Ag 10519 - 2 Kampfzeiten Aufſätze und Reden aus vier Jahrzehnten Von Helene Lange Ehrendoktor der Staatswiſſerſchaften Zweiter Band Berlin 1928 Ag 10519-2 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, G. m. b. H. Inhalt des zweiten Bandes. Seite Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 1908 .. . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Die Frauenbewegung und die moderne Ehekritik. 1909 . . . . . . . . . . 8 Sollen die Frauen den politiſchen Parteien beitreten? 1909 .. . . . . 30 Reaktion im Liberalismus. 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Das Frauenſtimmrecht und der Liberalismus. 1910 .. . . . . . . . . . . 39 Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 1910 .. . . . . . . . . . . . . 43 Standespſychologie in der Königsberger Kaiſerrede. 1910 .. . . . . . . 51 Jahresſchau in der deutſchen Frauenbewegung. 1911 .. . . . . . . .. 57 Organiſches oder mechaniſches Prinzip in der Mädchenbildung? 1911 .. 67 Die gegenwärtige Lage des Frauenſtimmrechts und ihre Beurteiler. 1912 83 Die Duelldebatten im Reichstag. 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Wie lernen die Frauen Politik verſtehen? 1912 . . . . . . . . . . . . 100 Die Taktik der Suffragettes. 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Das Staatsbürgertum der Frau. 1914 .. . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Die Frau als Volkserzieherin im modernen Staat. 1914 .. . . . . . . 142 Neujahr 1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die Dienſtpflicht der Frau. 1915 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Fünfzig Jahre deutſcher Frauenbewegung. 1915 .. . . . . . . . . . . 190 Neujahr 1916 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Fünfundzwanzig Jahre „Die Frau“. 1918 .. . . . . . . . . . . . . . . 221 Rechtsfrieden? 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Die ſchwerſte Stunde. 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Das Verſagen. 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Die deutſchen Frauen und der Frauenweltbund. 1920 .. . . . . . . . . 239 „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit“. 1920 .. . . . . . . . . 242 Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 1921 .. .. 245 Steht die Frauenbewegung am Ziel oder am Anfang? 1921 . . . . . . 251 Vor zehn Jahren. 1924 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Weltanſchauung und höhere Bildung. 1924 . . . . . . . . . . . . . . 276 Der erſte Kampf um das Schankſtättengeſetz. 1925 . . . . . . . . . . 280 Die ungeeignete Schöffin. 1925 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 1926 .. . . . . . . . . . . . . . 289 Am Wege. Kleine pädagogiſche Erlebniſſe. 1. Schulkindertorheiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 2. Kinderfräulein .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Inhalt des zweiten Bandes. VI Sette Gedenkblätter. Margarethe von Bülow .. .. .. .. . . .. . . . . . . . . . . . . 319 Jeannette Schwerin .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Henriette Schrader .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Kaiſerin Friedrich .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Auguſte Schmidt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Lina Morgenſtern .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Helene Adelmann .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Kaiſerin Auguſte Viktoria .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Marie Hecht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Helene von Forſter .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Antonie Traun .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Helene Sumper .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Dr. Franziska Tiburtius .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Es ſind drei beſondere Umſtände, die in der Entwicklung der Frauenbewegung während der letzten Jahrzehnte beſtimmend geweſen ſind: der Kampf um das Frauenſtimmrecht, die Auseinanderſetzung über die Ehekritik und ſchließlich das Miterleben des Weltkrieges. Umſtände von ſehr ungleicher Wichtigkeit und Wirkung. Die Auseinanderſetzung über Weſen und Tragweite der Grund⸗ ſätze der Frauenbewegung — gewiſſermaßen das innere Ringen um das Programm — hat natürlich die Entwicklung von Anfang an begleitet. Insbeſondere mußte die Abgrenzung von Freiheit und Verantwortung auf dem Gebiet des Geſchlechtslebens und ſeiner Ord⸗ nungen geſucht werden. War in den erſten Jahrzehnten die Stellung⸗ nahme der Frauen, die überhaupt an dieſer Auseinanderſetzung. be⸗ teiligt waren, ſehr einheitlich, ſo entſtand im erſten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Kritik an Ehe und Geſchlechtsleben von ganz anderen Ausgangspunkten aus. Die Frauenbewegung hatte bis da⸗ hin die doppelte Moral bekämpft und die Umgeſtaltung der Ehe auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Frau vertreten, hatte aber dieſen Kampf gegen die doppelte Moral vom Standpunkt der Rein⸗ heit und Verantwortlichkeit des geſchlechtlichen Lebens und infolge⸗ deſſen unter ſtarker Betonung auch der Verantwortung und Bindung in der Ehe geführt. Sie hatte ſich nun auseinanderzuſetzen mit For⸗ derungen, die unter einſeitiger Betonung eines Rechtes auf erotiſche Lebenserfüllung auch bei der Frau auf eine Lockerung der Ehe hin⸗ ausgingen. Dieſer Auseinanderſetzung gehören die beiden erſten Auf⸗ ſätze dieſes Bandes an. Wenn vieles Unreife von dem, was damals über das „Recht auf Mutterſchaft“ geſagt wurde, in verdiente Ver⸗ geſſenheit verſunken iſt, ſo iſt die Auseinanderſetzung über gewiſſe Grundfragen der Geſetzlichkeit im Geſchlechtsleben heute in ein neues Stadium getreten. Darüber nachher noch ein grundſätzliches Wort. Stärker noch mußte in dieſer Zeit die Frage des Frauenſtimm⸗ rechts die Frauenbewegung beſchäftigen. 1908 war durch ein neues Reichsvereinsgeſetz der heute faſt unvorſtellbare Zuſtand beſeitigt, daß Frauen nicht Mitglieder politiſcher Vereine werden konnten, d. h. Zur Einführung. VIII Zur Einführung. weder Mitglieder von Parteien noch ſolcher Vereine, die überhaupt Fragen der Politik oder Sozialpolitik, ja irgendwelche Gegenſtände der Geſetzgebung und Verwaltung behandelten. Dadurch wurde ein Kampf für das Frauenſtimmrecht erſt äußerlich möglich, und anderer⸗ ſeits entſtand die Frage, ob die Frauen ſich politiſchen Parteien an⸗ ſchließen und in ihnen arbeiten ſollten. Dabei mußte die Tatſache eine Rolle ſpielen, daß nur durch die Parteien ein Fortſchritt in der Stimmrechtsfrage herbeigeführt werden konnte. Hier mußte auch in erſter Linie die politiſche Bildung der Frauen ſich vollziehen, wenn auch andererſeits die Frauen ſelbſt dabei mitzuwirken hatten. So iſt die kleine Schrift: „Wie lernen die Frauen Politik verſtehen? die 1912 als Broſchüre erſchien, ſchon Ende 1911 als ein kleiner poli⸗ tiſcher Elementarkurſus vor den anfangs 1912 ſtattfindenden Reichs⸗ tagswahlen in der „Frau“ veröffentlicht worden. Für mich und — bis dahin — unterſchiedslos alle Führerinnen der Frauenbewegung waren ihre Forderungen logiſche Konſequenz des Liberalismus und der Demokratie — geiſtig und politiſch auf dem Boden gewachſen, der in Deutſchland zum erſtenmal 1848 in einer großen geiſtigen und politiſch⸗ſozialen Volksbewegung hervortrat. Mir war daher die Weſensverbindung von Frauenbewegung und demo⸗ kratiſchem Liberalismus ſelbſtverſtändlich. Das hat mich nie kritiklos gemacht gegen die Tatſache, daß der Liberalismus ſelbſt die Frauen⸗ bewegung als Konſequenz ſeines Programms nur ſehr zögernd an⸗ erkannte und daß ſich gerade in der Stellung zur Frauenfrage die Halbheit, die bei ihm ſo oft (auch in der Arbeiterfrage) zu unzuläſſi⸗ gen Kompromiſſen mit Spießbürgerintereſſen führte, ganz beſonders draſtiſch zeigte. Die zum Teil ſcharfe Auseinanderſetzung, die einige Aufſätze dieſes zweiten Bandes ſpiegeln, mögen zeigen, daß mir nie⸗ mals die Partei höher geſtanden hat und wichtiger erſchienen iſt als die Frauenbewegung. Überholt iſt — leider! — dieſe Auseinander⸗ ſetzung noch heute nicht. Die Alternative, vor der wir damals ſtan⸗ den: Parteigemeinſchaft oder Frauengemeinſchaft iſt nach meiner Überzeugung noch lange kein abgetanes Stück Vergangenheit. Das Erlebnis des Weltkrieges ſpiegelt ſich nicht in zahlreichen Beiträgen dieſes Bandes. Es war nicht ein Geſchehen für Worte. Die deutſche Frauenbewegung hat ihrer Verantwortlichkeit in Taten Aus⸗ Zur Einführung. IX druck gegeben, im „Nationalen Frauendienſt“. Möchte etwas von dem Geiſt dieſer Taten auch aus den wenigen Stimmungsbildern ſprechen, die ich hier aufgenommen habe. Als ich ſie wieder vor mir ſah, wurde ich mir bewußt, wie ſehr die Erfahrungen dieſer Jahre und die Er⸗ fahrungen der Nachkriegszeit unſere Stellung zum Krieg als poli⸗ tiſchem und menſchheitlichem Problem geändert haben. Die Doku⸗ mente meines Lebenswerks, die in dieſen Bänden zuſammengefaßt ſind, zeigen, daß ich immer in gewiſſem Sinne „Pazifiſt“ geweſen bin. Gerade darum aber kann ich mich ruhig zu den Hoffnungen, dem hohen Glauben, den heißen Gefühlen bekennen, mit denen wir den Verteidigungskrieg unſeres Vaterlandes begleiteten. Mein Urteil iſt vielfach durch die Geſchehniſſe korrigiert, meine innere Ein⸗ ſtellung nicht. Eine Aufgabe der ſtaatsbürgerlichen Erziehung, die uns der Krieg beſonders nahe brachte, war „Das Dienſtjahr der Frau“; der darauf bezügliche Vortrag in der Kriegstagung des Allgemeinen Deut⸗ ſchen Lehrerinnenvereins 1915 iſt hier als Zeitdokument, deſſen Inhalt vielleicht noch einmal in anderer Form die Frauen beſchäftigen wird, mit aufgenommen. Neben den beſonderen Zeitumſtänden, die dieſen beiden Jahr⸗ zehnten das Gepräge gegeben haben, läuft der breiter werdende Strom der Frauenbewegung in dem alten Bett weiter. Die Berufs⸗ fragen, die Bildungsfragen verlangten Verbreiterung und Vertie⸗ fung. Die Geſtaltung der Frauenbildung war durch die Zulaſſung der Mädchen zur Hochſchule und die Begründung von Studienanſtalten keineswegs endgültig entſchieden. Die Frage nach der Anpaſſung der Bildung an die „weibliche Eigenart“ tauchte immer wieder auf, und es mußte verhütet werden, daß dieſe Anpaſſung in dem alten gefähr⸗ lichen Sinne geſchah, der die Mädchenſchule durch Jahrzehnte auf falſche Geleiſe gedrängt hatte. Dieſe Gefahr war um ſo größer als es hier galt, das „organiſche Prinzip“ der Anpaſſung dem nur „mecha⸗ niſchen“ entgegenzuſetzen. Auch weibliche Pädagogen ſind der hier liegenden Verſuchung, wieder in die alten falſchen Formen „ſpezifiſcher Frauenbildung“ einzubiegen, nicht entgangen. Auf dieſe „ſpezifiſche“ Frauenbildung bezieht es ſich, wenn ich gelegentlich davor warne, ſich auf den Gedanken zu verlaſſen, Zur Einführung. X daß die Frau keinerlei Veränderung ihres geiſtigen Seins zu be⸗ fürchten habe. Die Geſchichte der Frauen iſt eine dauernde Demon⸗ ſtration ihrer Verbildung durch den auf ſie ausgeübten Zwang. In der freien Ausgeſtaltung ihrer eigenen Bildung und Kultur erſt wird das, was als weibliches Formprinzip tatſächlich unveränderlich iſt. ſich die adäquate Geſtalt ſchaffen — das der Gedanke, dem ich wieder und wieder Ausdruck zu geben verſucht habe. — Die eigentlich fach⸗ lichen Aufſätze, ſowohl über die Geſtaltung der Mädchenbildung im einzelnen, wie auch gegen die Dilettantismen und Halbheiten der Frauenſchule, ſind nicht in dieſe Sammlung aufgenommen. Der große Einſchnitt, der zur Reviſion des Programms und der Methoden der Frauenbewegung führen mußte, war die formale ſtaatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen in der Verfaſſung von Weimar. Ich ſage ausdrücklich: die formale Gleichberechti⸗ gung. Denn ſo ſehr die kämpfende Generation aus der Zeit vorher in dem erſten Wahlgang eine äußere Krönung ihres Lebens ſah — daß die Frauenbewegung damit nicht am Ziel, ſondern an einem neuen Anfang ſtand, mußte denen am klarſten ſein, die ſie kannten, die ihre Kräfte und ihre Widerſtände erlebt hatten. So ſind verſchiedene der ſpäteren Beiträge dieſes Bandes ſchon Mitarbeit am neuen, andersartigen Anfang. Den Schluß des Bandes bilden Gedächtnisworte über Frauen. Wenn ſie hauptſächlich einem engeren Kreiſe von Mitarbeiterinnen gelten, ſo hat doch auch der zufällige Umſtand, ob das letzte Wort zu einem erfüllten Leben gerade von mir oder einer anderen Mitarbei⸗ terin geſprochen wurde, die Zuſammenſtellung beſtimmt, wie andere Gründe auch wiederum bei der Auswahl zu einem Hinausgehen über den engſten Kreis der Mitarbeiterinnen geführt haben. Dieſe Bände kommen heraus zu einer Zeit ſchwerer Kriſen, die auch die innere Struktur der Volksgemeinſchaften ergriffen haben mit einem Zerfall, wie ihn die ſtrenge Logik der Geſchichte ſtets an große Kriege, an Zeiten der Gewalt und Zerſtörung geknüpft hat. Die Oberflächlichkeit, mit der in ſolchen Zeiten jede Richtung die ihr ent⸗ Zur Einführung. XI gegengeſetzte für alles Unheil verantwortlich macht, hat auch die ſkeptiſche Frage aufgeworfen, ob die Durchſetzung der Frauenemanzi⸗ pation nicht zu dieſem ſittlichen Zerfall beigetragen habe, oder die ebenſo undurchdachte Forderung geſtellt, daß fünf Jahre Frauen⸗ ſtimmrecht der Nation in ihrem privaten und öffentlichen Leben ein vollkommen anderes Geſicht hätten geben müſſen. Weil das augen⸗ ſcheinlich nicht geſchehen iſt, habe die Frauenbewegung „verſagt“. Das verpflichtet mich noch zu einem Wort über die grundſätzliche Einſtellung der Frauenbewegung ſpeziell auf dem hier vorzugsweiſe gemeinten Gebiet der geſchlechtlichen Sittlichkeit. Es iſt begreiflich, daß die wachſende Selbſtändigkeit der Mädchen in manchen Kreiſen ſie auch im ſchlechten Sinne „emanzipiert“ hat und ſie mit in die moraliſche Kriſis der Jugend in der Nachkriegszeit hineinreißt. Die alte Zwangsgebundenheit ſetzt ſich eben nicht unmittelbar in innere, freiwillige Bindung um. Aber dieſe Frauen ſind nicht „die Frauen⸗ bewegung“. Dieſe hält in ihren großen Organiſationsformen durch⸗ aus feſt an dem Programm, das bei uns in der Mitte des vorigen Jahrhunderts entworfen und ſeither nur immer mehr ausgebaut und vertieft, nicht aber in ſeinen Grundzügen geändert worden iſt. Sie iſt ſich nach wie vor, ja heute vielleicht mehr noch als in den problem⸗ loſeren Zeiten ihrer Anfänge, ihrer großen Verantwortung voll be⸗ wußt. Und hinter dieſem Programm ſteht die feſte Überzeugung von der Unveränderlichkeit der Grundzüge, die die Natur ſelbſt in die Frau gelegt hat, und der ewigen Geltung der Verantwortungen für das Geſamtleben der Nation, die mit den Ordnungen der Ehe und Familie verbunden ſind. Alle zeitweiligen Entgleiſungen werden an dieſer innerſten Natur der Frau und an der Gültigkeit dieſer ſitt⸗ lichen Formen nichts ändern, ſo ſehr ſie ſich auch ſozialen und wirt⸗ ſchaftlichen Zeitumſtänden äußerlich anpaſſen mögen. Und wenn die Frauenbewegung nach Kräften die Befreiung von äußeren Hemmun⸗ gen erſtrebt, ſo tut ſie es gerade in feſtem Vertrauen auf die inneren Bindungen, die auch nach äußeren Bindungen verlangen und ſie in neuen Formen wieder herzuſtellen ſuchen, wenn Verantwortungsloſe ſie zerſtören. Wem dieſe inneren Bindungen ſelbſt fehlen, der hat da⸗ mit den Führerſchein, ja jede Legitimation als Angehörige in der bis ins letzte verantwortungsbewußten Frauenbewegung verloren. Zur Einführung. XII Die ſich ihr wirklich zurechnen dürfen, die glauben auch feſt an die von ſo manchen als überlebt empfundene Wahrheit über den zur Selbſt⸗ beſtimmung reifenden Menſchen: „Allein durch ſeine Sitte kann er frei und mächtig ſein. So haben wir Alten unſere Miſſion aufgefaßt und ſo geben wir ſie der Jugend weiter. Und es hat ſich inmitten all der Gefahren ſchon längſt eine feſte Truppe gebildet, die, auch ohne Zuſammenhang mit der Frauenbewegung, vielleicht ſogar ohne ſie recht zu kennen, rein aus der Offenbarung ihrer eigenen Natur heraus den Weg zu der gleichen Idee ſucht, die in dieſer Bewegung ihre geſchichtliche Verkörperung gefunden hat: Freiheit unter ſelbſtgewollter ſittlicher Bindung. Und dieſe — vielleicht unbewußte — Kampfgemeinſchaft mit der beſten, emporſtrebenden Jugend läßt mich den Ausſpruch, mit dem ich das Vorwort zum erſten Bande begann, mit vollem Be⸗ wußtſein am Schluß wiederholen. Berlin, Februar 1928. Helene Lange. Feminiſtiſche Gedankenanarchie. (Zuerſt erſchienen in der „Neuen Rundſchau“, Berlin, S. Fiſcher, März 1908.) Man erzählt von Böcklin, daß er ein Heft der Zeitſchrift: „Die Kunſt für Alle“ weggeſchoben habe mit den Worten: „Das iſt es eben — es gibt keine Kunſt für alle.“ Wenn man einige Jahr⸗ zehnte hindurch dem Großſtadtleben zugeſchaut und die Methoden des geiſtigen Konſums gerade in den Schichten beobachtet hat, die „alles mitmachen“ — Nietzſche und das Tagebuch der Verlorenen, die Kunſt im Leben des Kindes und die neueſten Verſionen des „Sexual⸗ problems“ —, dann fühlt man ſich verſucht, ebenſo undemokratiſch und ſkeptiſch zu ſagen: „Es gibt auch keine Bildung für alle.“ Dieſe allgemeine Bildung, der zuliebe alle Feuer von den Höhen geholt und mit allerhand grobem und qualmendem Holz weiter⸗ gefriſtet werden, hat uns ſo viele ehrfurchtloſe Dilettantismen be⸗ ſchert, als unſere Zeit ernſthafte Arbeiten und Aufgaben hat, ſo viele Schlagworte, als ſie Gedanken und Syſteme produzierte. Nichts pein⸗ licher für einen Menſchen mit intellektuellem Reinlichkeitsbedürfnis als der Inhalt von Herrn und vor allem Frau Michels „Kultur⸗ bewußtſein“. Aus mächtigen Gedankenſyſtemen, deren Erkenntniswert nur in dem Zuſammenhang liegt, in den ſie die Rätſel der Welt zwingen, hat man fingerfertig und unbeſcheiden einige klingende Schlagworte gepflückt und tant bien que mal zu einer trüben Art Weltanſchauung vereinigt — ein wenig Nietzſche, ein wenig Darwin, ein wenig Sozialismus, etwas Ibſen, Wilde und Maeterlinck. Die geläufigſte Kombination iſt „ſoziale Geſinnung“, die nun einmal als eine moderne Anſtandspflicht gilt, und dazu möglichſt viel von dem romantiſchen Ariſtokratismus, den man ſich auf dem Umwege über unzählige Mißverſtändniſſe aus der Kunſt holt. Dieſe Kombination iſt nicht einmal harmlos, weil ſie notwendig zu Welt⸗ verbeſſerungsverſuchen und zu einer unvorſichtigen und hochmütigen Kritik der ſozialen Ordnung führt. Was an unreifen Plänen und Lebensprogrammen in jungen — aber auch alten — Köpfen gärt, enthält meiſtens dieſe beiden Grundelemente in irgendeiner unzuläſſi⸗ Lange, Kampfgeiten. II. 1 Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 2 gen und unmöglichen Miſchung: man will eine Seligkeit für jeder⸗ mann, etwas, das „ſozial“ iſt und ſozial wirkt, aber als Inhalt dieſer Seligkeit ſchwebt einem das Daſein des erleſenen, außergewöhn⸗ lichen, zu aller Souveränität berufenen Menſchen vor. Dieſes Grundſchema des modernen Mißverſtändniſſes ſchimmert auch durch in jener Bewegung, die ſich eine „Reform der Erotik“ vorgenommen hat. Es wurde vor einigen Jahren zu Berlin ein „Bund für Mutterſchutz“ gegründet, der die ſehr nützliche Aufgabe ſozialer Hilfstätigkeit an ſchutzloſen Müttern im Zeichen einer „Er⸗ neuerung der Anſchauungen auf ſexuellem Gebiet“ in Angriff ge⸗ nommen hat. Es iſt in der begründenden Verſammlung die Parole ausgegeben worden — und ſeither in der Preſſe und in Verſamm⸗ lungen durchgeführt — es müſſe eine „neue Ethik“ geſucht werden. Den Mut dazu ſchöpfte man aus Nietzſche, der ja die Schädlichkeit der alten Moral ans Licht gezogen habe. „Nun wiſſen wir, daß wir, wenn wir unſer Urteil über die Dinge umändern, umwerten, wir damit auch die Dinge ſelber ändern — daß wir ſelber es ſind, die unſer Leben glücklich oder unglücklich, würdig oder unwürdig ge⸗ ſtalten. Wenn der Menſch ſich nicht mehr für böſe hält — wozu eine alte Moral ihn zwang — hört er auf es zu ſein. Wenn wir uns ſo der Macht bewußt geworden ſind, die in der ethiſchen Be⸗ wertung liegt, dann werden wir alles daran ſetzen, unſere alten Sittlichkeitsbegriffe ſo umzuändern, wie es für das Glück, wie es für die Hebung und Veredelung der Menſchheit am beſten ſcheint. Starke, frohe, geſunde Menſchen von Körper, von Adel der Geſinnung, von geiſtiger Reife, von Reichtum der Seele, das ſcheint uns allen wohl das höchſte Ziel. ¹ Alſo nach dieſem höchſt einfachen Rezept, Reichtum der Seele, Adel der Geſinnung und geiſtige Reife en gros zu erzielen, „wertet“ man nun „um“. Dies beginnt bei der Proſtitution. „Was hat die Proſtitution ſo gemein gemacht? Doch vor allem unſere Verachtung, die dann auch den Verluſt der Selbſtachtung nach ſich zog und eine Pariaklaſſe ſchuf, die ſich auf ihre Weiſe für die Verachtung zu rächen ſuchte. Denn ſich gegen die Verachtung der Mitwelt ſtolz und ¹) Moderne Zeitfragen Nr. 4. Bund für Mutterſchutz. Von Dr. phil. Helene Stöcker. Berlin, Pan⸗Verlag. Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 3 ſtark zu behaupten, das iſt nur den wenigen, den größten unter den Menſchen gegeben.“ — Schließlich iſt aber mit dem Verſuch, kraft unſerer Macht zur Umwertung die Proſtitution zu nobilitieren, den Frauen der oberen Schichten nicht geholfen, die „ohne Liebe leben“ müſſen. Zu ihren Gunſten, denen aus wirtſchaftlichen Gründen die Ehe nicht zugänglich iſt, empfiehlt ſich eine Umwertung des „Ver⸗ hältniſſes“. „Die Ehe nach Vaterrecht hat die Frau in Gruppen ge⸗ ſchieden, deren jede nur einen Teil deſſen beſitzt, was ihr vorher als Ganzes gehörte. (?) Heute hat ſie die Wahl zwiſchen folgenden vier Lebensmöglichkeiten: 1. der völligen Askeſe, 2. der prinzipiellen Abhängigkeit und Unmündigkeit in der Ehe nach Vaterrecht, 3. der Schande der unehelichen Mutterſchaft, 4. der Proſtitution.“ Welche Alternativen mit dem unbeſonnenen Ausruf abgeſchloſſen werden: „Wahrlich eine wundervolle Wahl! Man weiß nicht, was man vor⸗ ziehen ſoll!“ Danach gibt es zwei Wege zur Reform: nämlich die — übrigens von der Frauenbewegung längſt geforderte — Ehe ohne prinzipielle Abhängigkeit, und Mutterſchaft bzw. unſanktionierte Ver⸗ bindung ohne Schande. Letzteres kraft der Umwertung, der auch das Geſetz durch eine „Anerkennung“ illegitimer Verhältniſſe folgen ſoll. Mit dieſer Wendung ins Soziale wird die Gedankenanarchie vollkommen. Man vergegenwärtige ſich: der Ausgangspunkt ein erotiſcher Monismus, wie ihn zu allen Zeiten der künſtleriſche Indi⸗ vidualismus verkündet hat, dem einzig an der Kultur der Perſön⸗ lichkeit gelegen war und der die Liebe recht eigentlich aus der Ge⸗ bundenheit an ſoziale Verpflichtungen löſen wollte, um ihre ganze ungehemmte Schwungkraft dem einzelnen zuteil werden zu laſſen. Aus dieſer romantiſch⸗individualiſtiſchen Auffaſſung der Erotik, deren Weſen eben in ihrem antiſozialen, prinzipiell ariſtokratiſchen Cha⸗ rakter liegt, ſollen dann Maßſtäbe zur Beſeitigung allgemeiner ſozialer Notſtände gefunden werden. Die ſexuelle Frage als ſoziale Frage, als Frage der erhöhten Heiratſchwierigkeiten, der geſteigerten körperlichen Widerſtandsloſigkeit dem Triebleben gegenüber hat blut⸗ wenig mit „alter“ und „neuer“ Moral zu tun. Keine „Umwertung“ der Anſchauungen ändert etwas an den Tatſachen, die an der Ehe⸗ loſigkeit ſo vieler Frauen und an dem unfreiwillig langen Jung⸗ geſellentum ſo vieler Männer ſchuld ſind. Höchſtens könnte man Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 4 ſagen, daß der Verzicht, zu dem hier die ſozialen Verhältniſſe zwin⸗ gen, erträglicher iſt unter der Herrſchaft einer Lebensanſchauung, die nicht die ſtärkſte Betonung auf die Erotik legt und die Diſziplin in ſexuellen Dingen nicht als ein ein für allemal unbilliges Verlangen der Geſamtheit an den einzelnen hinſtellt. Dem Mädchen „aus guter Familie“, das von dieſen Schwierigkeiten am härteſten betroffen wird, iſt ja durch das Surrogat des „Verhältniſſes“ gar nicht geholfen. Denn wenn die Bedingungen für ein „Verhältnis“ da ſind, das wirk⸗ lich ein Glück und nicht einen Schiffbruch in Ausſicht ſtellt, ſo ſind auch die Bedingungen für die Ehe da. Die ſexuelle Frage als ſoziale Frage iſt eine Angelegenheit der Maſſen, des Durchſchnitts; ihre Löſungen können nicht abgeleitet werden aus dem, was die Ehe für die Brownings war, oder für Goethe, oder für George Eliot. Sobald von der Ehe als Inſtitution geredet wird, handelt es ſich um Hans und Grete, nicht um Perſönlichkeiten, von denen die Worte „Adel der Geſinnung, geiſtige Reife, Reichtum der Seele“ nicht zu hoch gegriffen ſind. Die Geſellſchaft hat gar kein Intereſſe daran, daß Hans und Grete ſich der „Kultur der Erotik“ hingeben, aber es muß ihr daran liegen, daß ſie pflichtbewußte Eltern ſind und ihre Kinder nicht auf die Allgemeinheit abladen. Was die Ehe als bürgerliche, geſetzliche Inſtitution zu leiſten hat, muß aus den Akten der Vormundſchaftsgerichte, aus den Erfahrungen der öffentlichen Armenpflege, aus den Sterblichkeitsziffern der unehe⸗ lichen Kinder beurteilt werden, nicht aus den Paradoxien Multatulis oder dem Briefwechſel der George Sand. Man fühlt ſich durch alle die Entgleiſungen, deren ſich dieſe ſozialreformatoriſche Romantik ſchuldig macht, geradezu gereizt, eine Ehrenrettung der bürgerlichen Moral zu verſuchen, in der Art etwa, wie der alte Fontane den Leutnant Rienäcker philoſophieren läßt: „Wenn unſere märkiſchen Leute ſich verheiraten, ſo reden ſie nicht von Leidenſchaft und Liebe, ſie ſagen nur: Ich muß doch meine Ordnung haben! Und das iſt ein ſchöner Zug im Leben unſeres Volkes und nicht einmal proſaiſch. Denn Ordnung iſt viel und mitunter alles. Und nun frag“ ich mich: War mein Leben in Ordnung? Nein — Ordnung iſt Ehe. Dieſe Betrachtung repräſentiert für die „neue Ethik“ den Gipfel Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 5 der Philiſtroſität. Und doch ſteht vielleicht das Volksgewiſſen dieſen Dingen näher und weiß von dem Weſen menſchlicher Leidenſchaften mehr als ihre romantiſchen Spekulationen. Es legt den Ton nicht auf die Erotik, ſondern auf die Familie, und darum fragt es nach dem Ehering und dem Standesamt. Und daraus ſpricht eben doch das Bewußtſein der Wahrheit, die niemand aus der Welt ſchafft, daß es der Gattung verhältnismäßig gleichgültig ſein kann, ob die Mehrzahl der Menſchen ein erleſenes Liebesglück feiert, daß ihr aber daran liegt, die Garantien für die kommende Jugend erfüllt zu ſehen, ohne die in unſerem ſozialen Zuſammenhang deren Exiſtenz nicht geſichert iſt. Darum kann ſie nicht dulden, daß die Zukunft der Gegenwart, daß die Beſtimmung einer ſpäteren Lebensphaſe der Herrlichkeit der vorhergehenden geopfert wird. Denn für die Geſamt⸗ heit iſt nicht wie für den einzelnen der „höchſte Augenblick“ ein Ziel, über das hinaus es kein Jenſeits gibt; für ſie iſt alles einzelne, und auch der Ring eines Lebens, nur ein Glied einer langen Kette, deſſen Wert um ſo höher iſt, je ſicherer es die Kette zuſammenzuhalten ver⸗ mag. Die bürgerliche Moral iſt die Vertreterin dieſes Gattungsinter⸗ eſſes an der Liebe. Wenn ihr an der „Ordnung“ ſo viel liegt, ſo iſt es nicht nur, weil die wirtſchaftliche Verſorgung der Kinder in einer auf die Familie geſtützten Geſellſchaft in der wünſchenswerten Aus⸗ dehnung nur geſichert iſt, wenn die Elternpflicht geſetzlich erzwungen werden kann — das iſt doch im Grunde der Sinn der bürgerlichen Ehe — ſondern es ſtehen dabei noch tiefere Intereſſen auf dem Spiel. Auch das nämlich, daß alle menſchlich⸗perſönlichen Werte, die von der Familie, dem „Heim“ geſchaffen werden, nur in Ruhe und Dauer wachſen können, daß ihre Kraft, Tiefe und Innerlichkeit im geraden Verhältnis ſteht zu der Zeit, die an ihnen ſchafft. Mit der Mono⸗ gamie als Sitte und Inſtitution zwingt die Gattung den einzelnen, das zu erleben. Sie entzieht ſeiner Willkür, ſeiner Hingenommenheit von Augenblicksſtimmungen die Macht, dieſe Ruhe und Dauer täglich aufs Spiel zu ſetzen, um ſie neu zu gewinnen oder zu verlieren. In⸗ ſofern iſt die Ehe, wie alle ſozialen Formen, eine Lebenserleichterung. Die Weisheit der Gattung — die auf den Erfahrungen von Genera⸗ tionen beruht — ſetzt den Rahmen für den Lebensſpielraum des einzelnen. Sie mag ihn dadurch zuweilen einengen und verkleinern, Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 6 aber das bedeutet wenig gegenüber der Tatſache, daß ſie den Maſſen eine Lebensform — wenn auch zunächſt nur als Form — aufzwingt, die Träger der höchſten Inhalte ſein kann, daß ſie dem einzelnen den Weg zeigt, den er bei eigenem Suchen vielleicht erſt mit unwieder⸗ bringlichen Kraftverluſten oder niemals gefunden hätte. Nur auf dieſe Weiſe kann überhaupt Kultur entſtehen, nur auf dieſe Weiſe, in der Form von ſozialen Inſtitutionen, der Ertrag aus dem Lebens⸗ kampf der Toten den Künftigen zugute kommen. Und unſere mno⸗ derne Geſellſchaft mit der ungeheuren Vielgeſtaltigkeit, der unüber⸗ ſehbaren Verkettung ihrer einzelnen Lebensregungen, bedarf in ganz beſonderem Grade gefeſteter Inſtitutionen, um nicht chaotiſch zu wer⸗ den. Darum urteile man nicht ſo geringſchätzig über die konventio⸗ nelle Moral — was ſie erreicht: die im Sinne einer tieferen Sittlich⸗ keit vielleicht noch ganz wertloſe Beobachtung der bürgerlichen Ord⸗ nung, iſt „viel und mitunter alles“; weil es nämlich manche Menſchen nun einmal darüber hinaus nicht bringen, wohl aber ſehr weit dahinter zurückbleiben könnten, und weil für viele andere erſt der Zwang zur rein äußerlichen Einfügung in die Sitte zur perſön⸗ lichen Sittlichkeit führt. Solche grundſätzliche Bewertung der Formen ſchließt ſelbſtverſtändlich die Aufgabe nicht aus, ſie weiterzubilden und zu verändern, wenn ſie in erſichtlichen Widerſpruch mit wert⸗ volleren Kulturgütern geraten; aber man ſollte dabei mit höchſter Vorſicht verfahren. Es iſt unendlich ſchwer, alle die Zuſammenhänge zu überſehen, durch die gewiſſe Ordnungsbegriffe ihre inſtinktive traditionelle Feſtigkeit bekommen haben, und es iſt noch ſchwerer, vorauszuſehen, welche Gewalten wir mit der Lockerung überkommener Gebundenheit befreien, und ob dieſe ſchrerbtiſchgeborenen neuen Nor⸗ men die Kraft haben werden, Egoismus und Leidenſchaften des ein⸗ zelnen im Intereſſe der Geſamtheit zu bändigen. Aber der „Lebenswert der Liebe“ und die „Produktivität der Leidenſchaft“ und die „Schwungkraft der Erotik“? Soll das alles der Intaktheit der Form geopfert werden, die doch an ſich niemals Zweck, ſondern immer nur Mittel ſein kann? Soll der letzte und höchſte Wertmaßſtab für eine einzelne Perſönlichkeit die Möglichkeit der Verallgemeinerung ihrer Lebensform ſein? Gewiß nicht. Man ſoll nur nicht meinen, daß irgendeine Be⸗ Feminiſtiſche Gedankenanarchie. 7 einfluſſung der Menge die Seltenen und wenigen, die für die Schwin⸗ gungsweite ihres Lebens in der herkömmlichen geſellſchaftlichen Ord⸗ nung keinen Platz finden können, deren perſönliches Einzelſchick⸗ ſal es iſt, dieſe Formen durchbrechen zu müſſen, vor dem Zuſammen⸗ ſtoß mit dem konventionellen Urteil und vor der Tragik dieſes Kon⸗ fliktes ſchützen kann. Die Menge kann ein für allemal nicht anders als ſich an die Erfüllung der Form halten. Man darf ihr dies Recht nicht nehmen. Niemals wird man erreichen, daß ſie die Men⸗ ſchen der außerordentlichen Maße an den richtigen Platz ſtellt. Man wird nur eine unbedenkliche und herdenmäßige Begeiſterung für das Illegitime entflammen — das kann man als Wirkung der „neu⸗ ethiſchen“ Propaganda oft genug beobachten. Und es gibt nichts Widerwärtigeres und Heilloſeres als dieſen auf den Kopf geſtellten Konventionalismus. Wenn man ſonſt ehrlich trivial die wenigen an den vielen maß, ſo mißt man nun umgekehrt die vielen an den weni⸗ gen. Gemeſſen wird auf alle Fälle, das iſt unvermeidlich und unent⸗ behrlich. Und darum iſt es vollkommen verkehrt, Fragen der ſozialen Ord⸗ nung unter dem Geſichtswinkel „Genie und Philiſter“ zu beurteilen. In den Fragen der ſozialen Ordnung hat der Philiſter recht, und das Genie, der „Übermenſch“, hat ſein Kreuz auf ſich zu nehmen. Es iſt gut, daß der Weg außerhalb des Geleiſes ein Dornenweg iſt. Denn es muß verhindert werden, daß Menſchen, die ihre Lebensleiſtung am beſten ſchlecht und recht als „Stützen“ der ſozialen Ordnung ab⸗ dienen, ſich einer für ſie ſelbſt undurchführbaren und für die Geſamt⸗ heit ſchädlichen Vagabondage hingeben. Ja, vielleicht iſt die Zahl der Fälle ſehr gering, in denen es ſich lohnt, daß jemand auf Koſten der „Maxime für alle“ ſeine Seele oder ſein Glück rettet. Denn eins noch iſt zu berückſichtigen: daß die Feſtigkeit ſozialer Inſtitutionen am wirkſamſten geſteigert, ihre Würde am ſicherſten gewahrt wird durch die Opfer, die ihr gerade die wertvollen Menſchen bringen. Und darum liegt etwas daran, daß auch auf den Höhen dieſe opferbereite „Loyalität“ nicht durch eine gewiſſe eudämoniſtiſche Schwächlichkeit überwunden wird. Es wäre gerade jetzt nicht übel, wenn irgendeine Zenſur das Philoſophieren über die Liebe unterſagte und Erörterungen über die Die moderne Ehekritik. 8 ſexuelle Frage nur in ſtreng wiſſenſchaftlicher Terminologie zuließe. Dann wäre Ausſicht, daß die Menſchen von der Gedanken⸗ und Ge⸗ fühlsverwirrung, in die ſie durch dieſe Hurra⸗Erotik geſtürzt wurden, erſt einmal wieder zu ſich ſelbſt kämen. Da darauf aber nicht zu rechnen iſt, ſollte ſich jeder befleißigen, über dieſe Dinge ſo nüchtern wie nur irgend möglich zu reden. Vielleicht regt ſich doch einmal der Widerwille gegen den dithyrambiſchen Dilettantismus, der ſich über dieſes Gebiet ergoſſen hat, und der, wenn er keine weiteren üblen Wirkungen hervorbringt, doch ſowohl den Geſchmack wie die intellek⸗ tuelle Gewiſſenhaftigkeit aufs empfindlichſte verwüſtet hat. Die Frauenbewegung und die moderne Ehekritik. (Aus: „Frauenbewegung und Sozialethik“. Beiträge zur modernen Ehe⸗ kritik. Eugen Salzer, Heilbronn 1909.) Die letzten Jahre haben uns in und außerhalb der Frauenbewe⸗ gung eine lebhafte Diskuſſion über eine ſittliche und ſoziale Um⸗ wertung der Ehe gebracht. Und dieſe Diskuſſion hat ſich nicht auf einen kleinen Kreis von Ethikern und Soziologen beſchränkt, ſondern man hat ſie auf das breite Forum der öffentlichen Tageskämpfe hin⸗ ausgetragen. Vertreter neuer Anſchauungen — oder mindeſtens ſolcher, die von dem augenblicklich Geltenden abweichen, Vertreter, die ſich ſelbſt noch als Suchende, Ungefeſtigte bezeichneten, ſind als Propheten hinaus ins Publikum getreten, bevor ſie ihm etwas all⸗ ſeitig Durchdachtes und Geklärtes zu bieten hatten. So ſind, ehe wir's uns verſahen, die allerſchwierigſten und allertiefſt liegenden Probleme Gegenſtand des Verſammlungslebens geworden. Und ſelbſt wem es gegen den Geſchmack oder gegen das Gewiſſen geht, dieſe teils zarten und perſönlichen, teils ſo unendlich vielgeſtaltigen und verſchlungenen Fragen einer vorzeitigen Veräußerlichung und Banaliſierung aus⸗ zuſetzen, ſelbſt wer fürchtet, daß dabei mehr aufs Spiel geſetzt werden als gewonnen werden kann, darf ſich, nun es einmal ſo weit iſt, der Die moderne Ehekritik. 9 Pflicht nicht entziehen, auch für ſeine Überzeugung öffentlich einzu⸗ treten, auch ſeine Bedenken der öffentlichkeit vorzulegen.¹) Ich ſchicke dies voraus, damit wir uns vergegenwärtigen, daß es ſich bei dieſen Fragen der Sexualethik, des Geſchlechtslebens, der Ehe und Familie um die allerzentralſten, allertiefſten ethiſchen Prin⸗ zipienfragen handelt. Wenn wir dieſen Fragen des Sexuallebens gegenüber überhaupt einen ſicheren Kurs, feſte Richtlinien finden wollen, ſo dürfen wir ſie nicht von den Grundfragen der Ethik, der Soziologie, der Kultur im weiteſten Sinne trennen und ſozuſagen ein Sondergebiet, „die ſexuelle Frage“ etablieren. Wir müſſen uns vielmehr ſagen — jede vertieftere Betrachtung führt dahin — daß gerade hier die entſcheidenden ſittlichen Grundprobleme: Natur und Freiheit, Individuum und Geſellſchaft vielleicht ihre allergrößte Tragweite entfalten, daß ſie hier mit dem Beſtand und der Aufwärts⸗ entwicklung der menſchlichen Geſellſchaft aufs allerengſte verknüpft ſind. Und wir müſſen uns weiter ſagen, daß darum gerade hier ſo große Vorſicht dazu gehört, ſich kritiſch gegen die herrſchende Sitte, gegen die Tradition zu wenden und das, was der allgemeinen naiven Anſchauung nach als Sollen und als Pflicht gilt, nun auf ſoziale und ethiſche Gründe und Zwecke zu unterſuchen. Wir haben dabei zu bedenken, daß die Geſetze, die uns in der Geſtaltung von Ehe und Familie von der Sitte überliefert werden, mehr ſind als Erfindung eines Kopfes, die Spekulation irgendeines Verſtandes, die irgendeine andere Spekulation umſtoßen kann, ſondern daß an ihnen das Leben ſelbſt mit tauſend Erfahrungen Generationen hindurch gearbeitet hat. Das ſchließt ſelbſtverſtändlich die Aufgabe nicht aus, ſie zu verändern und weiterzubilden, wenn ſie in Widerſpruch mit wert⸗ volleren Kulturgütern geraten, aber es verpflichtet uns, bei dieſer Weiterbildung mit höchſter Gewiſſenhaftigkeit und — vielleicht dürfen wir im Goetheſchen Sinn ſagen „Ehrfurcht“ zu verfahren. Es ver⸗ pflichtet uns, immer im Gedächtnis zu behalten, daß es unendlich ſchwer iſt, alle die Zuſammenhänge zu überſehen, durch die unſere ſittlichen Vorſtellungen ihre inſtinktive traditionelle Feſtigkeit bekom⸗ ¹) Dieſe Ausführungen haben Vorträgen in mehreren Städten zu Grunde gelegen. Ich nehme ſie nach der kurzen voraufgehenden Darlegung noch auf, weil ſie die dort gegebenen Hinweiſe ſyſtematiſch ausbauen. H. L. Die moderne Ehekritik. 10 men haben, und daß es noch ſchwerer iſt, vorauszuſehen, welche Ge⸗ walten wir mit der Lockerung traditioneller Feſſeln befreien, und ob die neuen Normen, die wir an Stelle der alten ſetzen möchten, die Kraft haben werden, „ſozial“ zu wirken, Egoismus und Leiden⸗ ſchaften des einzelnen im Intereſſe der Geſamtheit zu bändigen. Wenn wir die Bewegung, die heute in Literatur und ſozialem Leben als „neue Ethik“ in etwas verſchwommenen und unſicheren Formen ihr Weſen treibt, fragen, auf welche allgemeinen ſittlichen Prinzipien ſie ihre Auffaſſung der ſexuellen Frage gründet, ſo treten uns immer wieder zwei grundlegende Theſen entgegen. Die erſte iſt, daß man die ſogenannte Lebensbejahung ausſpielt gegen die angeblich asketiſche Richtung unſerer geltenden Geſchlechtsmoral, daß man ſich auf die Heiligkeit des Natürlichen beruft gegen alle Prüderie und konventionelle Verſchleierung. Und zweitens pocht man auf das Recht des einzelnen, gegenüber der Maſſenmoral ſeinen Weg zu gehen, ſeiner Natur, ſeinem Gewiſſen zu folgen, auch wenn er dadurch von den allgemeinen Normen abweicht. Dieſe beiden Gedanken pflegen eine ſtark blendende Wirkung zu haben. Ehrliche Natur gegen lügneriſche Konvention, unbefangene ſinnliche Lebensfreudigkeit gegen Asketen und Finſterlinge, der königliche Einzelne gegen die banale, zudringliche Herdenmoral — wer ließe ſich durch ſolche Schlagworte nicht begeiſtern! Um ſo mehr als ſie ja in dieſer ganz allgemeinen Form ſich mit unleugbaren Wahrheiten decken. Es iſt richtig, daß die Auffaſſung des Geſchlechts⸗ lebens in mancher Hinſicht geſunder und natürlicher werden muß. Es muß dahin geſtrebt werden, dieſe Sphäre von dem ganzen Wuſt von Heuchelei, Scheinheiligkeit und Lüge zu befreien; es iſt richtig, daß die Erotik Träger der höchſten und feinſten Blüten des geiſtig⸗ perſönlichen Lebens ſein kann. Selbſtverſtändlich müſſen wir eine „Lebensbejahung“ — wenn man nun einmal das geſpreizte Wort gebrauchen will — lernen, der dieſe Sphäre des natürlichen Lebens nicht als eine feindſelige Macht ſchlechthin gilt, ſondern als ein Teil unſeres Menſchentums und unſerer Perſönlichkeit, aus dem Lebens⸗ ſteigerung und Kraft für das Ganze quellen kann. Und ſelbſtver⸗ ſtändlich werden wir proteſtieren gegen alle die Anſchauungen, die den Die moderne Ehekritik. 11 Menſchen in zwei Teile zerreißen und den einen dadurch ſublimieren wollen, daß ſie den andern ins Untermenſchliche herabdrücken. Aber damit iſt doch noch recht wenig geſagt. Denn nun erhebt ſich eben die weitere Frage — und da liegt eigentlich erſt das Problem — wie die hier ruhenden Kräfte und Bedürfniſſe dem Ganzen unſeres perſönlichen Lebens und des Lebens der Geſamtheit eingeordnet und unterworfen werden können. Denn wenn wir auch zu⸗ geben, dieſe Sphäre ſteht nicht unterhalb alles menſchlich und perſönlich Wertvollen, ſie gehört mit hinein, ſo müſſen wir doch andererſeits betonen: aber ſie iſt nur ein Teil, dem das Ganze unſeres körperlichen und ſeeliſchen Lebens mit all ſeinen ſozialen Verantwortungen übergeordnet werden muß. Und wie jedes einzelne Element im Weſen des Menſchen direkt lebens feindlich werden kann, wenn es alle andern Kräfte verſchlingt und zerſtört, ſo bedarf auch die Sexualſphäre der Leitung und Diſziplinierung von jener Zentralſtelle aus, an der wir ſelbſt uns die Harmonie unſerer Lebenskräfte erkämpfen und das Problem unſerer Lebensgeſtaltung löſen. Darüber wollen wir uns doch nicht täuſchen. Wir wollen uns doch nicht der Illuſion hingeben, daß dieſe Harmonie zwiſchen Sexual⸗ ſphäre und allen anderen Lebenswerten und Lebenszielen ſozuſagen eine naturgegebene ſei, ſo daß es, recht verſtanden, ihr gegenüber nur eines Sichhingebens und Gehenlaſſens bedürfe. Jeder Blick in das Leben hinein zeigt uns, daß auch hier — und gerade hier — die Per⸗ ſönlichkeit als Ganzes einen Kampf auszufechten hat gegen den Teil, gegen ein einzelnes Lebenselement, das, ungebändigt, das Ganze erſchüttern, entwerten und zerſtören kann. So verſtanden, ver⸗ liert das Gebot der Bändigung und Beherrſchung der Leidenſchaften ganz ſein asketiſches Gepräge; handelt es ſich doch nur darum, daß nicht umgekehrt in der Leidenſchaft ſich Kräfte verſchwenden, die zu reicherer Lebenserfüllung hätten tragen können. Aber die Probleme, die hier liegen, ſind ſo durchaus individu⸗ eller Natur, daß man von ihnen überhaupt nicht in allgemeinen Be⸗ hauptungen reden ſollte. Ebenſo einſeitig wie die mönchiſch⸗asketiſche Einſchätzung des ſexuellen Lebens iſt die moderne Behauptung, daß die Erotik unterſchiedslos für jeden Menſchen die ſtärkſte, für ſeine ganze Perſönlichkeit und ihre Leiſtungen entſcheidende Lebensmacht Die moderne Ehekritik. 