellektuelle Grenzlinien zwiſchen Hann und Frau. Zrauenwahlrecht. ². Aufl. Dr. 60 Df. pietätswerte. Dr. 50 Hf. Weltanſchauung und Frauenbewegung. Dr. 40 Hf. Wiſſen und ſittliche Kultur. Dr. 50 Df. Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder gegen Einſendung des⸗ Betrages in Alarken (nebſt 5 Df. Horto) direkt vom Verleger. 05 14313 SBB N12<126221765010 ZFB:2 Entsäuerung 2022 St.B. 21.2.4I.U