12 ſei. Pſychologie und Phyſiologie belehren uns darüber, und Leben und Geſchichte zeigen uns, daß die Rolle, die das erotiſche Element im perſönlichen Leben des einzelnen ſpielt, daß der Einfluß, der von hier aus auf andere Sphären ſeiner Perſönlichkeit ausgeht, denkbar verſchieden iſt. Dem einen iſt es ein Hindernis, dem andern eine Bedingung ſeiner höchſten Lebensleiſtungen, dem dritten etwas Un⸗ weſentliches und Einflußloſes. Man braucht nur Typen wie Kant und Goethe nebeneinander zu ſtellen. Und ganz lächerlich wäre es, hier in dem einen Fall von „Vollmenſchen“, in dem anderen von Menſchen „zweiter Klaſſe“ zu reden. Darum aber, weil hier die Veranlagung des einen in keiner Weiſe zum Maßſtab des anderen gemacht werden kann, und weil es durchaus irrig iſt, zu behaupten, daß ganz allgemein durch die Ver⸗ ſtärkung und Entfeſſelung des erotiſchen Lebens die Leiſtungsfähig⸗ keit der Menſchen erhöht, ihrer Perſönlichkeit mehr Schwung⸗ kraft gegeben werden würde — darum iſt die Behauptung von der ſchlechthin Leben erhöhenden Macht der Sexuali⸗ tät unbrauchbar zur Begründung einer Sexualethik, eines ſexuellen Pflichtbegriffs, — ſelbſt dann unbrauchbar, wenn wir hier auch nur von einer Pflicht gegen ſich ſelbſt, von dem berechtigten Intereſſe an der eigenen Perſönlichkeitsentfaltung reden wollen. Nun aber gibt es auf dieſem Gebiet keine Pflicht gegen ſich ſelbſt, die nicht untrennbar und unlöslich mit der Pflicht gegen andere verbunden wäre. Die Phraſe: „wir müßten auf dieſem Gebiet einen großzügigen, befreienden Egoismus lernen,“ iſt hier weniger am Platze als irgendwo. Mit dem Egoismus kommen wir eben nicht aus in der Beurteilung eines Verhältniſſes, das gar nicht denk⸗ bar iſt ohne Verantwortungen gegen andere und gegen die Geſamt⸗ heit. Verantwortungen noch dazu, mit deren Erfüllung die aller⸗ vitalſten ſozialen Intereſſen verknüpft ſind. Und damit kommen wir zu dem zweiten Grundprinzip der ſo⸗ genannten „neuen Ethik“, dem Nietzſchetum, mit dem ſie durchtränkt iſt. Wenn man nämlich einmal unterſucht, auf was für Menſchen ihre Forderungen zugeſchnitten ſind, wer eigentlich als der Klient gedacht iſt, deſſen Sache die neue Ethik führt, ſo trifft man immer auf folgende Konſtruktion: ſittlich höchſtſtehende Perſönlichkeiten geraten Die moderne Ehekritik. 13 durch eine große und tiefe Leidenſchaft in einen unlöslichen Konflikt mit der geſellſchaftlich anerkannten Moral, einen Konflikt, in dem die Norm nur durch die Vernichtung der wertvollſten und frucht⸗ barſten ſeeliſchen Kräfte triumphieren kann. Dieſe Gegenüberſtellung iſt typiſch für alle Propagandareden im Intereſſe der neuen Ethik: hier die ſtaatliche „Zwangsehe“, wie man ſich ausdrückt, die ſchwars, ſchwärzer und am ſchwärzeſten gemalt wird, wo einzig Verſorgungs⸗ und Standesintereſſen mitſprechen, wo das Mädchen ſkrupellos an den körperlich vielleicht belaſteten Mann verkauft wird, kurz, wo jede Art von niedrigen Motiven ihre ſelbſtverſtändliche Stätte hat — dort der ideale freie Bund idealer Perſönlichkeiten, bei denen man es nur mit der höchſten Liebe, der edelſten Kameradſchaft, den feinſten, ſeeliſchen Beziehungen zu tun hat. Auf die Weiſe macht man ſich natürlich die Propaganda und Parteinahme bequem. Wir wollen gar nicht leugnen, daß all dieſe niedrigen Motive in die legitime Ehe hineinſpielen können und in ſehr vielen Fällen tatſächlich hineinſpielen, daß eine legitime Ehe ſittlich ſehr tief ſtehen kann; wir wollen auch durchaus zugeben, daß es Verwicklungen ge⸗ ben kann, die einen einzelnen, ſittlich hochſtehenden Menſchen unter Umſtänden zwingen, ſich in Widerſpruch zur Norm auch auf dieſem Gebiet zu ſetzen — aber es iſt nichts weiter als eine durchaus ſo⸗ phiſtiſche Umkehrung von Urſache und Wirkung, wenn man in dem einen Fall der Inſtitution der Ehe die Schuld daran gibt, daß minderwertige Menſchen ihre gemeinen Intereſſen in ſie hinein⸗ tragen, und wenn man in dem anderen Fall der Illegitimität an ſich einen Nimbus verleiht, der den Perſonen entnommen iſt, die vielleicht in einem einzelnen Fall und unter dem Druck beſonderer Verhältniſſe gezwungen werden, die Tragik eines außerhalb der legitimen Formen liegenden Schickſals auf ſich zu nehmen. Es gibt keine ſoziale Form, die nicht in einzelnen Fällen einmal einen lebenvernichtenden Druck ausübt. Damit müſſen wir rechnen. Wir dürfen keine geſellſchaftliche Form, und alſo auch nicht die Ehe, an der Hand ſolcher einzelnen Fälle kritiſieren. Wir müſſen vielmehr fragen: liegt in der Rechtsform der legitimen Ehe an ſich etwas, das generell ſittlich herabdrückend wirkt, das die Entwicklung höchſter Lebenswerte innerhalb der Geſamtheit hemmt? Und dann iſt die Die moderne Ehekritik. 14 weitere Frage: muß dieſe Form deshalb vernichtet, oder ſagen wir zugunſten einer freieren eingeſchränkt werden, oder kann ſie ſo refor⸗ miert werden, daß dieſe ſchädliche und ſittlich herabdrückende Wir⸗ kung aufgehoben wird? Damit kommen wir erſt zum richtigen Ausgangspunkt unſerer Kritik. Das durchſchlagende ſoziale Intereſſe, das den Geſchlechts⸗ verkehr in die Form der heutigen bürgerlichen Ehe zu zwingen ver⸗ ſucht hat, iſt das Intereſſe der Geſellſchaft an dem körperlichen und ſeeliſchen Gedeihen der jungen Generation. Sie legt der Familie die Fürſorge für die Jugend auf, und ſie tut das nicht nur wegen einer Zufälligkeit unſerer modernen Wirtſchaftsordnung, nämlich als notwendige Konſequenz des Privateigentums, ſondern ſie tut das, weil nirgends ſo wie in einem feſten und dauernden Familien⸗ zuſammenhang die geiſtige Eigenart, alles was wir „perſönliches“ Leben, individuelle Werte nennen, Nahrung empfangen und ſtark werden kann, weil die Menſchen ihre beſte Kraft, die Wärme, mit der ſie das Leben und ſeine Aufgaben umfaſſen, aus der Kinderſtube mitbringen. In dieſen Tatſachen wurzelt die tiefere Bedeutung einer Familienordnung, durch welche den Eltern die wirtſchaftliche Ver⸗ ſorgung und Erziehung ihrer Kinder, dem Manne eine Unterhalts⸗ pflicht gegenüber der Frau auferlegt wird, die ſie in der Erfüllung ihrer Mutterpflichten ſchützt, und durch welche ſchließlich gewiſſe Ga⸗ rantien für die Dauer der ehelichen Gemeinſchaft feſtgelegt werden. Die Familie hat als letzte Inſtanz, als höchſter Kulturwert für unſere Beurteilung der verſchiedenen Formen des Geſchlechtslebens den Maßſtab abzugeben. Wir werden alle Vorſchläge ablehnen, die ſie in irgendeiner Weiſe erſchüttern könnten. Selbſt wenn durch ſolche Vorſchläge eine Anzahl von Menſchen zu erotiſcher Befriedi⸗ gung gelangen könnten, die ſonſt darauf verzichten müſſen. Denn wir müſſen uns ſagen, daß kein ſittliches Gut, keine von der Kultur errungene Lebensform erhalten werden kann, ohne daß der einzelne bereit iſt, ihrer Intaktheit unter AUmſtänden eine Glücksmöglichkeit zu opfern. Und es wird immer ein Zeichen moraliſchen Niedergangs ſein, jener Schwäche, die Nietzſche ſo gut und zutreffend als Mangel an „tragiſcher Geſinnung“ bezeichnet, wenn dieſe Opferfreudigkeit gegenüber dem höchſten Ideal der kleinlichen Berechnung Platz macht, Die moderne Ehekritik. 15 ob das perſönliche Glück nicht beſſer fahre, wenn man auf ſolche höchſten Ziele verzichtete. Aber es wird uns verſichert, daß die Ehe in ihrer heutigen Form und in Verbindung mit unſeren modernen wirtſchaftlichen Verhält⸗ niſſen zu viele Opfer verlangt, daß ſie durch die Verpflichtungen, mit denen ſie verbunden iſt, die äußeren wirtſchaftlichen und die inneren, den ſexuellen Anſprüchen einen zu engen Spielraum gibt und der menſchlichen Natur zu wenig Rechnung trägt, ſo daß eben mit Notwendigkeit ein großer Teil des Geſchlechtsverkehrs ſich außerhalb der Ehe abſpielt. Wir müſſen uns an die Einſicht gewöhnen, ſagt man, daß die menſchliche Natur nun einmal einer Bändigung ihrer ſexuellen Bedürfniſſe, einer Einſchränkung des Geſchlechtslebens auf den von der Ehe umſchriebenen Rahmen einfach nicht fähig iſt. Und dürfen wir ein Verhalten ſittlich brandmarken, das auf ſo allge⸗ meinen und unbeſieglichen Grundinſtinkten beruht? Um uns mit dieſem Gedankengang und den daraus abgeleiteten Forderungen auseinanderzuſetzen, dürfen wir uns nicht verſchleiern, daß hinter dieſen Erwägungen eine ſtatiſtiſch feſtzuſtellende Wirklich⸗ keit ſteht; wir dürfen uns über die tatſächliche Ausdehnung des außer⸗ ehelichen Geſchlechtsverkehrs keine Illuſionen machen. Ja, wir müſſen uns ganz vergegenwärtigen, welche grauenhaften und verwüſtenden Zuſtände in ſozialer, ethiſcher und hygieniſcher Hinſicht ſich auf dieſem Gebiet breit machen. Dieſe Zuſtände, ſo argumentiert nun die „neue Ethik“, die unge⸗ heure Ausdehnung der Proſtitution und alle ihre entſetzlichen Be⸗ gleiterſcheinungen ſind eine Folge davon, daß die Geſellſchaft nur die Ehe als berechtigte Form des Geſchlechtsverkehrs duldet. Da die Ehe aber das Geſchlechtsleben der Menſchen tatſächlich nicht umſpannt, ſo iſt die Geſellſchaft gezwungen, ſich mit der Proſtitution irgendwie ab⸗ zufinden. Dieſe Abfindung muß notwendig zu Heuchelei, Unwahr⸗ haftigkeit und Inkonſequenz führen. Denn man kann bei der Aus⸗ dehnung der Proſtitution dem einzelnen gegenüber, der ſie benutzt, die moraliſche Verurteilung gar nicht durchführen, die man gegen⸗ über der Inſtitution als ſolcher behauptet. Man hilft ſich aus dieſem Zwieſpalt dadurch heraus, daß man alle dieſe Tatſachen möglichſt ignoriert, daß man ſich hütet, den Vorhang von dieſen Zuſtänden zu Die moderne Ehekritik. 16 heben. Und unter dem Schutz dieſes Geheimniſſes wird dieſes ganze Gebiet ein Tummelplatz gemeinſter Inſtinkte und niedriger Leiden⸗ ſchaften jeder Art. Könnten wir nicht dieſes ganze Gebiet außer⸗ ehelichen Geſchlechtsverkehrs dadurch ethiſieren, daß wir „freie Ver⸗ hältniſſe“ anerkennen, die dem erotiſchen Bedürfnis in der Zeit ge⸗ nügen, in der es ſich am ſtärkſten geltend macht, ohne daß die wirt⸗ ſchaftliche Möglichkeit einer Ehe vorhanden wäre? Nun iſt dabei die Frage: was verſteht man in dieſem Fall unter „freien Verhältniſſen“? Und was verſteht man unter „anerkennen“? Die Wirklichkeit zeigt uns da doch eine ganze Skala von Be⸗ ziehungen von dem Mätreſſenverhältnis an, das im Kern nichts an⸗ deres iſt als Proſtitution, und als ſolches ein Privilegium der jeunesse dorée, bis zu der Liebſchaft irgendeines kleinen Ladenmädchens, das natürlich hofft, daß es geheiratet wird, oder doch wenigſtens vor der Möglichkeit, daß das nicht geſchehen wird, beide Augen gefliſſent⸗ lich zumacht, um den Augenblick genießen zu können — oder ſchließlich bis zu den wenigen Fällen, in denen möglicherweiſe ein ethiſch zu rechtfertigender Grund vorliegt, auf die eheliche Legitimation zu ver⸗ zichten. All ſolchen Beziehungen gegenüber haben wir zweierlei ſehr klar zu unterſcheiden, was in der Propaganda der neuen Sexualethik immer miteinander verwechſelt wird: unſere Stellung zu dem ein⸗ zelnen Fall, zu den einzelnen Menſchen, die ſich in ſolchen Beziehun⸗ gen befinden, und unſere Stellung zu der illegitimen Form an ſich, als Inſtitution. Es iſt etwas völlig verſchiedenes, ob ich einem ein⸗ zelnen Schickſal gegenüberſtehe, ob ich hier „den Menſchen in des Lebens Drang“ ſehe und, ohne richten zu wollen, zu verſtehen ſuche, wie er dazu kam, von der allgemeinen Moralanſchauung abzuweichen, oder ob ich dieſes Abweichen an ſich für eine ſozial wünſchenswerte Inſtitution erkläre und propagiere. Dies letzte verſtehen die Ver⸗ treter der „neuen Ethik“ unter der Forderung, wir ſollten freie Ver⸗ hältniſſe „anerkennen“, — und ſo durchaus ſelbſtverſtändlich es für uns iſt, daß wir den einzelnen Menſchen nicht als Menſchen um dieſer oder jener Abweichung von der Norm willen einfach verdammen — ſo entſchieden müſſen wir es ablehnen, in der ſogenannten freien Ehe eine ſozial und ſittlich wünſchenswerte Inſtitution zu ſehen. Die moderne Ehekritik. 17 Was verſteht nun der Bund für Mutterſchutz darunter, wenn er eine „geſetzliche Anerkennung“ der freien Ehe im Gegenſatz zum bisherigen Zuſtand fordert? Darüber gibt uns, nachdem es lange an einer klaren, unmißverſtändlichen Definition dieſes Begriffes gefehlt hatte, ein Flugblatt (Nr. 4) Auskunft, das unter dem Titel „Ent⸗ wurf eines Programms“ kürzlich vom Bunde der Öffentlichkeit über⸗ geben iſt, mit der ausdrücklichen Aufforderung, dieſe Veröffentlichung der Kritik über die Beſtrebungen des Bundes zugrunde zu legen. Soweit ſich aus den verſchiedenen Punkten dieſes Programms die geſetzliche Form des freien Verhältniſſes, die der Bund für Mutter⸗ ſchutz ſanktioniert wiſſen will, feſtſtellen läßt, zeigt ſie folgende Merk⸗ male: Jede ohne ſtaatliche Sanktion eingegangene Verbindung wird als freies Verhältnis betrachtet; Verpflichtungen irgend welcher Art beſtehen weder für Mann noch für Frau, ſolange das Verhältnis kinder⸗ los bleibt. Im anderen Falle jedoch hat der Mann der Frau gegen⸗ über eine gewiſſe Unterhaltungspflicht — die des näheren nicht feſt⸗ geſtellt wird — vor der Niederkunft. Nach der Niederkunft hört die Verpflichtung des Mannes der Frau gegenüber auf; an ihre Stelle ſollen die Leiſtungen einer ſtaatlichen Mutterſchaftsverſicherung treten. Mann und Frau jedoch ſollen fortan auch in wirtſchaftlicher Hinſicht die Verantwortung für das Kind tragen. Die Erfüllung dieſer Pflicht ſoll auch dadurch geſichert werden, daß die Erlaubnis zum Eingehen einer Ehe „mit einer anderen Frau oder einem an⸗ deren Manne als dem Mitverpflichteten“ nur dann gegeben wird, wenn durch vollziehbare Kontrakte die Verſorgung der vorhandenen unehelichen Kinder geſichert iſt. Eine Verpflichtung zu familien⸗ haftem Zuſammenleben oder zur Dauer der Ehe geht keines von den beiden Teilen ein, auch nicht für den Fall, daß Kinder da ſein werden. Dieſe Inſtitution nun, die der Bund für Mutterſchutz zur An⸗ erkennung bringen will, iſt unter drei Geſichtspunkten zu betrachten, nämlich in ihren Wirkungen auf die bürgerliche Ehe, auf die Kon⸗ kubinate und auf die Proſtitution. Als Erſatz der Ehe empfiehlt es die neue Ethik denjenigen Frauen, die unter den heutigen wirtſchaftlichen und ſozialen Ver⸗ hältniſſen nicht zur Ehe gelangen können und ſomit zum Verzicht auf Liebesleben und Mutterſchaft gezwungen ſind. Es iſt nun frei⸗ Lange, Kampfzeiten. II. 2 Die moderne Ehekritik. 181 lich recht ſchwer, ſich die Lage zu konſtruieren, in der man ſich eine ſolche Frau denkt. Nimmt man nämlich die ſelbſtverſtändliche Vor⸗ ausſetzung an, daß ſie imſtande iſt, ſich ſelbſt und eventuell auch noch ein Kind zu erhalten — nur unter dieſer Bedingung wäre für ſie ja der Verzicht auf den feſten Familienzuſammenſchluß möglich — und man nimmt die allgemein doch wohl auch zutreffende Vermu⸗ tung hinzu, daß das Gleiche von dem Manne gelten muß, ſo iſt ſchlechterdings nicht einzuſehen, weshalb ein ſolches Paar die freie Ehe der legitimen vorziehen ſollte. Es ſei denn, — und das ſcheint mir das ſittlich Bedenkliche — daß beide ihre Erotik innerlich getrennt haben von dem Wunſche dauernder, immer mehr vertiefter Lebensgemeinſchaft, daß bei ihnen die Leidenſchaft und die Sehn⸗ ſucht nach einem Zuſammenleben, „bis der Tod uns ſcheidet“, zweierlei geworden iſt. Es iſt ſchon oft genug geſagt worden, daß in dem Falle, wo dieſes Moment zur Wahl einer freien Ehe veranlaßt, ſicherlich nicht die höchſte Form der Beziehungen zwiſchen dieſen beiden Menſchen vorliegt, daß in einem Verhältnis, an deſſen Dauer beide Teile oder einer von ihnen von vornherein nicht glaubt, entweder dem eigenen Gefühl nach die ſinnliche Leidenſchaft die ſtärkere Nolle ſpielt und die ſeeliſche Kameradſchaft die geringere — oder aber das Gefühl überhaupt nicht tief genug iſt, um ſich die Kraft zu einer Lebensgemeinſchaft zutrauen zu können. Auf alle Fälle erſcheint es unter dieſem Geſichtspunkt als eine irreführende Phraſe, wenn es immer ſo hingeſtellt wird, als ſei die Ehe ohne ſtaatliche Sanktion das innerlich Vornehmere, ſtärker vom Gefühl als von anderen Intereſſen Beſtimmte. Und es heißt höchſte und zarteſte Motive mit niedriger Berechnung einfach gleichſetzen, wenn man ſich an mitleidi⸗ ger Geringſchätzung für die Frau nicht genug tun kann, der es ſelbſt⸗ verſtändlich erſcheint, daß ihre Hingabe eine Lebensgemeinſchaft be⸗ gründet. Es gehört zur Taktik der neuen Ethik, die legitime Ehe in ihren niedrigſten Formen zu zeigen, ihre Beſtimmungen als Aus⸗ fluß ſpießbürgerlicher Berechnungen hinzuſtellen, während ſie ſelbſt nicht leugnen kann, daß dieſe Formen an ſich den höchſten Sinn der Ehe ausdrücken, wenn ſie auch ſelbſtverſtändlich, je nach den Menſchen, ſich mit einem mehr oder minder adäquaten Inhalt füllen. Es liegt in dieſer Taktik, aus der alten Moral einen Popanz zu machen, was Die moderne Ehekritik. 19 natürlich ein billiges Vergnügen iſt; denn da es gemeine Menſchen gibt und jede ſoziale Lebensform entgegen ihrem eigentlichen Sinn im Intereſſe niedriger Wünſche benutzt werden kann, ſo iſt es leicht, ſie nur von dieſer Seite her zu zeigen. In bezug auf den inneren Gehalt der Ehe, auf die Beweggründe, die für ihr Eingehen maß⸗ gebend ſind, ſcheint alſo die Propaganda freier Verhältniſſe ſehr verhängnisvoll. Es liegt eine bedauerliche Verwirrung des morali⸗ ſchen Inſtinkts und des ſeeliſchen Feingefühls darin, wenn man unſere Jugend ausdrücklich darauf hinweiſt, ſinnliches Bedürfnis und ſeeliſche Anſprüche zu trennen und das höchſte ſeeliſche Kriterium der Liebe, den Wunſch nach dauernder Gemeinſchaft, zurückzuſtellen, um der Erfüllung vorübergehender und als vorübergehend empfundener leidenſchaftlicher Wünſche willen. Ganz anders ſtellt ſich nun aber die Frage, wenn zu dieſem inneren Minus, das die freie Ehe — als Inſtitution gedacht — ge⸗ genüber der legitimen aufweiſt, ein äußeres hinzukommt, das heißt, wenn die Frau nicht wirtſchaftlich ſelbſtändig iſt, wenn ſie nicht ſo viel verdient, um auch für ihr Kind mitſorgen zu können und um perſönlich auf den Unterhalt durch den Mann nicht angewieſen zu ſein. Für dieſen Fall garantiert ihr die freie Ehe ja nichts weiter als gewiſſe Unterhaltsanſprüche vor ihrer Niederkunft und einen Zuſchuß des Mannes für den Unterhalt ihres Kindes. Als Ergänzung ſoll freilich die Mutterſchaftsverſicherung einſetzen; aber erſtens haben wir ſie noch nicht, und zweitens wird ſie in abſehbarer Zeit, in der Zeit, mit der jede praktiſche Propaganda unbedingt rechnen muß, niemals das leiſten können, was ſie leiſten müßte, damit eine Frau ohne Hilfe des Mannes ſich ſelbſt und etwaige Kinder durchbringen kann. Vorläufig liegt für ſie die Sache ſo: ſie entſchließt ſich zur „Hingabe ohne Garantien“, ſie opfert vielleicht der Pflege ihrer Kinder während einer Reihe von Jahren ihren Beruf. Es beſteht nicht die geringſte Sicherheit für ſie, daß ſeitens des Mannes die Familie, die er mit ihr begründet, aufrecht erhalten wird, ſondern ſie muß gewärtig ſein, ohne irgendwelche For⸗ malitäten dieſen Zuſammenhang ſeitens des Mannes einfach aufge⸗ hoben zu ſehen. In dieſem Falle wird vielleicht für ihre Kinder geſorgt — wie es mit der Sicherheit dieſer Verſorgung ſteht, werden wir nachher zu erörtern haben — auf keinen Fall aber hat die Frau 2* Die moderne Ehekritik. 20 ſelbſt irgendeinen Anſpruch an den Mann, ſondern ſie iſt gezwungen, vielleicht nach Jahren, in denen ſie nur ihrer Mutterſchaftsleiſtung gelebt hat, wieder erwerbstätig zu werden. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß eine ſolche Form der Ehe auch in dem Sinne unſeren wirtſchaft⸗ lichen Verhältniſſen nicht entſpricht, als die Erwerbsmöglichkeiten für die Frauen noch lange nicht entwickelt genug ſind, als daß man da⸗ mit rechnen könnte, daß jede Frau jedes Alters und Standes irgend⸗ wo und zu jeder beliebigen Zeit einen auskömmlichen Unterhalt fin⸗ den kann. Es erſcheint mir immer als eine eigentümliche Inkonſequenz, daß gerade ein Bund für Mutterſchutz für die Sanktion freier Verhält⸗ niſſe eintritt. Denn die uneheliche Mutter, das uneheliche Kind ſind ja doch gerade die Opfer ſolcher Verhältniſſe. Wenn das Pflichtgefühl des Vaters auch ohne legitime Bindung ſtark genug wäre, um ihn für ſein Kind und die Mutter ſeines Kindes in vollem Maße in morali⸗ ſchem und rein wirtſchaftlichem Sinne eintreten zu laſſen, ſo bedürfte weder ſie noch das Kind eines beſonderen Schutzes. Der Vater wäre vollkommen Schutz genug, auch der Geſellſchaft gegenüber, deren Urteil ein ganz anderes ſein würde, wenn die uneheliche Mutter mit ihrem Kinde nicht die Im⸗Stich⸗Gelaſſene wäre, die nun der Geſellſchaft zur Laſt fällt. Die Büros des Bundes müſſen doch Material genug für die Tatſache liefern, daß wir auf das freiwillige Pflichtgefühl der Väter nicht rechnen dürfen. Darum kann eben für die Geſellſchaft die freie Ehe gar nichts anderes ſein, als etwas nach der Seite der ſozialen Verpflichtung hin Unvollkommeneres und Unzulänglicheres als die Ehe. Es iſt eine Konfuſion, wenn man dieſer tatſächlichen Unzulänglichkeit gegenüber ausſpielt, daß die Motive, die zu dieſer loſen Verbindung geführt haben, daß die ſeeliſche Gemeinſchaft, die von ihr umſchloſſen wird, unter Umſtänden einmal höher ſtehen können, als die Motive und der Inhalt einer legitimen Ehe. Da⸗ durch wird der ſoziale Defekt, der einer ſolchen Verbindung unver⸗ meidlich anhaftet, in keiner Weiſe ausgeglichen. Wenn im Licht der Frage nach dem Schickſal der Frau die freie Ehe keine nähere Prüfung aushält, ſo erſcheint ihre Unzulänglichkeit noch deutlicher, wenn wir die Frage nach dem Schickſal des Kindes ſtellen. Freilich, hier ſcheint alles in beſter Ordnung; ja das neue Die moderne Ehekritik. 21 Programm des Bundes erweckt ſogar bei oberflächlicher Lektüre den Eindruck, als ob es ihm ganz beſonders auf eine gegen heute ver⸗ ſtärkte Sicherheit für die junge Generation ankäme. Aber das iſt nur ein Schein. Vorweg muß darauf hingewieſen wer⸗ den, daß die neue Ethik ſich im Laufe ihrer Propaganda immer deut⸗ licher für die neomalthuſianiſchen Beſtrebungen ausgeſprochen hat. Sie ſieht die letzte Löſung des Problems, wie Fräulein Dr. Stöcker ſich in einem ihrer Berliner Vorträge geſchmackvoll ausdrückte, darin, „die Liebe von der Fortpflanzung zu trennen“. Das Programm iſt nicht ganz ſo unverblümt, ſondern verſchleiert die Stellung der neuen Ethik zum Neomalthuſianismus mit dem nur dem Eingeweihten verſtändlichen Satz: „Aufklärend zu wirken ſucht der Bund für Mutter⸗ ſchutz durch Belehrung über die Gefahren des unüberlegten Ge⸗ ſchlechtsverkehrs ſowohl wegen der wirtſchaftlichen und ſozialen Fol⸗ gen der unehelichen Schwangerſchaft, als wegen der Beeinträchtigung der wirtſchaftlichen Exiſtenz durch zu häufige und ſchnelle Wieder⸗ holung der Schwangerſchaft.“ Dieſem Programm zufolge tritt die neue Ethik alſo prinzipiell für eine Loslöſung der Erotik aus ihren natürlichen Lebenszuſammenhängen ein, für eine Praxis, die vielleicht als eine traurige Notwendigkeit angeſichts gewiſſer ſozialer und ſitt⸗ licher Mißſtände in Kauf genommen werden kann, mit der ſich aber jenes ethiſche Pathos und jene Verherrlichung der lebenerhöhenden Macht der Erotik, in die der Bund für Mutterſchutz alle ſeine Er⸗ örterungen taucht, nun und nimmermehr vereinigen läßt. Vielmehr iſt ein auf der Vorausſetzung der Kinderloſigkeit von vornherein auf⸗ gebautes Verhältnis für jedes geſunde Gefühl nichts anderes als die Erniedrigung des einen Menſchen zum Genußobjekt des anderen, bei der von Ethik überhaupt nicht mehr die Rede ſein kann. Und es iſt ſchlechterdings nicht einzuſehen, welches Intereſſe die Geſellſchaft auch nur aus ganz äußeren ſozialen Zweckmäßigkeitsgründen an der Sank⸗ tion derartiger Beziehungen haben ſollte. Wie ſteht es nun aber mit der Sicherheit für die Kinder? Die neue Ethik ſagt, man wolle „den geſchlechtlichen Verkehr, ob mit oder ohne Dauerehe, unter den Schutz der gleichen gemeinſamen Verant⸗ wortlichkeit vor dem Geſetz für beide Beteiligte nach allen Richtungen“ ſtellen. Und auf den erſten Blick ſcheint es, als ob die Forderung Die moderne Ehekritik. 22 des Bundes, eine Ehe ſolle nur geſtattet ſein, im Falle für vorhandene uneheliche Kinder vertragsmäßig ausreichend geſorgt ſei, einen, mit dem heutigen Zuſtand der unehelichen Kinder verglichen, beſſeren Schutz darſtelle. Aber man vergeſſe nicht, daß erſtens dieſe Verpflich⸗ tung nur an das Eingehen einer legitimen Ehe, nicht aber an das eines neuen Verhältniſſes geknüpft wird, auch der Natur der Sache nach gar nicht daran geknüpft werden kann. Da nun die neue Ethik ſelbſt energiſch dafür eintritt, daß freie Verhältniſſe der Ehe gleich⸗ gewertet werden, ja, da ſie darüber hinaus den Menſchen, die in ſolchen freien Beziehungen leben, auch noch den Gefallen tut, ſie für die vornehmeren zu erklären, ſo kann ſie folgerichtig von niemand ver⸗ langen, daß er die mit der größeren Verantwortlichkeit verbundene legitime Ehe dem freien Verhältnis vorzieht. Es müßte alſo dahin kommen, daß die Menſchen ſich der Bedingung, vertragsmäßig für ihre unehelichen Kinder zu ſorgen, einfach dadurch entziehen, daß ſie ſtatt einer Ehe ein zweites oder je nachdem ein drittes und viertes freies Verhältnis eingehen. Vom Standpunkt der neuen Ethik wäre dagegen gar nichts einzuwenden. In dieſem Falle aber, in dem die ſtaatliche Sanktion ausdrücklich abgelehnt wird, dürfte es noch ſchwerer ſein als heute, von den verpflichteten Vätern und Müttern die Alimente für die Kinder wirklich beizutreiben. Schwerer als heute in dem Maße, als ſolche Beziehungen bei der Achtung, die ſie ge⸗ nießen ſollen, naturgemäß in ſtärkerem Maße zunehmen werden, als die ökonomiſche Möglichkeit, für die ihnen entſtammenden Kinder zu ſorgen. Es iſt außerdem ja doch in Betracht zu ziehen, daß es immer nur bei wirtſchaftlich günſtigen Verhältniſſen, alſo in den beſſer ge⸗ ſtellten Volksſchichten, möglich ſein wird, Kinder wirtſchaftlich aus⸗ reichend zu verſorgen außerhalb des Familienzuſammenhangs. Was über die äußere Exiſtenzſicherheit der Kinder hinaus nun die inneren Güter anbetrifft, die ihnen der Zuſammenhang mit den Eltern zu geben hat, ſo muß hier das Programm der neuen Ethik vollends ſcheitern. Wenn infolge der Propaganda der neuen Ethik die Gewohnheit illegitimer Beziehungen in die bisher ſittlich tüch⸗ tigſten Schichten unſeres Volkes eindringen ſollte, ſo würde das einen Wertverluſt für die Erziehung der jungen Generation mit ſich brin⸗ gen, der durch keinerlei künſtliche Veranſtaltungen zur Kinder⸗ Die moderne Ehekritik. 23 erziehung, durch keinerlei ſtaatliche Fürſorge aufgewogen werden könnte. Werte, die mit der Familie, dem Heim, mit ſeiner ganz eigenen, nirgends anders herzuſtellenden Sonnenwärme zuſammen⸗ hängen, würden auch dann noch die Wagſchale der „Zeitehe“ in die Höhe ziehen, wenn etwa die wirtſchaftliche Verſorgung des Kindes durch ſie nicht mehr gefährdet erſchiene. Das würde der Fall ſein, wenn überhaupt nicht mehr die Familie, ſondern der Staat die Ver⸗ ſorgung der jungen Generation übernähme, alſo in einer ſozialiſti⸗ ſchen Geſellſchaftsordnung. Aber ſelbſt, wenn mit einer ſolchen für die Zukunft zu rechnen wäre, was doch vorläufig ein rein utopiſtiſcher Glaube iſt, ſo wären die Kinder immer noch ſchlechter daran als unter den heutigen Verhältniſſen: ſeeliſch könnten ihnen eben doch nur Surrogate an Stelle der natürlichen Zuſammengehörigkeitsgefühle in der Familie geboten werden. Und was die Eltern anlangt, ſo fragte ſich eben, ob durch dieſen Gedanken der Staatserziehung nicht ein grundlegendes pſychologiſches Geſetz überſehen wird, das heißt, ob nicht der Wunſch, für ſeine Nachkommen in vollem Umfange ſelbſt einzutreten, ſich mit zunehmender Kultur notwendig vertiefen muß, ſtatt angeſichts der wirtſchaftlichen Vorzüge genoſſenſchaftlicher Kinder⸗ erziehung auf den Indifferenzpunkt zu ſinken. Nun ſagt man uns aber, man darf auch dieſe freien Verhält⸗ niſſe nicht an der Ehe meſſen. Und es wird von der neuen Sexual⸗ ethik ſogar zugegeben, daß derartigen Beziehungen der Vollwert der Ehe nicht zukommt. Man muß ſie eben beurteilen, ſagt man uns, als ein Mittel, der Proſtitution Boden abzugewinnen. Es iſt ſelbſtverſtändlich zuzugeben, daß derartige Verhältniſſe höher ſtehen als käufliche und erkaufte Liebe. Aber werden ſie ſich als Mittel bewähren, den außerehelichen Geſchlechtsverkehr zu ethiſieren, oder führt uns auch hier wieder die eingehende Betrachtung zu der Über⸗ zeugung, daß ſie umgekehrt der Ehe gefährlich werden? Dürfen wir erwarten, daß die Sanktion einer niederen Lebensform eine Erhöhung der allerniedrigſten ſtatt einer Herabdrückung der höchſten zur Folge haben wird? Übertragen wir uns doch dieſe Vorſtellung auf irgend⸗ ein anderes Gebiet ethiſchen Verhaltens. Dürfen wir erwarten, den groben Diebſtahl einzuſchränken, wenn wir neben dem Ideal unbe⸗ dingter Achtung vor anderer Eigentum ein anderes aufrichten, nach Die moderne Ehekritik. 24 dem kleine, von der menſchlichen Schwäche nun einmal untrennbare Mogeleien verzeihlich ſind? Wird nicht der ethiſche Nimbus, mit dem wir irgendeine moraliſche Halbheit umgeben, auch auf die ausge⸗ ſprochene und zweifelloſe Unſittlichkeit abfärben? Wird nicht die Proſtitution in einem ſehr viel milderen Licht erſcheinen, wenn man den Trieben, von denen ſie genährt wird, ausdrücklich das Recht zu⸗ geſteht, ſich über das Gebot jener vollen ſozialen Verantwortlichkeit hinwegzuſetzen, deren Ausdruck die legitime Ehe iſt? Es heißt voll⸗ kommen das Weſen ethiſcher Kraftentfaltung verkennen, wenn man meint, durch die Herabſetzung des Ideals die ethiſche Spannkraft zu erhöhen, wenn man ſich der Illuſion hingibt, den Menſchen dadurch zu heben, daß man ihn darauf hinweiſt, ſein Verhalten an einem niederen Maßſtabe zu meſſen. „Keine Kraft der Welt,“ hat einmal Maeterlinck geſagt, „erleidet zahlreichere Verluſte als ein Ideal, das ins tägliche Leben hinabſteigen ſoll, und es muß unendlich hoch liegen, damit nur etwas davon verwirklicht werde.“ Zu jeder Zeit hat die Menſchheit dann ihre größten moraliſchen Leiſtungen vollbracht, wenn ſie ſich ihre Ideale hoch zu ſetzen wagte, und niemals hat die Toleranz außerehelichen Geſchlechtsbeziehungen gegenüber zur Einſchränkung der Proſtitution geführt, ſondern ganz im Gegenteil. Und dieſes An⸗ wachſen der Proſtitution bei laxen ſexual⸗ethiſchen Anſchauungen kommt nicht nur daher, daß die Proſtitution von der moraliſchen Duldſamkeit gegenüber dem außerehelichen Geſchlechtsverkehr profi⸗ tiert, ſondern auch daher, daß die Ausdehnung außerehelicher Ver⸗ bindungen die Proſtitution poſitiv vermehrt. In hundert Fällen wird ja doch die uneheliche Mutter, wenn der Mann ſie nach dem Worte aus Ibſens Komödie der Liebe: „Brach nur ich die Blüte, werde aus dem toten Reſt, was mag,“ im Stich gelaſſen hat, der Proſti⸗ tution zugetrieben, und eine Sanktion illegitimer Beziehungen wird es ihm noch viel leichter machen, ſie auf dieſen Weg zu locken. Wir werden es alſo aus den ſtärkſten pſychologiſchen, ſittlichen und ſozialen Gründen ablehnen müſſen, in dem Vorſchlag der „freien Ehe“ ein Mittel zur Löſung der ſexuellen Frage zu ſehen, da dieſer Vorſchlag nach unſerer Überzeugung nicht der Proſtitution, ſondern Die moderne Ehekritik. 25 der legitimen Ehe Kraft entziehen wird. Damit aber erklären wir uns keineswegs weder mit den beſtehenden Zuſtänden einverſtanden, noch ihnen gegenüber bankerott. Wir betonen nur, daß von einer größeren ſexuellen Freiheit, einer Umgeſtaltung der Sitte nach dieſem Prinzip, keine Beſſerung zu erwarten iſt. Wir werden den Fortſchritt nicht dadurch erreichen, daß wir das Ideal den nun ein⸗ mal beſtehenden Zuſtänden entſprechend herabſetzen, ſondern nur da⸗ durch, daß wir den zahlloſen Verſuchungen zu ſexueller Ungebunden⸗ heit: Unterernährung, Wohnungselend, Alkoholgenuß uſw. uſw. ent⸗ gegenarbeiten und auf erziehlichem Gebiet verſuchen, den Menſchen körperlich und geiſtig widerſtandsfähiger zu machen. Das iſt ein langer Weg, auf dem wir nur langſam vorwärtskommen werden. Aber wir können ſicher ſein, daß nur Unwiſſenheit oder Leichtſinn eine ſchnelle Wandlung auf dieſem Gebiet in Ausſicht ſtellen kann. Die Wand⸗ lung der Menſchen vollzieht ſich nicht von heute auf morgen. Und auf die Menſchen wird ſich eben die Reformarbeit in erſter Linie zu richten haben. Mir ſcheint, daß in all dem Plänemachen über die Geſtaltung der Ehe, von Ellen Key bis zur Mutterſchutzbewegung, eine Vorfrage im Dunkeln gelaſſen iſt. Die Vorfrage nämlich: was darf für die Reform der Ehe von dem Geſetz, von der allgemeinen Norm, der geſellſchaftlichen Sitte erwartet werden — und was hat der einzelne in ſeinem perſönlichen Leben, das niemals mit ſeinem ganzen Inhalt von dem Normativen ausgefüllt wird, dabei zu tun? Man verwechſelt in all dieſen Vorſchlägen das, was perſön⸗ liches Lebensideal iſt, mit dem, was ſoziale Form werden kann. Die ſoziale Form kann niemals ausdrücken oder gar erſchöpfen, was an ſeeliſchen Werten von der einzelnen konkreten Lebensgemeinſchaft er⸗ rungen und geſchaffen wird. Sie ſoll das auch gar nicht. Das Eheideal, das uns nach einer Jahrhunderte währenden Ver⸗ feinerung unſerer ſeeliſchen Kultur heute vorſchwebt, wird in ſeinem Kern beſtimmt durch das Bedürfnis nach einer die ganze Perſönlich⸗ keit in Anſpruch nehmenden ſeeliſchen Gemeinſchaft als Korrelat und Bedingung der erotiſchen Beziehung. Von dieſer Sehnſucht und ihren Erfüllungen ſingt die deutſche Liebeslyrik ſeit Jahrhunderten. Sie iſt ſicher nicht „neue Ethik“. Und ebenſo iſt — trotz aller inneren und äußeren Anfechtungen — in unſerem Volke noch ein Gefühl für die Die moderne Ehekritik. 26 unerſetzlichen poſitiven geiſtigen Werte lebendig, die in der Familie eingeſchloſſen ſind. Auch der moderne Menſch weiß es, daß „ein Heim der am vielfältigſten zuſammengeſetzte Organismus iſt, deſſen Zellen Menſchengeſchlechter mit dem Innigſten ihres Empfindungslebens auf⸗ gebaut hatten, ohne es zu wiſſen“. Auf dieſe Werte pflegt die „neue Ethik“, die ſich immer in erſter Linie als Anwalt der Erotik fühlt, weniger Gewicht zu legen, und doch kann ohne ſie ein Eheideal gar nicht aufgebaut werden. Können Geſetze, kann der geſellſchaftliche Sittenkodex dieſe Inhalte ſchaffen? Sicherlich nicht. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen ſind an ſich nicht imſtande, neue ſittliche Inhalte zu ſchaffen. Ihr Zweck iſt einerſeits, dafür zu ſorgen, daß im Leben des einzelnen der geſellſchaftlichen Notwendigkeit der ſchuldige Tribut gezahlt wird, an⸗ dererſeits aber, der Entfaltung höchſter ſeeliſch⸗perſönlicher Werte Spielraum und Schutz zu gewähren. Die Frage, ob unſere heute gel⸗ tende Eheordnung dieſem zweiten Anſpruch genügt, iſt noch zu beant⸗ worten. Die Frauenbewegung hat ſie mit nein beantwortet. Sie ſieht in dem Patriarchalismus, an dem noch unſer modernes Bürgerliches Geſetzbuch feſtgehalten hat, ſittliche Anſchauungen verkörpert, über die wir hinausgewachſen ſind. Sie verlangt, daß die Begründung der Ehe auf die Kameradſchaft zweier gleichſtehender Menſchen auch im Recht zum Ausdruck kommt, daß nicht das Eherecht der Auffaſſung wider⸗ ſpricht, ja ihr unter Umſtänden ſogar poſitiv entgegentritt, die heute ſchon jedem verfeinerten Empfinden natürlich iſt. Eine Zuſammen⸗ faſſung und Begründung der Forderungen, die von hier aus für die Geſtaltung des Eherechts zu ſtellen ſind, gibt mit ebenſoviel juriſti⸗ ſchem Scharfſinn wie ſittlichem Feingefühl Marianne Weber in ihrem 1907 erſchienenen Buch „Ehefrau und Mutter in der Rechts⸗ entwicklung“. (Tübingen, J. C. B. Mohr.) Sie gruppieren ſich um drei Hauptpunkte: die Beſeitigung des primären Entſcheidungsrechts des Mannes in allen gemeinſamen Angelegenheiten, die gleichberechtigte Teilnahme der Mutter an der elterlichen Gewalt und ſchließlich die vermögensrechtliche Selbſtändigkeit der Frau nach dem Prinzip der Gütertrennung. Eine Löſung der eigentlichen inneren Probleme der Ehe, eine tatſächliche Verwirklichung des Eheideals iſt aber natürlich Die moderne Ehekritik. 27 auch von dieſen Reformen nicht zu erwarten; ſie ſollen nichts weiter, als dem Leben, das zu dieſer Verfeinerung der Ehegemeinſchaft drängt, Raum geben und die höchſten Formen, die es geſchaffen hat, ſanktionieren, ſoweit dieſe Formen in die Sphäre des Rechts fallen und der Sanktion des Rechts bedürfen. Aber noch von einem anderen Geſichtspunkte aus erſcheint die heutige geſetzliche Form der Ehe als Hemmnis der Entwicklung ver⸗ feinerter Lebenswerte. Das iſt die Scheidungsfrage. Der verhängnis⸗ volle und — man darf das ſagen — geradezu entſittlichende Einfluß unſeres Scheidungsrechts beruht darin, daß es ſich unter allen Um⸗ ſtänden auf das Schuldprinzip ſtützt. Alle die Irrungen, alle die Zwieſpalte der Weltanſchauungen, der Charaktere, der erotiſchen Ver⸗ anlagung, die auch die gewiſſenhaften Menſchen — und oft gerade ſie — in eheliche Tragödien hineingeraten laſſen und die Fortſetzung der Ehe zu einer qualvollen Erniedrigung für beide Teile machen, all das wird nur Scheidungsgrund, wenn es in das Gewand der Schuld gekleidet werden kann, die das Geſetz als Grundlage der Scheidungsklage verlangt. Wer hat angeſichts der Akten von hundert und aberhundert Eheſcheidungsprozeſſen, die rein durch die Schuld des Rechtes zu Skandalprozeſſen ausarten mußten, noch den Mut, zu behaupten, daß dieſe Erſchwerung der Eheſcheidung — auch da, wo keinerlei Rechte dritter, der Kinder, in Frage kommen — der Beför⸗ derung ſittlicher Werte diene? Alſo eine Umgeſtaltung der Ehe nach dieſen beiden Seiten: der Stellung der Frau und der Scheidungsfrage, — aber bei voller Er⸗ haltung aller heute ihre Legitimität begründenden Verpflichtungen — das muß das Programm moderner Ehereform werden. Alles übrige: die Verfeinerung des ehelichen Lebens, die Erſchaffung einer Familien⸗ kultur, welche der drohenden Atomiſierung des einzelnen im ſozialen Leben ein kräftiges Gegengewicht bietet, das alles iſt nicht Sache der Methode, der Inſtitutionen und Theorien, ſondern der Perſönlich⸗ keiten — hier noch mehr als in irgendeinem anderen menſchlichen Verhältnis. Und ſo wird auch für die uneheliche Mutter das Geſetz etwas, aber nicht alles tun können. Es iſt ohne weiteres zuzugeben, daß die Rechtsſtellung der unehelichen Mutter verbeſſert werden muß, beſon⸗ Die moderne Ehekritik. 28 ders hinſichtlich einer Umgeſtaltung der Alimentationspflicht in dem Sinne, daß die unehelichen Väter nicht nur für das Notwendigſte, ſondern mehr ihren Verhältniſſen entſprechend herangezogen werden. Die ungleich ſtärkere Belaſtung der unehelichen Mutter im Verhältnis zum Vater hängt doch immer in gewiſſer Weiſe mit jener Herren⸗ moral zuſammen, die die Konſequenzen illegitimer Beziehungen ihr mit der äußerſten Strenge auferlegt und ſie ihm möglichſt leicht macht. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Frauenbewegung dieſe Herren⸗ moral verwirft, wenn ſie auch jene verhängnisvolle Verherrlichung der unehelichen Mutterſchaft als ſolcher ablehnt, die der Bund für Mutterſchutz aufgebracht hat. Es wird ferner die Lage der unehelichen Mütter zu heben ſein durch ſozialpolitiſche Maßnahmen, wie vor allen Dingen den Ausbau des Krankenkaſſenweſens zur Mutterſchaftsverſicherung. Das Weſent⸗ liche aber wird doch immer ſein, daß das ſexuelle Verantwortlichkeits⸗ gefühl des Mannes gehoben wird, und das iſt in hohem Maße davon abhängig, daß die Frauen an wirtſchaftlicher Selbſtändigkeit und innerer Selbſtachtung wachſen. Damit würde wenigſtens der Rückhalt fallen, den heute die Skrupelloſigkeit des Mannes in der äußeren und inneren Hilfloſigkeit der Frau findet. Ich komme zum Schluß. Für jede freiheitliche Bewegung kommt im Laufe ihrer Entwicklung die Zeit, wo es notwendig wird, ihre Grenzen abzuſtecken. Denn die Idee, die den Kern einer ſolchen Bewegung bildet, trägt immer die Möglichkeit in ſich, überſpannt und — wie man es wohl genannt hat: „überwertig“ zu werden. Es wird für das Schickſal einer Bewegung immer entſcheidend ſein, ob es ihr gelingt, ſich nach dem Sprichwort vor ihren „Freun⸗ den“ zu ſchützen, vor den „Überjüngern“, die eben durch die Über⸗ ſpannung der geſunden und gerechten Idee zu ihren ſchlimmſten und gefährlichſten Feinden werden. Gewiß iſt dieſer Bruderkampf eine recht unerfreuliche und undankbare Aufgabe für die, welche dabei die Nolle des Einſchränkens und Zurückhaltens übernehmen müſſen. Das entbindet natürlich von dieſer Verpflichtung nicht. In einer ſolchen Lage iſt augenblicklich die Frauenbewegung in bezug auf den Punkt ihres Programms, der uns hier beſchäftigt hat. Angeſichts der Probleme, die wir als die „Ehefrage“ oder die Die moderne Ehekritik. 29 „ſexuelle Frage“ bezeichnen, ſcheiden ſich die Wege, die in allen anderen prinzipiellen Fragen zuſammengehen. Und es iſt meine feſte Über⸗ zeugung, daß wir hier den Strich im Intereſſe unſerer eigenen Sache gar nicht klar und ſcharf genug ziehen, gar nicht entſchieden genug dagegen proteſtieren können, daß jemand, der ſich zur Frauenbewe⸗ gung rechnen will, die Loslöſung des ſexuellen Lebens aus den Ver⸗ antwortlichkeiten proklamiert, mit denen unſere Kultur es verbunden hat. Man hat die Frauenbewegung einmal die organiſierte Mütter⸗ lichkeit genannt. Will ſie ſich dieſen Ehrentitel wahren, ſo hat ſie heute die Pflicht, unſere Jugend aus dem Banne der gefährlichen Suggeſtion zu befreien, die ſie das Glück und die höchſten Lebens⸗ werte auf dem Wege des „Sichauslebens“ ſuchen laſſen will. Einer Suggeſtion, die ſie zu ihrer eigenen, unausbleiblichen und bitteren Enttäuſchung nach Talmigütern greifen läßt und in halben Beziehun⸗ gen das Gefühl verſchwenden, das einer ganzen Hingabe gehören. die ſittliche Kraft, die ein ganzes großes, reiches und gutes Leben aufbauen ſoll. 30 Sollen die Frauen den politiſchen Parteien beitreten? („Die Frau“, Sept. 1909.) Seit Inkrafttreten des Reichsvereinsgeſetzes wird dieſe Frage in einem immer größeren Kreiſe von Frauen dringend. Nachdem die linksſtehenden Parteien mit der Heranziehung der Frau zur Mit⸗ arbeit begonnen hatten, kommen jetzt nach und nach auch die National⸗ liberalen mit den gleichen Wünſchen. Im Winter dieſes Jahres hatte die konſervative Partei eine Reihe von aufklärenden Vorträgen über politiſche Fragen für Frauen veranſtaltet, und auch der Deutſche Frauenbund, wie ſich eine kürzlich entſtandene, dem Neichsverband zur Bekämpfung der Sozialdemokratie verwandte Organiſation nennt, verfolgt die Tendenz, die Frauen zu politiſcher Mitarbeit heranzu⸗ ziehen. Und nun erhebt ſich für die organiſierte Frauenbewegung die Frage, wie ſie ſich zu dieſem Werben zu ſtellen hat. Und dieſe Frage umfaßt eigentlich zweierlei ganz verſchiedene Unterfragen, nämlich die eine: Wie haben ſich die Organiſationen der Frauen, die Vereine und Verbände der Frauenbewegung politiſch zu ſtellen? Und die zweite: Wie hat ſich die einzelne Frau, die ſolchen Vereinen oder Ver⸗ bänden angehört, den politiſchen Parteien gegenüber zu verhalten? Was die erſte Frage anlangt, ſo iſt die Antwort ziemlich klar. Die Frauenbewegung muß politiſch neutral ſein; Vereine und Ver⸗ bände, die ſich zur ſpezifiſchen Förderung von Frauenintereſſen zu⸗ ſammengeſchloſſen haben, dürfen ſich als ſolche politiſch nicht feſtlegen, damit ſie nach wie vor Frauen aller Richtungen zuſammenfaſſen können. Nun iſt allerdings dieſes Prinzip, ſo unzweifelhaft richtig es theoretiſch ſein mag, praktiſch gar nicht ſo ſehr leicht durchzuführen. Politiſche Neutralität in vollem Umfange zu wahren, iſt in dem Augenblick ſchwierig, wo ſich die Frauenbewegung mit beſtimmten Forderungen an die Volksvertretung wendet. Liegt doch die Sache im ganzen ſo, daß die Frauenbewegung für einen Teil ihrer Forde⸗ rungen eben nur die linksſtehenden Parteien gewinnen kann. Was iſt daher natürlicher, als daß ſie ſich der Unterſtützung dieſer Par⸗ Frauen und politiſche Parteien. 31 teien verſichert? Und ſelbſt wenn ſie nicht durch ihre Organiſation in direkte Verbindung mit den liberalen Parteien tritt, ſo wird doch allein die Tatſache, daß etwa liberale Abgeordnete für dieſe oder jene Frauenforderung gegenüber von Konſervativen oder Zentrum eintreten, ſehr leicht im weiteren Publikum den Eindruck einer Bun⸗ desbrüderſchaft zwiſchen der Frauenbewegung und den linksſtehenden Parteien erwecken. Man wird dann nicht hindern können, daß Frauen, die ihrer politiſchen Geſinnung nach rechts ſtehen, ſich ſchwer zum An⸗ ſchluß an die Frauenbewegung entſchließen, weil ſie den Eindruck haben, dadurch in Konflikte mit ihren politiſchen Anſichten zu kommen. Überdies wird dieſe Notwendigkeit, in praktiſchen Fällen ſich für ein⸗ zelne. Forderungen der Volksvertretung gegenüber die Unterſtützung da zu ſichern, wo ſie eben zu haben iſt, unter beſonderen Verhältniſſen zu einer ziemlich engen Kampfesgemeinſchaft zwiſchen Frauenbewegung und Liberalismus führen. Wo z. B., wie in Bayern, die politiſche Macht in Zentrum auf der einen Seite, Liberalismus und Sozial⸗ demokratie auf der anderen zerfällt, wird die unabhängige Frauen⸗ bewegung naturgemäß ſich zum Liberalismus hingedrängt ſehen, um ſo mehr, als das Zentrum im katholiſchen Frauenbund das Organ hat, das ihm die Wünſche und Forderungen der Frauen, ſoweit ſie dort überhaupt Ausſicht auf Berückſichtigung haben, übermittelt. Alſo trotzdem theoretiſch die Neutralität der organiſierten Frauenbewe⸗ gung aufrechterhalten wird, wird ſie ſich praktiſch im politiſchen Kampfe oft genug Seite an Seite mit dem Liberalismus befinden, ganz einfach deshalb, weil ſie in ihm die einzige bürgerliche Partei findet, die, innerhalb gewiſſer Grenzen wenigſtens, für ihr Pro⸗ gramm eintritt. Eine andere Frage iſt dabei noch zu erörtern, nämlich die, ob die Frauenbewegung, indem ſie ihre Forderungen formuliert, das zu⸗ gleich in einer Form tun ſoll, die einen gewiſſen politiſchen Stand⸗ punkt einſchließt. Iſt es zum Beiſpiel richtig, wenn die Forderung wird, in der Form, wie das der deutſche Verband für Frauenſtimm⸗ recht tut? Bekanntlich nimmt der Weltbund für Frauenſtimmrecht — meiner Anſicht nach ganz konſequenterweiſe — eine andere Stellung ein. Er ſieht ſeine Aufgabe nicht in einer allgemeinen De⸗ Frauen und politiſche Parteien. 32 mokratiſierung des Wahlrechts, ſondern lediglich darin, daß die Frau in dem Sinne wie der Mann als Staatsbürger betrachtet wird und infolgedeſſen an den dem Manne zugeſtandenen Rechten uneinge⸗ ſchränkt teilnimmt. Iſt dieſes Recht ein Zenſuswahlrecht, ſo wird es eben auch in dieſer Form für die Frauen gefordert. Es iſt klar, daß nur dieſer Standpunkt eine wirkliche Neutralität der Frauenbewe⸗ gung ſichert. Sobald die Forderung des Frauenſtimmrechts verbunden wird mit der des allgemeinen Wahlrechts, ſehen ſich konſervative Frauen vom Anſchluß an die Frauenſtimmrechtsbewegung ausge⸗ ſchloſſen. Es wird dann eine ausgeſprochen liberale Frauenſtimm⸗ rechtsbewegung. Andererſeits iſt freilich auch zu bedenken, daß das eigentliche Fundament des Frauenſtimmrechts in den Gedanken der liberalen Weltanſchauung und Staatsauffaſſung von der ſelbſtändi⸗ gen politiſchen Perſönlichkeit ruht, daß ſich aus dem konſervativen Programm und aus dem konſervativen Staatsgedanken das Frauen⸗ ſtimmrecht überhaupt nur ſehr ſchwer ableiten läßt. Schon allein mit der konſervativen Auffaſſung von der Familie läßt ſich die poli⸗ tiſche Selbſtändigkeit der Frau kaum vereinigen. Es kann eigentlich nur mit den Gründen geſtützt und aus der Auffaſſung des Staats⸗ lebens abgeleitet werden, die auch der Forderung des allgemeinen Wahlrechts zugrunde liegen. Es liegt im allerletzten Grunde eine leiſe Inkonſequenz darin, für das Frauenſtimmrecht einzutreten und zu⸗ gleich Gegner des allgemeinen Wahlrechts zu ſein. Aber die Menſchen ſind eben inkonſequent. Es iſt gar nicht undenkbar, daß eine Grundbeſitzersfrau dem Frauenſtimmrecht zuſtimmt. Iſt doch ihre Ar⸗ beitsſphäre der des Mannes ſo ähnlich, ihre Stellung oft ſo ſelbſtän⸗ dig, und mit ſo viel — man könnte ſagen: öffentlicher Autorität um⸗ kleidet, daß ihr der Gedanke einer bürgerlichen Verantwortung von Natur näherliegen könnte als der Städterin. Sie wird aber trotz⸗ dem in den politiſchen Überzeugungen ihres Intereſſen⸗ und Lebens⸗ kreiſes bleiben. Wenn daher ohne Zweifel eine gewiſſe Logik darin liegt, daß man das Frauenſtimmrecht nur in der Form des allgemeinen Wahlrechts erſtrebt, ſo iſt es doch vielleicht politiſch und taktiſch nicht richtig. Gerade weil bei uns in Deutſchland die Frauenſtimmrechts⸗ bewegung noch ſo unpopulär iſt, ſollte man alles vermeiden, was die Frauen und politiſche Parteien. 33 Zuführung von Streitkräften hemmt und Spaltungen in die Bewe⸗ gung hineinzubringen geeignet iſt. Iſt alſo für die Vereine und Verbände der Frauenbewegung politiſche Neutralität das unbedingt Gebotene, ſo fragt es ſich nun, ob ſich auch die in dieſen Vereinen organiſierten Frauen als ein⸗ zelne politiſch neutral halten und keiner Partei anſchließen ſollen. Man kann die Frage unter einem prinzipiellen und unter einem praktiſchen Geſichtspunkte betrachten. Der prinzipielle wäre durch die Erwägung gegeben, ob es richtig iſt, ſich einer politiſchen Partei an⸗ zuſchließen, die die Frauenforderungen nicht in vollem Umfang zu vertreten geſonnen iſt. Wenn man in ſeiner politiſchen Partei zu⸗ gleich eine volle Vertretung des Programms der Frauenbewegung ſucht, ſo bliebe eben nur die Sozialdemokratie, und für die ſozialdemo⸗ kratiſchen Frauen beſteht daher die Diſſonanz zwiſchen ihrer poli⸗ tiſchen Meinung und ihren frauenrechtleriſchen Überzeugungen nicht. Unter den bürgerlichen Parteien aber findet ſich — außer der jungen demokratiſchen Vereinigung — keine, die das ganze Programm der Frauenbewegung als Aktionsprogramm aufzunehmen geneigt iſt. Man könnte deshalb von einem extremen frauenrechtleriſchen Stand⸗ punkt aus ſagen, man dürfe auch als Privatperſon dieſe Parteien, die ſich der Frauenforderungen nicht in vollem Umfang annehmen, nicht durch Mitgliedſchaft unterſtützen. Ein anderer Geſichtspunkt iſt der praktiſche. Man könnte ſich nämlich ſagen, die Frauenbewegung als ſolche bedarf noch ſo vieler Kräfte, einer ſo energiſchen An⸗ ſpannung ihrer Leiſtungen und einer ſolchen Geſchloſſenheit ihrer Machtentfaltung, daß es unter allen Umſtänden richtig iſt, ſeine Kraft zunächſt hier zu konzentrieren. Die politiſchen Parteien ſind bis jetzt ohne die Frauen fertig geworden und werden auch weiterhin ihre Arbeit ohne ſie tun können. Solange ſie doch nicht für die Frauen arbeiten, ſollten die Frauen ihren Zielen keine Kräfte ent⸗ ziehen, um für die Parteien zu arbeiten. Alſo tun die Frauen gut, ſich den politiſchen Parteien fernzuhalten. Mir ſcheinen dieſe Schlußfolgerungen, ſowohl vom theoretiſchen, wie vom praktiſchen Standpunkt, unrichtig zu ſein. Wenn ich mich einer politiſchen Partei anſchließe, ſo kann ich unmöglich erwarten, daß alle meine Überzeugungen, meine Wünſche und Anſichten reſtlos Lange, Kampfzeiten. II. 3 Frauen und politiſche Parteien. 34 in ihr aufgehen. Wenn man das verlangen wollte, ſo würde die Zahl der politiſchen Parteien ins ungeheure gehen und trotzdem würden noch viele Menſchen draußen bleiben müſſen, weil es keine Partei gibt, die alle ihre Wünſche in ganzem Umfange vertreten kann. Genau ſo aber geht es mit den ſpezifiſchen Frauenforderungen. So⸗ lange man anerkennt, daß es im politiſchen Leben noch andere er⸗ ſtrebenswerte Ziele und wichtige Aufgaben gibt als die der Frauen⸗ bewegung, und wenn man nicht etwa die naive Überzeugung hat, von dem Punkte der Frauenrechte aus alles Weh und Ach der Welt kurieren zu können, kann man ſeine Zugehörigkeit zu einer Partei nicht von ihrer Stellung zu den Frauenforderungen abhängig machen. Es liegt auch keine Logik darin, ſich deshalb von der Mitarbeit für allgemeine politiſche Ziele, die einem am Herzen liegen, auszuſchließen, weil die Leute, die ſie auch erſtreben, anderer Meinung bezüglich ge⸗ wiſſer Frauenforderungen ſind, oder es noch nicht für opportun hal⸗ ten, ſie auf ihr Programm zu ſetzen. Man iſt eben doch nicht nur Frauenrechtlerin, ſondern auch Bürgerin; warum ſoll man die Bür⸗ gerin nach wie vor zum Schweigen und zur Tatenloſigkeit verdammen? Was den praktiſchen Geſichtspunkt anlangt, ſo iſt allerdings zuzu⸗ geben, daß, zumal für die Führerinnen in den lokalen Vereinen oder nationalen Verbänden der Frauenbewegung, eine Kräftezer⸗ ſplitterung durch den Anſchluß an die Parteien herbeigeführt werden kann. Aber ſehr viel größer als der Verluſt, der dadurch für die Frauenbewegung entſteht, ſcheint doch der Gewinn, der darin liegt, daß in den Parteien nicht nur ein ſehr wichtiges Wirkensfeld für die Propaganda iſt, ſondern daß doch auch nur in gemeinſamer Arbeit das Vertrauen der Männer zu dem politiſchen Können der Frauen erwachen und wachſen kann. Hier iſt eine Möglichkeit ſchon gegeben zu jener kameradſchaftlichen gemeinſamen Arbeit, die, in vollem Um⸗ fang durchgeführt, das Ziel der Frauenbewegung iſt. Warum ſoll ſie nicht benutzt werden? Es wirkt auch nicht gerade beſonders propa⸗ gandiſtiſch, wenn die Frauen, nachdem ſie erſt gegen das Vereinsrecht Sturm gelaufen ſind, nun — und zwar zum Teil, weil ſie in der Frauenbewegung ſtehen — von der Freiheit zu politiſcher Mitarbeit ſo wenig Gebrauch machen, daß die weiblichen Mitglieder in den Parteien noch nach wenigen zählen. Reaktion im Liberalismus. 35 Schwerer wiegt ein anderer taktiſcher Grund — nämlich die Mög⸗ lichkeit, daß im Publikum Verwirrung darüber entſteht, was irgend⸗ eine in der Frauenbewegung bekannte Frau als Perſon, und was ſie als Vertreterin ihres Frauenvereins tut. Ich habe einmal in einer politiſchen Zeitung die merkwürdige Schlußfolgerung gefun⸗ den: Die Vorſitzende des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins ge⸗ hört der freiſinnigen Vereinigung an, alſo tritt der Allgemeine Deutſche Frauenverein für die Einführung des Reichtstagswahlrechts in Preußen ein. Ich würde ſolche Mißdeutungen gar nicht für möglich gehalten haben, wenn ich ſie hier nicht ſchwarz auf weiß geſehen und ſpäter auch noch gelegentlich erlebt hätte, daß man Vereinsvorſitzen⸗ den eine perſönliche politiſche Stellung um des Vereins willen verdacht hat. Um der Möglichkeit ſolcher Mißverſtändniſſe willen ſeinen An⸗ ſchluß an die Parteien unterlaſſen, ſcheint mir aber ganz falſch zu ſein. Hier müſſen eben die Frauen lernen, formale Unterſchiede zu machen und die vollkommene politiſche Neutralität der Frauenbewe⸗ gung darin zu betätigen, daß ſie innerhalb ihrer Vereine jeder und auch ihren Vorſitzenden volle Freiheit der politiſchen Überzeugungen zugeſtehen. Je ſchärfer dieſe Freiheit betont und je reger ſie ausgenutzt wird, um ſo deutlicher tritt die politiſche Neutralität der Frauen⸗ bewegung als ſolcher zutage. Reaktion im Liberalismus. („Die Frau“, Februar 1910.) Wenn Machthaber ſich ſtreiten und wenn Machthaber ſich eini⸗ gen, müſſen immer die Machtloſen, die contribuens plebs, die Zeche bezahlen. Und wenn es noch eines Beweiſes bedürfte, daß Frauen in deutſchen Landen ſtaatsbürgerlich immer noch nur als contribuens plebs gewertet werden, ſo hätte ihn der Frauenparagraph im Eini⸗ gungsprogramm der freiſinnigen Parteien geliefert. Viel freilich boten ja die Kundgebungen dieſer Parteien auch bis jetzt noch nicht. Der Liberalismus und die Frauenbewegung hatten 3* Reaktion im Liberalismus. 36 ſich, wenn man nach den Programmen gehen will, noch nicht ſo recht gefunden. Die freiſinnige Volkspartei hat ſeit 1894 ſich offiziell zur Frauenfrage nicht mehr geäußert, und damals beſchränkte ſie ſich darauf, zu fordern, daß das Erwerbsgebiet für das weibliche Geſchlecht erweitert werden ſolle, „jedoch ohne Beeinträchtigung des wichtigſten Berufes der Frau als Hausfrau und Mutter.“ Das war nun inſofern eine etwas gedankenloſe Theſe, als nicht eine Reſolution, ſondern. die fortſchreitende wirtſchaftliche Entwicklung über die Beeinträchti⸗ gung des „wichtigſten Berufes“ der Frau entſcheidet. Ebenſowenig hat ſich die Deutſche Volkspartei bisher um die Frauen anders als im Zuſammenhang der ſozialen Geſetzgebung gekümmert. Daß die „Freiſinnige Vereinigung“ mit bezug auf die Frauenfrage die trei⸗ bende Kraft der Linksliberalen war, zeigte ſich ſchon in dem ſoge⸗ nannten Frankfurter Mindeſtprogramm, das „Erweiterung der Rechte der Frauen, insbeſondere Gleichſtellung mit den Männern für das Gebiet der geſamten ſozialen Geſetzgebung und Mitwirkung der Frauen in der Kommunalverwaltung“ forderte. Einzelne bundesſtaatliche Sondervertretungen dieſer Gruppe, zum Beiſpiel die badiſchen Nationalſozialen, gingen ſchon früher bis zu der Forderung der vollen politiſchen Gleichberechtigung der Frauen, und der Frankfurter Delegiertentag der Freiſinnigen Vereinigung von 1907 brachte eine volle zuſammenfaſſende Anerkennung der ge⸗ ſamten Ziele der Frauenbewegung von der Reform der Schule bis zum aktiven und paſſiven Wahlrecht. Nun ſtehen wir vor der Gründung einer großen neuen liberalen Partei, ein Ereignis, von dem eine Wiedergeburt des Liberalismus erwartet werden muß, das eine neue Epoche ſchwungvoller Entwicklung des liberalen Gedankens begründen ſoll. Was ſtellt das Programm, mit dem der Liberalismus in dieſe ſeine neue Phaſe eintritt, den Frauen in Ausſicht? Nichts — oder doch ſo gut wie nichts. Ein paar magere Sätze am Schluß einer langen Reihe gewichtiger und vollklingender Forde⸗ rungen. Hinterher kommt nur noch der Weltfriede. Aber der Frauen⸗ paragraph bedurfte der abſchwächenden Nähe dieſes utopiſchen Aus⸗ blicks auf ferne, ganz ferne Zukunft gar nicht mehr. Er iſt ſchon an ſich blaß, unbeſtimmt und redensartlich genug. „Erweiterung der Reaktion im Liberalismus. 37 Rechte der Frauen und ihres Erwerbsgebietes, Erleichterung der Frauenbildung und Reformen im ſtaatlichen Berechtigungsweſen zu⸗ gunſten der Frauen. Verſtärkte Mitwirkung der Frauen auf dem Gebiet der ſozialen Fürſorge und des Bildungsweſens. Heranziehung der Frauen zur Kommunalverwaltung.“ Nun, die Durchführung dieſes Paragraphen wird den Liberalis⸗ mus nicht in Unkoſten ſtürzen. Der konſervativſte Konſervative könnte ſich anheiſchig machen, im Sinne dieſer „Forderungen“ zu handeln. Wenn er eine Frau in das Kuratorium einer Haushaltungsſchule wählt, ſo erweitert er die Rechte der Frauen, wenn er mehr Land⸗ arbeiterinnen beſchäftigt, ihr Erwerbsgebiet; die Frauenbildung zu erleichtern, braucht er nur für das nächſte Mädchenſchulbudget zu ſtimmen. Jede Gemeindediakoniſſin repräſentiert die „Mitwirkung der Frauen in der ſozialen Fürſorge“, und ſeit die Heranziehung von Waiſenpflegerinnen vom Miniſterium des Innern ſelbſt empfohlen iſt, iſt ja auch die Beteiligung der Frau an der Kommunalverwal⸗ tung durchaus ſalonfähig. Was könnte und müßte aber der Liberalismus den Frauen ge⸗ währen? Es läßt ſich mit einem Satz ſagen: die volle Anerkennung ihrer ſtaatsbürgerlichen Perſönlichkeit. Das Einigungsprogramm des Liberalismus ſetzt die Frauen im eigentlichſten Sinne des Wortes wieder in das „Segment“, denn die allgemeine grundſätzliche Ein⸗ leitung, unter welche die einzelnen Forderungen ſubſummiert werden, bezieht ſich ausdrücklich nur auf Männer. Die Frauen haben hinter die vollklingenden Sätze von der „gleichberechtigten Mitwirkung aller Staatsbürger in Geſetzgebung, Verwaltung und Rechtſprechung“ und ähnliche immer in Parentheſe zu ſetzen „mit Ausnahme der Frauen.“ Durch dieſe Parentheſe verliert für ſie das liberale Programm ein⸗ fach ſeinen liberalen Charakter. Iſt dieſe Abſpeiſung der Frauen als ein Ultimatum zu betrach⸗ ten? Noch haben die Parteitage zu dem Einigungsprogramm nicht das letzte Wort geſprochen. Und es ſcheint ſich unter den National⸗ ſozialen und in der Freiſinnigen Vereinigung hier und da ein Proteſt gegen die ängſtliche Ärmlichkeit des Frauenparagraphen zu regen. Der Führer der ſüddeutſchen Volkspartei hat ſich freilich ſolchen Proteſten gegenüber auf ſeine Jahre zurückgezogen und die Frauen an die „jün⸗ Reaktion im Liberalismus. 38 geren Herren“ verwieſen. Dann ſollte er nur auch ſeinerſeits den „jüngeren Herren“ die Faſſung des Frauenparagraphen überlaſſen. Es dürfte keine andere Faſſung dafür geben als die unter dem Vor⸗ ſitz von Karl Schrader gefaßte Frankfurter Reſolution der Freiſinni⸗ gen Vereinigung, die in dem Satz gipfelt: „Grundſätzliche Aner⸗ kennung der politiſchen Gleichberechtigung der Frauen insbeſondere in bezug auf das aktive und paſſive Wahlrecht in Reich, Staat und Gemeinde.“ Und nun — was tun? Sollen die Frauen, die der weitergehenden Partei, der Freiſinnigen Vereinigung, angehören, ihr den Rücken wenden, weil ſie die Frauen im Stich gelaſſen hat? Sollen ſie weiter links gehen, wo ihre Überzeugungen im übrigen nicht liegen, wo man aber für ihre Rechte mit Entſchiedenheit eintritt? Es erſcheint mir fraglos, daß viele das tun werden. Man hat die ewige Lauheit ſatt, mit der ſich der Freiſinn — in dieſem Punkte entſchieden kein Freiſinn — nur auf energiſches Drängen der Frauen für ſie einſetzt, um ſie bei erſter Gelegenheit wieder im Stich zu laſſen. Und mögen der neuen „Deutſchen freiſinnigen Volkspartei“ auch einige Frauen treu bleiben — deshalb, weil ſie ja nicht nur Frauen, ſondern auch Staatsbürgerinnen ſind —, ſeine werbende Kraft für die Maſſe der Frauen wird der Freiſinn nach der Fuſion eingebüßt haben. Nachwort: Dieſer Artikel ſtand bereits im Satz, als die Tages⸗ preſſe unter anderen Mitteilungen aus den Sitzungen des Geſamtvor⸗ ſtandes der Freiſinnigen Vereinigung auch die folgende brachte: „Bei der Beſprechung des Punktes 8 (Frauenfrage) brachten die Vorſtands⸗ mitglieder Fräulein Dr. Bäumer und Fräulein Zietz im Intereſſe ſowohl der aufſtrebenden Frauenbewegung wie des Liberalismus eine Reihe von Abänderungswünſchen vor, die nach eingehender De⸗ batte vom Geſamtvorſtand unterſtützt und dem Viererausſchuß zur Berückſichtigung überwieſen wurden.“ Es iſt erfreulich, daß der Vor⸗ ſtand der Freiſinnigen Vereinigung ſeinen früheren Beſchlüſſen ent⸗ ſprechend für die Frauen eintritt; wie weit er damit beim Viereraus⸗ ſchuß Erfolg hat, wird abzuwarten ſein. Frauenſtimmrecht und Liberalismus. 39 Zum Abſchluß dieſes Aufſatzes füge ich hinzu, daß auf dem Partei⸗ tag der Fortſchrittlichen Volkspartei in Mannheim im Oktober 1912 die nachfolgende Reſolution angenommen wurde (ſ. „Die Frau“, No⸗ vember 1912: „Gotha und Mannheim“ von Gertrud Bäumer): „Die wirtſchaftliche und ſoziale Entwicklung hat die Zahl der be⸗ rufstätigen Frauen außerordentlich vermehrt. Dieſe Entwicklung, die ſich zweifellos fortſetzt, und die wachſende Teilnahme von Frauen aller Schichten am öffentlichen Leben führt nach der Anſchauung weiter Parteikreiſe mit innerer Notwendigkeit zur politiſchen Gleichberechti⸗ gung der Frau. Der Parteitag fordert deshalb die Parteigenoſſen auf, die Frauen im Kampf um ihre politiſchen Rechte bis zur vollen ſtaatsbürgerlichen Gleichberechtigung zu unterſtützen.“ In dem gleichen Heft der „Frau“ findet ſich ein Aufſatz von mir: „Der Zuſammenſchluß der nationalliberalen Frauen,“ der aber im weſentlichen nicht eigene Ausführungen, ſondern ein eingehendes Re⸗ ferat von Frau Adelheid Steinmann über den Stand der Angelegenheit bringt. Die Tatſache aber, daß ein warmes Begrü⸗ hungstelegramm ſeitens der Frauen der Fortſchrittlichen Volkspartei an die nationalliberalen Frauen geſandt wurde, ſowie mein Schluß⸗ wort zu dem Aufſatz möchte ich erwähnen: „So iſt die Arbeit dort unter den beſten Auſpizien begonnen, die nahen Beziehungen, die durch die Frauenbewegung die Frauen der beiden liberalen Parteien verbinden, werden nur dazu beitragen, den Gedanken der Gemeinſamkeit der liberalen Intereſſen auch bei etwas abweichender Parteifärbung unter den weiblichen Mitgliedern beider Parteien zu befeſtigen.“ H. L. 1928. Das Frauenſtimmrecht und der Liberalismus. („Die Frau“, Sept. 1910.) Ein Führer der neuen Fortſchrittlichen Volkspartei, Herr Dr. Pachnicke, hat es für notwendig gehalten, den Frauen ſeiner Partei angeſichts der von ihnen geplanten Frankfurter Konferenz eine väterliche Ermahnung zu erteilen. In der Voſſiſchen Zeitung vom 7. Auguſt hat er in einer Weiſe, als wenn er die Meinung „der Partei“ ausſpräche, ſeine Bedenken gegen das Frauenſtimmrecht zu Papier gebracht. Frauenſtimmrecht und Liberalismus. 40 Wenn man perſönlich der Fortſchrittlichen Volkspartei angehört, ſo liegt es einem zunächſt einmal nahe, dieſen Aufſatz als ein Doku⸗ ment des Liberalismus zu betrachten, d. h. auf ſeine prinzipielle Seite hin. Und da iſt ganz einfach zu ſagen: wenn Herr Dr. Pach⸗ nicke wirklich im Namen des Parteivorſtandes oder als Typus der Parteigeſinnung ſpräche, dann müßte man ſich als liberaler Menſch beſinnen, ob man wirklich mit dieſer Partei innerlich irgend etwas gemein hat, und ob es lohnt, für die Verbreitung dieſes verwaſchenen, ſchwungloſen politiſchen Spießbürgertums auch nur einen Finger zu rühren. Ich ſage das zunächſt rein prinzipiell — ganz ohne Rückſicht auf den beſonderen Gegenſtand des Frauenſtimmrechts, der in dieſem Fall in das trübe und kümmerliche Licht dieſer politiſchen Geſinnungen getaucht wird —, ſage es rein mit bezug auf den Kern von Welt⸗ anſchauung und politiſcher Überzeugung, der in dieſem Dokument zu⸗ tage tritt. Das iſt der deutſche Liberalismus: er ſagt im erſten Satz eines Abſchnittes „Gleichheit vor dem Geſetz iſt ein Verlangen, das im Weſen des Liberalismus liegt“, und im letzten „Das Lebens⸗ element des Staates iſt die Macht. Die aber ſtützt nur der Mann. Darum iſt der Anſpruch des Mannes auf das Recht am Staat ein größerer.“ Das iſt wundervoll konſequent, beſonders wenn man mit Herrn Pachnicke Macht und Wehrhaftigkeit gleichſetzt und ſagt, die Leiſtung der Frau dem Staat gegenüber ſei wegen ihrer mangelnden Wehrhaftigkeit geringer als die des Mannes, darum dürften auch ihre Rechte geringer ſein. Nämlich dann müßte das „liberale“ Ideal des Wahlrechts eines ſein, das das „größte Recht am Staat“ dem ſtehen⸗ den Heer und doppelt und dreifach dem Offizierkorps in aufſteigen⸗ den Graden gewährte. Und dann würde der Liberalismus vollkommen im Unrecht ſein, wenn er die politiſche Macht des Junkertums be⸗ kämpfte, das ja zweifellos durch ſeine militäriſchen Leiſtungen am „Lebenselement“ des Staates den ſtärkſten Anteil hat. Mit dieſem Argument glaubt Herr Dr. Pachnicke die prinzipielle Seite der Sache erledigt zu haben — ein Beweis, wieviel das liberale Prinzip ihm wert iſt. Wo ſteht im liberalen Programm, daß die Rechte im Staat nach der Leiſtung abgeſtuft werden ſollen? Daß ſie abgeſtuft werden ſollen, je nachdem dieſe Leiſtung Frauenſtimmrecht und Liberalismus. 41 dem Zentrum der eigentlichen Staatstätigkeit näher oder ferner liegt (denn das iſt doch der Maßſtab, den Dr. Pach⸗ nicke anlegt, wenn er meint, die Frau, die die Volksernährung leitet, die Kinder erzieht uſw. — ganz abgeſehen von der berufstätigen Frau — leiſte dem Staat gegenüber weniger). Niemals könnte man mit einem ſolchen Prinzip das allgemeine Wahlrecht ſtützen. Gründet der Liberalismus ſeine Forderung des allgemeinen Wahlrechts über⸗ haupt auf ein Prinzip und nicht auf ein bloßes, aus Wohlwollen, bourgeoismäßig pflichtſchuldiger Fortſchrittlichkeit und egoiſtiſchen Intereſſen gemiſchtes Gefühlsmoment, das im gegebenen Moment virtuos und mühelos ausgeſchaltet wird, ſo läßt ſich mit dem Prin⸗ zip gegen das Frauenſtimmrecht nichts ausrichten. Man müßte ſich dann ſchon auf Opportunitätsgründe verlaſſen. Dieſe nehmen nun bei Herrn Dr. Pachnicke auch weitaus den größten Raum ein. Im Grunde warnt Herr Pachnicke den Liberalis⸗ mus vor dem Frauenſtimmrecht, weil es ihm ſchaden könnte. Soweit es nicht ſchadet, will ja der liberale Mann den Frauen gern ent⸗ gegenkommen. Er will ja — darauf tut er ſich etwas zugute! — nicht wie Herr Möbius vom Schwachſinn des Weibes reden, er will auch nicht einmal — gerecht und edel wie er iſt — Schopenhauers Frauenverachtung teilen; er will zugeſtehen, „daß ſich Talente auch in der weiblichen Linie finden und vererben,“ er iſt ſo liberal, daß er dieſe Tatſache nicht einmal zu leugnen verſucht, was doch nahe⸗ liegend und ſein gutes Recht wäre. Und ſelbſt damit erſchöpft ſich der Eifer des liberalen Mannes für die Frau noch nicht. Er will ſogar „alles für die Frauen tun, was dieſe fördert und geiſtig hebt, ihnen den Zugang zu Berufen erleichtern, denen ſie nach ihrer Eigenart gewachſen ſind“ (was zu entſcheiden er ſich natürlich vorbehalten muß!). Er will — man ſtaune über ſeinen Opfermut und ſeine libe⸗ rale Freudigkeit! — mit ſeiner ſtarken Manneshand „die letzten Schranken wegräumen, die ihrem wiſſenſchaftlichen Studium noch ent⸗ gegenſtehen“ (was eine bare Phraſe iſt, da es ſich höchſtens noch um das Ausſchlußrecht der Dozenten handelt, und jeder weiß, daß dies eine bloße Perſonenfrage iſt), er will den Frauen die Kunſtakademien von Berlin und Düſſeldorf öffnen, der ſteuerzahlenden Frau „ent⸗ gegenkommen“, (wie weit, behält er ſich wiederum vor!) er will „die Frauenſtimmrecht und Liberalismus. 42 Berufenen“ (die er auserwählt!) unter ihnen nicht nur an der Wai⸗ ſen⸗ und Armen⸗, ſondern (Triumph der liberalen Geſinnung!) ſogar an der Schulverwaltung beteiligen — „gebührend“, fügt Herr Doktor Pachnicke als vorſichtiger Mann hinzu. Er will überhaupt — ſo krönt er ſein ſtolzes Werk — „alles unterſtützen, was geeignet iſt, Freude am Lernen, Luſt und Vertrauen zu eigener Tätigkeit zu wecken, Lebens⸗ kraft und Lebensmut zu ſtärken.“ Wobei unſererſeits zu ſagen wäre, daß ein ſolcher Liberalismus uns ſelbſt der Unterſtützung ſeiner Luſt und ſeines Vertrauens, ſeiner Lebenskraft und ſeines Lebensmutes zu ſehr benötigt erſcheint, als daß wir aus dieſem dürftigen Born uns auch noch zu tränken wagten. Wohl uns, daß wir das nicht nötig haben. „Vielleicht iſt ſpäter ein Entgegenkommen möglich,“ ſagt Herr Pachnicke zum Schluß. Auch hier der Mann der bürgerlichen Vorſicht. Man kann ja nicht wiſſen. Das Frauenſtimmrecht könnte ja auch ein⸗ mal populär werden, es könnten ſich vielleicht einmal Geſchäfte dämit machen laſſen. Dann wird der Augenblick gekommen ſein, wo auch der Liberalismus der Stimme ſeines für Gerechtigkeit ſchlagenden Herzens folgen wird. Dann wird es Zeit ſein, auf die goldenen Lettern ſeines Programms von der gleichberechtigten Mitwirkung aller Staatsbürger in Geſetzgebung, Verwaltung und Rechtſprechung ſtolz den Finger zu legen, als auf ein Zeichen, in dem auch die Frauen ſiegen werden. Dann wird aber vermutlich die Frauenbewegung den Liberalis⸗ mus nicht mehr nötig haben! Herr Pachnicke entläßt uns, indem er uns ſozuſagen väterlich auf die Schulter klopft: „Die Beſonnenen unter den Frauen werden das ja einſehen.“ Sie werden von einem Mann, der ja doch augenſchein⸗ lich in bedrängten Umſtänden iſt, nichts Unmögliches verlangen. Und dieſer bieder zuredenden Geberde fügt er noch die pathetiſch ermah⸗ nende einer freudigen Zuverſicht hinzu: „Keine aber, auch die ſtimm⸗ freudigſte nicht, wird deshalb, weil wir ihr in einem Punkt nicht den Willen tun, die Arbeit für alle übrigen Aufgaben des Liberalismus einſtellen.“ Zu dieſer gemütlichen Zumutung wäre noch einmal zu ſagen, was ſchon im Anfang geſagt wurde: Wenn der Liberalismus auch Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 43 „im übrigen“ ſo ausſieht wie dieſer Aufſatz, dann brauchten die Frauen wahrlich eine nochmalige offizielle Ablehnung ihrer Forde⸗ rungen gar nicht abzuwarten, um mit dem beſten Gewiſſen der Welt die Arbeit für ihn einzuſtellen. Einen Liberalismus, der prinzipiell ſo opportuniſtiſch iſt, daß er ſeine Grundſätze um ſeiner Erfolge willen preisgibt, der einer der größten ſozialen Bewegungen der Gegenwart, einer geiſtesverwandten Bewegung noch dazu, nicht anders gegenüber⸗ ſteht, als mit dieſer krämerhaften Angſt, es könnte etwas von ihm verlangt werden, den haben wir weder als Frauen noch als Staats⸗ bürger irgendwelche Veranlaſſung zu ſtärken. Und wenn die Frauen in dem Konflikt, der ihnen vielleicht bevorſteht, dem Liberalismus treu bleiben, ſo geſchieht es ſicher nicht, um der Unterſtützung ihres „Lebensmutes und ihrer Lebenskraft“ durch Herrn Pachnicke nicht verluſtig zu gehen, ſondern um diejenigen Kräfte des Liberalismus zu ſtärken, auf denen in Wahrheit ſein Vertrauen, ſein Mut und ſeine Zukunft beruht. Die berufstätige Frau und ihre Ritter. („Die Frau“, April 1910. Gekürzt.) „Der Mann iſt berufen, das Weib zu ſchützen ... Wir wollen die Frauen nicht dadurch entwerten, daß wir ihnen nur gleiche Rechte mit den Männern geben, ſondern wir wollen ſie dadurch heben, daß wir ihnen beſondere, den Männern unerreichbare Rechte geben“ — ſo variiert Ludwig Gurlitt eine von unzähligen Männerchören im Grammophon der Zeiten feſtgeſungene Melodie. Sie klingt zwar, wie das den Grammophonmelodien eigen iſt, etwas blechern, aber ſie übt immer noch ihre Wirkung — auf die Männer ſelbſt. Und zwar nicht nur eine Ge fühls wirkung. Sie führt zur Tat. Und gerade die jüngſte Zeit weiſt Beiſpiele auf, die es undankbar wäre, nicht in das genügende Licht zu ſetzen. Und Undank iſt etwas ſo Häßliches! Alſo! Da ſind zunächſt die Handlungsgehilfen. Sie fallen nun zwar manchmal in ärgerlicher Weiſe aus der Rolle, indem ſie ganz naiv Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 44 verraten, daß es im Grunde egoiſtiſche Beweggründe ſind, die ſie ver⸗ anlaſſen, die Frauen zu ſchützen. Die folgende Reſolution verrät doch allzuſehr die zwei Seelen in ihrer Bruſt: „Der 5. Handlungsgehilfentag für Heſſen und Heſſen⸗Naſſau ſtellt mit Bedauern feſt, daß die wirtſchaftliche Lage der männlichen Handlungs⸗ gehilfen in den letzten Jahren eine nennenswerte Beſſerung nicht erfahren hat, da weder die Gehälter trotz des geſunkenen Geldwertes geſtiegen ſind, noch die Stellenloſigkeit um einen Grad geringer geworden iſt. Eine der Haupturſachen dieſer Erſcheinung muß in der erheblichen Zunahme der Frauenarbeit im Handelsgewerbe erblickt werden, die bis heute jeder Regelung entbehrt. Infolgedeſſen erklärt der Handlungsgehilfentag eine Stellungnahme der Frauenarbeit gegenüber für notwendig und bekennt ſich zu folgenden Grundſätzen: a) Für die Frauenarbeit im Handelsgewerbe liegt, abgeſehen von wenigen Ausnahmen, ein Bedürfnis nicht vor. b) Ein Nutzen für die Allgemeinheit kann ihr nicht zugeſprochen werden. c) Dagegen ſind die Schäden, welche die Betätigung der Frauen im Handelsgewerbe den Frauen ſelbſt infolge der vielen geſundheitlichen, ſittlichen und ethiſchen Nachteile, den Männern durch Lohndruck und deſſen Folgen zufügt, bedeutend. d) Das Volkswohl fordert gebieteriſch eine Einſchränkung der Frauen⸗ arbeit im Handelsgewerbe, dafür Ausdehnung der Tätigkeit der Frauen in ſolchen Berufen, die der weiblichen Eigenart und Natur entſprechen. e) Obligatoriſcher kaufmänniſcher Fortbildungsunterricht für weibliche An⸗ geſtellte iſt zu verwerfen, weil er das Angebot weiblicher Arbeitskräfte im Handel ſteigert. f) Dafür ſind obligatoriſche Haushaltungs⸗ (Fortbildungs⸗) Schulen zu ſchaffen und mit allen Mitteln zu unterſtützen, um alle weiblichen Per⸗ ſonen bis zum vollendeten 18. Lebensjahre für ihren natürlichen Beruf als Frau und Mutter vorzubereiten. Dafür aber tritt „ganz und voll“ ihre Nitter⸗ und Schützertätig⸗ keit in einigen Artikeln der Deutſchen Handels⸗Wacht hervor. So in Nr. 3 (1. Februar 1910), wo ein „Armin“ unterzeichneter Han⸗ delsbefliſſener — ſolche Ritter ſollten doch nicht anonym bleiben! — die „entarteten Mannweiber“ zu ihrer Pflicht aufruft und ihnen zu⸗ gleich die beſoldeten ſozialen Ämter als auskömmliche Berufe warm empfiehlt, NB. ſoweit ſie Männern nicht liegen, oder Männern nichts an ihnen liegt. Da iſt ferner Herr Werner Heinemann, der in Nr. 5 (1. März 1910) den Mut hat, „mit ſtarker Hand in die Speichen des dahinrollenden Wagens der Frauenbewegung zu greifen“ und Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 45 dafür zu ſorgen, „daß dieſe unſere Volkskraft zerſetzende Arbeit der radikalen Frauenrechtler und Frauenrechtlerinnen gehemmt wird.“ Er will gewiß die Frauen nicht vom Berufsleben ausſchließen — gewiß nicht! Sie ſollen Krankenpflegerinnen, Friſeuſen, Kindergärt⸗ nerinnen, Blumenbinderinnen, Modiſtinnen, Direktricen, Schneide⸗ rinnen, Dienſtmädchen, Stützen, Köchinnen, Kammerzofen — es iſt ſehr unrecht, dieſe weiblichen Berufe par excellence ſo niedrig einzu⸗ ſchätzen —, Geſellſchafterinnen, Handarbeits⸗, Induſtrie⸗, Haushal⸗ tungslehrerinnen werden. Die Lehrerin ſchlechtweg wird nicht unter den Frauenberufen genannt; dazu treten die Lehrer als ihre Ritter zu ſehr in der öffentlichkeit hervor; wenn aber Herr Heine⸗ mann zum Schluß noch die Muſik⸗, Turn⸗ und Mallehrerin konzediert, ſo vergißt er, daß auch dieſe in den Muſik⸗, Turn⸗ und Mallehrern ihre Spezialritter haben, die nicht dulden können, daß die Frauen ihre Eigenart bei dieſen männlichen Berufen aufs Spiel ſetzen. Wenn ſo die Handlungsgehilfen mit dem linken Ellbogen die Konkurrenz abwehren, die ſegnende Rechte aber über Krankenpflege⸗ rinnen, Friſeuſen, Kindergärtnerinnen, Blumenbinderinnen, Mo⸗ diſtinnen, Direktricen, Schneiderinnen, Dienſtmädchen, Stützen, Köchinnen, Kammerzefen uſw. uſw. breiten und den Frauen als Säuglingspflegerinnen „den Männern unerreichbare Rechte“ ſchaffen wollen, ſo fehlt es auch den Frauen, die ſich ſchon auf dem gefähr⸗ lichen Wege zu höheren wiſſenſchaftlichen Berufen befinden, nicht an Rittern. Und hier beginnt die Sorge ſchon bei der weiblichen Jugend. „Der Vaterliebe zarte Sorgen bewachen ihren goldnen Morgen.“ Da hielt vor kurzem der Direktor einer kgl. höheren Mädchenſchule, der ſchon ſeit einem ganzen Jahre die untere Klaſſe einer Studien⸗ anſtalt leitet, alſo über ſehr reiche Erfahrungen gebietet, in der deut⸗ ſchen Geſellſchaft für öffentliche Geſundheitspflege einen Vortrag zur Frage der Überbürdung der Mädchen. Nach den unwiderſprochen ge⸗ bliebenen Preſſeberichten fragte er ſich im Hinblick auf den großen Zudrang der weiblichen Jugend zu wiſſenſchaftlichen Berufen, „ob wir wirklich noch ein geſundes Volk ſeien oder uns bereits dem Verfall näherten. Es gäbe zwar hohe kulturelle Aufgaben, an deren Löſung die Frau mitarbeiten könne, aber ſchon heute betätigten ſich viele Frauen auf Gebieten, die ihrer weiblichen Natur zu fern lägen. Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 46 Die neuen Lehrpläne hätten hauptſächlich Rückſicht auf das Erwerbs⸗ leben genommen und dadurch Überbürdung der Schülerinnen herbei⸗ geführt.“ — Es werden ſich gewiß bald weitere Leiter und Lehrer von Studienanſtalten zu den gleichen Ritterdienſten verſtehen. Wenn wir bedenken, daß den Herren das ganze große Gebiet des höheren Knabenſchulweſens offen ſtände, daß ſie ſich täglich an dem Anblick munter gedeihender, friſcher Knaben erfreuen könnten und nun ſich ſelbſt zum täglichen Anblick einer unter der Laſt der Wiſſenſchaften ſchon in der Untertertia rettungslos dahinwelkenden Mädchenſchar verurteilen, ſo kann man ihnen ihre Rolle als getreuer Eckart nicht hoch genug anrechnen. Und auch der deutſchen Geſellſchaft für öffent⸗ liche Geſundheitspflege nicht. Nicht das Nähmaſchinetreten, nicht die Hungerlöhne der Heimarbeit, nicht die Seuchen, welche die Kunden der Proſtitution der Familie ins Haus ſchleppen, werden unſer Frauengeſchlecht untergraben, ſondern die Mitarbeit an Kulturauf⸗ gaben, die der weiblichen Natur zu fern liegen, und denen die Frauen gerade die Jahre widmen, die ſie ſonſt in ſo geſunder Weiſe vertanzt und — verwartet haben. Wir ſind ein kulturſtolzes Volk. Und ein freiheitsſtolzes. Mit ſelbſtbewußter Haltung prägen wir Worte wie: die Deutſchen ſind die Kulturträger der Welt, und: deutſch ſein, heißt frei ſein. Das alles aber verſagt und verſinkt hoffnungslos, ſobald es ſich um die Frau handelt. Das ganze produktive Denken verſagt; nur die ganz mecha⸗ niſch funktionierenden alten ausgeleierten Begriffsverbindungen ſtellen ſich immer wieder ein. Wir dürfen ohne die geringſte Übertreibung ſagen, in keinem Kulturlande haben die Frauen in ihrem großen Kampf um Befreiung aus der Hörigkeit einen ſo hartnäckigen Wider⸗ ſtand gefunden wie in Deutſchland. Ich denke dabei nicht einmal in erſter Linie an die äußeren Rechte; auch anderswo hält man mit dem Inſtinkt des Beſitzenden an der bürgerlichen Entrechtung der Frau feſt. Was aber bei uns den Kampf ſo aufreibend macht, was jede denkende Frau immer aufs neue mit innerer Empörung erfüllen muß, das iſt die Anmaßung des Mannes, beſtimmen zu wollen: So ſeid ihr; das könnt ihr; das könnt ihr nicht. Dies iſt das Normale. Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 47 Und ſeid ihr anders als die von uns feſtgeſetzte Norm, ſo hat man euch das zu erſchweren, zu verwehren, zu verbieten. Jeder Philo⸗ ſophaſter, der mit den alten Formeln „produktiv und rezeptiv“ zu jonglieren vermag, glaubt ſich damit als produktiver Philoſoph und berufener Geſetzgeber für das rezeptive Femininum erwieſen zu haben. Und doch hat gerade die Einſeitigkeit, mit der er dieſe Begriffe ver⸗ wendet, ſeine Unproduktivität erwieſen. Wenn einer ſo großen An⸗ zahl von Frauen das Danaergeſchenk des Intellekts mitgegeben iſt, wie das tatſächlich doch der Fall zu ſein ſcheint, ſo hat man ebenſo⸗ wenig das Recht, von einer Abweichung von der Norm zu ſprechen als Unbegabtheit bei Männern für abnorm gelten könnte. Nur der Mann kann wiſſen und beſtimmen, was männlich iſt, was weiblich iſt, nur die Frau. Jedes Geſchlecht kann das andere nur beobachten, zu verſtehen und zu deuten ſuchen, nicht apodiktiſch ſein Weſen beſtimmen. Die Interpretationen des Mannes vom Weibe aber ſind meiſtens Normierungen, in die das mithineinſpielt, was er vom Weibe will. Selten ſieht er die Frau ganz objektiv, am wenigſten in dieſer Zeit der großen Wandlungen, die viele der ihm anerzogenen Begriffe über das Weſen der Frau über den Haufen werfen. Wir wiſſen, daß das Ende dieſes großen Kampfes die Aus⸗ dehnung der tiefſten ſeeliſchen Kräfte der Frau auf weite Gebiete des öffentlichen Lebens ſein wird, die jetzt arm ſind wie eine Familie ohne Mutter; wir laſſen uns auch nicht irremachen, wenn manche unſchöne Eigenſchaft der Frau, die bisher nur im kleinen Kreiſe ſich zeigte, nun in breiter Öffentlichkeit die Kritik herausfordert und das törichte Gerede über die „Mannweiber“ entfeſſelt. Es ſtimmen nicht alle darin mit ein. Es gibt auch feine Beobachter und Deuter, die das Kom⸗ mende ſehen. So Maeterlinck in ſeinem Frauenbildnis im „doppel⸗ ten Garten.“ Er weiß, daß die Frau von der Moral des Schlafs und des Schattens zur Moral der Tat und des Lichtes fortſchreiten muß, daß „die Tugenden der erſteren, die ſozuſagen Hohltugenden ſind, ſich erheben müſſen, ſich ausweiten und Volltugenden werden, um der zweiten Moral anzugehören. Stoff und Linien bleiben vielleicht die gleichen, aber die Werte ſind von äußerſtem Gegenſatz. Geduld, Sanft⸗ mut, Ergebenheit, Vertrauen, Entſagung und Verzichtleiſtung, Hin⸗ gabe und Aufopferung, lauter Früchte der untätigen Tugend, ſind, Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 48 ſobald man ſie in das rauhe Leben hinausbringt, nichts als Schwäche, Unterwürfigkeit, Sorgloſigkeit, Unbewußtheit, Trägheit, Selbſtvernach⸗ läſſigung, Dummheit oder Feigheit. Um die Quelle des Guten, der ſie entſtrömen, auf der nötigen Höhe zu halten, müſſen ſie erſt im⸗ ſtande ſein, ſich in Tatkraft, Feſtigkeit, Beharrlichkeit, Klugheit, Wi⸗ derſtandskraft, Unwillen und Empörung umzuſetzen.“ Er weiß wohl, daß dieſe Wandlung ſich nicht vollzieht, ohne für den Augenblick der Harmonie der Bewegungen Eintrag zu tun, die wir an der Frau gewohnt ſind und lieben. Die alten Züge ſind uns wert und ver⸗ traut. „Aber welches ungewohnte, undankbare Ausſehen haben jene anderen, die hervortreten, ſich bejahen und draußen kämpfen. .. Die Frau hat ſo lange im Schatten gekniet, daß unſere Augen wider beſſeres Wiſſen nur mit Mühe die Harmonie ihrer erſten Bewegun⸗ gen erkennen, die ſie ſtehend im hellen Tageslicht macht.“ Vielleicht ſind dieſe erſten Bewegungen in Deutſchland unhar⸗ moniſcher als anderswo. Das Aufſtehen kann nicht zur ſchönen, freien und ſtolzen Bewegung werden, wenn ſo viele Widerſtände es müh⸗ ſam machen, wenn ſpöttiſche Kritik, jenes bezeichnende überlegene Mundwinkelzucken des Deutſchen, das Kielland einmal ſein Sedanslächeln nennt, jede Regung begleitet. Wenn im Norden ſym⸗ pathiſche Teilnahme eine Nora, feines Verſtändnis für das Kommende eine Thora Parsberg ſchuf, — was haben wir dem an die Seite zu ſtellen? Es iſt bezeichnend, daß die Lona in den „Stützen der Geſell⸗ ſchaft“ auf deutſchen Bühnen immer karikiert, ſozuſagen mit den Armen in der Luft herumfuchtelnd, dargeſtellt wird. Und wenn wir auch zugeben, daß es nicht ganz an Modellen für ſolche Karikaturen fehlt, ſo iſt doch die Ausſchließlichkeit, mit der die Aufmerkſamkeit gewiſſer Tagesblätter, ja des Durchſchnittsmannes bei uns überhaupt, den Auswüchſen der Frauenbewegung zugewandt iſt, ein beſchämen⸗ des Zeichen für die deutſche Kultur. Aber das möchte alles noch hingehen. Jede große geiſtige Bewe⸗ gung hat den Philiſter zum geborenen und geſchworenen Feinde. Weit ſchlimmer iſt der auf Unkenntnis und dumpfe Gewohnheit zurückzu⸗ führende Widerſtand der Kreiſe, bei denen die Macht liegt. Schein⸗ bar zwar haben die Frauen in letzter Zeit viel gewonnen; es fragt ſich nur, ob es ſich nicht um einen Pyrrhusſieg handelt. Wenn wir Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 49 3 B. die preußiſche Mädchenſchulreform anſehen, wie ſie ſich jetzt ge⸗ ſtaltet hat, ſo erweckt ſie durchaus den Eindruck, daß man unmutig einer anſtürmenden Bewegung weicht, ohne ihr zu vertrauen, ohne zu ſehen, wo ſie eigentlich hinaus will, immer mit dem unbehaglichen Gefühl, zu tun, was man eigentlich nicht will, zu fördern, was man ſeinen innerſten Überzeugungen nach hindern möchte. Durch nichts konnte die preußiſche Regierung klarer dokumentieren, daß ſie in bezug auf die Frau „nichts gelernt und nichts vergeſſen hatte“, als dadurch, daß ſie ſie für unfähig erklärte, ihr eigenes Geſchlecht auch allein zu höherer Bildung zu führen. Das war angeſichts der Allein⸗ herrſchaft des Mannes im höheren Knabenſchulweſen eine glatte Un⸗ mündigkeitserklärung und mußte das „Mannesgefühl“ in ſeiner Hyperäſtheſie mächtig heben. Und aus dieſem lähmenden Gefühl, eine Sache machen zu müſſen, für die man kein rechtes Herz hat, deren Scheitern man ja nicht gerade wünſchen darf, aber auch nicht beklagen würde, weil es der alten orthodoxen Anſchauung von der Frau, der liebgewordenen, behaglichen, neuen Boden gewinnen müßte, aus die⸗ ſem Gefühl erklären ſich alle die Halbheiten, die die Weiterentwick⸗ lung der Reform jeden Tag mehr zeigt. Man erfüllt dem Drängen der beteiligten Kreiſe gegenüber den Buchſtaben ihrer Wünſche; den Geiſt verſteht man nicht und will ihn nicht verſtehen. Die gleiche Unſicherheit herrſcht in weiten Kreiſen der Direktoren und Oberlehrer, und auch die Haltung forcierter Männlichkeit, in der die Herren ſich jetzt gefallen, das Säbelklirren des Reſerveleutnants täuſcht nicht darüber hinweg, daß man ſich auf unſicherem Boden fühlt. Auf einen, der mit wirklicher Freude an der Förderung erwachen⸗ den geiſtigen Lebens, an der Hebung neuer kultureller Werte mit⸗ arbeitet, kommen drei, vier, die wie ſchlechte Examinatoren nach Schwächen und Lücken, ſtatt nach Kräften ſpähen. Es gibt Lehrer genug, die das Frauenſtudium, zu dem ſie vorbereiten, verſpotten und ihren Schülerinnen gegenüber gar kein Hehl daraus machen. Ob ſich für die Muſteranſtalten, die den gerade im Hinhlick auf die zur Verfügung ſtehenden Lehrkräfte zagenden Frauen in der Januar⸗ konferenz verſprochen wurden, die ſicher in Ausſicht geſtellten erſt⸗ rangigen, für die Frauenbildung warm intereſſierten, vorurteils⸗ loſen Männer nicht gefunden haben — jedenfalls iſt das Verſprechen Lange, Kampfzeiten. II. 4 Die berufstätige Frau und ihre Ritter. 50 mit Althoff eingeſargt, und mit der Fakultät der Lehrkräfte wird es nach wie vor nicht genau genommen. Und wenn man dazu den mit ſolchem Wohlwollen geöffneten und gepflegten vierten Weg rech⸗ net, und nun gar die Art, wie die Anerkennung höherer Lehranſtalten für Mädchen erfolgt, ſo braucht man kein großer Prophet zu ſein, um ein Fiasko der preußiſchen Mädchenſchulreform ſchon heute voraus⸗ zuſagen. Und was dann? Kommt dann etwa die berühmte ideale Bil⸗ dung, die Männer mit ſo viel Liebe und Vorſorglichkeit in genaueſter Anpaſſung an die weibliche Eigenart — Nota bene, wie ſie ſie ver⸗ ſtehen — ausbauen? Vermutlich nicht. Vermutlich wird ſie — von allen Mißgriffen abgeſehen — auch dann noch, und dann erſt recht, ein Luxus ſein, den wir uns nicht leiſten können. Es iſt mehr als naiv, zu glauben, daß die Frauen nicht ſelbſt ſehen, wie unnatürlich unſere ganzen Schul⸗ und Bildungsverhältniſſe ſind, zu glauben, daß auch ſie nicht dereinſt zur Beſſerung das Ihre beitragen werden. Und das werden ſie in enger Anpaſſung an die praktiſchen Notwendigkeiten dereinſt tun unter der Führung der Frau. Was in der Januar⸗ konferenz eingeleitet und dann unterbrochen wurde, weil andere Männer als die der erſten Initiative an die Spitze traten, das wird dann zu Ende geführt werden. „Die Erziehung der unerwachſenen und noch nicht völlig erwachſenen Mädchen auf allen Stufen gehört den Frauen unter erwünſchter Aſſiſtenz tüchtiger männlicher Lehr⸗ kräfte: das muß der leitende Grundſatz werden.“ (Adolf Harnack.) Wir freilich werden ſeine Durchführung nicht mehr erleben. Aber man bleibt ruhig auf dem Nebo, wenn man da unten das ſchöne Land mit den reichen Wirkungsmöglichkeiten liegen ſieht. So wird es kommen. Denn hier handelt es ſich um das alte: „Iſt es aber aus Gott, ſo könnet ihr es nicht dämpfen.“ Oder, um in der nüchternen Sprache der Nationalökonomie zu reden: wenn die Ent⸗ wicklung ſo weit fortgeſchritten iſt, daß auch die Kraft der Frau, die bisher nur im kleinen Kreis genutzt werden konnte, für den Kultur⸗ fortſchritt auf dem größeren Schauplatz des öffentlichen Lebens ver⸗ wertet werden muß, ſo wird keine äußere Gewalt und keine Ritter⸗ ſchaft des Mannes im Dienſt des „kindlichen Inſtinktvertrauens“ der Frau das hindern können, und auch über das gigantiſche Schickſal Königsberger Kaiſerrede. 51 des Reſerveleutnants, der ſich von einer Frau über Mädchenerziehung belehren laſſen muß, wird die Zeit erbarmungslos und — lächelnd hinwegſchreiten. Standespſychologie in der Königsberger Kaiſerrede. („Die Frau“, Oktober 1910.) In der Erklärung, die der Reichskanzler zur Königsberger Kaiſer⸗ rede abgab, iſt von den kaiſerlichen Ausführungen zur Frauenbewegung nicht die Rede. Das könnte zweierlei Auslegung finden. Entweder findet es der Reichskanzler mit ſeiner ſtaatsmänniſchen Einſicht un⸗ vereinbar, auch dieſen Teil der perſönlichen Äußerungen des Kaiſers zu decken, oder er hält es nicht für der Mühe wert, den Frauen, über die er ebenſo denkt wie der Kaiſer, ein Beruhigungspulver zu reichen, da ſie ja politiſch tot ſind. Die erſte Möglichkeit wird mit einem Lächeln zur Seite geſchoben werden können. Nicht nur auf dem höchſten Gipfel unſeres Staats⸗ weſens hält man an der „weiblichen Beſtimmung“ als ein für allemal durch die Vergangenheit gegeben feſt, — dieſe Anſchauung zieht ſich in breitem Gürtel über die ganze Schicht der „Edelſten der Nation“ und ſtreckt ihre Ausläufer von dort bis tief in die liberalen Niede⸗ rungen hinein. Wie ſollte Herr von Bethmann Hollweg dazu kommen, den Frauen hinſichtlich ihrer „Beſtimmung“ Zugeſtändniſſe zu machen, wo ſelbſt ein Graf Poſadowsky ſich als innerlich gebunden erwies? Wie ſollten dieſe Fragen dieſen Kreiſen nahe kommen? Für die Komteſſe einen Mann zu finden, dazu reichen entweder die Ver⸗ bindungen unſeres Adels noch aus, oder es gibt Stifte, oder im Not⸗ fall noch ein Zimmer auf einem Herrenſitz, in dem ſie ſtandesgemäß verſauern kann. Denkt aber einmal eine dafür zu modern, will ſie ſich ihr eigenes Leben zimmern, wirken, ſchaffen außerhalb des üblichen Wohltätigkeits⸗ und Rotekreuz⸗Rahmens, ſo ſehen die meiſten Stan⸗ desgenoſſen noch auf ſie mit jenem Befremden, das abſolute Ver⸗ ſtändnisloſigkeit für ihre inneren Beweggründe mit einer blanken Un⸗ kenntnis jener wirtſchaftlichen Umwälzungen paart, die „die weibliche 4* Königsberger Kaiſerrede. 52 Beſtimmung“ aus dem ſtabilen Gleichgewicht gebracht haben, in dem ſie jahrhundertelang unerſchütterlich verharrte. Hat doch eine Ver⸗ treterin dieſer Ariſtokratie ſelbſt in einem Bekenntnisroman eine Frau ihres Standes, die der Frauenbewegung innerlich angehört, wehmütig⸗ironiſch mit dem Kennwort: „Ein unmöglicher Menſch“ geſtempelt. Unſere Ariſtokratie bildet in dieſer Hinſicht einen bemerkens⸗ werten Gegenſatz zur engliſchen. Dort iſt es ſeit langer Zeit ſelbſt⸗ verſtändlich, daß auch die Frauen aktiven Anteil am politiſchen und ſozialen Leben nehmen, ein Anteil, der keineswegs an die Schranken einer einſeitigen und bloß gefühlsmäßigen Vertretung von Standes⸗ intereſſen — etwa in dem Sinne, wie bei uns eine Großgrundbeſitzers⸗ frau natürlich dezidiert agrariſch und feudal geſinnt iſt — gebunden erſcheint. Wir finden eine große Zahl ariſtokratiſcher Namen ſogar in den Stürmen der gegenwärtigen Phaſe des Frauenſtimmrechts⸗ kamnfes. Und ihre Trägerinnen würden jedem, der da meint, daß dabei die weibliche Würde notwendig aufs Spiel geſetzt werden muß, ohne weiteres beweiſen konnen, daß es keineswegs der Fall iſt, daß auch dieſes neue Feld weiblicher Betätigung die Möglichkeit bietet, „weiblich“ — auch in der äußeren Form — vertreten zu werden. Warum es dort anders iſt als hier? Der Hiſtoriker wird manche Urſachen dafür anführen können. Er wird darauf hinweiſen, daß in einem Lande mit altem parlamentariſchen Leben, mit weitgehender Selbſtverwaltung die ganze Bevolkerung bis in die häuslichſten und privateſten Exiſtenzen hinein ſchon ganz anders mit öffentlichen Inter⸗ eſſen durchdrungen iſt, daß die Wirtſchafts⸗ und Sozialgeſchichte Eng⸗ lands die Ariſtokratie ganz anders in das Geſamtleben der Nation hineingezogen hat, während ſie bei uns im weſentlichen die Ver⸗ tretung der agrariſchen Intereſſen geblieben iſt. Zu alledem wird man noch das eine Moment hinzufügen müſſen, das hauptſächlich die Lage der Frauen betrifft Die Überlieferung eines beſonderen, im Feu⸗ dalismus wurzelnden, patriarchaliſchen Frauenideals iſt bei uns ſtärker, zäher, unbeugſamer Der Adel hat ſie gerade in ſeiner Ab⸗ geſchloſſenheit von dem Geſamtleben der Nation als eines der beſon⸗ deren Güter, für die er einzuſtehen ſich berufen fühlt, feſtgehalten. Und als ein ſolches mag dieſes Ideal auf mancher Frau jener Kreiſe. Königsberger Kaiſerrede. 53 laſten, als Urſache mancher mehr oder weniger ergebnisloſer Kon⸗ flikte und Kämpfe. Dieſe Kreiſe nun aber beſtreiten bei uns, weil ſie die führenden Poſten in der Verwaltung bekleiden, aus ihrem Anſchauungskreis heraus das, was man als „offizielle“ Anſicht bezeichnen kann. Man kann es oft beobachten, wie ſelbſt weitblickende und um Vorurteils⸗ loſigkeit bemühte Männer ganz naiv mit Rückſicht auf die Frauen⸗ frage die Zuſtände ihrer Geſellſchaftsſchicht als die normalen an⸗ nehmen, an denen alles andere gemeſſen, nach denen es eventuell als unzuläſſig, als „Entartung“ oder „Auswüchſe“ verurteilt wird. Und weil ſich in dieſen Kreiſen verhältnismäßig wenig geändert hat, ſo ſind ihnen die modernen Errungenſchaften der Frau etwas Fremdes, Störendes, Überflüſſiges, etwas, das als Gegenſatz, als be⸗ drohlicher Gegenſatz zur Tradition empfunden wird. Auf ſolchem Boden ſind die Ausführungen des Kaiſers zur Frauenbewegung in ſeiner Königsberger Rede erwachſen; aus dieſem Milieu heraus ſind ſie zu begreifen. Wenn es für einen Fürſten ſchon immer ſchwer iſt, eine neu heraufziehende Kulturepoche vorzufühlen und leitend zu beeinfluſſen, wenn man in dieſer Beziehung immer wieder an das Goethewort gemahnt wird: „Fürſten prägen ſo oft auf kaum verſilbertes Kupfer ihr bedeutendes Bild“ — ſo iſt es für einen preußiſchen Herrſcher inmitten unſeres ſpezifiſchen Junkertums doppelt ſchwer, ſich von der modernen Frauenbewegung ein zutreffendes Bild zu machen. Daher jene ſcharfe Gegenüberſtellung der ſtillen Er⸗ ziehungsarbeit im Hauſe und des Kampfes der Frau um öffentliche Rechte, die in der Weltanſchauung des Kaiſers durch ein „nicht“ und „ſondern“ kontraſtiert, für die Frauenbewegung durch ein „folglich“, ein „deshalb“ verbunden ſind. Die Aufgabe der Mutter von heute iſt nicht mehr in die einfachen Formeln zu kleiden, die der Dichter der Glocke dafür fand; ſie kann auch nicht in der Erziehung zum Ge⸗ horſam und zum Reſpekt vor dem Alter, ſo notwendig beide als Hilfs⸗ mittel für die Kindererziehung ſind, ihren weſentlichſten Inhalt finden. Man braucht nicht die weichliche Auffaſſung zu teilen, die vielfach hinter der Prägung „Jahrhundert des Kindes“ ſteckt, um doch die Wahrheit zu empfinden, die ein Mann von Gottes Gnaden, Schleiermacher, ſchon vor mehr als einem Jahrhundert „edlen Frauen“ Königsberger Kaiſerrede. 54 ans Herz legte: „Ehre die Eigentümlichkeit und die Willkür deiner Kinder, auf daß es ihnen wohl ergehe und ſie kräftig leben auf Erden.“ Es bedarf keiner beſonderen Auslegungskniffe, um einen weiten Ab⸗ ſtand zwiſchen dem modernen „Sichausleben“ und dem „kräftig leben“ im Schleiermacherſchen Sinne zu ſetzen; es umſchließt alle Wirkungen zum Wohl des Ganzen, die als Möglichkeiten im Einzelweſen liegen. Nur in dieſem Zeichen iſt eine Fortentwicklung gegeben; eine Folge von Generationen, die immer nur wieder zum Gehorſam und zum Reſpekt vor dem Alter erzogen werden und erziehen, bedeutet den Stillſtand, die Verknöcherung, das Chineſentum. Für unſere Zeit gilt das Schleiermacherſche Erziehungsideal mehr als je. Die Zeit des Abſolutismus iſt für immer vorüber; die Zeit des mündiggeſprochenen Staatsbürgers ſtellt große, ſtets wachſende Anforderungen an die Einſicht, die Selbſtzucht, die Tatkraft des Ein⸗ zelnen. Wer das im heranwachſenden Geſchlecht erziehen will, muß die weſentlichen Strömungen unſerer Kultur zu überſehen imſtande ſein, muß ſeinen Intellekt geſchult, muß in praktiſcher ſozialer Arbeit Ernſt mit der Nächſtenliebe gemacht haben, die der „chriſtliche“ Staat offiziell auf dem Wappenſchild trägt. Wo ſind die Mütter, die in dieſem Sinne auch nur „der ſtillen Arbeit im Hauſe“ gewachſen ſind, in dieſem Sinne das heranwachſende Geſchlecht erziehen können? Wahr⸗ lich, aus dieſem einzigen Punkte des kaiſerlichen Programms ließe ſich mit Leichtigkeit die Notwendigkeit der Frauenbewegung mit all ihren Forderungen und mit Einſchluß der vollen, als „männlich“ be⸗ zeichneten Rechte erweiſen. Und noch aus einem zweiten. Bis jetzt hält der deutſche Mann, was das „Wohl des Vaterlandes“ betrifft, das doch Männer und Frauen umſchließt, noch durchaus an der naiven Argumentation feſt, mit der Heinrich von Kleiſt ſeiner Braut einmal beweiſt, daß das Glück beider Eheleute geſichert ſei durch das Glück des Mannes, denn dadurch ſei auch die Frau beglückt. Mit ſehr viel beſſerer Logik ließe ſich beweiſen, daß das Wohl des Vaterlandes gerade jetzt erfordere, daß der Mann ſeine volle Kraft mit daran ſetze, die Frau zur voll⸗ berechtigten Staatsbürgerin zu machen, weil überall die Aufgaben notleiden, die einſt zur „ſtillen Arbeit“ der Frau im Hauſe gehörten, Königsberger Kaiſerrede. 55 und die heute, vergemeindet oder verſtaatlicht, nicht weniger ihrer Fürſorge bedürften. Dazu gehört in allererſter Linie die Erziehung, vor allem die Er⸗ ziehung der Mädchen. Es iſt eine Fiktion, daß dieſe noch von der Mutter im Hauſe beſorgt wird. Das Mädchen gehört heute wie der Knabe der Schule. Und als man die öffentliche höhere Mädchen⸗ ſchule zu Anfang der ſiebziger Jahre ganz offiziell der Leitung und dem entſcheidenden Einfluß des Mannes überantwortete, im Gegenſatz zu anderen Kulturſtaaten, da brach man auf dieſem wichtigſten Gebiet der Frau mit der Tradition, die dieſe „ſtille Arbeit“ bei ihrem eignen Geſchlecht ihr zuſprach. Da zeigte man, daß man bei uns formaler denkt als irgendwo ſonſt; es war ſelbſtverſtändlich, war „gottgewollte Ordnung“, daß der Mann, der vollberechtigte Menſch, die Arbeit der Frau übernahm, ſobald ſie die Geſtalt eines öffentlichen Amtes bekam, daß ihm dann die Leitung der Erziehung gebührte, ob es ſich nun um Mädchen oder Knaben handelte. Dieſe Geringſchätzung der Frau als Menſchen zweiten Ranges, die den weſtfäliſchen Jungen auf die Frage, wieviel Kinder ſie im Hauſe ſeien, wohl antworten läßt: „Twee Kinder und dree Wichter“ (Mädchen), dieſe Geringſchätzung treibt bis in die jüngſte Zeit ihre Blüten. Ihr entſtammt es, wenn die preu⸗ ßiſche Mädchenſchulreform der Frau vorſchreibt, ob, wann und in welchem Maße ſie Männer an der Mädchenbildung beteiligen ſoll, während die Frau als ganz unmöglicher Faktor bei der höheren Knabenbildung ein für allemal ausgeſchieden wird. Wenn die ſchleswig⸗holſteiniſchen Philologen in ihrer komiſch forcierten Männ⸗ lichkeit die Unterſtellung unter die Leitung einer Frau mit der Begründung ablehnen, daß die Frau keine ſtaatsbürgerlichen Rechte habe, ſo legen ſie damit den Finger darauf, daß es für die Frauen gar keinen andren Weg gibt, „alle Kräfte und Sinne für das Wohl des Vaterlandes einzuſetzen“ und den ihnen gebührenden Anteil an der ſtillen Kulturarbeit zu erringen, die jetzt ſo vielfach aus dem Hauſe in die Öffentlichkeit gedrängt iſt, als einzig und allein den Weg über die vollen, uneingeſchränkten Bürgerrechte. Und damit ſollte das Beiſpiel der Königin Luiſe in Widerſpruch ſtehen? — Wenn man unter der Wachspuppenphyſiognomie, die preußiſche Volksſchulpolitik der Königin Luiſe in usum der Mädchen⸗ Königsberger Kaiſerrede. 56 ſchulen und Kriegervereine gegeben hat, die wahren Züge zu erſpähen verſucht, ſo findet man eine Frau von geſundem politiſchen Ver⸗ ſtändnis, die freilich damals aus guten Gründen nicht wohl für die politiſchen Rechte der Frau eintreten konnte. Aber den Grad von politiſcher Einſicht, der der Selbſtverwaltung den Boden bereiten half, auf die gegenwärtige Situation übertragen, heißt die vollberechtigte Mitwirkung der Frau bei allen öffentlichen Aufgaben verlangen. Denn beides heißt der Forderung des Tages entſprechen, „zum Wohl des Vaterlandes.“ Denn nur dann kann die Frau wollen und durch⸗ ſetzen, was als ihr ſpezifiſcher Einſchlag zu dieſem Wohl vom Manne nie geleiſtet werden kann, wenn ſie als gleichberechtigter Vollmenſch neben ihm ſteht mit der Möglichkeit und Macht, geſetzgeberiſch durch⸗ zuſetzen, was dieſem Wohl dient, auch wenn es der männlichen Ver⸗ anlagung einmal nicht entſpricht und nicht gefällt. Von den Frauenvereinen ſind verſchiedentlich Proteſtverſamm⸗ lungen gegen die Ausführungen des Kaiſers zur Frauenfrage ver⸗ anſtaltet worden. Man verſteht ſolche Proteſte im Rahmen des poli⸗ tiſchen Parteilebens, im Zuſammenhang mit der Abwehr der Wen⸗ dungen gegen den Konſtitutionalismus in der Kaiſerrede. Als Pro⸗ teſt gegen die Weltanſchauung des Kaiſers ſind ſie bedeutungs⸗ und wirkungslos, bloße Worte gegen bloße Worte. Des Kaiſers An⸗ ſchauungen über die Frauenbewegung ſind die ſeiner ganzen Kaſte. Wer in die konſervativen Kreiſe, die den Kaiſer umgeben und ſeine Anſchauungen über die Frauenbewegung bilden, einen Keil hinein⸗ treiben könnte, würde für die Korrektur dieſer Anſchauungen mehr bedeuten können als alle Proteſtverſammlungen. Eine unſrer führen⸗ den Tageszeitungen hat zur Kaiſerrede bemerkt, es ſei eben zu be⸗ dauern, daß Fürſten die Wahrheit nicht wiſſen wollten. Sofern darin ein Vorwurf gegen den Kaiſer liegt, iſt er vielleicht unberechtigt. Es fragt ſich nur, ob man an ſeiner Stelle die Wahrheit wiſſen kann. Wer zeigt dem Kaiſer die Millionen deutſcher Frauen in den Ma⸗ ſchinenſälen, in den Kontoren, in den ſtauberfüllten Kammern der Heimarbeiterinnen? Wer deutet ihm die Bedeutung dieſer Millionen⸗ ziffern und die Probleme, die ſie umſchließen? Wer hält dem guten Rat, ſich der „ſtillen Arbeit im Hauſe“ zu widmen, die Tatſache ent⸗ gegen, daß wir über vier Millionen hauptberuflich tätige Ehefrauen Jahresſchau der Frauenbewegung. 57 in Deutſchland haben, die ja doch nicht zum Vergnügen oder aus Ehr⸗ geiz und Übermut zur Laſt der Mutterſchaft die der Erwerbsarbeit auf ſich nehmen! Und wer weiſt in der Umgebung des Kaiſers auf den unvermeidlichen Zuſammenhang von wirtſchaftlicher Selbſt⸗ behauptung und den Rechten hin, die er in ſeiner Rede als „ver⸗ meintliche“ bezeichnet? Das kann natürlich nicht durch Frauen ge⸗ ſchehen, die „keine politiſchen Frauen“ werden wollen, die, wiſſentlich oder unwiſſentlich als Schleppenträger der Konſervativen, nur nach neueſter Tagesmode aus der Politik einen Salonſport machen, ſondern einzig und allein durch ernſt arbeitende Frauen, die ſich in ihrer Arbeit von der Notwendigkeit überzeugt haben, die Frau als gleichberechtigten Faktor in das Staatsleben einzuſtellen. Aber allzuviel dürfte man ſicherlich auch von ſolchen perſönlichen Einflüſſen nicht erwarten. Möglich, daß ſich auf dieſe Weiſe hier und da eine Maßregel zugunſten der kämpfenden Frauen durchſetzen ließe. Aber ſelbſt wenn ſich die Anſchauungen des Deutſchen Kaiſers als un⸗ veränderlich erweiſen ſollten, ſo kann vielleicht dieſe oder jene Er⸗ rungenſchaft für die Frauen ein wenig hinausgezögert werden; eine weitere Bedeutung hat heute auch der Wille des einflußreichſten Mannes nicht. Denn in der Frauenbewegung, der größten und um⸗ faſſendſten Kulturbewegung, die es je gegeben hat, ſind geſchichtliche Kräfte am Werk, die über den Einzelwillen hinweg das allgemein Notwendige durchſetzen, „zum Wohl des Vaterlandes“. Jahresſchau in der deutſchen Frauenbewegung. („Die Frau“, Januar 1911. Gekürzt.) Eine Jahresſchau der Frauenbewegung, die ſich an breite, un⸗ orientierte Leſerkreiſe wendet, wird weſentlich anders geſtaltet ſein als die Jahresſchau in einem Fachblatt der Frauenbewegung. Dort will man über die Tatſachen im öffentlichen und im Berufsleben, in Geſetzgebung und Verwaltung unterrichtet ſein, die Fortſchritte oder Rückſchritte der Bewegung in konkreter Geſtalt zu erkennen geben; hier ſind dieſe Tatſachen bekannt und können höchſtens durch ihre Jahresſchau der Frauenbewegung. 58 Gruppierung, ihr Zuſammenwirken noch intereſſieren. Hier will man: etwas anderes: man konſtatiert Fortſchritt oder Rückſchritt nicht ein⸗⸗ fach an der Hand der Tatſachen, die ja manchmal nur die brutale: Wirkung außenliegender Urſachen darſtellen, ſondern man verfolgt das; innere Leben der Frauenbewegung, das nur den aufs innerlichſte Be⸗⸗ teiligten ſelbſt deutlich erkennbar iſt, man mißt die Entwicklung an! der Idee, die ſie als Endziel verkörpern ſoll. Und man zählt nur: die Meilenſteine, die den geraden Weg zu dieſem Endziel begleiten.. Man ſchätzt auch die Widerſtände auf dieſem Wege nach ihrer pſycho⸗⸗ logiſchen Bedeutung ab; kurz, es iſt mehr der Kampf der Geiſter als: der rein wirtſchaftliche, in Zahlen zu konkretiſierende Kampf, der: uns intereſſiert. Vielfach freilich fließt die Reihe der realen und der pſychiſchen: Momente, der äußeren und der inneren Tatſachen ineinander. Die zunehmende Heranziehung der Frauen zu kommunaler Arbeit, ihre: Eingliederung in den zünftigen Handwerksbetrieb, ihr Eindringen in: ſogenannte männliche Berufe, ihre Fortſchritte auf den Gebieten all⸗ gemeiner und fachlicher höherer Bildung, das alles ſtellt zugleich den: Niederſchlag zäher, bewußter geiſtiger Kämpfe dar. Aber nicht immer zeigt ſich ihr Reſultat in ſo greifbarer Form. Und das Auf⸗ und) Abwogen dieſes geiſtigen Ringens, das auch innerhalb der Welt der Frauenbewegung ſelbſt ſich geltend macht, das ihre eigenen Vertrete⸗ rinnen geharniſcht einander gegenüberſtellt, das bleibt den Fern⸗⸗ ſtehenden entweder verborgen oder erſcheint ihnen, wie ſolche Evolu⸗ tionen meiſtens, als eitel „Zank und Streit“. Ich will verſuchen, einige der markanteſten Züge dieſer geiſtigen.. Bewegung und Gegenbewegung innerhalb des verfloſſenen Jahres nachzuziehen. Beginnen wir mit den Widerſtänden, um daran die Bewegung.. und die Zweckmäßigkeit ihrer Nichtung zu prüfen. Bekanntlich hat man nicht nur in der phyſiſchen, ſondern auch in der pſychiſchen Welt mit dem Atavismus zu rechnen, der plötzlichen Hemmung der Weiterentwicklung bei einzelnen Individuen, dem Rück⸗ ſchlag in Ahnentypen. Derartige ataviſtiſche Rückbildungen weiſt auch⸗ die Geſchichte der Gegenbewegung gegen die Frauenbewegung auf. Sie ſind in dieſem Jahre in ſchönem geſchloſſenen Ring „in die Er⸗ Jahresſchau der Frauenbewegung. 59 ſcheinung getreten“, ſo daß Anfang und Ende ſich lückenlos zuſammen⸗ fügen. Argumente haben eine Auferſtehung gefeiert, die an die erſten Zeiten der Frauenbewegung gemahnen: die einfache glatte Verachtung des Geſchlechts. Sie ſtützte ſich damals auf die niedrige Einſchätzung des weiblichen Intellekts, auf die fehlenden acht Lot Gehirn, auf das angebliche Verſagen der weiblichen Hirn⸗ und Nervenkraft gegenüber der Durchſchnitts⸗Berufsleiſtung des Mannes. Dieſe Überzeugungen konnten die Geringſchätzung der Frau inſofern rechtfertigen, als ihrem Wollen ihr Können nicht entſprochen hätte. Solchen Menſchen pflegt man mit einer gewiſſen ſchonungsloſen Überlegenheit den Standpunkt klar zu machen. Inzwiſchen haben ſich die acht Lot für alles das, was die Frauen zu können behaupteten, als nicht notwendiges Erfordernis erwieſen. Niemand zweifelt mehr daran, daß ſie zur Durchſchnitts⸗Berufsleiſtung befähigt ſind, daß viele darüber hinausreichen. Mehr noch: die Un⸗ entbehrlichkeit der Frau für große Gebiete des öffentlichen Lebens, von der früher niemand zu träumen gewagt hätte, wird zum Dogma bis in die „maßgebenden Kreiſe“ hinein. Die Angleichung der Bil⸗ dung der Mädchen an die der Knaben, in anderen Ländern längſt vollzogen, wird endlich auch bei uns durch die Regierungen verfügt. Da taucht der unentwegte „teutſche Mann“ wieder auf, im Amts⸗ rock des Mädchenſchuloberlehrers, und weiſt mit ausgeſtrecktem Finger auf das alte: gezählt, gewogen und zu leicht befunden. Ausgerechnet der Mädchenſchuloberlehrer, der Leiter und Erzieher des weiblichen Geſchlechts, der allein Leiter ſein will und den Befähigungsnach⸗ weis dafür durch dieſe hohe Einſchätzung der Frau vollgültig erbringt. Die Petition des Herrn Profeſſor Langemann in Kiel und Ge⸗ noſſen gegen die weibliche Leitung, die das Jahr 1910 einläutete, und ihr Fiasko im Landtag ſind den Leſern dieſer Zeitſchrift noch gegen⸗ wärtig. Herr Profeſſor Langemann, dem augenſcheinlich kein anderer Weg zur Unſterblichkeit offenſteht, läßt nun am Schluß des Jahres eine neue Auflage dieſer Petition bei den Kollegen an Knaben⸗ und Mädchenſchulen, an höheren, mittleren und Volksſchulen zirkulieren, die, wie ein Anſchreiben an die Kollegen beſonders betont, „vor allem recht vielen Frauen“ vorgelegt werden ſoll. Zweifel⸗ los wird auch manche rückſtändige oder gedankenloſe Frau zur Unter⸗ Jahresſchau der Frauenbewegung. 60 ſchrift bereit ſein, beſonders manche Oberlehrersgattin, die ihn, den Herrlichſten von allen, der durch Unterſtützung dieſer Petition „hohen Sinn und feſten Mut“ vor aller Welt bekundet, nicht gern einer an⸗ deren unterſtellt ſehen möchte. Ob es aber korrekt iſt, daß, wie das tatſächlich geſchieht, Direktoren ihre Amtsſtellung dazu mißbrauchen, den Müttern ihrer Schülerinnen die Petition zur Unterſchrift vorzu⸗ legen, erſcheint mir doch fraglich; begreiflich, daß da manche Mutter aus keinem anderen Grunde unterſchreibt, als um die Tochter vor allerlei kleinen Rankünen des Schulmonarchen zu ſchützen. Sehen wir uns nun dieſe neue Petition etwas näher an. An Adel der Geſinnung und ſchlagender Logik jener erſten gleich, ſtellt ſie ſich doch von vornherein auf einen etwas anderen Boden, inſofern ſie die inzwiſchen von der preußiſchen Regierung geregelte Frage der Mittelſchule mithineinzieht. Im Miniſterialerlaß vom 3. Februar 1910, das Mittelſchulweſen betreffend, findet ſich die Beſtimmung: „An Mädchenmittelſchulen erteilen in der Regel vorwiegend Lehre⸗ rinnen bis in die oberſten Klaſſen Unterricht, doch können auch männ⸗ liche Lehrkräfte an ihnen beſchäftigt werden.“ Wir ſehen in dieſer Beſtimmung den Beginn einer gerechteren Verteilung des Einfluſſes der Geſchlechter auf die Erziehung der Mädchen und eine Maßnahme, welche die vor der Mädchenſchulreform beſtehende Möglichkeit, Mädchen in erſter Linie durch Frauen erziehen zu laſſen, wenigſtens zu einem kleinen Teil wiederherſtellt. Die Petition des Herrn Lange⸗ mann aber will als erſtes Petitum dieſe Vorſchrift erſetzt ſehen durch die Beſtimmung, durch die ſeit 1908 der weibliche Einfluß an den höheren Mädchenſchulen eingeſchränkt iſt; es ſoll auch hier heißen: „An Mädchenmittelſchulen unterrichten männliche und weibliche Lehr⸗ kräfte in annähernd gleicher Zahl.“ Das zweite Petitum bezieht ſich auf die Leitung ſämtlicher Mädchenſchulen. Es verlangt, daß die in den Erlaſſen vom 18. Auguſt 1908 und vom 3. Februar und 31. Mai 1910 „verfügte Gleichſtellung von Männern und Frauen bezüglich der Leitung öffentlicher Mädchen⸗ ſchulen aufgehoben werde, daß insbeſondere durch geeignete Maß⸗ nahmen der Möglichkeit vorgebeugt werde, Männer gegen ihren Willen amtlich einer weiblichen Vorgeſetzten zu unterſtellen.“ Das erſte Petitum erfordert zu ſeiner Begründung den Nachweis Jahresſchau der Frauenbewegung. 61 — oder die Behauptung—, daß Lehrerinnen, „wenn auch ihr Fleiß und ihre Gewiſſenhaftigkeit Anerkennung verdienen“, doch weniger geeignet für den Schulbetrieb ſind als Männer, zumal dieſen alle pädagogiſchen Fortſchritte, „die Mädchenbildung einbegriffen“, zu danken ſind. Herr Langemann kann es nach dieſer Argumentation nicht übelnehmen, wenn wir die Männer demnach auch für die Nicht fortſchritte der Mädchenſchule verantwortlich machen. Aber ſoviel Konſequenz darf man freilich nicht von ihm erwarten; iſt es ihm doch auch ſelbſt nicht ſo ernſt mit der Verurteilung der Lehrerin, denn in der Begründung zu Punkt 2, wo es darauf ankommt, die Frau von der Leitung zurückzudrängen, verweiſt er darauf, daß „der echt weibliche Charakter der Mädchenſchule durch die Lehrerin und nicht durch die Leiterin aufgeprägt“ wird. Da er dieſen echt weib⸗ lichen Charakter doch wünſchen muß, ſo müßte er ſeine Bitte Nr. 1 auf Verminderung der Lehrerinnen eigentlich wieder zurückziehen. Offenbar darf hier Punkt 1 nicht wiſſen, was Punkt 2 tut. Aber freilich gibt es noch weit ſchwerer wiegende Gründe gegen die Leitung durch Frauen, als daß man ihre koſtbare Kraft lieber für die Lehrerinnenpoſten reſervieren möchte. Erſtens ſind „die vielſeitigen Aufgaben und Pflichten in verwaltungstechniſcher Hinſicht“ ihnen nicht ſo gemäß, da ſie „oft raſch und rein verſtandesmäßig, dazu mit Energie entſchieden werden müſſen“. Herr Profeſſor Langemann vergißt da wohl, daß die Privatſchulvorſteherinnen noch viel umfänglichere ver⸗ waltungstechniſche Aufgaben zu löſen haben, da ſie neben der Ver⸗ waltung doch auch für die finanzielle Grundlage ihrer Anſtalt auf⸗ kommen müſſen. Der ſpezielle Mitunternehmer der Petition aber, der Kollege des Herrn Langemann im „Petitionsausſchuß für die höheren Schulen“, Herr Oberlehrer Oberfohren, ſchrieb kurz nach der erſten Niederlage der Petition im Landtag in der „Magdeburger Zeitung“ vom 2. Juni 1910: „Jeder Einſichtige wird zugeſtehen, daß es Frauen gibt, denen man vermöge ihrer Vorbildung und ihrer Per⸗ ſönlichkeit die Befähigung zur Leitung einer öffentlichen Schule durch⸗ aus zuſprechen muß“, und bezeichnete die Behauptung, daß das nicht der Fall wäre, geradezu als indiskutabel! Heute führt er dieſe indiskutable Behauptung als mitausſchlaggebend gegen die Leitung durch Lehrerinnen an. Heute hat „der Verkehr mit dem Publikum, Jahresſchau der Frauenbewegung. 62 namentlich mit dem Volksſchulpublikum, für eine Frau ſeine ganz be⸗ ſonderen Schwierigkeiten und erfordert unbedingt einen energiſchen Mann, der im Notfall mit rückſichtsloſer Schärfe vorgehen kann“. Augenſcheinlich ſind ſich die Herren über den Charakter der amtlichen Autorität nicht klar. Er beſteht eben darin, daß ſie amtlich iſt, daß die behördliche Sanktion hinter der Perſon ſteht. Mädchenſchul⸗ rektoren pflegen nicht daraufhin angeſehen zu werden, ob ſie einen vierſchrötigen Bierkutſcher erforderlichenfalls „über'können; für einen Schutzmannspoſten mag das vielleicht qualifizieren. Wie ſtark die be⸗ hördliche Sanktion wirkt, davon wiſſen ſchon jetzt unſere in kommu⸗ nalem Dienſt ſtehenden Frauen zu berichten, trotzdem hier die Frau noch etwas ganz Neues iſt. Sie wirkt im Rechtsſtaat, in dem wir doch wohl leben, bis zu dem Grade, daß ganze Länder das Zepter einer Frau reſpektieren. Nach Anſicht der Lehrer, die dieſer Petition zu⸗ ſtimmen, muß dabei der Mann der öffentlichen Geringſchätzung ver⸗ fallen. Vielleicht erzählen ſie den Mädchen im Geſchichtsunterricht, daß öſterreich unter Maria Thereſia, England unter Eliſabeth und Viktoria unter allgemeiner Verachtung gelitten haben, wie noch heute Holland unter ſeiner jungen Königin. Aber genug davon. Daß auch dieſe zweite verbeſſerte Auflage der Petition die Fiktion beibehält, die Leitung öffentlicher Mäochen⸗ ſchulen durch Frauen ſei ein Novum, kann, wenn man überhaupt noch bona fides annehmen will, nur durch einen kaum vorſtellbaren Grad von Unorientiertheit erklärt werden. Eine kleine Denkſchrift, die der Berliner Lehrerinnenverein ſoeben vorbereitet, wird die Taktik der Herren Kollegen nach dieſer Richtung hin in das gebührende Licht ſetzen. — Daß auch die Kollegen von der Volksſchule in die gleiche Trompete ſtoßen, iſt ja ſchon durch die Verſammlung in Eckernförde genügend dokumentiert; auch ſie bemühen ſich, durch die rückſichtsloſeſte Agitation, bei der ſie aus ihrer amtlichen Stellung den möglichſten Vorteil zu ziehen ſuchen, Unterſchriften von Männern und „ganz be⸗ ſonders von Frauen“ zu erlangen. Wer die „Zeichen der Zeit“ mit ein wenig Aufmerkſamkeit ver⸗ folgt hat, der weiß, daß dieſer Konkurrenzkampf auf einem einzelnen Gebiet der Frauenarbeit zugleich ſymptomatiſch iſt für eine Geſamt⸗ ſtimmung, die ſich in einem glücklicherweiſe kleinen Kreiſe unter dem Jahresſchau der Frauenbewegung. 63 Einfluß beſtimmter Modeſtrömungen unſerer Kultur (oder Unkultur) ausgebreitet hat. Es gibt nämlich eine Art modernen Germanentums — Hermann Bahr hat es in ſeinem letzten Noman wundervoll ironiſiert — das in Frauenverachtung als einem Erfordernis vornehmer Männ⸗ lichkeit „macht“, und mit einer immer ziemlich billigen und jetzt ſchon ein wenig durchſichtig gewordenen Poſe die Frauenbewegung als eine „Unvornehmheit“ ariſtokratiſch abzutun ſich bemüht. Ein Muſterexemplar dieſer Gattung iſt ein Herr Privatdozent der Philoſophie in Heidelberg, Dr. Arnold Ruge, der einen guten Namen in bedauerlicher Weiſe durch eine Polemik diskreditiert, die wir nicht um ſeinetwegen, ſondern wegen der ſchneidigen Abfuhr, die ihm Frau Marianne Weber angedeihen ließ, hier mitteilen wollen. Herr Dr. Ruge ließ ſich im „Heidelberger Tageblatt“ (Nr. 283) über die Frauenbewegung alſo vernehmen: „Dieſe Frauenbewegung iſt allmählich ein Skandal, der nicht nur die wirklichen Frauen ſondern auch die Männer empört. Was an Kulturloſig⸗ keit, an Parvenümäßigem und Wurzelloſem erdacht werden kann, das raffen jene zuſammen und verkünden es laut, darauf bauend, daß es weder wirk⸗ liche Frauen noch Männer gibt, die ihnen Halt gebieten. Möchte die Zeit kommen, wo es eine wirkliche Frauenbewegung gibt, eine Zeit, wo die Männer für das Recht ihrer Frauen eintreten. Heute gibt es noch keine Frauenbewegung, ſondern nur eine Bewegung, eine toſende Revolution derer, die nicht Frauen ſein können und nicht Mütter ſein wollen. Die Frauenbewegung von heute — und glänzend dokumentierte das der Heidelberger Frauentag — iſt eine Bewegung, die ſich zuſammenſetzt aus alten Mädchen, ſterilen Frauen, Witwen und Jüdinnen, die aber, welche Mütter ſind und die Pflichten der Mutter erfüllen, ſind nicht dabei.“ Unter Hinweis darauf, daß die Frauenbewegung überhaupt, wie auch ſpeziell die Heidelberger Frauenbewegungsvereine ſich überwie⸗ gend aus Müttern zuſammenſetzen, richtete Frau Marianne Weber an Herrn Dr. Ruge folgende private Anfrage: „Sie werden ſich der Verpflichtung nicht entziehen wollen mir un⸗ zweideutig und umgehend die Frage zu beantworten, auf wen aus dieſen Kreiſen ſich Ihre Behauptung, daß die der Frauenbewegung angehörenden Mütter ihre Mutterpflichten nicht erfüllen, bezieht? Oder ob Sie ander⸗ weit in der Lage ſind, Ihre Behauptungen durch irgendwelche Beiſpiele — und durch welche — zu belegenp⸗ Jahresſchau der Frauenbewegung. 64 Auf dieſe präziſe Frage hatte Herr Dr. Ruge nur eine aus⸗ weichende Antwort. Über die allein intereſſierende Frage, wie er ſich zu den rein perſönlich gewendeten beſchimpfenden Äußerungen ſeiner Auslaſſung ſtelle, bemerkte er lediglich: Da die Frauenbewegung eine öffentliche Bewegung ſei, ſo gelte ihr gegenüber der Grundſatz „ſcho⸗ nungsloſer Sachlichkeit“. „Ritterlichkeit, Höflichkeit ſind Formen des Verkehrs, die jenſeits der Öffentlichkeit in der Anerkennung eines auf Innenkultur gerichteten Lebens geboren wurden.“ Frau Weber hat varaufhin in der Heidelberger Zeitung (Nr. 289) über die Korreſpondenz mit Herrn Dr. Ruge berichtet und zugleich die von ihm gegen die Frauenbewegung gerichteten Angriffe entkräftet. Herrn Dr. Ruge ſelbſt hat ſie dann mit folgendem Schreiben entlaſſen: „Sehr geehrter Herr! Die Frauenbewegung hat die denkbar ſchärfſten rein ſachlichen Angriffe ſtets willkommen geheißen. Sie hat nie und von niemandem, der ſie angriff, die Innehaltung irgendwelcher anderer Schran⸗ ken in bezug auf Inhalt und Form erwartet, als ſolcher, die ein innerlich vornehmer Mann unter allen Umſtänden, wer immer der Angegriffene ſei, um ſeiner eigenen Würde willen wahrt. Mit einem Manne freilich, deſſen Auslaſſungen unvornehm ſind, und der ſachliche Probleme vermengt mit Inſinuationen gegen die Perſonen der Gegner, die er dann noch dazu nicht eindeutig zu bezeichnen den Mut findet, mit dem diskutiert, wie jeder⸗ mann ſonſt, ſo auch ſelbſtverſtändlich die Frauenbewegung — rein tat⸗ ſächliche Richtigſtellungen vorbehalten — ſachlich überhaupt nicht. Vollends nicht auf privatem Wege gegenüber einer öffentlich erfolgten Be⸗ ſchimpfung. — Wie mein Brief ergab, handelt es ſich für mich ganz aus⸗ ſchließlich um die Ihrer unbeherrſchten Zunge und Feder entſchlüpfte ausdrückliche Behauptung, die Frauen der Frauenbewegung wollten nicht Mutter ſein und erfüllten die Pflichten einer Mutter nicht. Daß beides leichtfertig aus der Luft gegriffene, durch keinerlei Mittel zu beweiſende, ſachlich ganz wertloſe Schmähungen ſind, müſſen Sie ſich ſelbſt geſagt haben, ſofern Sie normal urteilsfähig ſind. Daß überhaupt der Erſatz ſachlicher Argumente durch allgemein gehaltene Anſpielungen auf Verhältniſſe des intimſten perſönlichen und ehelichen Privatlebens der Gegner allen Anforderungen edler Sitte Hohn ſpricht und daß eine allgemeine Anwendung ſolcher Gepflogenheiten jede Diskuſſion in die Goſſe zerren würde, muß jeder, der im Kampf um Weltanſchauungen öffentlich Partei ergreift, ſich gegenwärtig halten, wenn er für vollwichtig und vollwertig genommen werden will. Mein privater Brief ſollte Ihnen lediglich den, eines vollentwickelten Mannes allein würdigen Entſchluß, eine ſchwere und für Sie wenig ehrenvolle Entgleiſung durch rückhalt⸗ loſes, öffentliches, ehrliches Eingeſtändnis Ihres Jahresſchau der Frauenbewegung. 65 Unrechts wieder gutzumachen, erleichtern. Allein ſowohl Verſicherungen in dem Stile, daß „die Anweſenden ausgenommen“ oder daß doch nicht gerade nur ſie gemeint ſeien, wie der Verſuch, nachträglich eine Beſchränkung Ihrer ausdrücklich ganz generell gegen die Frauenbewegung gerichteten Be⸗ merkung auf irgendwelche, irgendwann in der Sffentlichkeit „hervorgetre⸗ tenen“ Perſönlichkeiten in jene hineinzuinterpretieren, erſcheint mir als eine unmännliche Verlegenheitsausflucht, ganz abgeſehen davon, daß natürlich jene „hervortretenden“ Frauen, ſoweit ſie verheiratet ſind, Ihre Behaup⸗ tung, ſie erfüllten ihre Mutterpflichten nicht, ganz ebenſo als leichtfertig und frivol zurückweiſen müſſen. Ihr Schreiben enthält der Sache nach ledig⸗ lich den Verſuch, ſich um die Erfüllung einer klaren Anſtandspflicht herum⸗ zuwinden. Ob endlich die höhniſche Form, in welcher von „ſterilen Frauen und älteren Mädchen“ die Rede war,¹) von irgendwelcher ent⸗ wickelten „Innenkultur“ Ihres Empfindes zeugt, und ob ſie nicht tief unter jenem Minimum von Ritterlichkeit ſteht, welches — wie ich, im Gegenſatz zu Ihnen, glaube — jeder Gegner dem anderen, er ſei Mann oder Frau, ſchuldet, laſſe ich hier dahingeſtellt. Würden Sie — was doch wohl jeder, ehe er andere beleidigend angreift, tun ſollte — zunächſt einmal bei ſich ſelbſt ehrliche Einkehr halten, ſo würden Sie ſich vermutlich überzeugen müſſen, daß hinter dem Glauben an Ihren Beruf zum Sittenprediger ſich in ſtarkem Maße der unbeherrſchte Drang verbirgt, auch über Dinge, zu deren Beurteilung Ihnen die unumgänglichſten Vorausſetzungen und Kennt⸗ niſſe ſchlechterdings fehlen, ein gewiſſes ungezügeltes und, vor allem, recht unreifes Äußerungsbedürfnis ſich ergießen zu laſſen. Etwaige weitere Zuſchriften Ihrerſeits würden nach Lage der Dinge uneröffnet an Sie zurückgehen.“ Möge dieſe Art von Gegnerſchaft, auf Ignoranz, Anmaßung und „Weiberverachtung“ aufgebaut, überall auf ſolche Abfertigung ſtoßen! Alle Freude über einen ſolchen Sieg, der die moraliſche und geiſtige Überlegenheit unſerer Sache über die unſerer Gegner für den Befangenſten greifbar machen muß, kann aber doch nicht ganz den Stachel betäuben, daß man ſich ſo etwas gefallen laſſen muß, daß die Frauen, die mit Ernſt und Verantwortungsgefühl ihren wahrlich nicht bequemen Weg durch von Grund aus verwandelte ſoziale Ver⸗ ¹) In einer beſonderen Fußnote weiſt Frau Weber auch auf die tüch⸗ tigen Leiſtungen der jüdiſchen Mitarbeiterinnen der Frauenbewegung hin. Lange, Kampfzeiten. II. 5 Jahresſchau der Frauenbewegung. 66 hältniſſe ſuchen, ſolchen Angriffen ausgeſetzt ſind. Es überkommt einen einmal wieder das ganz elementare Gefühl, das den Anfängen der Frauenbewegung ihr beſonderes Pathos gegeben hat: das Gefühl der Rechtloſigkeit. Ganz gemütsruhig wird den Frauen zugemutet, prinzipiell auf die Anwendung der einfachſten Maßſtäbe der Gerech⸗ tigkeit für ſich zu verzichten, ihre Lebensarbeit als Berufsangehörige zweiter Klaſſe zu leiſten. Ganz gemütsruhig wird von ihnen verlangt, daß ſie ſich als ſolche behandeln laſſen ſollen, trotzdem ſie ſelbſt und jedermann und auch ihre Gegner ſich ganz klar darüber ſind, daß zu dieſer niedrigen Einſchätzung nicht der geringſte Grund vorliegt. Im Gegenteil. Und ſo werden einem ſolche Erfahrungen wieder zu dem ceterum censeo: die Frauen müſſen politiſchen Einfluß gewinnen, müſſen eine reale Macht werden. 67 Organiſches oder mechaniſches Prinzip in der Mädchenbildung? (Erſchienen im X. Jahrgang der „Frauenbildung“, B. G. Teubner Verlag, 1911.) Wenn man ſich fragt: Soll die weibliche Bildung eine andere ſein als die männliche? ſo könnte ich — eine kleine Bedingung vor⸗ ausgeſetzt — antworten: Durchaus! In jeder Schattierung, jeder Wertbetonung, in dem ganzen Aſſimilationsprozeß, in der Auslöſung von Stimmungen, Gedankenreihen, Taten, in der Formung der ganzen Lebensanſchauung. Die kleine Bedingung, unter der ich dieſe Ant⸗ wort geben kann, geben muß, iſt eine Änderung des Hilfsverbs. Es iſt eine Antwort nicht auf die Frage, ob die weibliche Bildung eine andere ſein ſoll als die männliche, ſondern auf die Frage, ob ſie eine andere ſein wird. Denn wenn man mich weiter fragt: Mit welchen Mitteln iſt dieſes Ziel zu erreichen? ſo kann ich nur antwor⸗ ten: Hier iſt kein Soll und kein Ziel, hier bedarf es auch keiner beſon⸗ deren Mittel. Hier iſt nur ein Werden, das auf niemandes Hilfe harrt. Denn was dieſes Werden ſchafft, ohne jedes Zutun, das iſt das weibliche Formprinzip ſelbſt, das angeborene, unveräußerliche, blind waltende. Es ergreift geiſtigen Stoff, formt ihn nach ſeinen Geſetzen, aſſimiliert ihn, und wird infolge dieſer geiſtigen Prozeſſe beſtimmend für die ganze Anſchauungswelt, die Gefühle, Entſchlüſſe und Hand⸗ lungen; für die ganze Lebensbetätigung. Es iſt das organiſche Prinzip, das von innen heraus geſtaltende: ihm kann man unbe⸗ kümmert, weil es nach Naturgeſetzen bildet, den Aufbau des Spezi⸗ fiſchen in der geiſtigen Welt der Frau überlaſſen, wie man ihm den Aufbau des Körpers überläßt. Tut man das nicht, ſo entſtehen ana⸗ loge Verkrüppelungen wie bei der Vergewaltigung der körperlichen Entwicklung; die verkümmerten Füße der Chineſinnen ſind zugleich Symbol. Wenn einem eigene, innere Erfahrung und Studium dieſe Wahr⸗ heit ſo recht nahe gebracht haben, ſo fragt man ſich wohl verwundert, wie die Erziehungstheorien zu ſo ganz entgegengeſetzten Auffaſſungen gelangen konnten, wie ſie ſtatt des organiſchen Prinzips das Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 68 mechaniſche ſetzen konnten, wonach man von außen her, durch die Auswahl, Zubereitung und Behandlung der Stoffe beſtimmte Ge⸗ ſinnungs⸗, Gefühls⸗ und Gedankenkomplexe bilden will, die man als „weibliche Eigenart“ bezeichnet. Und man kommt auf keine andere Löſung als die ſehr begreifliche, daß die Frau eben nicht nach dem in ihr liegenden Geſetz, ſondern nach einem von außen gegebenen Geſetz gebildet wurde. Und zwar bis auf den heutigen Tag. Dieſes außer ihr ſtehende Geſetz aber hieß, auf die kürzeſte Formel gebracht: „Mann“. Die Erziehungstheorien ſpiegeln einfach wieder, nicht was pſychologiſches Studium, wenn auch nur primitivſter Art, als Re⸗ ſultat ergab, ſondern was der Wille des Mannes aus der Frau machen wollte, was er ihr als Wirkenskreis geſtattete, zuwies. Darum war zu einer Zeit, wo der deutſche Mann in den führenden Schichten ganz auf Waffenhandwerk und wirtſchaftliche Selbſtbehauptung ge⸗ richtet war, geiſtige Kultur Sache der Frau; darum wurde ſie in dem Maße, als ſie zur Grundlage der bürgerlichen Exiſtenz wurde, Privileg des Mannes. Das alles ohne Arg. Man kann kaum unhiſtoriſcher denken, als wenn man mit gewiſſen Frauenrechtlerinnen dem Manne ſtatt der bloß urſächlichen eine bewußte, böswillige Schuld an der Zurückdrängung der Frauen beimißt, die ihm tatſächlich und ehrlich als Ausdruck göttlichen Willens erſchien und — vielfach noch er⸗ ſcheint. Das alles war die einfache Folge der Schwerkraft des menſch⸗ lichen Egoismus, die ebenſo unbewußt und ebenſo ſicher wirkt wie die körperliche. Und dazu kam: die bürgerliche Frau hätte ſich den Luxus einer perſönlichen Bildung zu einer Zeit nicht geſtatten können, die alle ihre Kräfte in eine Sphäre rief, wo der Mann ſie nicht erſetzen konnte. Mit der Pſychologie der Frau, mit Erwägungen darüber ſich abzugeben, ob ihrer Seele auch etwa Gewalt geſchehe, war nicht eben Sache jener harten Zeiten, die den Menſchen ganz anders als heute unter das Joch ihrer Inſtitutionen zwangen. Und als man anfing, Erziehungstheorien aufzuſtellen, da waren ihre pſychologiſchen Grundlagen nichts weiter als eine Formulierung des beſtehenden Zuſtandes. Man ſetzte feſt: ſo iſt die Frau — weil man ſie in der gegebenen Phaſe ſah und keinerlei inneren Antrieh verſpürte, ein Verhältnis zu revidieren, bei dem man — das heißt der Mann — ſicher nicht ſchlecht wegkam, bei deſſen Reviſion man vielleicht in⸗ Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 69 ſtinktiv perſönliche Verluſte fürchtete und einen Gewinn nicht zu ſehen vermochte; ein Verhältnis, das dem Manne, der allein Probleme ſetzte und durchdachte, überhaupt nicht im Lichte eines Problems erſchien. Heute liegen die Dinge anders. Die Naivität, mit der wir das Vorhandene als das Seinſollende ſetzen, iſt geſchwunden. Wir haben Weltanſchauungen, Staatsformen, ſoziale Einrichtungen einer Re⸗ viſion unterzogen und ſie zu ändern unternommen. Zuletzt, zu aller⸗ letzt ſind auch die innerlichſten Beziehungen, in denen der Menſch ſich fand, das Verhältnis der Geſchlechter innerhalb der ſozialen Ord⸗ nung, als Problem empfunden und geſetzt worden. Zu allerletzt, weil es dabei der Initiative der Frau bedurfte, da nur für ſie das prak⸗ tiſche Intereſſe mitſprach, das immer der ſtärkſte Antrieb zur Kritik beſtehender Zuſtände iſt, das praktiſche Intereſſe, das auch den tiers état zur Reviſion der alten Staatsordnung getrieben hatte. Und an ſolche Initiative war ſie nicht gewöhnt; für die Selbſtbehauptung in dieſem Kampf fehlten ihr die geiſtigen Waffen. Es iſt ein natürlicher In⸗ ſtinkt, der ſie überall zuerſt nach Bildung verlangen läßt. Und ein natürlicher Inſtinkt, der ſie gerade „nach der Männer Bildung, Kunſt und Weisheit“ verlangen läßt, der ſie die Bildung in der Geſtalt wollen läßt, in der ſie die überhaupt erreichte Kulturhöhe darſtellt. Läßt ſich nun die Richtigkeit, die Naturgemäßheit deſſen, was ſo inſtinktmäßig gefordert wurde, heute ſchon nach exakten pſychologi⸗ ſchen Methoden beweiſen? Wenn auch durch die moderne Pſychologie ſchon manche feſt⸗ ſtehende Meinung über die „weibliche Eigenart“ als irrig erwieſen iſt, ſo fehlt ſelbſtverſtändlich noch viel zu einer exakten Pſychologie der Frau, um ſo mehr, als nur Männer bisher für die eigentliche Wiſſenſchaft der Pſychologie in Betracht kamen, denen für dieſes Spe⸗ zialgebiet die weſentlichſte Quelle, das eigene Erleben fehlt. „Eine richtige Frauenpſychologie“, ſo ſagt einer der neueſten Forſcher auf dieſem Gebiet, der Holländer G. Heymans, „haben wir wohl erſt von einer Frau zu erwarten, welche genug Frau iſt, um den ganzen Reich⸗ tum der weiblichen Pſyche in ſich erlebt zu haben, und gleichzeitig genug ſich der männlichen Geiſtesart annähert, um jenen Reichtum analytiſch Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 70 bewältigen zu können.“ Aber was an Betrachtungen ſo gearteter Frauen vorliegt, weiſt alles in die Richtung des organiſchen Prin⸗ zips. Auf die naturgegebene Beſtimmtheit der Frau führt es Lou Andreas⸗Salome zurück, wenn die Frau das ganze Leben in allen ſeinen Beziehungen in einer dem Manne unwiederholbaren Weiſe erfaßt, — auf die naturgegebene Beſtimmtheit, nicht auf äußeres Ein⸗ wirken und Richtunggeben. Sie findet den Unterſchied vom Manne „nie und nirgends in Einzelzügen oder Sonderrichtungen, mag man ſie dem Inhalt nach auch noch ſo ſehr als ſpezifiſch „weiblich' ausrufen.“ In alledem liegt nicht der fundamentale Unterſchied vom Mannes⸗ weſen, ſondern lediglich in der der Frau eigentümlichen „Aufeinander⸗ beziehung ihrer aller zum Lebensinbegriff“. Und darum wird die Größe des Weibes als Weib in demſelben Maße wachſen, in dem es ihr möglich iſt, das Leben, die Welt in ſich aufzunehmen. „In je größeren Dimenſionen ihr dies möglich iſt, je breitere Möglichkeiten, je ſtärkere Kräfte ſie darin umgriff, ihrem Geſamtweſen organiſch ein⸗ zugliedern wußte, wie fern ſie ihr als Weib auch gelegen haben, wie entgegengeſetzt ſie ihr geweſen ſein mochten,“ in dem gleichen Maße wächſt ſie als Weib. Das iſt ein einfacher organiſcher Prozeß. Wird doch all der geiſtige Stoff, den ſie ſo ergreift, nach dem ihr inne⸗ wohnenden Formprinzip zu Geiſt von ihrem Geiſt verarbeitet. Und dieſes organiſche Sicheinverleiben geiſtiger Materie aus eigener Kraft verſtärkt wiederum die Kraft des ſpezifiſch weiblichen Erfaſſens der Welt und ihrer Probleme, wie beim analogen körperlichen Prozeß die Aufnahmefähigkeit durch Selbſttätigkeit erhöht, durch Peptone, die ſchon eine geſtörte Aufnahmefähigkeit vorausſetzen, auf die Dauer geſchwächt wird. So lehnen wir aus der Erkenntnis dieſer Zu⸗ ſammenhänge heraus jede ſpezifiſch weibliche Bil⸗ dung ab. Wir finden, auf die Erfahrungen eines halben Jahrhunderts deutſcher Mädchenſchule geſtützt, in dem Ideal der „ſpezifiſchen Frauen⸗ bildung“ nur den Ausdruck des gleichen mechaniſchen Prinzips, das auf anderen Gebieten längſt in ſeiner Ohnmacht erkannt iſt, wenn es ſich auch noch wie eine ewige Krankheit forterbt. Wir wiſſen, daß Hei⸗ matsgefühl und Vaterlandsliebe von ſelbſt wachſen, wo ihnen die Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 71 Nahrung nicht gewaltſam entzogen, der Brunnen nicht vergiftet wird, daß aber Hurra⸗Patriotismus und Dynaſtenkult in dem Maße, als ſie künſtlich gezüchtet, als ſie weſensfremd ſind, in ihrer Wirkung ver⸗ ſagen und das echte Gefühl beeinträchtigen und erſticken. Wir wiſſen, daß ein äußerlich gegebener, auf beſtimmte ſchematiſche Wirkungen abzielender Religionsunterricht die Religion als primitive Kraft ſchwächt. Und daraus ziehen wir unſere Konſequenzen. So ſehen wir eine folgenſchwere Störung der Entwicklung der weiblichen Pſyche in der mechaniſchen Methode, die äußerlich zuwege bringen will, was das organiſche Prinzip von ſelbſt beſorgt. Wir ſehen eine Quelle ver⸗ hängnisvoller Irrtümer in der Verkennung des pſychologiſchen Geſetzes, das in der weiblichen Pſyche ſelbſt den Regulator ſetzt, den man von außen anbringen zu müſſen glaubt. Die Umwandlung der Frau der höheren Schichten zur Geſellſchaftsdame, in dem Maße als ihre wirk⸗ lichen Aufgaben ſich zuſammenzogen, die Umwandlung der natürlichen geiſtigen Form zur Kunſtfigur iſt auf dieſe Verkennung zurückzu⸗ führen. Und es iſt ſowohl eines der ſchlagendſten Beiſpiele dafür, daß die Natur ſich nicht ſpotten läßt, wie zugleich die Bankrotterklärung der mechaniſchen Methode, daß gerade unter ihrer Herrſchaft das Geſchlecht der Frauenbewegung heranwuchs. Denn dieſes Geſchlecht hat der dogmatiſch feſtgelegten, durch männliche Pädagogen auf feſte Formeln gebrachten ſogenannten weiblichen Eigenart, dieſer etikettier⸗ ten, eingeſchnürten Kunſtfigur, die man etwa mit demſelben Recht ſo nannte, wie man den verſchnürteſten weiblichen Körper immerhin noch als ſolchen bezeichnet, — es hat dieſer Kunſtfigur den Krieg er⸗ klärt. Den Krieg erklärt, um der angeborenen, der organiſchen Eigen⸗ art, dem wirklichen Eigenwuchs zum Sieg zu verhelfen. Die Frauen⸗ bewegung iſt in der Tat nichts weiter als der Befreiungskampf der wirklichen weiblichen Eigenart gegen die Konvention; ſie iſt ſo⸗ mit eine Kulturbewegung im letzten Sinne des Wortes, wenn man nämlich unter Kultur die feinſte Durchbildung der menſchlichen Per⸗ ſönlichkeit nach den in ihr liegenden Geſetzen verſtehen will. Suchen wir nun den Feind kennen zu lernen, um ihn in alle Schlupfwinkel hinein verfolgen zu können. Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 72 Die Herrſchaft des mechaniſchen Prinzips in der Mädchenbildung ſetzte und ſetzt ſchon in der Kinderſtube ein. Der gute alte Kinder⸗ freund war beiden Geſchlechtern gemeinſam — man kann vielleicht auch ſagen: verſündigte ſich an beiden Geſchlechtern in gleicher Weiſe. Da kamen Thekla von Gumpert, Clara Cron, Clementine Helm, und hielten dem Mädchen insbeſondere, vom fleißigen Lieschen bis hinauf zum Backfiſchchen mit ſeinen Leiden und Freuden den Spiegel vor, zeigten ihm, wie es ſich drehen und wenden ſoll, wie ein weibliches Weſen korrekterweiſe denkt, empfindet, vor allem aber ſich benimmt, von der Kinderſtube über die Tanzſtunde und den erſten Ball hinweg bis zu den Stufen des Altars. Daß bei dieſem „Elend unſerer Jugend⸗ literatur“ — das Wort traf ſchärfer noch auf die Mädchen⸗ als auf die Knabenlektüre zu — die Seele nichts zu verarbeiten fand, was ſie weitet, ſtark und groß macht, daß auch die Sehnſucht danach und die Kraft dazu ſchwand, das hat pädagogiſche Weisheit erſt nach un⸗ gezählten Auflagen entdeckt. Das Wort Storms: „Wenn du für die Jugend ſchreiben willſt, ſo darfſt du nicht für die Jugend ſchreiben,“ hat zwar ſeine Vollwirkung noch lange nicht geübt, aber etwas davon iſt doch auch der weiblichen Jugend zugute gekommen. Wer zu ihr ge⸗ hört hat und nicht zwangsweiſe verbildet, nicht gewaltſam für die „Geſellſchaft“ dreſſiert wurde, der weiß, daß ſie ſich an den gleichen Stoffen in der gleichen Weiſe in die Höhe reckt und begeiſtert wie der Knabe. Nicht etwa die Handarbeit der Penelope oder die Schaff⸗ nerin Eurykleia mit den arbeitenden Mägden, ja nicht einmal An⸗ dromache mit dem Knäblein auf dem Arm intereſſiert ſie weſentlich, ob auch mißverſtandene Erziehungsweisheit ſich darum bemühe, ſon⸗ dern der männermordende Hektor, der zürnende Achill. Sie begeiſtert ſich leidenſchaftlich für den Kampf der Plebejer gegen die Patrizier, der Punier gegen die Römer. Es iſt eben die Größe ſchlechthin, die das Mädchen wie den Knaben fortreißt auf dieſer faſt geſchlechtsloſen Vorentwicklungsſtufe, das Kraftelement, wie es ſich auch konkret um⸗ kleide, und als Kraft bleibt es ihm in der Seele, ſie zu adeln und zu befruchten für das eigene Leben, ob es ſchon in ganz anderen Bahnen verläuft. Und was ſo für die Kinderſtube gilt, für die häusliche Lektüre, das gilt auch für die Schule. Was da zunächſt den Elementarunter⸗ Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 73 richt betrifft, ſo wüßte ich mit Ausnahme der Handarbeit in der Tat nichts, was den Unterricht der Mädchen von dem der Knaben zu ſcheiden brauchte, wie denn ja auch die Volksſchule ſolche Unterſchiede nicht macht; die Gefahr des Verluſtes der weiblichen Eigenart droht immer nur den Mädchen der höheren Stände. Dieſe Gefahr ſteigt augenſcheinlich mit dem Einſetzen der geſchlechtlichen Differenzierung; denn da meint die mechaniſche Methode mit verdoppeltem Nachdruck einſetzen zu ſollen. Gerade da aber ſollte erſt recht nichts geſchehen, um dieſe Differenzierung zu betonen, denn betonen heißt da ver⸗ frühen. Soweit hier ſchon eine wirkliche Verſchiebung der Inter⸗ eſſenſphären beginnt, jene Nüancierung, jene Beſonderheit der Zu⸗ ſammenfaſſung ſich geltend macht, die männliches und weibliches Den⸗ ken, Empfinden und Streben kennzeichnet, kann ihm ohne irgend⸗ welche beſondere Methode entſprochen werden. Der Lehrer braucht ja nur dem Intereſſe nachzugeben, das den Knaben dieſe, das Mäd⸗ chen jene Seite einer geſchichtlichen Erſcheinung etwa ſpontan weiter verfolgen läßt. Nachzugeben, aber ohne es etwa gewaltſam in eine beſtimmte Nichtung zu drängen. Das wäre um ſo zweiſchneidi⸗ ger, als man dieſe Intereſſenſphären ſtofflich durchaus nicht ſo ein⸗ fach nach Schema k ſcheiden kann, wie viele meinen. Es entſpricht wohl kaum der traditionell⸗orthodoxen Pſychologie der Geſchlechter, daß der Primaner in Äſtheten und Neuromantikern ſchwelgt, das junge Mädchen ſich lebhaft für konkrete geſchichtliche Vorgänge und ſoziale Fragen intereſſiert. Und doch iſt das heute eine gar nicht einmal ſo ſeltene Erſcheinung. Und ſo würde ich es für keinen Schaden hal⸗ ten — ich könnte ja ſonſt nicht für den gemeinſamen Unterricht der Geſchlechter eintreten — wenn im Rahmen der Schule die geſchlecht⸗ liche Differenzierung überhaupt ignoriert, wenn hier völlige Objekti⸗ vität und Nüchternheit den Erſcheinungen des geiſtig⸗geſchichtlichen Lebens gegenüber feſtgehalten, wenn nicht immer noch nach weiland Vater Nöſſelt den Mädchen die Frauengeſtalten beſonders ſerviert würden und den Knaben die Schlachtenhelden um ſo wirkungsvoller drapiert. Mann und Frau ſollen zuſammen Welt und Leben er⸗ faſſen und geſtalten, und mehr und mehr auf gemeinſamen Wegen, nicht mehr in der früheren abſoluten Trennung. Da iſt die Ge⸗ winnung der gemeinſamen Grundlage das erſte; die Differenzierung Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 74 beſorgt die Natur von ſelbſt vermittelſt des organiſchen Prinzips, das bei beiden Geſchlechtern den Aufbau der geiſtigen Welt ſpezifiſch beſtimmt. Darauf vertrauen die außerdeutſchen Länder mit ihrem gemeinſamen oder doch nach den gleichen Grundſätzen erteilten Unter⸗ richt in voller Ruhe. Bei uns aber ſollte man meinen: als Gott der Herr die Eva ſchuf, da ſah er in weiter Ferne den deutſchen Mädchenſchulpädagogen und ſagte: der wird ſchon zurecht bringen, was ich nicht kann. Wer nun von dieſer Miſſion nicht ſo überzeugt iſt, wie beſagter Mädchen⸗ ſchulpädagoge ſelbſt, wird der Gewaltbildung zur Weiblichkeit gerade in den Entwicklungsjahren mit ſchweren Bedenken zuſehen. Wenn da etwa — wie ich es mit angehört habe — ein Schulinſpektor in die Mädchen hineinbohrt, um ihre Gefühle bei der Stelle zu ergründen: „Der Frauen Zuſtand iſt beklagenswert,“ und: „Schon einem rauhen Gatten zu gehorchen iſt Pflicht und Troſt,“ oder wenn ein gewiſſen⸗ hafter Oberlehrer ſolche Bohrverſuche macht, indem er die Stelle „Die⸗ nen lerne beizeiten das Weib nach ſeiner Beſtimmung“ pflichtgemäß zu eingehenden Betrachtungen oder Aufſatzübungen verwendet, ſo iſt das eine kaum begreifliche Brutaliſierung des Empfindens. Die ſprö⸗ den jungen Naturen, denen man ſo „zu ihrem Beſten“ „echt weibliche Unterordnung“ beibringen will, können von dem eigentlichen Sinn dieſer Stelle noch keine Ahnung haben, weil ſie die tief auch in ihrer Natur liegende Aufopferungsfähigkeit ſelbſt noch nicht verſtehen, und ſo wenden ſie ſich in geſundeſter Reaktion von der Zumutung ab, ihre Herren Brüder zu bedienen, — ſicherlich zum Heil dieſer Brüder ſelbſt. Damit iſt — im Gegenſatz zu dem Gewollten — eine gewiſſe Renitenz in ihr ganzes Verhalten gebracht. Je weniger Worte über ſolche Wechſel auf die Zukunft gemacht werden, um ſo ſicherer werden ſie einmal eingelöſt. Wenn aber an dieſe Dinge gerührt werden muß, ſo ſollte es nur durch die Frau geſchehen. In dasſelbe Kapitel gehört das, was an Vorſchlägen für die Ausgeſtaltung des neu geforderten ethiſchen Stoffes im Religions⸗ unterricht der erſten Klaſſe in der neuen Lehrbuchliteratur auftaucht. Es ſcheint doch zum mindeſten recht verfrüht, wenn nach einem neuen Hilfsbuch für den evangeliſchen Religionsunterricht das 15—16 jährige Mädchen in dem Kapitel „Familie“ lernt: „Die Untugenden des Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 75 anderen Ehegatten werden im Mitgefühl empfunden, wofür man verantwortlich iſt,“ oder: „Die Ehegatten werden bemüht ſein, ſich gegenſeitig ihre Fehler abzugewöhnen.“ Das genau acht Zeilen um⸗ faſſende Kapitel „Staat“ fügt dann dieſen Pflichten gegen den Ehe⸗ mann noch die hinzu, ihn „nötigenfalls auf die Ausübung ſeiner ftaatsbürgerlichen Pflichten hinzuweiſen.“ Das zum Teil recht eigen⸗ artige Deutſch dieſer Ratſchläge wird die Neigung der für das Lächer⸗ liche ſo empfänglichen jungen Mädchen vielleicht mehr auf das nicht eben wünſchenswerte Verulken als auf die noch weniger wünſchens⸗ werte Kritik der Beziehungen ihrer Eltern lenken. Auf alle Fälle braucht das Verhältnis zu ihrem eigenen künftigen Ehegatten ſo wenig einen Gegenſtand ſchulmeiſterlicher Betaſtung zu bilden, wie etwa beim Realſchüler ſeine zukünftigen Gatten⸗ und Vaterpflichten. Der oft gehörte Einwurf, man müſſe um der Möglichkeit einer Art von Arbeitsteilung innerhalb des Kulturlebens willen eine auch äußerlich greifbare Verſchiedenheit der männlichen und weiblichen Bildung behalten oder auf neuer Grundlage errichten, da die Frau doch einmal eigene Kulturwerte ſchaffen ſolle, gerade dieſer Ein⸗ wurf ſpricht dagegen. Jede ſpezifiſche Bildung iſoliert die Frau, in⸗ ſofern ſie eine ſpezifiſche Auswahl und Zuteilung des Stoffes bedeutet, alſo dahin führt, der Frau Gebiete der allgemein menſchlichen Kultur vorzuenthalten und ihre Kraft zur Verarbeitung auch des ihr Frem⸗ den zu verweichlichen. Eine einſeitig weibliche Betrachtung der Kultur, auch ſolcher Gebiete, auf denen dieſe Betrachtung nicht in das Weſen der Sache führen kann, wird ihr damit gerade zur Tugend gemacht. Wir haben das dabei auf die Dauer unvermeidliche Sichauseinander⸗ leben der Geſchlechter in Deutſchland in verhängnisvoller Weiſe er⸗ fahren. Die Furcht aber, man könne bei gleicher Bildung auch die Frauen geiſtig zu Männern machen, iſt für die Gegner der ſpezifiſch weiblichen Bildung belanglos. Für ſie ſteht die Überzeugung feſt, daß man das, wenn man nicht geradezu Irrwege einſchlägt, wenn man den geiſtigen Stoff objektiv bietet, überhaupt gar nicht kann. Sie beſtreiten auch, daß die Bildung, die der Mann als das augenblick⸗ lich erreichbare Fazit unſerer kulturellen Entwicklung für ſich zu⸗ rechtgeſchnitten hat, in ihrem Geſamt weſen als ſpezifiſch männlich bezeichnet werden kann. Sie ſind ferner der Meinung. Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 76 daß dieſe Bildung, auch wo ſie männliche Züge trägt, aus doppeltem Grunde auch die ihre ſein muß. Einmal inſofern ſie Berufsvorbildung iſt. Denn der ganze Zuſchnitt der Univerſitäten ſowie die Berufs⸗ tätigkeit ſelbſt ſetzt dieſe Vorbildung voraus; jede andere Vorbildung bringt der Frau ſchwere Nachteile. Dieſes ganze Kapitel der Berufs⸗ tätigkeit der Frau aber will ich hier im Hintergrund laſſen. Es gibt unter unſeren Gegnern immer noch ſolche, denen auch die 92 Millio⸗ nen berufstätiger Frauen noch nicht genügen, die trotz dieſer Zahl immer noch keine „gattungsmäßige“ Aufgabe der Frau in der Berufs⸗ tätigkeit ſehen können, ſondern ſie nach wie vor als eine Art von „Notſtandsarbeit“ betrachten, auf die die Vorbildung keine Rückſicht zu nehmen hat. Auch ihnen aber, ſoweit ſie gerade auf die Diffe⸗ renziertheit der Wirkungen der Geſchlechter innerhalb der Kul⸗ turwelt Wert legen, dürfte der zweite Grund vielleicht einleuchten, aus dem wir Gewicht auf die gleiche Vorbildung legen. Gerade wenn und weil die Frau einmal eigene Kulturwerte ſchaffen ſoll, muß ſie auch die männlichen Züge unſerer Kultur in ſich aufnehmen, um ſich mit ihnen auseinanderzuſetzen, ſich an ihnen erſt deſſen bewußt zu werden, was ſie Eigenes zu bieten hat. Denn zunächſt wird dies Eigene als ihr Anteil an gemeinſamen Gebieten in Frage kommen, auf die ſie Einfluß gewinnen muß, wenn unſere Kultur nicht ein⸗ ſeitig bleiben ſoll. Man ſoll ſich aber doch nur nicht einbilden, daß man auf Gebiete Einfluß haben kann, die man nicht kennt. Neue Kulturwerte ſchaffen kann man nur auf Grund der Bewältigung des Vorhandenen und mit den Mitteln, die die bisherige Kultur bereit⸗ geſtellt hat. Soweit es ſich aber um eine wirkliche Arbeitsteilung zwiſchen Mann und Frau handelt, ſo iſt ſie nur dann organiſch, wenn die Frau in der Lage iſt, ſich ihr Teilgebiet aus einer Beherrſchung des Ganzen und einer bewußten Beurteilung ihrer eigenen Kraft im Verhältnis zum Ganzen heraus zu wählen. Für die Schule aber kommt das ja alles überhaupt noch nicht in Betracht, nicht einmal für die Univerſitäten. Hier gilt es nur, die allgemeinen Grundlagen zu ſchaffen und Einſeitigkeiten zu vermeiden. Was uns nun ſonſt noch entgegengehalten wird: daß wir näm⸗ lich die ſchweren Mängel des Knabenſchulweſens mit in den Kauf nehmen wollen, wo wir ſchöne eigene Wege gehen könnten, das ſchreckt Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 77 uns durchaus nicht. Die ſchönen eigenen Wege ſuchen wir unter Füh⸗ rung der deutſchen Mädchenſchulpädagogen ſeit 50 Jahren; wir ſind aber nur im Kreiſe herum in die Irre geführt worden. So wird es geſcheiter ſein, wir nehmen zunächſt die weniger ſchwer wiegenden Mängel des Knabenſchulweſens mit in den Kauf und reformieren dann gemeinſam, ſuchen gemeinſam dem „Memoriermaterialismus“, der die geiſtige Leiſtung erdroſſelt, und all dem anderen Unweſen beizukommen, das ſich noch in unſeren Schulen breit macht. Bis zu einem gewiſſen Grade hat ja im Augenblick bei uns die Anſchauung, daß die Bildung der Mädchen der der Knaben ange⸗ glichen werden müſſe, geſiegt, allerdings mehr aus äußeren als aus inneren Gründen. Ich halte es für ſehr möglich — um nicht zu ſagen wahrſcheinlich — daß wir dabei zunächſt auch ein Fiasko erleben. Das braucht uns nicht im geringſten irre zu machen. Es iſt einfach die Konſequenz der Inkonſequenzen dieſer Reform, die, viel zu lange ver⸗ ſchoben, plötzlich auf der ganzen Linie zugleich in Angriff genommen werden ſollte, der Inkonſequenzen, die ſie als Maſſenreform mit ſich brachte: der Einſtellung ungenügend qualifizierter Lehrkräfte, der Anerkennung von Anſtalten, die den Beſtimmungen für höhere Schulen nicht entſprechen, aus denen dann aber wieder die Studien⸗ anſtalten ihr Material ohne Prüfung übernehmen müſſen; des vier⸗ ten Weges, ganz abgeſehen noch von den ſtarken Reſten ſpezifiſch weiblicher Bildung und den darauf eingeſtellten Methoden. Wenn wir nicht bald aus dieſen durch halbe Maßnahmen bewirkten Übergangs⸗ kriſen herauskommen, ſo würde ein Erfolg nur als „wider Sternen⸗ lauf und Schickſal“ bezeichnet werden können; er würde die päda⸗ gogiſche Vernunft ad absurdum ſühren. Aber — ſo hören wir nun endlich als ſchwerwiegendſten Ein⸗ wurf — für die Berufsfrau mag das alles ganz gut ſein, was aber wird bei dieſem Bildungsſyſtem aus der deutſchen Hausfrau? Wie es auch ſonſt um die Schätzung der Frau in Deutſchland ſtehe, der deutſchen Hausfrau naht ſich der Mann, nahen ſich Dich⸗ ter und Pädagogen mit ſcheuer Ehrfurcht. Hier gilt noch das „Sanctum aliquid“ . . . Sie iſt ein myſtiſches Weſen mit geheimnisvollen Kräften, Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 78 die eigentlich nichts gelernt hat — in der Jugend braucht ſie nur geweidet zu werden, wie uns jüngſt der Freund von Fräulein Pepi Zinner (Herr von Gruber) ſo ſchön klargemacht hat — die aber aus reiner Intuition, aus der Tiefe ihres deutſch⸗hausfraulichen Gemüts heraus alles und alle verſteht, die heiligſte Einfalt mit tiefſtem Einfluß eint, ihre Kinder, man weiß nicht wie, vortrefflich erzieht, und „Bildung ausſtrahlt“, man weiß auch nicht wie. Die unmyſtiſche Neuzeit hat auch dieſes X mit den geheimnisvollen Potenzen in be⸗ nannte Größen aufgelöſt. Wo einem im wirklichen Leben die gute Hausfrau begegnet — ſie iſt nicht allzu reichlich geſät —, da iſt es immer ein ſeinem Wirkenskreis entſprechend tüchtig durchgebildeter Menſch. Aus ihrem Schulſäckel iſt vielleicht allerlei verloren gegangen, nicht aber fehlt es an der ſittlichen und intellektuellen Kraft, mit der man Menſchen und Verhältniſſe ergreift und geſtaltet. Und dieſe tüchtig durchgebildete Frau muß — das iſt die zweite benannte Größe — außerdem eine tüchtige Fachbildung haben, die ſie befähigt, — auch wiederum ihrem Wirkenskreiſe entſprechend — Hausweſen und Kindererziehung mit wirklichem Verſtändnis in die Hand zu nehmen. Dieſes Stück ſpezifiſch weiblicher Bildung iſt wirklich unerläßlich und unerſetzlich. Denn wie ſehr auch die Arbeit da draußen gemeinſame Arbeit werden mag, hier iſt ein abgetrenntes Gebiet, das der Frau allein gehört, das zu bearbeiten jede Frau einmal berufen werden kann, auf das daher auch jede Frau innerhalb der Grenzen der Möglichkeit vorbereitet werden muß. Daran ändert auch das in der Ferne winkende „Einküchenhaus“ nichts, denn, ganz abgeſehen von ſeinem Zukunftscharakter — dies Gebiet umfaßt mehr als Küche. In einfacheren Zeiten konnten die einſchlägigen Kenntniſſe im Hauſe er⸗ worben werden. Die Mutter ſah es als ſelbſtverſtändlich an, daß ſie der Tochter das Wiſſen und Können zu übermitteln hatte, das ſie für ihren ſpezifiſchen Frauenberuf brauchte. Damit ſcheint es — die Kleinſtadt und geſunde Mittelſtandsverhältniſſe vielleicht ausgenom⸗ men — vorläufig vorbei zu ſein. Die Urſachen liegen auf der Hand: die wirtſchaftliche Umwälzung und das Erwerbsleben der Frau. Hier liegt nun neben den imaginären eine wirkliche Gefahr für den ſpezifiſchen Frauenberuf vor. Fontane meint einmal, es ſei wunder⸗ bar, in wie nahen Beziehungen Menſchenglück und Putenbraten zu⸗ Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 79 einander ſtehen. In etwas einfacherer Formel wird man ſicher be⸗ haupten können, daß eine ſehr nahe Verbindung zwiſchen gut ge⸗ ſtopften und geflickten Löchern, einem gut verteilten Einkommen und ordentlichen Mittagstiſch und dem ehelichen Glück wie dem Gedeihen der Familie beſteht. Das geben auch die Männer gern und verſtänd⸗ nisvoll zu. Auch das geben ſie allmählich zu, daß zur Kindererziehung intellek⸗ tuelle Unſchuld nicht eine notwendige Eigenſchaft der Mutter iſt, daß vielſeitige Bildung und ſtraffe intellektuelle Schulung ihr doch ein bedeutſames Übergewicht über die nicht gebildete Frau geben. Was ſie aber nicht zugeben, was auch manche Hausfrau der alten Schule nicht einſieht, das iſt die Möglichkeit der Vereinigung einer tüchtigen intellektuellen Schulung oder gar einer wiſſenſchaftlichen Bildung mit hausfraulicher Tüchtigkeit, ja die Möglichkeit gar einer neuen, intellek⸗ tuell beherrſchten Epoche hausfraulicher Bildung. Schuld daran ſind zum Teil die wiſſenſchaftlich gebildeten Frauen ſelbſt, ſofern ſie ihren Intellekt für zu gut halten, um ihn für das hausfrauliche Gebiet in Tätigkeit zu ſetzen. Auch eine Kinderkrankheit. Mit der Zeit werden ſie ſicher die Notwendigkeit einer gründlichen Beherrſchung des haus⸗ fraulichen Gebiets einſehen, um ſich dadurch vor der Leibeigenſchaft unter ihrer Köchin zu bewahren und ſich gerade durch die intellektuelle Herrſchaft über das gegen früher ja ſchon ſo eingeſchrumpfte Gebiet auch als Hausfrau und Mutter die Möglichkeit einer Pflege ihrer geiſtigen Intereſſen zu ſichern. Was aber geſchieht denn nun ſeitens der Allgemeinheit, um der allſeitig erkannten, allen Ständen drohenden Gefahr zu begegnen, um wieder eine gründlichere hausfrauliche Bildung zur Sitte zu er⸗ heben? Wenig genug. Man vertraut in erſter Linie wieder auf die, einer fable convenue nach bei dem weiblichen Geſchlecht vorhandene unbegreiflich ſchnelle Auffaſſung und Intuition, die ihm ja auch er⸗ möglicht, Lehren, in denen der Knabe jahrelang ausharren muß, in wenigen Monaten zu erledigen, und die Vorbildung zur Univerſität ſo nebenbei auf dem Seminar zu erwerben. So führt man, wo man überhaupt etwas tut, den Haushaltungsunterricht in die Schule ein, das heißt, man macht halbe oder Viertelsarbeit, ob es ſich nun um die Gemeindeſchule oder die Frauenſchule, jenes Steckenpferd des Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 80 Dilettantismus, handelt. Das alles iſt verlorene Liebesmüh'. Wenn etwas Ganzes geleiſtet werden ſoll, ſo müßte ein Jahr, als Mindeſt⸗ maß aber ein halbes Jahr, das ſich aus jedem Leben, aus jeder anderweitigen Berufsvorbildung herausſchneiden läßt, ausſchließ⸗ lich der hauswirtſchaftlichen Ausbildung der Frau gewidmet werden. Für die ſogenannten höheren Stände auf Fachſchulen, die ſie ſelbſt bezahlen; an die Gemeindeſchulen wäre es als Pflichtfortbildung an⸗ zugliedern. Ich brauche nicht erſt auf die großen Vorteile hinzuweiſen, die das gerade für die arbeitenden Klaſſen mit ſich brächte; nebenbei auch noch für die Berufswahl. Sie wendet ſich jetzt — ſchon aus Mangel an Kenntniſſen und Verſtändnis — von den hauswirtſchaft⸗ lichen Berufen immer mehr ab und der Fabrik zu. Und warum greift man nicht zu dieſem Mittel, wieder mehr Intereſſe und mehr Verſtändnis für die häuslichen Aufgaben der Frau zu ſchaffen? Weil es Geld koſtet. Wenn es ſich um eine neue Ausrüſtung des Heeres auf Grund techniſcher Umwälzungen und Neue⸗ rungen handelt, — wie zum Beiſpiel jetzt die Luftſchiffahrt, — ſo iſt es gar keine Frage, daß das Geld dazu da ſein muß. Den Frauen die Waffen zu ſchaffen, die eine neue Zeit gebieteriſch für ſie verlangt, dazu will es nicht einmal hier reichen, wo es ſich doch ſo offenbar um das Wohl der Familie handelt. Nicht als ob gerade für dieſe Sache keine Sympathie beſtände. Im Gegenteil; bekanntlich hat nur ein ein⸗ ziger Punkt in der ganzen Mädchenſchulreform allgemeinen Enthu⸗ ſiasmus bei der preußiſchen Volksvertretung erregt, das war der Haushaltungsunterricht in der Frauenſchule. Aber man hat ſich ſo in den Gedanken hineingelebt, daß die Frauenbildung auf allen Gebieten ſo nebenbei zu erledigen iſt, und ſo glaubt man die willkommene Mär, daß die Frau aus der Tiefe ihres durch „Geſinnungsſtoffe“ ge⸗ nügend präparierten Gemüts intuitiv das hausfrauliche Können pro⸗ duziert, wenn ihr einige Kochſtunden die primitivſten Grundbegriffe beigebracht haben. Und die Genügſamkeit der Frauen ſelbſt, die ſchon glücklich ſind, wenn ſie wenigſtens die Einführung des Haushaltungs⸗ unterrichts in die Gemeindeſchule durchgeſetzt haben — ein ſehr frag⸗ würdiger Vorteil! — beſtärkt Staat und Gemeinden in der Auf⸗ faſſung, daß damit ſchon Ungeheures geſchehen iſt. Würde aber ein⸗ mal eine wirkliche Bewegung zur Einführung auch nur eines Pflicht⸗ Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 81 halbjahres hauswirtſchaftlicher Fortbildung an der Gemeindeſchule einſetzen, ſo bin ich überzeugt, daß ſie ſchließlich zum Siege führen müßte. Und mit dieſem Siege wäre mehr für die ſpezifiſch weibliche Bildung geſchehen als durch alles, was ſich der deutſche Mädchenſchul⸗ pädagoge zum Heil des weiblichen Geſchlechts ausgedacht hat. Denn — um nochmals die Summe zu ziehen — hier, auf dem Gebiet haus⸗ wirtſchaftlichen Könnens, mit Kinderpflege und allem, was ſonſt drum und dran hängt, liegen die einzigen Spezialkenntniſſe, die die Frau braucht. Das aber, was wir ſonſt als ſpezifiſch weibliches Denken und Fühlen bezeichnen, beſorgt die Natur ſelbſt oder das Beiſpiel und der Einfluß der erziehenden Frau, nie aber die „weib⸗ liche“ Zuſpitzung aller Unterrichtsſtoffe oder eine künſtlich erzeugte Hypertrophie des Gemüts. Wem ernſtlich am weiblichen Gemütsleben liegt, muß es vor Entartung in Sentimentalität und Schwäche unter der Herrſchaft künſtlicher Methoden ſchützen und dem Vertrauen in die Natur das Wort reden. Die ewige Schöpferkraft, die die Frau ins Leben rief, wirkt geſtaltend in ihr fort; ſie kann als einmal geſetztes Prinzip auf die Dauer nichts hervorbringen, was nicht weiblich wäre. Darum ſollte man endlich der Frau die gleiche Entwicklungs⸗ möglichkeit geben wie dem Manne. „Männliche Eigenart“ hat ſich ungehemmt entwickeln können; wie man dem männlichen Individuum ſeine Flegeljahre nicht übel nimmt, ſo hat auch die Gattung all die ungeheuren Entwicklungskriſen, die man in den Begriff „Weltge⸗ ſchichte“ ſpannt, durchgemacht, ohne daß je die Frau gefragt worden iſt, wie ihr dieſe männliche Eigenart gefalle. Sie dagegen ſoll auch jetzt noch auf Schritt und Tritt gegängelt werden. Und wenn auch bei ihr die unvermeidlichen Entwicklungskriſen eintreten, oder wenn ſie, der ewigen Hemmungen müde, die Ellbogen braucht, da prokla⸗ miert man laut den Untergang der weiblichen Eigenart, ſtatt ſich zu ſagen, daß eine gewaltſam ſich Losringende nicht an die Schönheit der Bewegung denkt. Was überhaupt bei ſolcher „Schönheit“ Kon⸗ vention und Poſe war, kann heute nur die Frau ſelbſt erkennen, noch nicht der Mann; welche höhere, organiſche Schönheit ſich bei einem neuen Frauengeſchlecht entwickeln wird, kann man im Kampf dieſer Tage kaum ahnen Die Freiheit wird dieſer organiſchen Schön⸗ heit zur Entwicklung verhelfen; nurſie kann es. Der Mann wird Lange, Kampfzeiten. I. 6 Organiſches oder mechaniſches Prinzip? 82 nicht gleich alles an dieſer neuen, wirklichen weiblichen Eigenart lieben, oder auch nur verſtehen, darum iſt es eben Eigenart. Was er heute darunter verſteht, iſt es nicht. Ganz billigen. oder wenigſtens zulaſſen tut der Durchſchnittsmann heute die Frau nur als Geſchlechts⸗ weſen, in der ganzen Spannungsweite von der züchtigen Hausfrau bis zur — zucht loſen Frau. Wie aber die unendlichen Moglichkeiten, die mit dieſer Geſchlechtsbeſtimmtheit zugleich gegeben ſind, für einen größeren Kreis als Haus und Familie nutzbar gemacht werden können und müſſen, davon haben in früher Kultur ſchon die Inſti⸗ tutionen der Pflegerinnen und Helferinnen Zeugnis abgelegt. In dieſer ſekundären, abhängigen Form hat der Mann dieſe Betätigung der mütterlichen Funktion in weiterem Felde gelten laſſen, weil ſie ſeine Kreiſe nicht ſtörte, ſeine eigene Kulturarbeit nur augenfällig und in ihm genehmer und gewohnter Form ergänzte. In der neuen, ungewohnten Form, die dieſe Ergänzung heute ſuchen muß, in der Form einer ſelbſtändigen Mitwirkung bei voller Gleichberechtigung lehnt er ſie ab. Und doch iſt nur in dieſer Form zu erreichen, was der Frau als Endziel der Kulturentwicklung erſcheint: die Vereini⸗ gung der in Mann und Frau gegebenen beiden geiſtigen Welten zu einer ſozialen Geſamtanſchauung. Dazu fehlt bis jetzt in der Geſell⸗ ſchaftsordnung die freie Betätigung all der Kräfte, die als Beitrag der Frau den geiſtig⸗ſittlichen Untergrund der Familie gebildet ha⸗ ben. Der Mann lehnt ſie ab; alle die Beſtimmungen, die die freie Entwicklung der Frau in Bildung, Berufstätigkeit und öffentlichem Leben hemmen oder ſie in eine beſtimmte Richtung drängen wollen, ſind Ablehnung. Eine Ablehnung aus Furcht vor dem Verluſt von etwas unwiederbringlich Koſtbarem, das iſt zuzugeben. Aber dieſe Furcht iſt unpſychologiſch; ſie verkennt die Naturgeſetze, die auch inner⸗ halb der geiſtig⸗ſittlichen Welt wirken: die Entwicklungsgeſetze. Die weibliche Eigenart kann und ſoll nicht erſtarren in der Phaſe, in der der Mann ſie feſthalten möchte. Ganz ſicher aber kann und wird ſie ſich nur in der Richtung fortentwickeln, die gegeben wurde, als die erſte Mutter ihr Kind mit warmem menſchlichem Empfinden in die Arme ſchloß. Nach allen, bei jeder Entwicklung gegebenen Abirrun⸗ gen wird ſie in dieſe Linie wieder einmünden. Und ſo weit in der Vergangenheit echtes Frauentum verkörpert war, wird es in neuer Lage des Frauenſtimmrechts. 83 Phaſe wieder erſtehen, aber bewußt ſtatt inſtinktiv. Jede andere Ent⸗ wicklung iſt unmöglich, denn ſie wäre wider die Natur. Und dem Manne, der beſorgt der neuen Phaſe zuſchaut, können wir nur zurufen: Vertraue dem sic volo, sic jubeo der Natur! Die gegenwärtige Lage des Frauenſtimmrechts und ihre Beurteiler. („Die Frau“, Mai 1912.) Das Frauenſtimmrecht hat im eigentlichſten Sinne des Wortes einige „kritiſche Tage“ gehabt — zuſammengeſetzt aus Sturm und Sonnenſchein, Hagel und heiteren Augenblicken. Die unerwartete Niederlage des Frauenſtimmrechts im engliſchen Unterhaus — und demgegenüber die Einbringung der Vorlage im ſchwediſchen Reichstag durch die Regierung ſelbſt, ein entſcheidender Fortſchritt in Bohmen und allerlei gewichtiges Für und Wider bei uns zu Hauſe. Man wurde einen Augenblick ganz unſicher, ob es weiter in den Frühling oder zurück in den Winter ginge. Im engliſchen Parlament fand am 28. März die Leſung der ſo⸗ genannten Conciliation Bill ſtatt, die den Frauen das Wahlrecht unter beſtimmten Bedingungen des Beſitzes und Familienſtandes geben wollte. Dieſelbe Bill war im Jahre vorher mit 167 Stimmen Ma⸗ jorität angenommen. Sie fiel diesmal mit 14 Stimmen.“) Zum Teil erklärt ſich dieſer Umſchwung durch 35 Stimmen der Iren, die vor einem Jahr faſt geſchloſſen für das Frauenſtimmrecht, und jetzt ge⸗ ſchloſſen dagegen abgegeben wurden — nicht etwa wegen eines Mei⸗ nungswechſels, ſondern aus Rückſicht auf die Homerulebill, die ſie nicht durch weitere Belaſtung der Seſſion mit geſetzgeberiſchen Aufgaben beeinträchtigen wollten; auch wohl um Asquith nicht zu verſtimmen, der bekanntlich ein Gegner des Frauenſtimmrechts iſt. Auch das durch ¹) Es ſtimmten gegen die Vorlage 114 Konſervative, 73 Liberale und 35 Iren, dafür 117 Liberale, 63 Konſervative, 25 der Arbeiterpartei und 3 Iren (mit vielen Stimmenthaltungen). 6* Lage des Frauenſtimmrechts. 84 den Streik der Bergarbeiter verurſachte Fehlen der Arbeiterführer gab einen Ausfall von zirka 20 Stimmen. Immerhin erklärt das noch nicht die Differenz von 181 Stimmen gegenüber der letzten Abſtimmung. Sie iſt zum Teil in parteipolitiſchen Rückſichten zu ſuchen. Ein Teil der Liberalen ſtimmt jetzt nicht für ein beſchränktes Wahl⸗ recht, da eine demokratiſche Wahlrechtsreform angekündigt iſt, die freilich das Frauenſtimmrecht nicht enthalten wird, der es aber als Amendement hinzugefügt werden könnte. Daneben hat aber ein Teil der Parlamentsmitglieder durch ihr Nein dokumentieren wollen, daß ſie ſo nicht mit ſich reden laſſen, wie die Suffragettes es letzthin zu tun für opportun hielten. Und ein anderer Teil der „Nein“ wird wohl auf ſolche fallen, die gern Ja ſagen, ſolange der Sieg noch fern genug liegt, daß man unbedenklich mit ſeiner Zuſtimmung ein Wahlgeſchäft machen kann, die aber darum die Sache doch nicht wollen. Es iſt bei dieſer Begründung der „Nein“ vermutlich nicht aus⸗ geſchloſſen, daß die nächſte Gelegenheit, die das Frauenſtimmrecht im engliſchen Parlament haben wird, doch wieder eine Majorität erzielt. Es iſt das die große Wahlvorlage der Regierung, die eine radikale Demokratiſierung des Wahlrechts bringt, und der durch Amendement das Frauenſtimmrecht eingefügt werden könnte, wenn das Unter⸗ haus dazu die Initiative ergreift. Die engliſchen Frauen ſelbſt hoffen darauf. Einige der Gründe, die heute das negative Ergebnis herbei⸗ führen, werden dann wegfallen, und die Suffragettes werden hoffent⸗ lich nicht ſo töricht ſein, ihre „militant methods“ mehr zu lieben als den parlamentariſchen Erfolg ihrer Sache, und werden von einer Kampfes⸗ weiſe ablaſſen, die immer zweiſchneidig war und jetzt augenſcheinlich ihren Zweck abſolut verfehlt. Etwa gleichzeitig hat die liberale ſchwediſche Regierung die Stimmrechtsvorlage eingebracht, die ſchon in der Thronrede ange⸗ kündigt war. Im Gegenſatz zu England, wo ſchon ſeit Jahrzehnten Zuſtimmung und Ablehnung in der Stimmrechtsfrage ſich über die Parteien hin verteilte, und eine Zahl gerade der hervorragendſten konſervativen Führer — z. B Balfour — Frauenſtimmrechts⸗ freunde, während ebenſo hervorragende Liberale — wie As⸗ quith — Gegner ſind, iſt in Schweden das Frauenſtimmrecht ausge⸗ ſprochen eine liberale Programmforderung und die Einbringung Lage des Frauenſtimmrechts. 85 der Vorlage der bislang bedeutſamſte politiſche Schritt des neuen liberalen Miniſteriums Staaff. Bekanntlich hatten die Frauen⸗ ſtimmrechtsorganiſationen eine beſtimmte, ausgeſprochen parteipoli⸗ tiſche Taktik bei den letzten Wahlen verfolgt, indem ſie ihre konſerva⸗ tiven Mitglieder verpflichteten, ſich aller Wahlarbeit für konſerva⸗ tive Kandidaten zu enthalten, damit ſo durch die Frauen nur die Linke Verſtärkung erfuhr. Allerdings ſind mit dieſer parteipolitiſchen Kon⸗ ſtellation auch die praktiſchen Ausſichten der Stimmrechtsvorlage ge⸗ kennzeichnet: ſie wird die zweite Kammer mit ihrer liberalen Mehr⸗ heit paſſieren und in der erſten Kammer mit ihrer konſervativen Mehrheit fallen, und ob die Regierung dann ſoweit zu ihrer Vorlage ſteht, daß ſie es zu einer Reichstagsauflöſung kommen läßt, iſt wohl fraglich. Die Frauen ſuchen auf die Zuſammenſetzung der erſten Kammer durch die Stadtverordnetenwahlen — ſie beſitzen ſeit lange das Gemeindewahlrecht — einzuwirken; da die großen Städte das Recht der Entſendung von Abgeordneten zur erſten Kammer haben, arbeiten die Frauen darauf hin, Frauenſtimmrechtsfreunde in die Gemeindevertretungen zu bringen. Aber das iſt ein ſehr indirekter Weg, auf dem zunächſt entſcheidende Änderungen nicht erreicht werden können. Prinzipiell ſehr wichtig iſt auch die Stellung der Frauen in der neuen Wahlordnung für den böhmiſchen Landtag. Bisher lag dort die Sache ſo, wie vielfach ſonſt, daß die Frauen vom Wahlrecht nicht aus⸗ drücklich ausgeſchloſſen waren und deshalb — was auch verſchie⸗ dentlich geſchehen iſt — das Recht zu wählen und gewählt zu werden, formal in Anſpruch nehmen konnten. Nur in Prag und Reichenberg beſtand ein ausdrücklicher Ausſchluß. In der neuen Wahlordnung nun iſt den bisher — mehr rein formal als tatſächlich — wahlberechtigten Frauen das aktive Wahlrecht ausdrücklich zugeſprochen und Prag und Reichenberg in dieſes Recht einbezogen worden. Alle dieſe Tatſachen nun, die das Frauenſtimmrecht zu einer aktuellen Frage im eigentlichſten Sinne machen, haben denn auch bei uns ihren Widerhall und ihre Kommentare gefunden. In der Petitionskommiſſion des Preußiſchen Abgeordnetenhauſes war eine Lage des Frauenſtimmrechts. 86 Petition um das Landtagswahlrecht der Frauen als ungeeignet zur Erörterung im Plenum bezeichnet, auf Antrag der fortſchrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen aber an die Kommiſſion zuruck⸗ verwieſen, da ſogar das Preußiſche Abgeordnetenhaus dieſe Frage nicht mehr für ganz unzeitgemäß halten darf. Dieſer kleinen konkreten Epiſode iſt gerade in den letzten Wochen eine wortreiche Diskuſſion des Frauenſtimmrechts in Zeitungen und⸗ Zeitſchriften zur Seite gegangen, in der manches Charakteriſtiſche ge⸗ ſagt iſt. Am meiſten beſprochen iſt der Aufſatz von Hans Delbrück in den Preußiſchen Jahrbüchern, den er „ein Nachwort zum Frauen⸗ kongreß“ nennt, der ſich aber nicht mit dieſem, ſondern faſt ausſchließ⸗ lich mit dem Frauenſtimmrecht beſchäftigt. Der Standpunkt Delbrücks iſt durch den Ausſpruch eines ſchwediſchen Gelehrten charakteriſiert, der, wie er erzählt, zu ihm von der „Schande“ geſprochen hat, die ſein Vaterland mit dem Frauenſtimmrecht auf ſich lüde, und ſich mit dem in gleicher Weiſe blamierten England tröſtet. Der Grund dieſer Ab⸗ lehnung, die trotzdem die Konſequenz der Forderung in ihrer Her⸗ leitung aus der gegenwärtigen wirtſchaftlichen Lage der Frauen voll⸗ kommen zugeſteht — iſt zum Teil die Überzeugung des Hiſtorikers, daß überhaupt demokratiſch regierte Staaten ſich nicht auf Großmacht⸗ politik verſtünden (die Vereinigten Staaten ſind ihm merkwürdiger⸗ weiſe kein Gegenbeweis), zum Teil die Abneigung gegen den Ge⸗ danken, die Frauen den Roheiten des Wahlkampfes ausgeſetzt zu ſehen. Bei dieſer gewiß ritterlichen Beſorgnis iſt immer nur das eine vergeſſen, daß der Arbeitskampf die Frauen heute durchaus den gleichen Unbilden ausſetzt. Ich wüßte nicht, inwiefern etwa der Konkurrenzkampf der Lehrer oder der Handlungsgehilfen gegen die Frauen ziviliſiertere Formen hätte als ein noch ſo heftiger politiſcher Kampf. Ja, für die Frauen iſt er viel brutaler und härter, weil er ſich gegen ſie als Frauen richtet und ſie ihn ganz allein kämpfen. Dagegen iſt die Mitarbeit in den politiſchen Parteien als Bundes⸗ genoſſen der Männer und für eine allen gemeinſame Sache wahrlich das leichtere, trotz aller Unſitten des öffentlichen Lebens. Und gerade weil in dieſem Konkurrenzkampf den Frauen keine Ritterlichkeit hilft, ſondern ihr Sieg oder Unterliegen eine reine Machtfrage iſt, müſſen ſie auch politiſche Macht haben. Schon die Tatſache, daß ſie Wähler Lage des Frauenſtimmrechts. 87 ſind, würde ein Schutz für ſie ſein an vielen Stellen, wo heute unge⸗ ſtraft und darum unbedenklich alle wirkliche Macht gegen ſie ausgenutzt werden kann. Delbrück, der einerſeits das Intereſſe der Frauen an einer Beeinfluſſung der Geſetzgebung in ihren eigenen Angelegenheiten zugibt, ſie aber doch vom eigentlichen politiſchen Leben ausgeſchloſſen ſehen mochte, wünſcht eine Einrichtung, durch welche bei allen die Frauen betreffenden geſetzgeberiſchen Schritten die Befragung der Frauenorganiſationen obligatoriſch würde. Ein ähnlicher Vorſchlag — die Konſtituierung eines Frauenparlaments für weibliche Angelegen⸗ heiten in der Politik — iſt früher einmal von dem Abgeordneten Dr. Quidde gemacht. So ſehr gewiß die Frauen einverſtanden ſein würden, auf bequemere Art als durch den Wahlkampf zu politiſchem Einfluß zu kommen, ſo klar ſind ſie ſich doch darüber, daß ihnen ein ſolches Gutachterrecht, ſelbſt wenn es ſtaatsrechtlich durchführbar wäre, doch gar nichts nützen würde, vor allem deshalb nicht, weil es niemals möglich wäre, die „weiblichen“ Angelegenheiten aus dem politiſchen Ganzen ſo reinlich herauszuſchälen, daß man die Sphäre eines ſolchen Frauenparlaments abgrenzen könnte. Überall z. B., wo es ſich um wirtſchaftliche und insbeſondere um Konkurrenzfragen handelt, wür⸗ den gerade die Männer — und mit Recht — behaupten, daß ſie durch alles, was hier geſchieht, mitbetroffen werden, und deshalb gegen irgendein den Frauen vorbehaltenes Entſcheidungsrecht proteſtieren. Wie ſollte ſolchem Proteſt gegenüber dieſes partielle Beſtimmungsrecht der Frau gewahrt werden? Das iſt alles praktiſch vollkommen un⸗ ausdenkbar. Es hilft nichts — die auch von Delbrück in ihrer Not⸗ wendigkeit zugeſtandene Vertretung der Frauenintereſſen im Staat kann nur durch das gleiche Wahlrecht begründet werden. Was damit den Frauen an unerfreulichen Pflichten auferlegt wird, läßt ſich nicht vermeiden und umgehen. Und ob die Hoffnung gar ſo unbegründet iſt, den Frauen würde es gelingen, auf die Formen des politiſchen Kampfes Einfluß zu gewinnen? Ob Delbrück wirklich recht hat, wenn er dieſe Hoffnung ſo ganz als einen ſchönen Traum bezeichnet? Iſt doch gerade die Verbeſſerung der Formen des Wahlkampfes als eines der ſicherſten und unbeſtrittenen Ergebniſſe des Frauenſtimmrechts überall zugeſtanden werden — wenn auch das Gebaren der Suffra⸗ gettes dieſe Tatſache eben jetzt leider etwas erſchüttert hat. Sie wird Lage des Frauenſtimmrechts. 88 aber wieder in ihr Recht eingeſetzt werden, weil es gar nicht einmal einer beſonderen moraliſchen Abſicht der Frauen bedarf, ſondern ihnen nur natürlich iſt, die gegenwärtigen rüden Formen des politiſchen Kampfes nicht mitzumachen. Es liegt gar kein Grund vor, anzu⸗ nehmen, daß alle Frauen im Wahlkampf dem Typus der Roſa Luxemburg entſprechen würden, die für ihren agitatoriſchen Geſchmack wirklich rein als Individuum verantwortlich iſt. Wir haben im Aus⸗ land und bei uns ſchon genug Beiſpiele dafür, daß es auch anders geht. Wer nun freilich überhaupt der Meinung iſt, zu der Delbrück ſich mit dem Satz bekennt: „Preiſen wir uns glücklich, daß ein großer Teil unſeres Volkes ſich grundſätzlich und aus inſtinktiver Abneigung dem politiſchen Getriebe fernhält und daß wir noch immer eine erheb⸗ liche „Partei der Nichtwähler' haben“ — wer ſo zur Frage des Wahl⸗ rechts und der politiſchen Arbeit ſteht, dem kann natürlich das Frauen⸗ ſtimmrecht ſchlechterdings nur ein Gorgonenhaupt ſein. Und mit dem wäre vor allem darüber zu diskutieren, ob nicht vielleicht eben dieſe grundſätzlichen Nichtwähler den Ton des politiſchen Lebens verſchulden, indem ſie ſich's mit ihrem beſſeren Geſchmack bequem machen und der Pöbelhaftigkeit das Feld überlaſſen. Hans Delbrück ſchließt mit der Verſicherung, daß er gewiß ſei, überzeugte Frauenrechtlerinnen mit ſeinem Aufſatz nicht bekehren zu können. Aber es werde doch nun die eine oder die andere begreifen, daß die Abneigung ſo vieler Männer gegen die Frauenbewegung nicht Geringſchätzung, ſondern im Gegenteil Hochſchätzung der Frauen ſei. Nein, gewiß, bekehren werden uns Gedankengänge nicht, die uns ja nicht zum erſtenmal vorgelegt werden, ſondern die wir kennen und mit denen die Frauenbewegung ſich ſeit Jahrzehnten durch Theorie und Praxis auseinanderzuſetzen gehabt hat. Und an die Hochſchätzung glauben wir ja auch ſchon ſo lange, als ſie uns immer wieder bezeugt wird, ſie nützt uns nur nicht ſehr viel, ſolange ſie, wie Delbrück be⸗ kennt, die Verehrung eines Ideals iſt, das — ſo hoch es an ſich ſtehen mag — nun einmal den Inhalt und die Aufgaben des gegenwärtigen Frauenlebens nicht mehr ausdrückt und für Tauſende und Tauſende aus abſolut zwingenden Gründen nicht mehr verwirklicht werden kann. Wertvoller als dieſe Verſicherung der Hochſchätzung iſt uns deshalb in Lage des Frauenſtimmrechts. 89 Delbrücks Aufſatz das Zugeſtändnis, daß „die Frauen in unſerem öffentlichen Daſein nicht mehr entbehrt werden können“. Und dieſe Einſicht wird ſchließlich doch Allgemeingut, trotz der Widerſtände, die minder objektive Männer als Hans Delbrück auch an dieſer Stelle noch leiſten. Erwähnt ſei z. B. eine Kampfſchrift von Profeſſor Sigismund, — von dem übrigens das Gerücht geht, er be⸗ gründe eine Anti⸗Frauen⸗Bewegung — zum Frauenſtimmrecht. (Leipzig Dietrichſche Verlagsbuchhandlung.) In einer Anzeige, die ein guter Freund der Sache (oder iſt es der Waſchzettel?) in die Tageszeitungen gebracht hat, heißt es, die Frauenrechtlerinnen würden ſchreien vor Entrüſtung und ohnmächtigem Zorn über dieſen vernich⸗ tenden Schlag. Du lieber Himmel! Trotzdem Herr Sigismund den Frauen den Humor abſpricht, reicht er bei den Frauenrechtlerinnen immer noch ſo weit, daß ſie ſich an der naiven Parteilichkeit dieſer Schrift erfreuen können. Profeſſor Sigismund hat viel Mühe darauf verwandt, feſtzu⸗ ſtellen, daß die Wirkungen des Frauenſtimmrechts in den amerikani⸗ ſchen Staaten ungünſtige ſeien. Er hat ſich dazu der Publikationen der — Antiſtimmrechtsliga von New Vork und eines ihrer Champions Barry bedient, und begründet ſeinen Glauben an deſſen Sachkenntnis mit dem klaſſiſchen Satz: „Barry hat ſich beſonders mit der politiſchen Frauenbewegung beſchäftigt: ein Roman aus ſeiner Feder, der nach jahrelangen Beobachtungen das Treiben der New⸗Vorker Stimmrecht⸗ lerinnen ſchildert, hat Ende 1911 die Preſſe verlaſſen — er verfügt alſo über die nötige Sachkunde.“ Durch gravitätiſche Zahlenreihen hat er nachgewieſen, daß die Frauenſtimmrechtsſtaaten keine ſtärkere Be⸗ völkerungsentwicklung haben als die Männerſtaaten — als ob das Frauenſtimmrecht je als Mittel der Bevölkerungszunahme empfohlen worden wäre! (Nebenbei i ſt zufällig die Bevölkerung in den Frauen⸗ ſtaaten viel ſtärker geſtiegen als in den anderen — Sigismund meint dann, das bedeute nichts „im Verhältnis zu ihrer Aufnahmefähig⸗ keit.“) Überhaupt: es iſt ſelbſtverſtändlich eine kinderleichte Sache, eine Reihe von Tatſachen zuſammenzutragen, die das Frauenſtimmrecht nicht gebeſſert hat: z. B. die Proſtitution hat nicht aufgehört, es gibt noch Analphabeten, verbrecheriſche Kinder, niedrige Frauenlöhne uſw., beſonders leicht, wenn man dann ohne Berückſichtigung aller beſonderen Lage des Frauenſtimmrechts. 90 wirtſchaftlich⸗ſozialen Umſtände die Verhältniſſe in irgendwelchen Männerſtaaten zum Vergleich heranzieht oder die Ziffern aus einer Zeit wählt, zu der ſchlechterdings von einer Wirkung des Frauen⸗ ſtimmrechts, ſelbſt wenn man ihm Wunderdinge zutraut, noch gar nicht die Rede ſein kann. So führt Sigismund z. B. die Analphabeten an, die im Jahre 1900 in den Frauenſtaaten vorhanden waren. Da⸗ mals beſtand das Frauenſtimmrecht in Colorado ſieben Jahre, in Idaho und Utah vier Jahre. In Idaho war erſt 1898 die erſte Wahl, an der Frauen teilnahmen. Wie ſie da im Jahre 1900 für die An⸗ alphabeten verantwortlich gemacht werden ſollen, die ſie doch vielmehr als lebendes Inventar des Männerſtaates übernahmen, iſt wirklich unerfindlich. Dieſe eine Tatſache ſei nur erwähnt, um an ihr die Un⸗ bedenklichkeit zu zeigen, mit der ſich Herr Sigismund ſeine Belege zuſammenſucht. Im übrigen habe ich wenigſtens perſönlich nie die Meinung vertreten, daß das Frauenſtimmrecht mit einem Schlage lauter Muſterſtaaten ſchaffen könne, und ſo optimiſtiſch wird ſelbſt die radikalſte und überzeugteſte Stimmrechtlerin nicht ſein, daß ſie mit Hilfe des Frauenſtimmrechts die Proſtitution aus der Welt zu ſchaffen hofft. Und ebenſo bin ich davon überzeugt, daß es bei der Mannig⸗ faltigkeit der ſozialen Bedingungen, die den Erſcheinungen im öffent⸗ lichen Leben eines Staates zugrunde liegen können, nur ganz gründ⸗ licher Sachkenntnis annähernd möglich ſein wird, dieſe oder jene als Wirkung des Frauenſtimmrechts zu erkennen. Vor allem müßte dazu eine ganz andere Methode eingeſchlagen werden als die des Herrn Sigismund und ſeiner Gewährsleute. Man müßte die Wahlparolen, die Stellung der weiblichen Wähler dazu, die parlamentariſche Tätig⸗ keit der weiblichen Abgeordneten, die Wirkſamkeit der gewählten weiblichen Beamten ſtudieren, um direkt feſtzuſtellen, was durch das Frauenſtimmrecht erreicht oder vergeblich erſtrebt iſt. Und die Lite⸗ ratur der Antiſtimmrechtsgeſellſchaften wird dazu ebenſowenig zu be⸗ nutzen ſein wie — daran zweifle ich keinen Augenblick — eine gewiſſe Sorte von Propagandaliteratur für das Frauenſtimmrecht. Daß Herr Sigismund ſich Freunde mit dem ungerechten Mammon ſeiner Beweiſe ſchaffen wird, iſt ſelbſtverſtändlich. Hans Delbrück hat ganz recht: der retardierenden Momente gibt es in dieſer Sache bei uns in Deutſchland ſehr viele. Sie werden allerdings heute von Lage des Frauenſtimmrechts. 91 einer Seite her ein wenig ins Wanken gebracht: nämlich durch das Parteiintereſſe. Herr Langemann, der in einem Artikel der „Poſt“ einmal wieder ſeiner „alten Wunde unnennbar ſchmerzliches Gefühl“ ergießt, iſt darin ganz konſequent, daß er in der Aufnahme der Frauen in die politiſchen Parteien, über die er ſich diesmal grämt, ein prinzipielles Eingeſtändnis ihrer tatſächlichen politiſchen Intereſſen und den Anfang — oder einen Anfang ihrer politiſchen Laufbahn ſieht. Herr Langemann macht es daher „jedem beſonnenen Mann“ zur Pflicht, die politiſchen Vereine, die Frauen aufnehmen, zu boy⸗ kottieren. Das iſt, wenn nicht freundlicher, ſo doch prinzipieller emp⸗ funden als das, was wir jetzt häufig von anderer Seite ſehen, daß man nämlich die Frauen ſehr gern für die Partei haben will — oder pſychologiſch genauer: wenn man ſie ſchon eigentlich lieber nicht hätte, ſie doch auch den anderen nicht allein gönnt — aber natürlich dabei keineswegs an Stimmrecht und dergleichen denken möchte. Da iſt z. B. charakteriſtiſch ein Artikel in der „Allgemeinen Rundſchau“, einer in München erſcheinenden katholiſchen Zeitſchrift (13. April 1912). Nachdem ſich die Frauen „vor den ſozialdemokratiſchen oder links⸗ liberalen Parteikarren haben ſpannen laſſen“, ſollen nun auch die Frauen der anderen Parteien nicht müßig ſein und — „ſich auch vor die anderen Parteikarren ſpannen?“ O nein! Nun tritt natürlich ein ganz anderes Vokabularium an die Stelle. Es wird von „Opferbereit⸗ ſchaft“ und heiliger Pflicht geredet, und es werden alle die auch von uns behaupteten Vorzüge der politiſchen und ſtaatsbürgerlichen Be⸗ tätigung der Frauen aufgezählt. Aber auch darüber iſt man ſich wohl in Zentrumskreiſen nicht ganz einig, denn während in Düſſeldorf bei den letzten Wahlen 5000 Frauen für das Zentrum gearbeitet haben, ſteht in der „Mittelrheiniſchen Volkszeitung“ und im „Weſtfäliſchen Merkur“ zu leſen, daß „Unterrockspolitik in allen Ländern und zu allen Zeiten nur Unheil geſtiftet habe“, und daß die Frau „im Kampf der politiſchen Gegenſätzlichkeiten ihre beſten Kräfte vergeude, ihr Beſtes von ſich würfe und am Ende daſtände mit leeren Händen und ausgebranntem Herzen“. Aber wohlgemerkt, hier handelt es ſich um einen Artikel zum Stimmrecht. Mittlerweile aber ſchreiten — unbeeinflußt durch alle, die ſich er⸗ eifern — die Tatſachen weiter, die, ſolange unſere induſtrielle und Die Duelldebatten im Reichstag. 92 geiſtige Entwicklung ihren Kurs behält, zum Frauenſtimmrecht führen müſſen. Wer ſich — wie das mit dieſer Intenſität wohl nur die Frauenbewegung getan hat — in dieſe Tatſachen eingelebt, ihre Be⸗ deutung für das Frauenleben einmal ermeſſen hat, den kann kein Gegner, aber auch nicht einmal ein tatſächlicher Rückſchlag wie der im engliſchen Parlament, in ſeiner Überzeugung erſchüttern. Die Duelldebatten im Reichstag. („Die Frau“, Juni 1912.) Eine pſychologiſch merkwürdige Verkettung von ſozialen, ſittlichen, religiöſen Inſtinkten und Vorſtellungen enthüllt uns jede Erörterung der Duellfrage, an der gleichmäßig Vertreter aller Volksſchichten be⸗ teiligt ſind. Tief wurzelnde Gegenſätze des individuellen und des Klaſſenempfindens bleiben trotz der äußeren Einigung auf Reſolutio⸗ nen beſtehen — das hat auch diesmal die Debatte im Reichstag wieder deutlich gezeigt. Es hätte dazu nicht einmal der unendlich langen Reden bedurft. Man kann vielleicht ſagen, daß keine Frage ſo ſehr wie dieſe — in der die rationalen Maßſtäbe mit irrationalen, elemen⸗ taren Forderungen und Urteilen des Gefühls ſich ſo merkwürdig miſchen — Stichproben bis in die Tiefe deſſen geſtatten, was man Volksgeiſt oder Zeitgeiſt nennen kann. Ohne Frage: die Entſcheidung ebenſo wie die Debatte ſelbſt liegt, ſoziologiſch angeſehen, auf der Linie des fortſchreitenden Sieges der bürgerlichen Kultur über die feudale. Das iſt der eigentliche Kern des Problems, aus dem es ſich erklärt, daß das Rechtsbewußtſein und die ſittlichen Sympathien zwiſchen den beiden Anſchauungen hin und her ſchwanken. Die Duellfrage iſt nicht ſo einfach und glatt wie manche andere ſittliche Frage sub specie aeterni mit einem ſittlichen Ja oder Nein zu beantworten, ſo klar auch die religiöſen und ſittlichen Geſetze hier das Nein ſprechen (ebenſo wie über den Krieg!). Sie hat nicht nur ihre abſtrakt ſittliche, ſondern auch ihre kulturelle und ſoziale Seite, von der aus ſie viel problematiſcher erſcheint. Die Duelldebatten im Reichstag. 93 Darum iſt der Standpunkt des ſozialdemokratiſchen Redners, der einfach von „Mördern“ ſprach, ebenſo unbrauchbar für die Beurteilung der Frage wie die höhniſche Haltung ſeiner Partei bei den Ausfüh⸗ rungen des Kriegsminiſters. Wer überhaupt kein Verſtändnis für den urſprünglichen Sinn des Duells — das Einſetzen des Lebens für die perſönliche Ehre — beſitzt, wird auch nicht kompetent ſein, die Kom⸗ pliziertheit des Problems zu ermeſſen und die Löſung zu finden. Es iſt zwar bequem, aber doch eine vollkommene Vergewaltigung der mo⸗ raliſchen Situation, wenn man mit dem Ausdruck „Mord“ die Tat⸗ ſache zudeckt, daß hier zwei Menſchen mit freiem Willen (es iſt natür⸗ lich die ideelle Vorausſetzung, daß keiner unter einem Zwang ſteht) beſchließen, einen Ehrenhandel mit der Waffe zum Austrag zu bringen. Für das Zentrum iſt der Standpunkt leicht gefunden. Wenn man prinzipiell ausſchließlich den religiöſen Maßſtab zu vertreten hat, ſo iſt die radikale Ablehnung ja ſelbſtverſtändlich. Charakteriſtiſcherweiſe war ſie aber nicht ganz radikal, — wie der Abgeordnete Ledebour mit Recht hervorhob. Sie hielt ſich ſo suaviter in modo, daß das Prinzip dabei bedenklich ins Wackeln kam. Denn auch darin hatte die ſozialdemokratiſche Kritik recht, daß die Kabinettsorder vom 1. Januar 1897 prinzipiell auf dem Boden des Duells ſteht und es nur auf äußerſte Fälle beſchränkt wiſſen will. Der Abgeordnete Groeber ver⸗ ſuchte, dieſen Sinn aus der Kabinettsorder hinauszudeuten, um ſich mit ſeiner Partei auf den Boden dieſer Order ſtellen zu können. Aber aus den Worten, die er zitierte, geht ja dieſer Sinn ganz unzwei⸗ deutig hervor. Da ſteht, daß der Offizier im Falle der Beleidigung die zur Verſöhnung gebotene Hand annehmen ſolle, „ſoweit Standes⸗ ehre und gute Sitte es zulaſſen“. Und wenn ſie es nicht zulaſſen? Da ſteht ferner, daß das Ehrengericht ſich beim Austrag von Ehren⸗ händeln „gewiſſenhaft bemühen ſolle, einen gütlichen Ausgleich herbei⸗ zuführen“. Und wenn er ſich nicht herbeiführen läßt? In beiden Fällen bleibt doch der Austrag mit den Waffen die ſtillſchweigend zu⸗ gegebene Notwendigkeit. Und kein prinzipieller Gegner des Duells könnte die Kabinettsorder für ausreichend halten, oder gar ſich aus⸗ drücklich mit ihr einverſtanden erklären. Vollends in Schwierigkeit kommen die Konſervativen, die den Die Duelldebatten im Reichstag. 94 Feudalismus und zugleich die Religion ſtützen wollen — die deshalb erklären müſſen, daß der Zweikampf gegen göttliches und menſchliches Geſetz verſtößt, aber ihn doch zugleich prinzipiell aufrechterhalten. Graf Weſtarp war ſehr klug, daß er dieſe widerſpruchsvolle Erklärung ohne weiteren Kommentar abgab — der ihre Brüchigkeit ja nur noch heller ins Licht hätte ſetzen können. In der günſtigſten Lage ſind von vornherein die liberalen Par⸗ teien als Vertreter des Bürgertums und zugleich einer rationalen Auffaſſung der ſittlichen Seite der Frage. Ihre Äußerungen zu der Sache hatten deshalb auf alle Fälle den Vorzug, daß ſie logiſch be⸗ friedigen konnten. In ſeiner Eigenſchaft als einer Klaſſen ſitte liegt in der Tat die ganze Problematik des Duells, liegt ſeine vollkommene Unhaltbar⸗ keit für unſere Zeit. Der Kriegsminiſter ſagte: „Die Stellung zum Duell iſt eine Gefühlsſache, und zwar allerperſönlichſter Art.“ Tat⸗ ſächlich wird aber keinem Offizier oder überhaupt einer Perſönlichkeit, die auf „Satisfaktionsfähigkeit“ Anſpruch machen will, geſtattet, dieſe Sache als Gefühlsſache allerperſönlichſter Art zu betrachten. Viel⸗ mehr tritt ſtatt ſeiner eigenen Ehre und ſeines eigenen Ehrgefühls der Stand ein. Er entſcheidet (in der äußeren Inſtanz des Ehrengerichts oder der inneren der Gewohnheit), ob der Mann in einer Form be⸗ leidigt iſt, die ihn zum tätlichen Austrag zwingt — im Intereſſe des Anſehens ſeines Standes. Ja, auch die Satisfaktionsfähigkeit des Gegners iſt — vollkommen widerſinnigerweiſe — nicht mehr eine Sache individueller Beurteilung. Ein notoriſcher Lump kann das Recht beanſpruchen, daß von ihm ausgeſprochene Beleidigungen mit dem Leben des Beleidigten aufgewogen werden, ſofern dieſer Lump nur einem ſatisfaktionsfähigen Stand angehört — und von allen Widerſinnigkeiten des Duells gibt es wohl nichts Widerſinnigeres, als daß hier der Stand um ſeiner ſogenannten Ehre willen den wertvollen Menſchen den Launen und Unerzogenheiten des minderwertigen aus⸗ liefert. Auch in den Duellſitten ſpielt ja die Vorſtellung eine Rolle, daß es Menſchen gibt, die einen „nicht beleidigen können“, die Vor⸗ ſtellung von einer möglichen Ungleichartigkeit des Einſatzes, wenn unterſchiedslos Leben gegen Leben geſetzt wird. Die Duellſitte aber verflacht dieſe Vorſtellung zu dem Begriff der Satisfaktionsunfähig⸗ Die Duelldebatten im Reichstag. 95 keit, der nur nach dem Stand und nicht nach der Individualität des Beleidigers fragt. Durch dieſe Umſtände kann in der Tat das Duell zum Mord werden — und wird es oft genug dadurch, daß ein Teil oder beide dazu gezwungen werden, ſich alſo nicht mit freiem Willen der Todesgefahr ausſetzen. Und andrerſeits: ſolange zugeſtanden wird, daß der Ehrenkodex des Standes einen Zwang ausübt, der über die individuelle Ent⸗ ſcheidung hinweg von dem einzelnen ſchematiſch das Duell ver⸗ langt, iſt es im Grunde billig, daß den Betroffenen nicht die volle Strafe des Verbrechers trifft, der unter eigener Verantwortung han⸗ delt. Eins iſt ohne das andere logiſch nicht denkbar. Entweder Quell⸗ zwang und Strafermäßigung — oder Aufhebung des Duellzwangs in jeder Form und dann volle kriminelle Haftbarkeit des einzelnen. Da das erſte unhaltbar geworden iſt, bleibt nur das zweite. Das hieße praktiſch die Duelle auf ein paar äußerſte Fälle einſchränken. Solche Fälle bleiben vielleicht immer denkbar. Sie würden dann etwa ebenſo zu beurteilen ſein wie jene anderen denkbaren und vorgekommenen, wo jemand z. B. einen Meineid auf ſich nimmt um einer ſeinem per⸗ ſönlichen Empfinden nach unvermeidlichen Diskretionspflicht willen, dann aber mit der vollen kriminaliſtiſchen Konſequenz der Zuchtyaus⸗ ſtrafe. Erſt dann könnte davon die Rede ſein, daß, wie der Kriegs⸗ miniſter ſagt, „der Offizier ſich ohne Murren der verwirkten Strafe unterwirft“, nachdem er ſich bewußt und aus freier Entſcheidung um des für ſein Gefühl wertvolleren Gutes willen mit dem Geſetz in Kon⸗ flikt gebracht hat. Eine ſolche Situation jemandem aufzuzwin⸗ gen, widerſpricht ihrem moraliſchen Sinn, heißt ſie vollkommen ent⸗ werten, ja in eine ſittlich prekäre verwandeln. Der Kriegsminiſter hat zwei Gründe für die Aufrechterhaltung des Duellzwanges angeführt: den einen, daß der Offizier von Berufs wegen die mutige Bereitſchaft, ſein Leben einzuſetzen, zu jeder Zeit beweiſen, und den zweiten, daß um des kameradſchaftlichen Geiſtes im Offizierkorps willen in Ehrenfragen eine einheitliche Praxis herrſchen muß. Angeſichts dieſer Begründung muß man wirklich fragen, ob die Duellſitten in der Tat die denkbar überzeugendſten Beweiſe von der perſönlichen Tapferkeit des Offizierſtandes ſind. Ob nicht viel⸗ Die Duelldebatten im Reichstag. 96 mehr gerade dieſe Anſchauung, die dem Duell den Wert einer Stich⸗ probe für den perſönlichen Mut zuſpricht, der Grund für ſo viele leicht⸗ fertig und überflüſſig herbeigeführte Renommierduelle iſt — ob es überhaupt dem Bewußtſein einer gefeſtigten Standesehre entſpricht, ſolche Beweiſe für etwas, was unzweifelhaft ſein ſollte, für nötig zu halten. Ob nicht der Verzicht auf ſie den moraliſch viel wertvolleren Beweis liefern würde, daß unſer Offizierſtand erzogen und diszipli⸗ niert genug iſt, um der perſönlichen Ehre des einzelnen auch ohne die blutige Drohung im Hintergrunde vollkommene Sicherheit in den eigenen Kreiſen zu gewähren. Darin ſollte der kameradſchaftliche Geiſt des Offizierkorps ſich betätigen, und von ſolchen Offizieren, denen die Achtung vor der Ehre der Kameraden nicht ſelbſtverſtändlich iſt, ſollte das Wort des Kriegsminiſters gelten, daß ſie „in einen Gegenſatz zu den Grundüberzeugungen ihrer Kameraden geraten ſind, der nicht ertragen werden kann“. Unſere Zeit kann mit einem ſolchen an die Klaſſe geknüpften Ehrbegriff nichts mehr anfangen. Wir empfinden dazu einerſeits zu demokratiſch, andererſeits zu individualiſtiſch. Der Anſpruch eines einzelnen Standes auf das Recht der Selbſthilfe wird als eine Un⸗ gerechtigkeit empfunden — es iſt unmöglich, ihn auf die Dauer im Strafgeſetz anzuerkennen. Andererſeits ſehen wir ebenſo klar die indi⸗ viduelle Unzulänglichkeit eines auf das Klaſſenintereſſe zugeſchnitte⸗ nen Ehrbegriffs in ſeiner notwendigen Einſeitigkeit, Veräußerlichung und Unzeitgemäßheit. Das Gefährliche und Verwirrende dieſes ſtandesgemäß eingeengten Ehrbegriffs liegt nach zwiefacher Richtung. Man erlaubt ſich — und das zu beobachten haben wir ja Gelegenheit genug — in allen nicht in dieſe Vorſtellung von Ehre eingeſchloſſenen Dingen jede Laxheit. Etwa in den Anforderungen der einfachen bürgerlichen Solidität und Rechtſchaffenheit in Geldſachen — oder im Verkehr mit Frauen, die keine „ſatisfaktionsfähigen“ Angehörigen haben. Hier gilt, wie jeder weiß, eine gewiſſe großartige Rückſichtsloſigkeit, die man in anderen Ständen ganz anders nennen und bewerten würde, für nichts anderes als eine liebenswürdige, kavaliermäßige facon de vivre, die ihren feudalen Zauber eben auf dem Hintergrunde der unantaſtbaren „Stan⸗ Die Duelldebatten im Reichstag. 97 desehre“ gewinnt. Auf dieſem Hintergrunde wird Gewiſſenloſigkeit in Geld⸗ und Liebesſachen zur „noblen Paſſion“. Und was ebenſo bedenklich wirkt: dieſer veräußerlichte, von dem Wert des einzelnen gar nicht mehr abhängige Ehrbegriff gibt dem belangloſeſten Menſchen ein Gefühl von Wichtigkeit, das ſeine Pointe gerade an der verkehrten Stelle hat. Nämlich in der Aufmerkſamkeit auf die Rückſicht und Anerkennung, die andere Menſchen der zu be⸗ hauptenden Standeswürde zollen. Gerade das rein Gefühlsmäßige, Irrationale dieſes Ehrbegriffs, das der Aufbauſchung durch das ſub⸗ jektive Selbſtgefühl jeden Spielraum läßt, verführt ja zu der arrogan⸗ ten und einfältigen Wichtigtuerei, die ſich an der Jugend der oberen Zehntauſend womöglich ſchon in der Schule beobachten läßt. Hier liegt auch eine Urſache der Schülerſelbſtmorde — in dieſer verwirrenden, vagen, aber um ſo rigoroſer angewendeten Vorſtellung der verletzlichen Mannesehre, die zwar keineswegs verbietet faul zu ſein und im all⸗ gemeinen auf perſönliche Pflichtverletzungen keine Anwendung findet, aber auf jede Deutlichkeit des Lehrers reagieren zu müſſen glaubt. Denn zu der Bedenklichkeit der Duellſitte innerhalb des Offizier⸗ ſtandes kommt nun noch ihre vollkommen ſinn⸗ und ſtilloſe Übertragung auf andere Schichten, die berufsmäßig mit der Waffe gar nichts zu tun haben. Hier kommt es am ſtärkſten zum Ausdruck, daß es ſich beim Kampf um das Duell um den Kampf zweier Kulturen handelt, einer abſterbenden mit einer emporſteigenden. Die moderne Geſell⸗ ſchaft beruht eben weder äußerlich auf den Leiſtungen derer, die eine Piſtole oder eine Klinge mit fachmäßiger Gewandtheit zu führen ver⸗ mögen (ſelbſt für die Kriegsführung iſt ja doch heute die Wichtigkeit des Ingenieurs und Technikers gegenüber der des Soldaten unendlich geſtiegen) — noch innerlich auf dem Reſpekt vor der Waffe und auf Ehrfurchtsgefühlen, die nur durch blutige Beweiſe des perſönlichen Mutes lebendig gehalten werden können. Man mag in dieſer Tat⸗ ſache das Außerkurskommen gewiſſer ritterlicher Tugenden bedauern — für ihren Reiz und Wert wird jeder empfänglich ſein. Aber trotz⸗ dem iſt es ehrlicher und würdiger, ſich dieſe Tatſache klar zu machen, als das, was ehemals einen guten und edlen Sinn hatte, als eine Theaterpoſe weiter kultivieren. Denn dazu iſt das Duell heute ge⸗ worden. Die moderne Geſellſchaft muß nun einmal das Schwergewicht Lange, Kampfzeiten. II. 7 Die Duelldebatten im Reichstag. 98 ihrer Anſprüche an den einzelnen auf andere Seiten perſönlicher Tüch⸗ tigkeit legen. Sie verlangt ſtatt der raſchen, heroiſchen Opferbereitſchaft des Moments, zu der ſie im natürlichen Verlauf der Dinge wenig Menſchen mehr Gelegenheit gibt, die ausdauernde Gewiſſenhaftigkeit im Tragen rieſiger, unabſehbar weit reichender Verantwortungen, die heute, wo alle menſchliche Leiſtung ſo vielfältig ineinandergreift, dem einfachſten Menſchen — dem Beamten einer Bank oder dem Ar⸗ beiter, der eine Maſchine bedient, auferlegt ſein können. Sie ſtellt — in der viel größeren Kompliziertheit ihrer äußeren und inneren Zuſammenhänge — den einzelnen viel mehr auf das eigene ſittliche Urteil, weil es ſchlechtweg unmöglich iſt, ihm ſein Verhalten klaſſen⸗ mäßig vorzuſchreiben. Und ſchließlich: ſie muß andere Begriffe von der Verletzbarkeit der perſönlichen Ehre ſchaffen, Begriffe, die den einzelnen unabhängiger von der üblen Nachrede anderer machen. Dieſe üble Nachrede verliert doch in der Tat an Gewicht, wo Tauſende von Menſchen in einem gegen früher ganz anders gearteten öffentlichen Leben jeder Art böswilliger und entſtellender Kritik ausgeſetzt ſind, die in jedem einzelnen Fall als Ehrenhandel zu verfolgen ſich einfach von ſelbſt verbietet. Auch eine Verſchärfung der Strafbeſtimmungen gegen Beleidigung, wie ſie der Kriegsminiſter fordert, iſt da doch zweiſchneidig, obwohl einen die Argumentation des Herrn Ledebour, die auf die Freigabe des Schimpfwortes hinaus wollte, eher für den Standpunkt des Kriegsminiſters als gegen ihn ſtimmen könnte. Sie iſt zweiſchneidig, weil es dann in jedem Fall „Ehrenſache“ ſein würde, einen Prozeß anhängig zu machen, und was ein ſolcher mit dem Aus⸗ kramen intimſter perſönlicher Angelegenheiten, ſelbſt wenn es ſich um ſittlich unantaſtbarſte Menſchen handelt, an Peinlichkeit haben kann, wiſſen wir ja aus ganz ausreichenden Beiſpielen ſchon heute viel zu gut, als daß wir eine Vermehrung ſolcher Prozeſſe wünſchen könnten. Da iſt die geſellſchaftliche Sanktion des Standpunktes, daß gewiſſe Beleidigungen die perſönliche Ehre nicht zu treffen vermögen und darum ignoriert werden dürfen, das einzig Mögliche. Ein Teil der im Reichstag angenommenen Reſolution, der dem „Ehrloſen“ gegen⸗ über vom Duellzwang dispenſiert, bahnt ja auch dieſen Standpunkt an. An einer ſolchen Umbildung der Anſchauungen über Duell und Ehre muß den Frauen ganz beſonders gelegen ſein. In doppelter Die Duelldebatten im Reichstag. 99 Hinſicht. Duellſitte und Patriarchalismus hängen aufs engſte zuſam⸗ men: wie eng, das zeigten auch die Verhandlungen des Reichstags in der Form, in der von dem Ehebruch als Urſache des Duells geſprochen wurde. Dieſe merkwürdige und für jede ſelbſtbewußte Frau ſo be⸗ fremdende Art, zu formulieren: wenn „einem Manne ſeine Frau oder Tochter verführt wird“. Als ob man ſagte, „wenn einem ſeine Katze geſtohlen wird“. Dieſe unbewußte Herabdrückung der Frau unter das Maß perſönlicher Verantwortlichkeit, das in einem ſolchen Fall dem Mann als Schuldigen oder Rächer zugeſchoben wird. Ihr Ausgeſchal⸗ tetſein aus dem Austrag des Falls, den die Männer als Beſitzer unter ſich erledigen. Und dieſer Begriff der „Familienehre“, die nichts an⸗ deres als eine erweiterte Mannesehre iſt, die von der Frau zwar verletzt, aber nicht behauptet werden kann. Denn was geſchieht, wenn der Mann die Familienehre verletzt, indem er ſeiner Frau untreu iſt? Welche der Duellpflicht des Mannes entſprechende Pflicht liegt in einem ſolchen Falle der Frau ob? Die Sitte gibt ihr kein Mittel, ihre verletzte Ehre wiederherzuſtellen, denkt gar nicht daran, daß damu: eine Notwendigkeit vorliegt. Wenn dieſe Notwendigkeit aber für den Mann poſtuliert wird, müßte ſie es folgerichtig auch für die Frau ſeim. Und das führt auf die andere Beziehung dieſer dem Duell zu grunde liegenden Auffaſſung von „Ehre“, zu der Stellung der Frauen. Das moderne Leben führt mehr und mehr Frauen in „ſatisfaktions⸗ fähige“ Berufe. Etwa als Ärztinnen. Solange die Anſchauung bleibt, daß eine ungerächte Verleumdung ein Flecken auf der Ehre iſt, hat die Frau einfach kein Mittel, den Anforderungen des Standes zu entſprechen. Was ſoll ſie gegenüber einer Beleidigung tun? Man wird doch nicht erwarten, daß ſie einen Angehörigen oder Kollegen bemüht? Allerdings trifft man da ja auf merkwürdige Irrwege der Ritter⸗ lichkeit und merkwürdige Anſichten bei den Frauen ſelbſt. Es ſoll Männer von ſchriftſtellernden Frauen geben, die den Kritikern grobe Briefe ſchreiben. Aus meinem eigenen Erfahrungskreiſe ſteuere ich folgenden Fall bei: Eine Frau hat anonym einen höchſt aggreſſiven Artikel irgendwo losgelaſſen. Die Vorſitzende der angegriffenen Or⸗ ganiſation ſchickt eine Erwiderung an die Redaktion, die dieſe Ver⸗ teidigung der Urheberin des Angriffs weitergibt. Nun entſpinnt ſich 7* Frauen und Politik. 100 eine Korreſpondenz, die — nicht die Verfaſſerin des Angriffs — ſondern für ſie ihr Mann mit der Forderung eröffnet, die Angegriffene habe ſich wegen ihrer Erwiderung bei ſeiner Frau zu entſchuldigen. Dieſe gediegene Begriffsverwirrung kommt natürlich auf das Konto ritter⸗ lich⸗patriarchaliſcher Anſchauungen, hinter die ſich in dieſem Fall die Frau wieder verkriecht, wenn es gilt, die Konſequenzen ihres ſelb⸗ ſtändigen Heraustretens zu ziehen. Unverkennbar ſind die Reichstagsdebatten mit ihrem Ergebnis, wenn auch der Natur der Sache nach kein praktiſcher, ſo doch ein mora⸗ liſcher Fortſchritt in der zeitgemäßen Umbildung der Ehrbegriffe. Von dieſer Umbildung hängt für die Frauen viel mehr ab als das Ver⸗ ſchwinden des Duells: die Anerkennung der ſelbſterworbenen Tüchtig⸗ keit (die nicht durch Tradition und Klaſſenzugehörigkeit erſt legiti⸗ miert zu werden braucht) als der einzigen unzerſtörbaren Grundlage jedes berechtigten und geſunden Ehrgefühls. Den Schutz dieſer Aner⸗ kennung hat niemand nötiger als die auf ſich geſtellte Frau, die er⸗ fahrungsgemäß auf anderen nicht rechnen kann. Wie lernen die Frauen Politik verſtehen? (Als Sonderdruck 1912.) Es gibt unter den Männern, die einer Erweiterung der Beteili⸗ gung der Frauen am öffentlichen Leben ganz verſtändnisvoll gegen⸗ über ſtehen, viele, die uns doch wieder und wieder verſichern, die Frau habe nun einmal keinen Kopf für „Politik“, darum müſſe ſie vor der Forderung des Frauenſtimmrechts haltmachen. In bezug auf Er⸗ ziehungsfragen, Wohlfahrtseinrichtungen, auch noch in bezug auf das kommunale Wahlrecht laſſe man mit ſich reden, dann aber ſei es zu Ende. Und unter dem wohltätigen Dunkel des Fremdworts geht ihnen dieſe Argumentation nur zu häufig ungeſtraft durch. Denn viele Frauen denken bei dem Wort „Politik“ nur an die Bewilligung neuer Dreadnoughts, an diplomatiſche Beziehungen zu Rußland oder dem Vatikan, an Tripolis und Marokko, an Kriegserklärungen und Frauen und Politik. 101 Friedensſtipulationen, lauter Dinge, über die ſie ſich nicht kompetent fühlen zu urteilen. Es hat nun in der Tat eine Zeit gegeben, wo der Begriff „Po⸗ litik“ ſich ungefähr mit jener Kennzeichnung decken ließ, die Zeit, wo unter abſolutem Regiment Europa einem Kriegslager glich und dy⸗ naſtiſche Intereſſen ausſchlaggebend waren, wo der Arm der Polizei als Verlängerung eines höheren Armes die innere Politik beſorgte. Seit aber dieſe „innere Politik“, d. h. die Regelungen der Beziehun⸗ gen des Staates zu den eigenen Angehörigen, mit dem konſtitutio⸗ nellen Staatsweſen mehr und mehr in den Vordergrund tritt, ſteht es weſentlich anders. Wohl macht die äußere Politik, die Regelung der Beziehungen der Staaten zueinander, immer noch einen ſehr weſentlichen Teil der Politik aus. Das Techniſch⸗Fachliche der damit zuſammenhängenden Fragen beherrſchen naturgemäß aber auch nur wenig Männer. Es iſt ja überdies ein charakteriſtiſches Zeichen un⸗ ſeres parlamentariſchen Lebens, daß die auswärtigen Beziehungen eigentlich ohne ſtarke Mitwirkung der Volksvertretung durch diplo⸗ matiſche Aktionen der Regierung geregelt werden — wir haben dafür ja gerade ein beſonders kraſſes Zeugnis erlebt. — Treten aber einmal Fragen dieſer Art an die Abgeordneten heran, ſo leiten dieſe das Recht für ihr ſo oder ſo geartetes Votum aus einem Kanon allgemeiner Grundſätze ab, der ſie mit ähnlich Geſinnten zu einer Partei zu⸗ ſammenführt. Die Verantwortung trägt dann die Partei. Nun iſt es ein Satz, der mit der fortſchreitenden Entwicklung unſeres öffentlichen Lebens immer klarer wird, daß bei der Geſetz⸗ gebung, der Formulierung der Grundſätze, nach denen unſere innere und äußere Politik ſich regelt, keine Klaſſe eine andere vertreten kann. Daß es noch viel weniger möglich iſt, daß ein Geſchlecht das andere dabei vertritt, das iſt wenigſtens uns Frauen, die wir bei der Geſetzgebung bisher nur Objekt, nicht Subjekt ſind, ganz klar; bei den Männern macht man meiſtens die alte Erfahrung, daß die Phantaſie nicht weit reicht, wo ſie nicht mit dem Intereſſe gepaart iſt. Auch vielen Frauen iſt die Überzeugung, „daß die Frei⸗ heit eines Geſchlechts, dem ſeine Stellung fix und fertig vom andern Geſchlecht angewieſen wird, nur eine ſcheinbare“ iſt, erſt gekommen, als ſie dieſe Freiheit brauchten, als die Zahl der beruflich täti⸗ Frauen und Politik. 102 gen Frauen ſtieg und ſtieg, bis ſie faſt die Hälfte aller erwachſenen Frauen umſpannte, — als ihr ſoziales Intereſſe mehr und mehr wuchs und ſie vergebens verſuchten, die offenkundigſten Mißſtände in Strafgeſetz und Bildungsweſen, auf ſittlichem und pädagogiſchem Gebiet abzuſtellen, die nur ſie als Mißſtände empfanden, weil nur ſie davon betroffen wurden. Heute wächſt die Zahl der Frauen, die aus innerſter Überzeugung politiſche Rechte fordern, auch in ſonſt konſervativen Kreiſen von Tag zu Tag. Und damit ſteigt die Bedeu⸗ tung der Frage: „Wie lernen die Frauen Politik verſtehen? Der Allgemeine Deutſche Frauenverein hat bekanntlich vor kur⸗ zem ein „Politiſches Handbuch für Frauen“ herausgegeben. Will er damit etwa die Frage löſen? Das wäre als ob man durch einen Leitfaden der Finanzwiſſenſchaft einen Finanzmann oder durch die Lektüre des Seydlitz Geographen bilden wollte. Solche Leitfäden ſind für die Kenntnis der äußeren Umriſſe und der Terminologie unentbehrlich; ſie helfen die Erfahrungen regiſtrieren und rubrizieren, eine beſſere Ordnung innerhalb der Kenntnisgruppen ſchaffen: etwas weiteres vermögen ſie nicht. Oder ſollte etwa die neuerdings aufkommende Mode, nacheinander in je einem Vortrag Berufspolitiker aller Parteien vor einer weib⸗ lichen Zuhörerſchaft reden zu laſſen, ihrem politiſchen Verſtändnis wirklich aufhelfen können? Solche Vorträge ſind ſicherlich inſtruktiv, wenn man bereits politiſches Verſtändnis genug beſitzt, um die Partei⸗ ſchlagworte ausſchalten zu können und Folgerungen und Forderungen auf die programmatiſch feſtgelegten Intereſſen zurückzuführen, die in den Parteien ihre Vertretung haben. Sonſt werden ſie eher Ver⸗ wirrung anrichten als zum Urteil erziehen. Das ſehr ſummariſche Programm, das kürzlich ein Mädchenſchul⸗ oberlehrer einer unſerer bekannteſten Rednerinnen gegenüber ent⸗ wickelte, daß die Frau einfach das politiſche Glaubensbekenntnis des Mannes zu übernehmen habe, zumal ſie ſowieſo zur Bildung eines ſelbſtändigen politiſchen Urteils unfähig ſei, würde nun zwar unſere Frage mit einem Schlage löſen, d. h. überflüſſig machen. Nur möchte dazu eine Virtuoſität im Umlernen gehören, die nicht jeder Frau eigen ſein dürfte. Sie tritt nach dieſem Rezept mit der politiſchen Überzeugung des Vaters, die die Unverheiratete zeitlebens beibehält, in Frauen und Politik. 103 die Ehe, nimmt dann die vielleicht entgegengeſetzte des Mannes an, um dieſen Wechſel möglicherweiſe in einer zweiten Ehe zu wiederholen. Nun könnten wir aber doch ſchwerlich überall mit einer ſolchen geiſti⸗ gen Elaſtizität rechnen, auch wird leider das ganze Programm ſchon rein äußerlich durch die Tatſache ad absurdum geführt, daß ſich gerade heute die Frauen vielfach zu einer politiſchen Weltanſchauung be⸗ kennen, die ſie ganz außerhalb ihrer Kaſte und ihrer Überlieferungen ſtellt, ja daß die ganze Frauenbewegung eine Loslöſung von den politiſchen Überlieferungen bedeutet, und ſo kommen wir doch wieder zu unſerer Frage. Wir können ſie nun zunächſt etwas vereinfachen, wenn wir uns klarmachen, daß man Politik nicht ſo als Ganzes faſſen kann. Wenn wir die Debatten in den Landtagen verfolgen, merken wir bald, daß der eine über dieſes, der andere über jenes zu reden weiß, und daß die Mitglieder, die über alles reden, nicht eben immer den Nagel auf den Kopf treffen. Das wird denn auch von den Abgeordneten ſelbſt meiſt in der unter ihnen üblichen ſchonenden Form moniert, und der Leſer hat ſeine ſtille Freude, wenn etwa ein unvorſichtiger Agra⸗ rier ſeine Anſichten über ausländiſche Staatspapiere auskramt und ſich gefallen laſſen muß, als „wirtſchaftlicher Präraffaelit“ gekenn⸗ zeichnet zu werden. Das gibt uns aber ſchon einen Wink in bezug auf die Möglichkeit, Politik verſtehen zu lernen, deſſen weitere Ver⸗ deutlichung ich einem Manne überlaſſen möchte, da der nicht in den Verdacht kommen kann, in dieſen Fragen pro domo zu reden. In ſeinem Buch: „Common sense about Women“ hat der Amerikaner Thomas Higginſon die Frage, die uns hier beſchäftigt, gleich⸗ falls aufgeworfen. Er führt aus: „Ein engliſches Parlamentsmitglied ſagte vor einigen Jahren in einer Rede, daß der dümmſte Mann ein klareres Verſtändnis politiſcher Fragen hätte als die klügſte Frau. Er unterließ es, darauf einzugehen, in welchem Zuſtande ſich ein Volk befinden muß, das ſeit vielen Jahren eine Frau als Herrſcher hat; zweifellos ſagte er aber geradeheraus, was viele Männer empfinden. Es iſt nun nicht ſehr ſchwer, die Quelle dieſes Gefühls⸗ zu finden. Es liegt nicht nur daran, daß Frauen in Finanz⸗ oder Ver⸗ waltungsfragen unerfahren ſind, denn viele Männer verſtehen auch nichts davon. Aber es trifft zweifellos für eine große Klaſſe grundlegender Fragen zu, daß viele kluge Frauen ſie ſchwer verſtändlich finden, während Frauen und Politik. 104 Männer von viel geringerer allgemeiner Bildung ſie vollſtändig verſtehen. Fragen der Machtverteilung z. B. unter die exekutiven, rechtſprechenden und geſetzgebenden Körperſchaften der Regierung gehören zu der Klaſſe, die ich meine. Viele Frauen von großer geiſtiger Bedeutung verraten eine nebel⸗ hafte Unklarheit der Anſchauungen, wenn z. B. die Frage aufgeworfen wird, ob es zu den Obliegenheiten der Bundesregierung gehört, bei einer Wahl zum Kongreß für die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Wahl⸗ lokalen zu ſorgen, wie das die Republikaner behaupten, oder ob das ganz den ſtaatlichen Behörden überlaſſen bleiben ſollte, wie die Demokraten meinen. Die meiſten Frauen würden wahrſcheinlich ſagen, daß ſehr wenig darauf ankäme, wer die Ordnung aufrechterhält, wenn es nur überhaupt geſchieht. Geht man aber in einen Schuhladen oder zu einem Grob⸗ ſchmied, ſo kann man gerade dieſe Fragen nach allen ihren Beziehungen durch ungebildete Leute diskutieren hören und man merkt, daß ein Prinzip darin ſteckt. Warum beſteht nun dieſer Unterſchied? Deutet er auf einen in der Beſchaffenheit der Frau liegenden geringeren Grad dieſer beſonderen Fähigkeit? Dieſe Frage läßt ſich am beſten beantworten, wenn wir einen ganz ähnlichen Fall ins Auge faſſen. Die Neger von Süd⸗Carolina galten für ſehr dumm, auch bei vielen, die ſie genau kannten; und ſie waren ſicherlich in vielen Dingen völlig unwiſſend. Hätte man ihnen einen ſchwierigen Punkt der Finanzgeſetzgebung vorgelegt, ſo würden ſie ſich darin vermutlich ſogar noch unwiſſender erwieſen haben als ich ſelbſt. Nun galt in jenen Tagen die Abſchaffung der Sklaverei bei vielen großen Staatsmännern als eine ſo ſchwierige Frage, daß ſie eine Diskuſſion darüber vermieden; und trotzdem fand ich, daß dieſe unwiſſenden Leute ſie in all ihren Beziehungen ganz klar verſtanden. Verſuchte man ihnen ein wenig Sophiſtik zu bieten, ſie hinſichtlich dieſer Frage mit falſcher Logik zu blenden, ſo entdeckten ſie es ſo ſchnell und antworteten ſo ſcharfſinnig darauf, wie Garriſon oder Philipps getan haben würden, und ſie gaben tatſächlich ungefähr die gleichen Antworten. Was war der Grund dafür? Nicht, daß ſie halb klug und halb dumm waren, ſondern, daß ſie da ſchwer von Begriff waren, wo ihre eigenen Intereſſen ſie nicht erzogen hatten, und ſcharfſinnig und voll Ver⸗ ſtändnis, wo dieſe eigenen Intereſſen in Frage kamen. Ich zweifle nicht daran, daß es ebenſo mit den Frauen ſein wird, wenn ſie ſtimmen. Bei manchen Dingen werden ſie langſam lernen; aber in bezug auf alles, was ſie unmittelbar angeht, werden ſie von Anfang an mehr wiſſen, als viele weiſe Männer von Weltbeginn an gelernt haben. Wie lange hat es bei den Völkern engliſcher Zunge gedauert, bis ſie auch nur zum Teil die Ungerechtigkeiten des alten Rechts abgeſtellt haben! Ein Frauenparlament aber würde in einer einzigen Sitzung das angemaßte Recht des Mannes beſeitigt haben, ſeine Frau mit einem Stock, der nicht dicker als ſein Daumen iſt, zu züchtigen .... Ich habe nie Veranlaſſung Frauen und Politik. 105 gefunden, anzunehmen, daß die Frauen als ſolche in bezug auf allgemeine Fragen weiſer oder gewiſſenhafter handeln würden als Männer, aber der Selbſterhaltungstrieb ſchärft das Gehirn merkwürdig, und in allen Fragen, die ſich auf ihr Recht und ihre Entwicklungsmöglichkeiten als Frauen be⸗ ziehen, werden ſie gewitzt und ſcharfſinnig ſein, und die Männer ſich als ſtumpfſinnig erweiſen, wie ſie es ja in der Regel auch getan haben.“ Higginſon weiſt dann nach, daß überall da, wo die Frauen den öffentlichen Angelegenheiten naheſtehen, als Gattinnen von Politikern z. B., ſie ſich der Sachlage völlig gewachſen gezeigt hätten, und daß die im Dienſt der Regierung tätigen Frauen durchweg gewiegte Poli⸗ tikerinnen ſeien, weil ihr Brot damit zuſammenhänge. Er kommt dann zu dieſer Folgerung: „Wenn die Frauen als Geſamtheit zurzeit ungeeignet für die Politik erſcheinen, ſo kommt es daher, daß ihnen der Druck des perſönlichen Inter⸗ eſſes und der perſönlichen Verantwortung fehlt, durch den die Männer unbewußt erzogen werden. Gebt ihnen den, und das eigene Intereſſe wird das übrige tun, mit Hilfe der Macht des Gewiſſens und der Liebe, die ſicher in ihnen nicht weniger lebendig ſind als in den Männern, um nicht mehr zu ſagen. Eine junge Dame meiner Bekanntſchaft war aus verſchiedenen Gründen gegen das Frauenſtimmrecht, von denen einer der war, daß ſeine Durchführung ſie zwingen würde, die Zeitung zu leſen, was ſie ſehr ungern tat. Ich meinte, daß das kein zwingender Gegengrund ſei, da viele Männer früh und häufig ſtimmten, ohne ſie zu leſen, ja ohne überhaupt leſen zu können. Sie gab zur Antwort, das möge für Männer zutreffen, die Frauen ſeien aber viel gewiſſenhafter, und wenn ſie einmal gezwungen wären zu ſtimmen, wollten ſie auch wiſſen, wofür ſie ſtimmten. Das ſchien mir die ganze Philoſophie der Frage zu enthalten, und ich hatte alle Hochachtung vor dem Scharfſinn dieſer Argumentation, obwohl ich auf Grund dieſes Arguments zu der entgegengeſetzten Folgerung kam.“ Dieſe Gedanken ſind nun ſchon geeignet, unſere Zuverſicht hin⸗ ſichtlich der Möglichkeit, Politik verſtehen zu lernen, zu heben. In der Tat iſt es wohl ſchon mancher von uns ſo gegangen wie kürzlich einer Frau, die von der Galerie des Rathauſes den Debatten einer Stadtverordneten⸗Verſammlung über Mädchenbildung zuhörte und meinte: „Ich glaubte wenig vom Mädchenſchulweſen zu verſtehen, aber da kam ich mir ungeheuer klug vor.“ Sehen wir uns nun auf deutſchem Boden nach einigen Spezial⸗ fällen um, in denen Frauen als ſolche und auf ihre Kenntnis der Eigenart und der Bedürfniſſe ihres Geſchlechts geſtützt, vergeblich Be⸗ Frauen und Politik. 106 rückſichtigung ihrer Forderungen verlangten, ſo haben wir da embarras de richesse. Nur ein paar Beiſpiele aus dieſer Fülle. — Die in Handel und Induſtrie tätigen Frauen wiſſen ganz genau, was bei den Ge⸗ werbegerichten und Kaufmannsgerichten die Sachverſtändigkeit der Beiſitzer bedeutet; daß ein Klempnermeiſter und ein Schornſteinfeger nicht wohl in einem Streit einer Modiſtin mit ihrer Prinzipalin um die Ausführung eines Damenhutes ein ſachverſtändiges Urteil abgeben können, und daß für ſie deshalb die Gerechtigkeit bei gewerb⸗ lichen Streitigkeiten nur durch eigene Vertreter zu erreichen iſt; aber alle ihre Petitionen ſind abgelehnt worden. — Dieſelben Frauen wiſſen ferner ganz genau, daß ſie nur dann konkurrenzfähig bleiben können, wenn ſie ihren jungen Berufsgenoſſinnen eine fachliche Fortbildung ſichern. Die deutſchnationalen Handlungsgehilfen aber verſuchen es auf jede Weiſe, — und leider mit Erfolg — die gewerbliche Fort⸗ bildung für die „Kolleginnen“ zu hintertreiben und eine rein haus⸗ wirtſchaftliche an ihre Stelle zu ſetzen. — Umgekehrt: wir Frauen ſind von der Notwendigkeit überzeugt, die hauswirtſchaftliche Bildung gründlich und ſyſtematiſch zu betreiben; die preußiſche Frauenſchule von Mannes Gnaden fügt zu den übrigen Dilettantismen im Frauen⸗ bildungsweſen auch noch den hauswirtſchaftlichen. — Wir Frauen wiſſen, und die ſtudierenden Frauen erfahren es am eigenen Leibe, daß nur eine vollwertige Vorbereitung einen erfolgreichen Univerſi⸗ tätsbeſuch gewährleiſtet; der preußiſche Kultusminiſter gibt den ſo⸗ genannten höheren Lehrerinnenſeminaren die Berechtigung, ihre Ab⸗ ſolventinnen zum Studium auf das Examen pro fac. doc. zur Uni⸗ verſität zu ſchicken. — Wir Frauen wiſſen, wie notwendig gerade unſeren heranwachſenden Mädchen die weibliche Leitung in der Schule iſt. Es gibt Staaten in Deutſchland, in denen die Männermajori⸗ täten dieſe Leitung, obwohl ſie von einer einſichtigen Regierung wenigſtens zugelaſſen werden ſollte, direkt verwerfen, alſo für ſchädlich erklären — wobei man nur fragen möchte: ob für die Mädchen oder für die auf die Leitung reflektierenden Männer. — Wir Frauen wiſſen, und erfahren es in unſeren Rechtsſchutzvereinen täglich aufs neue, zu welchen furchtbaren Zuſtänden unſere Ehegeſetze führen, die dem Manne das Beſtimmungsrecht über die Kinder, das Vermögen, über alle weſentlichen Entſchließungen der Frau geben. Frauen und Politik. 107 Wir ſehen all das unſägliche Unheil, das aus dieſer Geſchlechtsvor⸗ mundſchaft erwächſt, aber alle Proteſte der Frau ſind von der Reichs⸗ tagsmajorität abgelehnt worden. — Wir Frauen wiſſen genau, daß 14 jährige Mädchen den ſchlimmſten ſittlichen Gefahren ausgeſetzt ſind, denen zu widerſtehen ihre ſchwache Kraft nicht ausreicht, wenn das Geſetz nicht mit den ſchwerſten Strafen gegen ihre Verführer vorgeht. Die Männermajorität aber erklärt ſie für ſittlich reif genug dazu. — Wir Frauen wiſſen aus der perſönlichen Erfahrung und der ſozialen Arbeit, daß auf vielen Gebieten des innerſten Gefühlslebens eine ſo grundlegende Verſchiedenheit zwiſchen den Geſchlechtern beſteht, daß es für den Mann faſt unmöglich iſt, die Frau hier vollkommen zu verſtehen und ihr als Richter gerecht zu werden. Und doch hat erſt jetzt wieder der Reichstag das Verlangen der Frauen nach weiblichen Schöffen abgelehnt. — Wir Frauen wiſſen, daß die Reglementierung kein Schutz iſt, aber eine verhängnisvolle Degradation für unſer Ge⸗ ſchlecht bedeutet. Aber der Männerſtaat läßt die alten Beſtimmun⸗ gen beſtehen. Jede einzige von uns, die im Berufsleben oder in ſozialer Arbeit ſteht, ſtößt immer wieder auf Ungerechtigkeiten dieſer Art. Es wäre natürlich ganz verfehlt zu behaupten, daß bei den Geſetzgebern die Abſicht einer ſolchen Ungerechtigkeit vorgelegen hätte; im Gegen⸗ teil, ſie ſind gewiß überzeugt davon geweſen, zum Beſten der Allge⸗ meinheit und damit auch der Frau zu handeln. Das waren jene alten engliſchen Geſetzgeber ſicherlich auch, als ſie dem Manne erlaubten, ſein Weib zu prügeln, wenn nur der Stock nicht dicker ſei als ſein Daumen; — manche Männer haben ja nun recht reſpektable Daumen. Symboliſch genommen, dürfte manches unſerer Geſetze ſich als ebenſo unglaublich erweiſen. Ich brauche nur an unſere Bildungskämpfe zu erinnern: ſie werden nicht eher ein Ende finden, als bis wir ſelbſt in der Lage ſind, die Beſtimmungen über uns zu beeinfluſſen. Wir ſehen: für das, was man im eigentlichen Sinne „Intereſſen⸗ politik“ nennt, iſt ſchon geſorgt. Die Frauen würden das genau ebenſogut machen können wie Agrarier, Induſtrielle, Arbeiter, Volks⸗ ſchul⸗ und Oberlehrer, Handlungsgehilfen, Landräte und die Regie⸗ rung ſelbſt. Und es iſt ganz augenfällig, in wie hohem Grade das Intereſſe den Intellekt ſchult und auch bei den Frauen das Verſtänd⸗ Frauen und Politik. 108 nis für ſonſt weitab liegende Dinge weckt. Die doch ſicherlich recht trockene Materie der Privatbeamtenverſicherung iſt in den Kreiſen der kaufmänniſchen weiblichen Angeſtellten und Lehrerinnen mit über⸗ raſchender Sachkenntnis diskutiert worden. Sie hatten nicht nur die Paragraphen an Fingers Enden, die auch die Männer intereſſieren, ſondern ſie rechneten ſcharf nach, wo ihnen ein beſonderer Nachteil erwuchs, wie bei der Heranziehung zur Reliktenverſorgung, und ſie wußten Abhilfe vorzuſchlagen auf einer zahlenmäßig nachzuprüfen⸗ den Grundlage, die jenen alten Rechenlehrer mit dem Axiom: „Mächen können nicht rechnen“ in großes Erſtaunen geſetzt haben würde. Aber freilich, mit der Intereſſenpolitik allein iſt's nicht getan. Und wenn ich vorhin lauter Fälle anführen konnte, in denen die Schädigung der Frauen zugleich eine Schädigung der Gemeinſchaft bedeutet, wenn es dieſer auch noch nicht einleuchten will, ſo können doch auch Fälle eintreten, wo die reine Intereſſenpolitik der Frauen ebenſo ſchädlich für die Geſamtheit werden könnte, wie die irgendeiner anderen Intereſſentengruppe. Wo ſind die Grenzen, und wo gewinnen die Frauen die politiſche Einſicht, die ſie reſpektiert? Auch da wollen wir zunächſt den praktiſchen Weg betrachten, der dahin führt. Er geht über die ſoziale Arbeit. Als die Frauen zuerſt in dieſe Arbeit eintraten, von niemand gerufen, von vielen abgewie⸗ ſen, war zweifellos ihre theoretiſche Einſicht noch gering. Aber für die meiſten Zweige brachten ſie ein Stück praktiſcher Vorſchulung mit. Galt es doch in den meiſten Fällen nichts weiter, als Frauentätigkeit, vom Hauſe her lieb und vertraut, auf das öffentliche Leben übertragen. Und iſt doch umgekehrt unſere kommunale Wohlfahrtspflege vielfach nichts weiter als die öffentliche Organiſation von Aufgaben, die früher das Haus zu erfüllen hatte. Darum iſt es auch nicht verwun⸗ derlich, daß ſich die öffentliche Tätigkeit der Frau auf allen Gebieten der Wohlfahrtspflege ſo durchaus bewährt hat, daß niemand mehr daran denkt, ſie abſchaffen oder auch nur vermindern zu wollen. Aber wenn die Öffentlichkeit von dieſer Tätigkeit der Frauen ihren Nutzen gehabt hat, ſo iſt der Nutzen, den die Frauen ſelbſt da⸗ von hatten, ſicherlich ebenſo groß. Sie iſt ihnen zu einer gewaltigen Erziehungsſchule geworden. Wenn die vielgeſchmähte, aber doch kräf⸗ tigſt ausgenutzte „alte Jungfer“ der guten alten Zeit zu einer immer Frauen und Politik. 109 ſelteneren Erſcheinung wird, ſo iſt das wohl mehr die Folge der ge⸗ ſunden und befriedigenden Berufstätigkeit. Wenn aber auch die Hausfrau und Mutter anfängt, über die vier Wände ihres Hauſes hinauszuſehen, wenn ſie weiß, und ihre Kinder lehrt, daß ein Teil ihrer mütterlichen Sorge auch denen da draußen gehören muß, wenn unter den Beſſeren die Erkenntnis von der unendlichen Öde unſeres geſelligen Lebens im Wachſen begriffen iſt, ſo ſind das Folgen dieſer Erziehung der Frau durch die praktiſche ſoziale Arbeit. Aber noch eine wichtige theoretiſche Einſicht reift unter dieſer Arbeit. Die darin ſtehenden Frauen kommen allmählich dahinter, daß es mit der bloßen Gehilfinnenſtellung, die ihnen anfangs zugeteilt wurde, auf die Dauer nicht geht, daß ſie vollberechtigt und ſelbſtändig neben dem Manne ſtehen müſſen, wenn ſie ſeine Tätigkeit wirklich aus ihrer Eigenart heraus ergänzen ſollen — auch da, wo es ihm nicht paßt. Auch für die Konſervativſten kommt der Tag dieſer Erkenntnis. Und einer weiteren: daß es nichts Iſoliertes im Staatsleben gibt. Wer Refor⸗ men im kommunalen Armenweſen will, muß ſich um die übrigen Zweige der Wohlfahrtspflege, muß ſich um die Finanzen der Kom⸗ mune kümmern, muß die Grenzen der ſtädtiſchen Selbſtverwaltung in Betracht ziehen, muß ſich mit Geſetzen bekannt machen, die ihn rein theoretiſch vielleicht nicht intereſſiert hätten. Die Einflüſſe der ſtaat⸗ lichen Geſetzgebung auf die kommunale Verwaltung, der allgemeinen Praxis auf die beſondere tritt in das Bewußtſein, und jede denkende Frau kommt auf dieſem Wege zu der Überzeugung, daß es ohne Stimmrecht, ohne die Möglichkeit eines Einfluſſes auf die Geſetz⸗ gebung keinen wirklichen Einfluß der Frau auf die Geſtaltung der Dinge im öffentlichen Leben gibt. Will ſie die Lage der Frau, des Kindes im Hauſe beeinfluſſen, die Lage der Frau und des Kindes in der Gemeinde, ſo muß ſie die Möglichkeit einer Einwirkung auf die geſetzliche Grundlage für die Geſtaltung der Einzelexiſtenz haben: das iſt eine unausweichliche Schlußfolgerung. So wie wir denken, hat ſich damit die praktiſche Arbeit in der Kommune als ein ſehr weſent⸗ licher Faktor für die Erziehung der Frau zum Verſtändnis der Politik erwieſen. Zweifellos kommt aber die Frau auf dieſem Wege auch zu einer Summe praktiſcher ſozialpolitiſcher Kenntniſſe und Einſichten, die ſie Frauen und Politik. 110 weit über die bloße Intereſſenpolitik hinausführen. Viele in der ſozialen Arbeit ſtehende Frauen würden ſchon heute für die ſoziale Geſetzgebung Vorſchläge machen können, die wertvolle und bedeutſame Verbeſſerungen für die Allgemeinheit darſtellen. Es bleibt nur noch die Frage: ſind ſie ausführbar, und ſind ſie es unter den heutigen Verhältniſſen. Wenn wir — und wir müſſen das ja — in das politiſche Ver⸗ ſtändnis auch die Fähigkeit der Abwägung der durch Zeit und Verhält⸗ niſſe gegebenen Bedingungen miteinbeziehen, die richtige Einſchätzung der vielen Imponderabilien, die für den Realpolitiker bei jeder geſetz⸗ geberiſchen Tätigkeit in Frage kommen, ſo ſind wir damit offenbar bei dem ſchwierigſten Punkt unſerer Erörterung angelangt. Dieſe Fähigkeit kommt ja direkt nur erſt für die Frauen in Betracht, die — natürlich im Ausland — bereits in der Lage ſind, auf die Geſetz⸗ gebung einen Einfluß zu üben. Denn wenn ſie auch hinſichtlich ihrer übrigen politiſchen Überzeugungen bei einer Partei unterkriechen kann, in bezug auf das, was die Stellung ihres eigenen Geſchlechts betrifft, kann die Frau es nicht. Da muß ſie ſelbſt auf Grund von Erfahrun⸗ gen, die der Mann der Natur der Sache nach gar nicht machen kann, die Entſcheidung treffen, eine Entſcheidung, die bei aller Rückſicht auf das Wohl der Frauen doch auch das Wohl des Ganzen dauernd im Auge behält. Wenn die amerikaniſchen Frauen im Jahre 1848 in ihrer temperamentvollen „Declaration of Sentiments“ dem Manne eine bösliche Abſicht, eine bewußte Schuld an der Unterdrückung der Frauen beimaßen, ſo war das ſehr unhiſtoriſch gedacht; wenn ſie darauf beſtanden, „ſofort“ zu allen Rechten und Pflichten als Bürger der Vereinigten Staaten zugelaſſen zu werden, ſo war das mehr als naiv. Wie ſichern wir der Frau die politiſche Einſicht, die ſie vor un⸗ möglichen Geſchichtskonſtruktionen, und die Allgemeinheit vor unmög⸗ lichen Forderungen ſchützt? Ich habe ſchon zu Anfang geſagt, daß ich nicht der Meinung bin, man könne „politiſche Bildung“ direkt und unmittelbar, in einem geiſtigen Schnellverfahren, den Frauen einflößen. Solches Schnellver⸗ fahren bringt vielmehr die Gefahr einer politiſchen Ver bildung mit Frauen und Politik. 111 ſich, die darin beſteht, daß man nur mit dem Vokabularium des poli⸗ tiſchen Lebens — oder gar nur des Parteiprogramms — hantieren lernt, ohne ein deutliches Bewußtſein des wirklichen Ge wichts, der lebendigen konkreten Bedeutung aller dieſer Begriffe. Politiſche Bildung, im Sinne der Fähigkeit zu einer vernünftigen und einſichtigen praktiſchen Mitarbeit an politiſchen Fragen, kann nur als Teil einer tüchtigen und gründlichen Allgemeinbildung beſtehen. Nur der wird politiſches Verſtändnis und Urteil beſitzen, der überhaupt über eine ſolide Urteilskraft verfügt, der offene Augen für das Leben hat und gewohnt iſt, an die Gründlichkeit ſeines Begreifens gewiſſe Anſprüche zu ſtellen. Nur auf der breiten Grundlage deſſen, was man ganz im allgemeinen als Tüchtigkeit, geſundes Urteil, Objektivität, praktiſchen Blick — und im weiteren Sinne als hiſtoriſches Verſtänd⸗ nis bezeichnen kann, wird auch etwas aus der politiſchen Bildung im engeren Sinne. Die Frauen können ja im Parteileben, dem man ſie bisher wegen der Inferiorität ihrer geiſtigen Gaben fernhielt und dem ſie ſich daher mit einem gewiſſen Reſpekt nahen, unter anderem auch ſehr deutlich erfahren, was politiſche Bildung nicht iſt. Sie lernen hier — was ſie in etwas anderer Nuance ja übrigens auch aus der Frauenbewegung ſchon kennen — jenen Typus des politiſchen Schwa⸗ droneurs kennen, der meint, wenn man im Bruſtton der Überzeugung von Freiheit ſpreche und auf Junker und Pfaffen räſonniere, ſo ſei das Liberalismus; deſſen Liberalismus aber ſofort verſagt, wenn es darauf ankommt, zu einer im Parteiprogramm nicht vorgeſehenen Frage einen liberalen Standpunkt zu finden, — um ſo ſicherer ver⸗ ſagt, wenn ihm dieſer liberale Standpunkt Unbequemlichkeiten ver⸗ urſacht. Ein typiſches Beiſpiel für dieſe Form des Liberalismus ſind die ſogenannten „liberalen“ Lehrer, die von dem Augenblick an Hand in Hand mit dem politiſchen Gegner gehen und die freikonſervative „Poſt“ zu ihrem Spezialorgan machen, in dem es ſich um die Nutz⸗ anwendung ihres Liberalismus auf die Lehrerinnen handelt. Aber damit nicht der Verdacht entſteht, ich fände dieſes Schwadro⸗ neurtum etwa nur in einer Partei, oder auch nur mehr in der einen als in der anderen, möchte ich als auf ein typiſches Beiſpiel dafür auf die Reden hinweiſen, die bei der Verſammlung des Bundes der Landwirte im Zirkus Buſch gehalten zu werden pflegen. Auf welches Frauen und Politik. 112 Niveau wird das gewaltige wirtſchaftspolitiſche Problem der Ausein⸗ anderſetzung von Landwirtſchaft und Induſtrie in unſerem Vaterland etwa durch die Rede eines der Führer und durch die Zurufe ſeines begeiſterten Auditoriums heruntergezogen, von der ich folgendes Stück mit den Zwiſchenrufen zitieren möchte: „Der Bauernbund behauptet, daß der Bund der Landwirte Unzufrieden⸗ heit in die Maſſen des deutſchen Volkes trage. Gewiß hat der Bund jemanden unzufrieden gemacht, das ſind die breiten Maſſen der Kommerzien⸗ räte und der Millionäre, die 1909 ſich im Zirkus Buſch zuſammengefunden haben und unter einer gewiſſen Hypnoſe ſtanden, daß die neuen Steuern ſie arm machen würden. Wer ſchafft die Unzufriedenheit? Das iſt die Sozial⸗ demokratie. (Ruf: der Hanſabund!) Der Hanſabund und der Bauernbund. (Stürmiſcher Beifall. Rufe: Die Juden!) Wer erhält ſeine Mitglieder in Königstreue und lehnt dieſes Liebäugeln mit der Sozialdemokratie ab? Der Bund der Landwirte. (Minutenlanger ſtürmiſcher Beifall.) Welch eine primitive, unſachliche, verantwortungsloſe Art, eine der bedeutſamſten und ſchwerſten politiſchen Aufgaben Deutſchlands, den Ausgleich zwiſchen landwirtſchaftlichen und induſtriellen Inter⸗ eſſen anzuſehen. Man kann wirklich nicht behaupten, daß die Leute, die ſich in derſelben Verſammlung als „die Träger der deutſchen Zukunftskultur“ bezeichnet haben, ſich auf einem irgendwie höheren Niveau zeigen als die von ihnen ſo verachteten ſozialdemokratiſchen Berufsagitatoren. Im Intereſſe eben jener „Zukunftskultur“ unſeres Volkes müſſen wir einem anderen Maßſtab politiſcher Bildung zur Geltung verhelfen. Einem Maßſtab, den uns die Parteiprogramme an ſich noch nicht geben können, vor allen Dingen deshalb nicht, weil ſie im weſentlichen die äußeren Forderungen enthalten und alles das ungeſagt ſein laſſen müſſen, was dieſe Forderungen in tieferem Sinne zuſammenhält als Ausdruck einer Geſamtanſchauung des nationalen Lebens, ſeiner großen volkswirtſchaftlichen und ſozialen Fragen, ſeiner Kulturrich⸗ tungen und Kulturbedingungen. Politiſche Forderungen ſind eben nicht iſoliert von einer zuſam⸗ menhängenden Auffaſſung der volkswirtſchaftlichen, aber auch der geiſtigen Grundlagen des öffentlichen Lebens richtig zu erfaſſen und zu begründen. In dieſer Tatſache liegt der Wert einer tiefen und gründlichen Allgemeinbildung auch für die Auffaſſung des politiſchen Frauen und Politik. 113 Lebens. Denn was zum Beiſpiel Liberalismus bedeutet, erfaßt der ſicher noch nicht, der für Freihandel oder allgemeines Wahlrecht pro⸗ grammäßig eintritt. Es gehört dazu auch ein Verſtändnis für das, was für die deutſche Kultur die Idee der Freiheit, was ſie für die Ent⸗ wicklung des religiöſen Lebens, der Wiſſenſchaft, der Schule geſchicht⸗ lich geleiſtet hat; es gehört dazu eine Anſchauung von dem Weſen des modernen Wirtſchaftslebens, von den Hemmungen, die hier für eine ſolche freiheitliche Entwicklung liegen, von den Möglichkeiten, die ihr dienſtbar gemacht werden können; es gehört dazu ein Verſtändnis für die Wirkungen von Technik und Induſtrie auf die Kultur über⸗ haupt — kurz eine Menge von Vorausſetzungen, die nur der mit⸗ bringt, der auch ſonſt „gebildet“ iſt. Wenn das nicht der Fall iſt, ja wenn ſich unter den Führern einer Partei ſelbſt die Vorſtellung ver⸗ breitet, daß der Apparat der Schlagworte genüge und alles andere umſtändlich und überflüſſig ſei, dann ſinkt die politiſche Arbeit in ein Banauſentum, durch das ſie ihre Anziehungskraft auf die Ge⸗ bildeten verliert und ihre volkserziehliche Bedeutung einbüßt. Man kann deshalb wohl ſagen, daß jeder Zuwachs an allgemeiner Lebens⸗ kenntnis, an ſachlichem Wiſſen, an geiſtiger Disziplin auch zugleich ein Zuwachs an politiſcher Bildung iſt. Freilich iſt dazu notwendig, daß zwiſchen allgemeiner und poli⸗ tiſcher Bildung eine Brücke geſchlagen, eine Vermittlung gefunden wird. Parlamentarier wie Guſtav Freytag zeigen, bei welcher geiſti⸗ gen Höhe doch Fremdheit im modernen politiſchen Leben und den Formen, die es ſich geſchaffen hat, beſtehen kann. Und ſo haben die Anhänger der ſtaatsbürgerlichen Erziehung ohne Zweifel recht, wenn ſie meinen, daß die relativ hohe allgemeine geiſtige Kultur in unſerem Volk für das politiſche Leben noch keine rechten Früchte getragen habe. Es bedarf bei uns noch der bewußten und gewollten Zuſpitzung der allgemeinen Bildung auf das politiſche Leben, die ſich bei Völkern mit jahrhundertealtem parlamentariſchen Leben bei Männern wie bei Frauen ganz von ſelbſt vollzieht. Hoffen wir nur, daß dieſe ſtaats⸗ bürgerliche Erziehung, an der jetzt ſo viele „Pädagogen“ mitarbeiten, daß einem um die Entwicklung der geſunden Idee etwas bange wird, von vornherein den Verbalismus vermeidet, aus dem ſich unſer Bil⸗ dungsweſen erſt jetzt zu löſen beginnt, und ſich unter praktiſche Ge⸗ 8 Lange, Kampfzeiten. II. Frauen und Politik. 114 ſichtspunkte ſtellt, das heißt vor allem zeigt, wie man im Gemein⸗ ſchaftsleben arbeitet. Das können die Frauen von heute, die eine ſolche Erziehung nicht erfahren haben, nur durch ihre ſoziale Tätigkeit, und, in engerer Beziehung auf das politiſche Leben, durch den Eintritt in die politiſchen Parteien lernen. Die Möglichkeit, innerhalb des Parteilebens die letzte, direkte Zuſpitzung ihrer allgemeinen und volkswirtſchaftlichen Bildung auf das politiſche Leben zu ſuchen, iſt bis jetzt nur den links⸗ ſtehenden Frauen gegeben; eben das wird den rechtsſtehenden Par⸗ teien früher oder ſpäter auch ihre Zulaſſung diktieren — wie das ja ſchon der Wahlkampf zum 12. Januar 1912 vereinzelt bewieſen hat. Und in dieſem Parteileben wird die Fühlung für Wirklichkeiten und Möglichkeiten in der Politik am erſten hergeſtellt. Wird doch inner⸗ halb der Partei ſelbſt der politiſche Schwadroneur nach ſeinem richti⸗ gen Gewicht eingeſchätzt; auf die Dauer kommt doch nur der Poli⸗ tiker zur Geltung, der etwas Gründliches weiß und darum ſeine An⸗ ſichten nachdrücklich zu vertreten vermag. In der näheren Berührung mit ſolchen Politikern wird die Frau am ſicherſten den Dilettantis⸗ mus verlieren, der ſie jetzt als Novize noch leicht verführt, über alles zu ſprechen. Sie wird zunächſt hören, wo ihr die Spezialkenntniſſe fehlen, aber auch überzeugend zu reden wiſſen, wo ſie etwas Eigenes zu ſagen hat. Sie wird in dieſer engen Fühlung mit den politiſchen Zielen des Mannes erſt ganz empfinden, was von ihren eigenen Idealen im öffentlichen Leben verwirklicht werden muß, wenn unſere Kultur wirklich zu einer Vollkultur werden ſoll, und wird es mit der Sicherheit und dem Nachdruck durchzuſetzen wiſſen, die ſich immer fin⸗ den, wo eine große und gerechte Idee treibende Kraft iſt. Dieſem Eintritt der Frauen in die politiſchen Parteien ſieht man nun vielfach mit ſchweren Bedenken zu. Unter den Frauen ſelbſt wird die Sorge laut, daß er die Einheitlichkeit der deutſchen Frauenbewegung gefährde. Nun iſt aber doch dieſe Einheitlichkeit, ſoweit ſie überhaupt beſteht, zurückzuführen auf die eine große freiheitliche Idee der Gleich⸗ berechtigung der Frau im Kulturleben; auf die Überzeugung, daß die Frau auch im öffentlichen Leben die Kraft einſetzen muß, die die Frauen und Politik. 115 Kultur der Familie ſchuf; eine Überzeugung, die uns auch mit der konſervativſten Frau innerhalb der Bewegung die Gemeinſchaft fühlen läßt, die nur die Idee verleiht. Dieſe Überzeugung iſt und bleibt das Bindende. Im übrigen iſt der Eintritt in die verſchiedenen politiſchen Parteien ja nichts weiter als das äußere Zeichen der Meinungsver⸗ ſchiedenheiten, die uns hinſichtlich der nicht zur Frauenbewegung gehörenden Fragen immer getrennt haben. Aber nicht dieſe Mei⸗ nungsverſchiedenheiten ſind es, die Sympathien und Antipathien dik⸗ tieren. Das Wort: „Meine politiſchen Freunde“ iſt ſchließlich doch geprägt, um eine Barriere zu ziehen. Und wie wir jetzt mit mancher Frau ſympathiſieren, die uns in ihren politiſchen Anſchauungen fern⸗ ſteht, in der Art, wie ſie die Welt in ihren innerſten Werten und Problemen erfaßt, aber weit näher als viele Frauen unſerer eigenen politiſchen Farbe, ſo wird es auch in Zukunft bleiben, bei den Frauen weit ſicherer als bei den Männern. Denn im ganzen ſind wir — trotz Schillers: „Da werden Weiber zu Hyänen“ — dem politiſchen Fana⸗ tismus weniger zugänglich als der Mann, gerade weil uns die Welt der inneren Beziehungen noch näherſteht, und ſicherlich wird ſich die gemeinſame Idee der Befreiung der Frau als ein viel zu mächtiges Bindeglied erweiſen, als daß die Politiſierung der Frauen es zer⸗ reißen könnte. Ein paar andere Einwürfe wiegen leicht. Da hört man — auch vielfach von Männern: das Parteiprogramm entſpricht in den Einzel⸗ heiten nicht meinen Anſchauungen. Selbſtverſtändlich tut es das nicht. Soll es doch nichts weiter als einen großen Nahmen geben, deſſen Ausfüllung im einzelnen übrigens um ſo ſicherer den Anſichten der Beſten entſprechen wird, als ſich dieſe Beſten daran beteiligen. Spe⸗ ziell unter Anhängerinnen der Frauenbewegung heißt es auch wohl, wir treten einer Partei nicht eher bei, als bis ſie das Frauenſtimm⸗ recht auf ihr Programm geſetzt hat. Das heißt aber doch nichts anderes, als nach dem berühmten Rezept: „Es iſt meinem Vater ſchon recht, daß mich ſo friert, warum kauft er mir keine Handſchuhe,“ der Mög⸗ lichkeit aus dem Wege gehen, beſagte Handſchuhe ſich zu erwerben. Denn nirgends ſicherer als in gemeinſchaftlicher Arbeit innerhalb der Parteien können die Frauen die Männer von dem Wert ihrer Mit⸗ arbeit im öffentlichen Leben überzeugen und ſie für das Frauenſtimm⸗ 8* Frauen und Politik. 116 recht gewinnen. Bequemer iſt das Abwarten außerhalb der Par⸗ teien allerdings. Wir pflegen wohl im Scherz die Zeit vor dem 15. Mai 1908 zu preiſen, wo es mit bloßem Proteſtieren getan war. Die Frauen, die es ſich auch heute noch daran genügen laſſen, die in Frauenſtimmrechtsvereinen ſich platoniſch über das allgemeine gleiche, geheime und direkte Wahlrecht unterhalten, ſtatt in praktiſcher ſozialer und politiſcher Mitarbeit ſich um den Fortſchritt der politiſchen Rechte der Frau zu mühen, können ſich nicht wundern, wenn man an ihren Ernſt und die Opferwilligkeit für ihre Überzeugungen nicht glaubt. Nun gibt es endlich noch Männer und Frauen, die die „volle politiſche Reife“ der Frau abzuwarten raten, ehe ſie in das Partei⸗ leben eintritt. Ganz abgeſehen davon, daß man dann auch die Wäh⸗ lerliſten der Männer gründlich revidieren müßte, hieße das doch der Anſchauung entſprechen, das man nicht ins Waſſer gehen dürfe, ehe man ein vorzüglicher Schwimmer ſei, oder daß ein junger Lehrer nicht unterrichten dürfe, ehe er ein vollendeter Pädagoge ſei. Schwim⸗ men lernt man nur im Waſſer, unterrichten nur am lebendigen Material. Und ſo wird die letzte Reife für das politiſche Leben nur durch dieſes Leben ſelbſt erworben. Wenn wir es einmal ganz mit⸗ leben dürfen, wird zunächſt manche falſche Bewegung für die Frauen unvermeidlich ſein, wie ſie es für den Mann geweſen iſt. Es wird auch eine Weile dauern, bis die Frau den ihrer Sonderart gemäßen Aus⸗ druck in der Politik gefunden und zur Geltung gebracht hat. In der Diskuſſion über dieſe Fragen tat vor kurzem eine Frau den myſtiſchen Ausſpruch: die Frau müſſe die Politik „nach transzendenten Geſichts⸗ punkten“ betreiben. So berechtigt der Heiterkeitserfolg dieſes Orakel⸗ ſpruches war, ſo liegt doch etwas Richtiges in der Empfindung, daß es Sache der Frau ſei, der Politik zu einer anderen Ausdrucksweiſe als. dem Parteijargon zu verhelfen. Daß ſchon ihr bloßes Daſein im Parlament — nicht aus äußeren, ſondern aus inneren Gründen — eine Veränderung bedeuten würde, hat ja ſchon Secrétan ausge⸗ ſprochen (vgl. „Frauenwahlrecht“ Band I dieſer Sammlung, S. 195 f.). Dieſe letzten Erörterungen über die Gründe, aus denen man den Frauen den Eintritt in die politiſchen Parteien verwehren möchte, gehen eigentlich ſchon über mein Thema hinaus. Ich wollte die Mittel Frauen und Politik. 117 darlegen, durch die die Frauen zu einem Verſtändnis der Politik kommen können. Das ſetzt den Willen, dieſe Mittel zu benutzen, vor⸗ aus. Aber da ich perſönlich der Überzeugung bin, daß wir in dem politiſchen Lehrkurſus, den wir ſeit etwa zwei Jahrzehnten durch⸗ machen, an dem Punkt angelangt ſind, wo gerade dies Kapitel frucht⸗ bar gemacht werden muß, ſo habe ich die Gründe wenigſtens kurz an⸗ deuten wollen, die einerſeits begreifliche Beſorgnis, andererſeits aber auch Bequemlichkeit oder falſcher Idealismus gegen den Eintritt der Frauen in die politiſchen Parteien geltend gemacht haben. Sie wer⸗ den ſich als haltlos erweiſen. Und wen ein ſehr begreifliches äſthe⸗ tiſches Unbehagen bei dem Gedanken überkommt, in Volksverſamm⸗ lungen ſich auch einmal zum Ton der Maſſe bequemen zu ſollen, wem der Staub des Gefechts als ſehr ungeeignet für menſchliche Atmungs⸗ organe erſcheinen will, der tröſte ſich mit der Erkenntnis des alten Wei⸗ ſen, daß der Krieg der Vater aller Dinge iſt. Nur aus ihm kann ein Friede entſtehen, bei dem nicht ein Geſchlecht dem anderen ſeine Stellung „fix und fertig“ anweiſt. Und unſere Generation hat die geſchichtliche Aufgabe, dieſen Kampf für die kommende durchzufechten. Auch hier iſt „die Forderung des Tages“ Pflicht. Als ich vor 15 Jahren zuerſt über das Frauenſtimmrecht ſchrieb, war es nicht eben ſchwer, den Weg, den die Entwicklung bei uns nehmen würde, genau vorauszuſehen, vorauszuſehen, daß nicht Reden, ſondern Leiſtungen uns dem Ziel näherführen würden. Und wir können die zurückgelegte Wegſtrecke heute meſſen an dem Verhalten des Parlaments. Damals löſte noch jede Erwähnung der Frauenbildung Heiterkeit aus; jetzt konnte der Abgeordnete Naumann bei der Dis⸗ kuſſion über die Verfaſſung von Elſaß⸗Lothringen das Verlangen der reichsländiſchen Frauen, auch als Menſchen zu den ſtaatsbürgerlichen Rechten zugelaſſen zu werden, als durchaus berechtigt hinſtellen, ohne Heiterkeit zu erregen. Viele, viele Frauen, die nicht mehr ernten können, haben „das Feld mit geduldigen Taten“ ſäen müſſen, ehe es ſo weit gekommen iſt. Ihnen ſind wir es ſchuldig, den Kampf mit dem gleichen Rüſtzeug unermüdlicher Arbeit und geiſtiger Schulung fortzuſetzen bis ans Ende, das einen neuen Anfang für unſer Geſchlecht bedeuten wird. 118 Die Taktik der Suffragettes. (Als Sonderheft herausgegeben vom Frauenſtimmrechtverband für Weſtdeutſchland 1913.) Die deutſchen Zeitungen ſind einmal wieder voll von den Suffra⸗ gettes, oder, wie eine große Berliner Zeitung weniger geſchmackvoll als „teutſch“ ſagt, von den „Wahlweibern“. Von zerſtörten Brief⸗ ſchaften, zerſchnittenen Telegraphendrähten, zerſchlagenen Scheiben uſw. uſw. wird mit einer Gewiſſenhaftigkeit Kenntnis genommen, die man der ernſthaften Seite der Stimmrechtsfrage nie gewidmet hat. Jede Skandalnachricht ein Leckerbiſſen — mit geſperrten und fetten Buchſtaben eindrucksvoll aufgetiſcht. Für jeden Spießbürger iſt der Hinweis auf die „verbrecheriſchen Suffragettes“ die billigſte, dank⸗ barſte Form, Stimmung gegen das Frauenſtimmrecht zu machen und die gar nicht verbrecheriſche deutſche Frauenbewegung zu diskredi⸗ tieren. Wenn etwas zur Verteidigung der engliſchen Frauen und ihrer kriegeriſchen Methoden reizen könnte, ſo iſt es dieſe billige Entrüſtung von ſolchen Leuten, die niemals imſtande ſein würden, ihren po⸗ litiſchen Forderungen irgendwelche Opfer zu bringen oder gar ihre eigene werte Perſon dabei zu gefährden. Solche Menſchen ſind ſicher nicht die berufenen Richter der Suffragettes. Eine andere Frage iſt die, ob ihre „kriegeriſche“ Taktik an ſich haltbar iſt. Dieſe Frage ſoll hier unterſucht werden. Es ſei von vornherein zugeſtanden, daß die Methoden der Suffra⸗ gettes nicht mit deutſchen Begriffen vom öffentlichen Leben und vollends nicht mit deutſchen Maßſtäben für das politiſche Tempera⸗ ment der Frauen beurteilt werden können. Zwei Tatſachen ſind von vornherein zu beachten. Macaulay ſagt einmal, „ſofortige Selbſt⸗ hilfe bei jedem Unrecht von oben“ ſei der Grundpfeiler der engliſchen Freiheit und der Stolz der Briten. Dieſes Bewußtſein eines „Rechtes zur Revolution“ ſteckt dem Briten im Blut, ſeine Betätigung iſt eine Stichprobe für die Glut und Energie, mit der das Unrecht empfunden wird. Aus dieſer Stimmung iſt wohl auch Winſton Churchills leicht⸗ ſinniges Wort gekommen, den Frauen ſei es nicht Ernſt, ſie brächten nicht einmal eine ordentliche Revolution zuſtande — und aus dieſer Die Taktik der Suffragettes. 119 Stimmung kommt die Antwort mit der Tat, die ihm die Stimmrecht⸗ lerinnen gegeben haben. Ferner: politiſche Demonſtrationen von Frauen ſind in England von alters her nichts Seltenes. Die Frauen demonſtrierten ſchon im ſiebzehnten Jahrhundert gegen den Erzbiſchof Laud, und ein zeitgenöſſiſches Couplet ſingt von ihrem Zuge ins Parlament: „The oysterwomen lock'd their fish up And trudg'd away to cry: no bishop!“ Aber ſelbſt wenn wir uns zwingen, die Taktik der Suffragettes im Geiſte der engliſchen Gepflogenheiten des öffentlichen Lebens zu ſehen, ſo ſpricht immer noch eins gegen ſie: der Mißerfolg. Denn man darf doch wohl jetzt nicht mehr daran zweifeln, daß die kriege⸗ riſchen Methoden die Stimmung für das Frauenſtimmrecht verdorben und nicht gehoben haben. Dann aber waren ſie auch für England — rein politiſch betrachtet — falſch! Und das führt auf eine weitere Frage: worin liegt überhaupt der Sinn der „kriegeriſchen“ Methoden? Sind ſie bloße Geſinnungs⸗ d. h. Entrüſtungsdemonſtrationen oder ſind ſie Agitations⸗ und Werbe⸗ mittel? Will man ſeine Deſperation darüber kund tun, daß man das Stimmrecht nicht hat und nicht bekommt, oder will man die Menſchen geneigt machen, es zu gewähren? Vielleicht liegt der politiſche Haupt⸗ fehler der Suffragettes in der Verwechſelung dieſer beiden Dinge, oder in der Meinung, man könne beides mit den gleichen Mitteln. Oder meinten ſie, daß es ſchlechtweg keine anderen wirkſamen Agitations⸗ mittel gab, und daß deshalb auf jeder Seite nur das eine übrig blieb? Die Frage iſt, ob die Zuſtände in England wirklich ſo waren, um dieſe Auffaſſung der Sachlage und damit das äußerſte — die Gewalt⸗ mittel — zu rechtfertigen. In England ſelbſt ſind darüber die Mei⸗ nungen geteilt. Wer will ſagen, ob die Freunde des Frauenſtimm⸗ rechts im Parlament wirklich die Frauen verraten, ob alle ſcheinbar günſtigen Ausſichten wirklich nur Illuſion ſind? Dann hätte das Verhalten der Suffragettes den Sinn eines Ausbruchs der Verzweif⸗ lung und Enttäuſchung: die in ihrem Necht im Stich gelaſſenen ſetzen ſich ſelbſt nun außerhalb des Geſetzes, verſagen der geſellſchaftlichen Ordnung ihre Anerkennung, mißachten den Schutz des Eigentums und Die Taktik der Suffragettes. 120 die öffentliche Sicherheit, laſſen ſich dabei ins Gefängnis ſetzen und miß⸗ handeln und geben damit ein Zeugnis ihrer unbeſiegten Geſinnung und ihrer Bitterkeit! Aber eine ſoiche Demonſtration verlangt nach irgendeinem Abſchluß. Entweder es folgt dem Äußerſten ein Aller⸗ äußerſtes: nämlich Blutvergießen, oder die Sache hat eben mit dem einmaligen Proteſt ein Ende. Die Arbeiter haben da den kurzen Demonſtrationsſtreik, deſſen Zweck eben eine ſolche Geſinnungskund⸗ gebung iſt. Die Suffragettes aber verfolgen mit ihren Methoden noch einen anderen Zweck: ſie wollen das Land durch ihre Störungen zur Ver⸗ zweiflung bringen, die Miniſter keinen Augenblick ihres Lebens froh werden laſſen, und auf dieſe Weiſe das Stimmrecht rein als ein Mittel zur Aufhebung eines allerſeits unerträglichen Zuſtandes erzwingen. Alſo gewiſſermaßen es von dem, dem ſie es abgejagt haben, ſchließlich im höchſten Ärger vor die Füße geworfen bekommen. Iſt das ein Weg, ein politiſches Recht zu gewinnen? Unſer Gefühl ſagt tauſend⸗ mal nein! Schon deshalb, weil ſie ja doch niemals über eine Schika⸗ niererei im kleinen hinaus kommen können. Wenn heute in Man⸗ cheſter eine Telegraphenleitung zerſchnitten und acht Tage ſpäter in London ein Briefkaſten mit Schwefelſäure getränkt wird, ſo ſind das auf die Dauer unbequeme Verlegenheiten, aber die Haltung des Staates wäre doch direkt kläglich, der ſich deswegen eine der bedeut⸗ ſamſten politiſchen Maßnahmen abtrotzen ließe. Das Mißverhältnis zwiſchen Mitteln und Zweck tritt hier doppelt peinlich hervor, weil es ein Licht auf die Einſchätzung des Stimmrechts durch die Frauen ſelbſt wirft, die es auf dieſe Weiſe durch Mittel, die nicht im Weſen der Sache liegen, erzwingen wollen. Es ſieht doch ein wenig ſo aus, als ob die Taktik der Ehefrau, die dem Mann etwa durch ſchlechtes Eſſen das neue Kleid abdringt, ins große übertragen wäre. Aber noch aus anderen Gründen iſt dieſe Methode, dem Volk das Stimmrecht gleich⸗ ſam abzuärgern, verfehlt. Sie denkt nämlich nicht an das Nachher. Wie will man denn fortfahren? Es wird doch jedenfalls zunächſt irgendeine beſchränkte Form des Frauenwahlrechts gegeben. Soll dann die Erweiterung mit den gleichen Mitteln durchgeſetzt werden? Wollen die Frauen Schwefelſäure verſpritzen und Scheiben einwerfen, bis ſie im Parlament ſitzen können? Denn es iſt doch klar, wenn der Die Taktik der Suffragettes. 121 Ausſchluß von 14 Millionen vom politiſchen Wahlrecht ein Empörung verdienendes Unrecht iſt, ſo iſt doch der Ausſchluß von 10 Millionen noch ebenſo ungerecht. Und wenn die Frauen nicht gewählt werden können, ſo ſind ſie wiederum in einer Form benachteiligt, gegen die man ſich genau mit dem gleichen Recht moraliſch entrüſten muß. Und wenn ſie dann auch das paſſive Wahlrecht haben, ſoll dann mit Schwefelſäure, Steinen und Scheren für weibliche Kandidaten ge⸗ arbeitet werden? Kurz, die Taktik der Suffragettes ſtellt das eng⸗ liſche Volk vor Ausſichten in die Zukunft, die wahrlich nicht gerade ver⸗ lockend ſind, und bei denen es ſich ſagen muß: mit der Bewilligung irgendeines Stimmrechts ſind wir gegen dieſe Störungen noch lange nicht geſichert. Dieſe Ausſicht wird die augenblickliche Bereit⸗ willigkeit für das Frauenſtimmrecht nicht gerade erhöhen. Unter dieſem Geſichtspunkt ſteckt in dem Vorwurf der politiſchen Unreife, den man gegen die Suffragettes erhebt, ein Stück Berechtigung. Er iſt nicht richtig in dem allgemeinen Sinn, in dem er von unbedingten Freunden der bürgerlichen Ordnung erhoben wird. Wer will be⸗ haupten, daß die Revolutionen, mit denen ſich die Völker ihre Freiheit erkämpften, immer Zeichen politiſcher „Unreife“ waren und die Un⸗ fähigkeit der ſich Empörenden zur politiſchen Mitverantwortung dartun! Alſo an ſich wird man in Gewaltmaßnahmen nicht a priori politiſche Unreife finden. Aber hier iſt eine Niederlage ſolcher Me⸗ thoden vorauszuſehen. Denn ſie erheben ſich nicht — und können ſich nicht erheben — bis zur Höhe einer wirklich drohenden und furcht⸗ baren Machtprobe, die den nicht zu Überzeugenden durch die An⸗ ſchauung zwingt, daß, die ſo wollen, ihren Willen mit Gewalt durch⸗ ſetzen könnten. Was in äußerſten Fällen ein der Natur der Sache nach nur einmalig anzuwendendes gewaltiges Mittel ſein kann, wird in eine Kette kleiner Unbotmäßigkeiten und Störungen aufgelöſt, die auch im Publikum nur reizen und unbequem werden, nicht aber als ein ſtarker und würdiger Ausdruck des Geſamtwillens der Frauen wirken können. Darin aber ſcheint nun das Allerbedenklichſte zu liegen: in dem Widerſpruch zwiſchen der Sache, um die gekämpft wird, und den Mitteln, mit denen das geſchieht. Eine auf die Dauer berechnete Agitation für eine große Sache muß ihren Stil von dieſer Sache her⸗ Die Taktik der Suffragettes. 122 nehmen. Sie muß die Idee der Sache doch in irgendeiner Form ent⸗ halten und ausſprechen. Um was handelt es ſich denn? Um den Ein⸗ fluß der Frau auf das politiſche Leben. Und zwar nicht darum, daß ſie die bloße rechtliche Möglichkeit dieſes Einfluſſes wie ein Beute⸗ und Triumphſtück an ſich reißt, ſondern doch wohl um das, was ſie mit dieſem Recht anfängt: Ausbau des öffentlichen Lebens und der geſellſchaftlichen Zuſtände in ihrem Sinn, im Intereſſe der berufs⸗ tätigen Frau, der Hausfrau und Familienmutter, der ſozialen Hel⸗ ferin. Man kann ſagen, jedes Agitationsmittel iſt ſchlecht, das dieſes eigentliche Ziel des Kampfes nicht im Auge behält und es immer auch den Außenſtehenden fühlbar macht. Aber wie ſoli dieſes poſitive und nicht nur rechtleriſche Intereſſe der Mütter an der Mitarbeit im Staat als eine treibende Kraft der Frauenſtimmrechtsbewegung ver⸗ ſtanden werden bei einer Taktik, die Miniſter zwingt, ihre Kinder gegen die Attentate der kämpfenden Frauen polizeilich bewachen zu laſſen? Wie ſoll man in der gewalttätigen Störung öffentlicher Ver⸗ anſtaltungen und in der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ver⸗ ſtehen, daß der Frauenſtimmrechtskampf ein Teil der politiſchen Be⸗ wegung iſt, durch welche aus dem reinen Machtſtaat ein Staat der Kultur und des Rechts wird? Solche Mittel ſind die einer Schicht, die einen Machtkampf gegen die Macht führt — und ihn führen kann. Die Frauen können keinen Machtkampf führen, und, was mehr iſt, ſie ſollen es nicht wollen. In dem Augenblick, da der Gedanke auftaucht, auch den wirtſchaftlichen Kampf mit Streik und Ausſperrung durch einen Ausbau des Arbeits rechts mehr und mehr entbehrlich zu machen, iſt es ein Anachronismus — eine nicht nur dem Weſen der Frauenbewegung, ſondern auch den Tendenzen der Zeit widerſprechende Taktik — eine unglückliche Nachahmung überdies männlicher Kampfesmethoden, die nicht nur ihren Urheberinnen den Vorwurf politiſcher Unproduktivität zuziehen könnten, ſondern ſie auch dauernd in peinliche, groteske Lagen bringt. Denn das iſt doch auch noch zu beachten: der Mann kann durch Gewalttätigkeiten nicht in eine für ihn unwürdige Lage kommen — die Frau muß es eigentlich; das Bild der zeternden und einem Polizeiangriff ſich entwindenden Suffra⸗ gette kann nicht dazu beitragen, die latente Achtung vor weiblicher Würde zu ſtützen, im Gegenteil. Die Taktik der Suffragettes. 123 Man kann dies nun für etwas Außerliches, für eine bloße Ge⸗ ſchmacksfrage halten, die bei ſo großen Dingen keine Rolle ſpielen darf. Man könnte den Suffragettes ſogar ein beſonderes Verdienſt daraus machen, daß ſie heroiſch den Verzicht auf alle Äſthetik des Auf⸗ tretens auf ſich nehmen um eines großen Zieles willen. Aber die Frage der „Würde“ iſt nicht nur eine äſthetiſche, ſondern auch eine ſittliche und in hervorragendem Sinne eine politiſche Frage. Sie er⸗ fordert, daß man ſich nicht Situationen ausſetzt, denen man nicht ge⸗ wachſen iſt, und in denen man daher nicht mehr Meiſter ſeines eigenen Verhaltens iſt. Es iſt politiſch falſch, ſich lächerlich zu machen — und der größte Fehler von allen iſt wohl in politiſcher Hinſicht, das Schauſpiel der Ohnmacht in einer als Kraftprobe ge⸗ dachten Aktion zu geben. Die engliſchen Frauen haben ſo gute For⸗ men der Propaganda für ihre Sache gefunden: in den großen demon⸗ ſtrativen Straßenumzügen, in ihren Rieſenverſammlungen; Formen, die deshalb gut ſind, weil ſie den Sinn der Sache, die Breite und Energie des Geſamtwillens der Frauen zum Ausdruck bringen. Die Guerilla der Suffragettes iſt auch von dieſem Geſichtspunkt aus miß⸗ verſtändlich: ſie erweckt leicht den Eindruck, als wollten wenige durch Lärm und gewalttätiges Gebaren erſetzen, was an Energie in der breiten Maſſe noch fehlt. Große Maſſen von Frauen wird man zum Mittun bei dieſen Methoden nicht gewinnen, noch weniger wird man die Frauenſchichten gewinnen, die durch das Gewicht ihres Anſehens und ihrer Leiſtungen für das Frauenſtimmrecht wirken: dieſe ſind zumeiſt in der nicht⸗kriegeriſchen Stimmrechtsbewegung und lehnen die Beteiligung an der Deſperadopolitik der Suffragettes ab. Dabei wird aber durch dieſe lärmenden Mittel die Aufmerkſamkeit von den zwar ſachlich gewichtigeren, aber weniger ſchreienden Kundgebungen abgelenkt; die Tatſache, daß bei uns im Ausland die Zeitungen nur von den Suffragettes Notiz nehmen, wird ſymptomatiſch auch für England ſein. Die überzeugten Anhänger des Frauenſtimmrechts werden durch die Methoden der Suffragettes nicht anderen Sinnes werden: das haben die letzten Verhandlungen im Parlament gezeigt. Die werden unter Umſtänden die Suffragettes auf dem ſteinigen Weg, den ſie gegangen ſind, ſogar verteidigen. Und ſicher: was die Aufopferung, Die Taktik der Suffragettes. 124 Zähigkeit und Überzeugungstreue für ihre Sache anlangt, die Stand⸗ haftigkeit im Ertragen von Widerwärtigkeiten, ſo haben ſie Impo⸗ nierendes geleiſtet. Aber eine Methode wird nicht dadurch politiſch richtig, daß ihr moraliſche Opfer gebracht ſind. Und ohne Zweifel gilt es trotz der jahrzehntelangen Arbeit für das Frauenſtimmrecht in England auch dort immer noch, teilnahmsloſe Maſſen zu gewinnen. Dabei aber ſcheint ſich die Taktik der Suffragettes nach einem in ſeinen Wirkungen naturgemäß nicht nachhaltigen Aufſehenserfolg auf die Dauer nicht bewährt zu haben. Und ſchließlich: es liegt in der Natur dieſer Mittel, daß man ihrer nicht Herr bleiben kann. Die Brandſtiftung im Theater von Dublin und manches andere, das geſchehen iſt, liegt nicht mehr im Nahmen einer überlegten Taktik, ſondern iſt ein zügelloſer Übergriff von Mitläufern, deren Gewiſſen und Nerven anſcheinend der gefähr⸗ lichen Luft eines erklärten Kriegszuſtandes nicht ſtandhalten. Und das iſt ein letztes, höchſtes Bedenken: in den angewandten Mitteln iſt der Pöbel (aller Klaſſen!) naturgemäß am leiſtungsfähigſten, man kann nicht verhindern, daß er nach vorn kommt. Ein ganz zutreffendes Urteil über den Anteil der Suffragettes an den Erfolgen des Frauenſtimmrechtskampfes in England wird man von hier aus ſchwer fällen können. Auch in England ſind die Mei⸗ nungen darüber ja ganz geteilt; die meiſten denken wohl, daß die Bewegung in ihren Anfängen einen gewiſſen Eindruck gemacht, her⸗ nach aber die Stimmung beeinträchtigt habe. So viel iſt aber ſicher: im Ausland, wo man die Dinge immer nur von außen ſieht und ſehen kann, haben die Suffragettes der Sache des Frauenſtimmrechts ganz beträchtlich geſchadet. Man kann nicht verlangen, daß die Engländerinnen auf dieſe Wirkung Rückſicht nehmen, denn jeder iſt ſich ſelbſt der Nächſte. Andererſeits kann man aber auch von uns nicht verlangen, die Solidarität ſo weit zu treiben, daß wir dieſe Bedenken unterdrücken, zumal ſich eben doch immer entſchiedener und unabweislicher die Frage erhebt: Wie ſoll es weitergehen? 125 Das Staatsbürgertum der Frau. Vortrag, gehalten in der Fortſchrittlichen Volkspartei in Hamburg, März 1914.¹) Wenn wir heute vom Staatsbürgertum der Frauen ſprechen, ſo wollen wir einmal nicht von dem reden, was wir uns wünſchen, was die Zukunft bringen ſoll: die volle rechtliche Eingliederung in den Staat; ſondern von den Tatſachen, die heute ſchon das Werden eines Staatsbürgertums der Frauen andeuten. Die Staatsbürgerin entſteht unter uns, auch bei allem Ausgeſchloſſenſein von rechtlich geordneter Beteiligung am öffentlichen Leben. Es entſteht unter den Frauen ein Staatsbürgertum des Intereſſes, der freiwilligen An⸗ teilnahme am Geſamtleben, es bildet ſich der Inhalt, dem die öffentlichen Rechte dann die äußere Form geben ſollen. Von dieſer Entſtehung eines weiblichen Staatsbürgertums, in der das Leben ſelbſt der Forderung des Frauenſtimmrechts entgegen⸗ drängt, und die darum wichtiger und bedeutſamer iſt als alle Pro⸗ gramme und alle direkte Agitation, wollen wir heute reden. Wenn einmal in ſpäteren Zeiten jemand die Geſchichte unſeres öffentlichen Lebens zu ſchreiben unternähme, ſo müßte er Folgendes feſtſtellen: Um dieſe Zeit, vielleicht zum erſtenmal in größerem Maß⸗ ſtabe bei den Reichstagswahlen von 1912, begannen die politiſchen Verſammlungen ein anderes Geſichi zu gewinnen durch die wachſende Beteiligung der Frauen. Auch die Neden der Herren Kandidaten be⸗ gannen von den Frauen Notiz zu nehmen — ſie wurden ſozuſagen von der politiſchen Agitation entdeckt. Es gab Flugblätter, die für die Frauen verfaßt waren und ſich an ſie wandten. Sie erſcheinen in den Wahlbüros — nicht ſporadiſch, ſo wie hier und da einmal eine Frau in Männerkleidern in den Krieg gezogen iſt — und nicht Frauen von der abenteuerlichen Art, die alles einmal probieren müſſen, ſondern als wohlorganiſierte Schar voll Selbſtverſtändlichkeit, Sachlichkeit, ¹) Vgl. zu dieſem, wie zu dem folgenden Aufſatz mein Buch: „Die Frauen⸗ bewegung in ihren gegenwärtigen Problemen“ (Leipzig, Quelle u. Meyer, 3. Aufl. 1924), dem einzelne Ausführungen entnommen ſind. Es bietet die hier angedeuteten Gedankengänge in eingehender Darſtellung. Das Staatsbürgertum der Frau. 126 Ausdauer und der Diſziplin, die nur ein Erfülltſein von einem klar erfaßten Ziele gibt. Die politiſchen Parteien ſpüren es alle, daß hier eine neue Kraft iſt, ein neuer Faktor, deſſen man ſich verſichern ſollte. Die Konſer⸗ vativen bringt dieſe Einſicht in eine einigermaßen ſchwierige Lage. Sie ſahen in den eigenen Reihen eine politiſche Frauenvereinigung entſtehen. Sie müſſen weiter verſichern, daß die Frau nicht in die politiſche Arena geſperrt werden ſolle, aber indem dieſe gute Rede ſie begleitet, fließt die Arbeit der politiſchen Organiſation der kon⸗ ſervativen Frauen munter fort. Und im Grunde ſtehen die Konſer⸗ vativen doch ſchon zur politiſchen Frauenarbeit ähnlich wie ſeinerzeit zur Reichsgründung: wir wünſchen dieſes Neue zwar nicht, aber wenn es ſchon einmal kommt, ſorgen wir, daß wir unſer Teil davon be⸗ kommen. Wer nun allerdings meint, das neue ſtaatsbürgerliche Intereſſe der Frauen nur einfach als Heizmaterial unter den Keſſel der Partei⸗ maſchine werfen zu können, der täuſcht ſich. Dieſes neue ſtaatsbürger⸗ liche Intereſſe der Frauen iſt nicht auf dem Boden der Parteipolitik gewachſen, ſondern auf viel breiterer Grundlage. Die innere Not⸗ wendigkeit, die ſie zur Teilnahme am öffentlichen Leben treibt, wächſt aus ihrer eigenen Lage hervor, aus einer Veränderung, die ſo viel⸗ geſtaltig, ſo umfaſſend und im ganzen Zuſchnitt unſeres ſozialen Lebens begründet iſt, daß man ſich immer über den unhiſtoriſchen Mut des Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation wundert, der gegen eine große, die ganze Kulturwelt überflutende Welle ſeine kleinen Dämme in Kiel oder in Schleswig aufſchaufelt. Wenn wir von Notwendigkeit, Wucht und Breite der Bewegung einen Eindruck haben wollen, die von innen heraus das Staats⸗ bürgertum der Frau erſchafft, ſo dürfen wir uns nicht auf die An⸗ fänge im eigenen Lande beſchränken. Im weiteren Horizont geſehen, erſcheint dieſes neue weibliche Staatsbürgertum — ich meine das Staatsbürgertum des Bewußt⸗ ſeins und des Intereſſes — im beſonderen als eine Erſcheinung pro⸗ teſtantiſch⸗germaniſchen Staatslebens. Wenn uns immer geſagt wird, daß im beſonderen das germaniſche Staatsideal der Mitwir⸗ kung der Frau widerſtrebe, ſo iſt dieſer Behauptung entgegenzuhalten, Das Staatsbürgertum der Frau. 127 daß es doch wohl kein Zufall ſein wird, wenn gerade die angelſächſiſch⸗ germaniſchen Frauen in dieſer Entwicklung an erſter Stelle ſtehen. Und wenn ferner behauptet wird, daß eine Feminiſierung der Männer Vorausſetzung aller Erfolge der Frauen im öffentlichen Leben iſt, ſo wird man darauf hinweiſen dürfen, daß es gerade die urgermaniſche Männlichkeit, die Wikingernatur Björnſons war, die in der ſelbſtän⸗ digen politiſchen Mitarbeit der Frau die Bedingung zu einer kraftvollen Erneuerung nordiſchen Volkstums ſah. Die ſkandinaviſch⸗germaniſchen Länder ſind die Länder des Frauenſtimmrechts. Wenn man das weibliche Staatsbürgertum vom Standpunkt ſeiner Angemeſſenheit an die Raſſe, vom Standpunkt nationaler Eigenart anſehen will, ſo kann wohl aus der Tatſache, daß es all ſeine Erfolge in angelſächſiſch⸗ germaniſchen Völkern hatte, nicht gefolgert werden, daß es dem Weſen dieſer Völker beſonders fremd und unangemeſſen ſei. Aber, ſo ſagt man, es handelt ſich um eine künſtliche agitatoriſche Bearbeitung der Maſſen der Frauen durch einige Intereſſenten. Der normalen Frau, die in ihrem Familienberuf ſteht und durch ihn aus⸗ gefüllt iſt, liegt das öffentliche Leben ganz fern. Ihr Intereſſe daran iſt künſtlich erzeugt. Teils durch die unverheiratete berufstätige, teils durch einige beſchäftigungsloſe Luxusfrauen iſt den Hausfrauen und Familienmüttern etwas aufgeredet, das nicht ihrer eigenen natürlichen Lebensſphäre entſtammt. Ein Intereſſe am Staat iſt beſtenfalls eine Maſſen⸗ und Modeſuggeſtion, die verſchwinden wird, wenn die agi⸗ tatoriſchen Kräfte erlahmen. Wer ſo ſpricht, überſchätzt die Möglichkeiten, eine Bewegung zu entfeſſeln, die nicht mit beſtimmten ſelbſtändigen, eigengewachſenen Gedanken und Wünſchen derer zuſammentrifft, unter denen geworben wird. Wenn nicht in jeder Frau, möge ſie äußerlich noch ſo feſt in ihrem Familienkreis eingeſchloſſen ſein, etwas wäre, das dem wer⸗ benden Wort ein Echo zurückgäbe, ſo wäre ein durch Jahrzehnte ſtetig ſteigender Erfolg der Frauenbewegung nicht denkbar. Agita⸗ tionserfolge reichen nicht ſo weit. Es muß etwas da ſein, das wächſt — mit oder ohne Agitation — und allmählich eine Umwandlung vollzieht, der das Programm vom weiblichen Staatsbürgertum nur das Wort zu leihen braucht. Daß wirklich lebendige Intereſſen da ſind, die von den gewährten Das Staatsbürgertum der Frau. 128 Möglichkeiten des Einfluſſes ſofort Beſitz ergreifen, zeigt uns ja am ſtärkſten die weibliche Wahlbeteiligung im Ausland. Zwar iſt faſt durchweg die Wahlbeteiligung der Frauen noch geringer als die der Männer. Aber ſie ſteigt in der Weiſe, daß von dem Vorſprung, den die Männer haben, doch von Etappe zu Etappe etwas eingeholt wird. Zum Beiſpiel betrug bei den erſten Kommunalwahlen in Nor⸗ wegen die Wahlbeteiligung der Frauen auf dem Lande nur 9,525 gegen 412 bei den Männern. Aber ſchon bei den zweiten Wahlen ſtieg ſie bei den Frauen auf 267, ſo daß, während das erſte Mal nur viertels ſo viel Frauen als Männer wählten, jetzt ſchon halb ſo viel wählen. Das iſt auf dem Lande. In den Städten ſtieg die Wahl⸗ beteiligung von 48 auf 622 und ſteht jetzt nicht mehr ſehr weit unter der der Männer. Bei den Wahlen für den Landtag aber, das Stor⸗ thing, Wahlen, die ja ſelbſtverſtändlich, wie bei uns auch, durch den größeren Schwung politiſchen Intereſſes getragen waren, ſtieg die Wahlbeteiligung der Frauen in den Städten ſogar höher als die der Männer, auf 742 der Wahlberechtigten. Wenn ſie auf dem Lande nur 2 von der der Männer betrug, ſo liegt das ja auch an beſonderen Schwierigkeiten Norwegens, der Unzugänglichkeit und Entlegenheit der Bauernhöfe, die die gleichzeitige Abweſenheit von Mann und Frau zum Wahlakt oft auch nicht zulaſſen. Auch Wahlziffern aus anderen Ländern, ſoweit ſolche vorliegen, beſtätigen dies Reſultat Die Ziffern ſteigen — ſofern nicht beſondere politiſche Verhältniſſe wie in Finnland Schwankungen bei Männern und Frauen herbeiführen — allmählich. Bei Ländern mit älterem Frauenſtimmrecht, z. B. einigen auſtraliſchen Staaten, ſteht ſchließlich die Wahlbeteiligung der Geſchlechter einander faſt gleich. Dieſe Tatſache zeigt, daß die Frauenbewegung, die das Frauen⸗ ſtimmrecht verlangt, nicht etwa leere Kanäle gräbt, in die ſie nachher kein Waſſer zu leiten hat, ſondern daß das dauernde, lebendige Inter⸗ eſſe der Frauen am Staat ſtark genug iſt, um auch dauernd dieſe Kanäle zu füllen. Man kann Wahlbeteiligung nicht erzwingen, wenn nicht ein ſich ſtets erneuernder politiſcher Wille bei den Wählern da iſt. Worin beſteht nun eigentlich dieſer politiſche Wille, dieſes Staats⸗ bürgertum der Frauen? Der engliſche Schriftſteller H. G. Wells hat vor kurzem einen Das Staatsbürgertum der Frau. 129 „neuen Machiavelli“ geſchrieben, ein Buch über „Das Herz der Po⸗ litik“. Und er ſagt darin, daß dieſer plotzlich zu unerhörter Heftigkeit aufflammende Stimmrechtskampf der Frauen in England den Männern gezeigt habe, daß es ſich nicht um eine epidemiſche Verrücktheit handle, eine müßige Laune, die bald vorübergehen würde, ſondern um ein Symptom, Sturmzeichen einer vollkommen verwandelten Zeit. „Die Frau,“ ſo ſagt er, „beſteht darauf, dabei zu ſein. Sie iſt nicht länger nur ein phyſiſches Bedürfnis, ein äſthetiſcher Zwiſchenakt, ein ſentimentaler Hintergrund; ſie iſt eine ſittliche und moraliſche Notwendigkeit in eines Mannes Leben. Sie kommt zum Politiker und fragt ihn: „Bin ich ein Kind oder ein Bürger? Bin ich ein Ding oder eine Seele?“ Sie kommt zu dem einzelnen Mann und fragt: iſt ſie eine geliebte Hilfloſigkeit oder eine ebenbürtige Gefährtin, ein nicht zu entbehrender Helfer? Will man ihr vertrauen und ſie er⸗ proben oder will man ſie beſchützen und beaufſichtigen, iſt ſie gebunden oder frei? Denn wenn ſie Gefährtin ſein ſoll, ſo muß man ihr zu⸗ gleich mehr vertrauen und mehr von ihr fordern, nämlich Mühe, Mut und das Schwerſte und Notwendigſte von allem: klarſtes, aufrichtigſtes Verſtändnis.“ Ein deutſcher Politiker, Friedrich Naumann, hat einmal dieſen Männereindruck von dem, was ſich in der Frau vollzieht, mit dem Bilde wiedergegeben, „daß der Schritt der Frau in dieſem Jahrzehnt etwas feſter und ihre Korperhaltung etwas gerader geworden ſei.“ Beide, der engliſche und der deutſche Politiker, fühlen, daß in dieſem Herausdringen der Frauen aus dem äußeren Rahmen und dem Intereſſenkreis des Familienlebens ſich ein Gewachſenſein ankündigt, ein größeres Vertrauen in die eigene Kraft, ein höherer Mut, ein erweiterter Sinn, ein freieres Umſichblicken. Dieſes freiere, kräf⸗ tigere Lebensgefühl iſt der eigentliche organiſche Antrieb und Quell aller der Energien, die ſich heute in den Frauen über den engſten Kreis ihrer Beſtimmung in den weiteren hinein erſtrecken. Wir pfle⸗ gen ja immer das Frauenſtimmrecht mit zwei Arten von Argumenten zu begründen, denen der äußeren Notwendigkeit, d. h. der Erwerbs⸗ tätigkeit und allem, was dazu gehört, und Gründen der Gerechtigkeit. Dieſe Hinweiſe ſind notwendig und richtig. Aber das allerent⸗ ſcheidendſte iſt doch die Tatſache, daß die Frauen von ſich aus nach 9 Lange, Kampfzeiten. II. Das Staatsbürgertum der Frau. 130 der Mitwirkung in Gemeinde und Staat verlangen, daß ſie Kraft und Intereſſe dafür übrig haben, daß ſchon ganz ſpontan Tau⸗ ſende und Tauſende von ihnen — ungeſucht und ungerufen — ſich in den ehrenamtlichen Dienſt der Kommunen einſtellen, daß ſie in den Parteien mitarbeiten. Die bloße Tatſache, daß die erwerbstätige Frau das Stimmrecht zur Beſſerung ihrer Lage benutzen könnte, wenn ſie es hätte, ſagt ja auch nicht, daß ſie nachher zu ſolcher Ausnutzung imſtande iſt. Und die doktrinäre „Gerechtigkeit“, die mit der politiſchen Gleichberechtigung hergeſtellt wäre, würde noch keine wirkliche Ge⸗ rechtigkeit bedeuten. Dazu würde gehören, daß die Frauen Kraft und Mut haben, ihr Recht auch wirklich auszuüben, daß ſie von ſich aus nicht nur nach dem Recht, ſondern auch nach den Wirkensgebie⸗ ten verlangen, die es ihnen erſchließt. Und wenn wir für dieſe Tatſache Beweiſe haben, dann erſt hat das Recht als ſolches Zweck und Sinn. Und dafür haben wir Beweiſe. Es iſt doch im Grunde gar nicht ſo ſelbſtverſtändlich, daß die Frauen ſich überall zur Arbeit freiwillig anbieten. Unſere Gegner pflegen die Motive der Frauenbewegung immer ſo anzuſehen, als wenn ſie der perſonifizierte nackte Egoismus wäre, als ob ſich die Frauen das Recht, jeden Tag fünf Armenbeſuche zu machen, in verwahrloſten Wohnungen herumzuklettern und für Dutzende von Ziehkindern zu ſorgen, aus reinſter Begehrlichkeit wünſch⸗ ten, als ob es die glänzendſten und ſüßeſten Genüſſe wären, die ſie den Herren der Schöpfung mißgönnten und nicht allein überlaſſen möchten. Es handelt ſich doch um Laſten, die hier freiwillig aufgenommen wer⸗ den, nicht nur freiwillig, ſondern auch noch mit heroiſcher Überwin⸗ dung der gelegentlichen Freundlichkeiten, die einem mit in den Kauf gegeben werden. Und dieſe Tatſache, daß ſo viele — natürlich noch nicht alle, natürlich nur die energiſcheren und unternehmenderen Frauen gegen alle Widerſtände erzwingen, daß man ihnen, um mit dem engliſchen Politiker zu ſprechen, im öffentlichen Leben „mehr an⸗ vertraut und ſie mehr auf die Probe ſtellt,“ — dieſe Tatſache iſt der entſcheidende Beweis, daß wir vom Staatsbürgertum der Frau nicht nur als von einer Forderung, ſondern als von einem werdenden Zuſtand ſprechen können. Das Staatsbürgertum der Frau. 131 Wenn nun aber der Wille, die politiſche Energie als die eigentliche Lebenskraft eines gegenwärtigen und zukünftigen weiblichen Staats⸗ bürgertums vor unſeren Augen erwacht und ſchwillt — wohin geht ſeine Richtung, welches ſind ſeine Aufgaben? Es laſſen ſich in der Bildung des politiſchen Frauenwillens zwei Strömungen unterſcheiden: die Erweiterung des eigenen Intereſſes zum politiſchen Willen und das Miterleben des allgemeinen po⸗ litiſchen Willens. Beides ſteht ſchon am Anfang der Frauenbewe⸗ gung. Sie beginnt faſt überall inmitten einer großen allgemeinen politiſchen oder ſozialen Bewegung, die die Frauen mitriß — über die bisherigen Schranken ihres Lebens hinaus. Der große Aufſchwung des Volkswillens von 1848 lehrte die Führerin unſerer deutſchen Frauenbewegung, Luiſe Otto, das Bekenntnis: „Ich hab' verlernt, ein Minnelied zu ſingen, den alten Reim von Herz und Schmerz ver⸗ lernt.“ An die Stelle der Liebeslieder traten der Zollverein und das Weberelend, die deutſche Flotte und die deutſch⸗katholiſche Bewegung, traten die Hoffnungen auf Demokratie und Reichseinheit. Und ſie war nicht die einzige Frau, der das damals Lebensinhalt wurde. Aber auch im Ausland erwachte der politiſche Frauenwille mit den poli⸗ tiſchen Freiheitskämpfen: ſo in Italien, in Dänemark, in Finnland. Ebenſo charakteriſtiſch wie das Erwachen iſt aber auch das Wieder⸗ zugrundegehen. Wenn die Reaktionszeiten den Volkswillen überall vorübergehend lähmten, brachten ſie den der Frauen meiſt wieder ganz zum Schweigen. Denn noch war ihr Zuſammenhang mit dem Ganzen nicht feſt und dauernd genug, nicht unzerreißbar. Solche feſteren Fäden ſpannen ſich zuerſt von dem Schickſal der berufstätigen Frau zum Ganzen hinüber. Als die Fortſchrittliche Volkspartei in Mannheim ihre Reſolu⸗ tion zum Frauenſtimmrecht faßte, begründete man das durch die große Zahl der erwerbstätigen Frauen In der Tat kamen die Frauen zu⸗ erſt von ihrem Beruf und Erwerb aus zu politiſchen Forderungen. Es waren Intereſſen⸗Forderungen im engeren Sinne. Die Leh⸗ rerinnen wandten ſich an die Geſetzgebung um Verbeſſerung ihrer Bildung und Beſoldung, die Handelsangeſtellten um Sonntagsruhe und gegen Konkurrenzklauſel, die Arbeiterinnen um Schutz und Ver⸗ ſicherung uſw. uſw. Sie alle verlernten, ihren Beruf ſo wie er war 9* Das Staatsbürgertum der Frau. 132 als Schickſal aus der Hand der Vorſehung zu empfangen, ſie begannen ihn politiſch zu ſehen — in ſeiner Abhängigkeit von ſtaatlichen Faktoren. Das iſt ein Anfang politiſcher Willensbildung, aber nicht mehr als das. Doch ſind auch die berufstätigen Frauen bei bloßer Inter⸗ eſſenpolitik nicht ſtehen geblieben. Neben ihren perſönlichen Standes⸗ intereſſen begann z. B. die Lehrerin ihre ſachlichen Standesinter⸗ eſſen politiſch zu erfaſſen und zu durchdringen. Sie begann ſich für die Simultanſchule oder für die Schulgeldfreiheit, für die fachliche Schul⸗ aufſicht und das Verbot der Kinderarbeit einzuſetzen, und da war ſie ſchon mitten im politiſchen Leben drin. Ein Engländer hat einmal geſagt, die allerinnerſte Grundfrage der Frauenemanzipation laute eigentlich: Sollen Frauen das Alpha⸗ bet lernen? Wenn man dieſe Frage bejahe, folge alles andere von ſelbſt. Dieſer Satz iſt auch hier anwendbar. Aus dem Beruf wachſen die politiſchen Intereſſen von ſelbſt heraus, und ſelbſt der ſtrikteſte Gegner der Frauenbewegung würde es ſchwer haben, uns die Be⸗ rufsauffaſſung zu beſchreiben, die ſo eng wäre, daß ſie nicht irgend⸗ welche über den Beruf hinausreichenden politiſchen Intereſſen mit einſchlöſſe. Die Politiſierung der berufstätigen Frauen hat ſich alſo aus ihrem Beruf heraus, als eine natürliche und ſelbſtverſtändliche Er⸗ weiterung ihrer Berufsintereſſen mit innerer Konſequenz vollzogen. Sofern ſie Berufsmenſch war, wirklich von innen heraus und mit ganzer Seele, war oder wurde ſie auch ein Stück Staatsbürgerin. Aber die Politiſierung der Hausfrau? Wie ſteht es damit? Kann ſie nur auf dem einen Wege einer Teilnahme an den allgemeinen politiſchen Fragen politiſch werden, nähert ſie ſich dem politiſchen Leben ſozuſagen nur von außen her, oder kann ſie auch von innen heraus, als Hausfrau, in die Politik hineinwachſen? Kann ſie nicht auch von ihrem Beruf aus die Brücken zum Staat ſchlagen? Das iſt eine Möglichkeit, die noch wenig durchdacht iſt. So gut wie Lehrer und Lehrerin die politiſchen Vertreter der Schulintereſſen ſind, ſo gut ſollten die Hausfrauen das Haus und ſeine Intereſſen vertreten. Das Haus iſt nämlich bis jetzt politiſch noch keine Macht. Was heißt das? Es heißt, daß Konſumentenintereſſen, Mieterinter⸗ Das Staatsbürgertum der Frau. 133 eſſen, Käuferintereſſen, Ernährungs⸗ reſp. Geſundheitsintereſſen im weiteſten Sinne politiſch ſchwach ſind. Der Mann als Politiker vertritt zu allererſt ſeine Berufspolitik: er iſt Landwirt oder Arbeiter, Hand⸗ werker oder Kaufmann, und danach beſtimmt ſich in erſter Linie ſeine politiſche Meinung. Im Liberalismus, hinter dem, wie man immer zu ſagen pflegt, keine einzelne wirtſchaftliche Intereſſengruppe ſteht, will ſagen, kein Erwerbszweig oder keine Klaſſe, wiſſen wir es ja genau genug, was das bedeutet. Lloyd George hat einmal das Frauenſtimmrecht mit dem Satz ge⸗ fordert: „Ich will der Mutter eine Waffe geben, mit der ſie das Brot ihres Kindes verteidigt.“ Die meiſten Frauen würden bei uns zunächſt noch gar nicht wiſſen, daß ſie im Stimmrecht eine Waffe zu dieſem Zweck beſitzen. Sie haben noch nicht gelernt, ihre beſonderen poli⸗ tiſchen Hausfrauenintereſſen zu erfaſſen. Wie Siegfried in der Sage durch das Drachenblut die Sprache der Vögel verſtehen lernt, ſo müßten ſie durch das Drachenblut der poli⸗ tiſchen Aufklärung die politiſche Sprache der Dinge um ſich herum ver⸗ ſtehen. Zum Beiſpiel die politiſche Sprache ihres Hausfrauenbuches, das ihnen von den Wirkungen der Reichsfinanzreform, von deutſcher Fleiſchverſorgung, von den Rückſtändigkeiten des deutſchen Gemüſe⸗ baus uſw. uſw. die intereſſanteſten Dinge ſagen könnte. Oder die po⸗ litiſche Sprache ihrer unzweckmäßigen Etagenwohnung, die ihr ſagt, wie wenig im Grunde das Wohn intereſſe die Entwicklung des Woh⸗ nungsweſens beſtimmt, und wie ſehr ganz andere Spekulationen. Die Hausfrau hat ihre eigene Welt politiſch noch nicht entdeckt. Und daß ſie das tut, wünſchen wir nicht um ihretwillen, ſondern mehr noch deshalb, damit ganz entſcheidende Lebensintereſſen der Geſamtheit ſtärker zu Worte kommen. Es wäre z. B. zu fragen, ob unſere Zollpolitik die Entwicklung hätte nehmen können, die ſie genommen hat, — und die auch den Liberalismus auf einen Weg gezwungen hat, den er nun weiter mitmachen muß — wenn als eine geſchloſſene Macht nicht nur die gewerbliche Bevölkerung der Intereſſenpolitik der Agrarier ge⸗ genüber, ſondern neben ihr als ein zweiter, politiſch ebenſo greif⸗ barer und gewichtiger Faktor, der Konſument geſtanden hätte. Es iſt begreiflich, daß bisher eine ſolche Politiſierung der Hausfrau erſt in ihren allererſten Anfängen vorhanden iſt. Die einzelne iſt ja Das Staatsbürgertum der Frau. 134 dabei ganz auf eigene Kräfte geſtellt. Keine Berufsorganiſation übernimmt die politiſche Aufklärung. Jede iſt in ihrem Heim für ſich und ſieht nur das Naheliegende. Wie intereſſant und fruchtbar könnten die ſo verpönten Hausfrauenunterhaltungen über Küche und Dienſt⸗ boten, über Einkäufe und Handwerker ſein, wenn es vernünftige, weit⸗ blickende, nachdenkliche, — politiſche Unterhaltungen über alle dieſe Dinge wären. In einer konſervativen Zeitung las ich einmal mit Vergnügen das Zugeſtändnis: „Ohne das weibliche Geſchlecht vom häuslichen Herde in die politiſche Arena zerren zu wollen, müſſen wir doch ſagen, daß den Führerinnen unſerer Kinder eine gewiſſe politiſche Elementarbildung zu eigen ſein muß, damit ſie ihrer hehren mütter⸗ lichen Aufgabe genügen können.“ Das iſt ganz richtig. Nur daß dieſe „hehre mütterliche Aufgabe“ nicht nur darin beſteht, daß man ſeinen Kindern einmal eine Steuerfrage erklärt, und daß man ſelbſt die po⸗ litiſche Elementarbildung nur am häuslichen Herd nicht lernen kann, ſondern daß es eine mütterliche Aufgabe auch außerhalb des häuslichen Herdes gibt, die unſere Frauen zu lernen beginnen. Es gibt eine Politik der Mutter, ſo gut wie es eine Politik der Landwirt⸗ ſchaft oder der Induſtrie gibt. Und die muß gefunden werden, wenn das Frauenſtimmrecht ein innerlich lebendiges Recht werden ſoll, ein Werkzeug der Selbſtändig⸗ keit, nicht der bloßen mechaniſchen Parteigefolgſchaft. Wie ſieht dieſe Politik der Mutter aus? Die Staaten, in denen das Frauenſtimmrecht ſchon eine Zeitlang eingeführt iſt, zeigen es uns. Zwar läßt ſich natürlich niemals genau feſtſtellen, daß dieſes oder jenes Geſetz, dieſe oder jene Verwaltungsmaßnahme ohne die Frauen nicht eingeführt wäre — es läßt ſich überhaupt nur ſchätzen, nicht exakt nachweiſen, wie ſtark das Schwergewicht der weiblichen Wähler in dieſer oder jener Sache mitgeſpielt hat. Aber wir ſehen doch, wofür ſich die weiblichen Wähler einſetzen, was ihnen beſonders am Herzen liegt. Man kann vielleicht alle Schritte und Initiativen, die von weib⸗ lichen Parlamentsmitgliedern oder weiblichen Wählern oder weib⸗ lichen Stadtverordneten im Ausland ausgegangen ſind, als Ausdruck einer gemeinſamen Idee oder eines einheitlich gerichteten Willens auf⸗ faſſen: Die mütterliche Politik verlangt, daß der Staat der Fa⸗ milie hilft, ihre verſchiedenen Aufgaben der Erziehung, der Geſund⸗ Das Staatsbürgertum der Frau. 135 heitspflege, der Ernährung uſw. uſw. zu erfüllen. Die mütterliche Politik bekämpft alles, was dieſe Mühe und Sorge der Familie für alle dieſe Dinge hindert und hemmt und erſchwert. Die weiblichen Volksvertreter und die politiſchen Frauen des Aus⸗ landes haben natürlich je nach Parteiſtellung ſich für alles mit ein⸗ geſetzt, was von allgemeinen politiſchen Zielen da war. Sie haben aber ein paar große Gebiete für ihr eigenſtes Feld gehalten, und das iſt: Kinderſchutz und Erziehung, Volksernährung, Mutterfürſorge. Die Frauen haben ſich dafür eingeſetzt, daß nicht die Induſtrie mit ihrer gewerblichen Kinderarbeit, der Alkohol⸗ und Tabakshandel mit ihrer Verſuchung, gefährliche Vergnügungen wie die Spielbanken, und die legaliſierte männliche Genußſucht die Mühe der Mütter um Ge⸗ ſundheit und ſittliche Kraft ihrer Kinder immer wieder vereitelten. Die amerikaniſchen Frauen haben für die Einſchränkung der Kinderarbeit, für das Verbot der Abgabe von Alkohol und Tabak an Jugendliche, für die Schließung der Spielbanken und Spielhallen, für die Erhöhung des Schutzalters der Mädchen gearbeitet. Als in einer Stadt von Idaho die Mütter einen erfolgreichen Kampf gegen eine Petition der Spielhäuſer durchgekämpft hatten, ſagte ein Magiſtratsmitglied: „Welch ein Glück, daß bei uns die Mütter fordern konnten und die Spielbankhalter bitten mußten, und nicht wie früher umgekehrt.“ Bei der Friſche und Harmloſigkeit, mit der in all dieſen jungen Staa⸗ ten und Städten Geſetze und Verwaltungsmaßnahmen eingeführt wer⸗ den, konnten ſich die Frauen ſelbſt allerlei originelle Maßnahmen aus⸗ denken, zu denen etwa die einer amerikaniſchen Stadt gehört, die ein Abendläuten abends 9 Uhr einführte, das zeigte die Polizeiſtunde für Kinder unter 14 Jahren an, die von da ab nicht mehr auf den Straßen zu ſehen ſein durften. Ferner iſt die ärztliche Unterſuchung von Schul⸗ kindern, die Einrichtung von Kindergärten, die Organiſation von Fürſorgebeſtrebungen für die verlaſſene und verwahrloſte Jugend unter lebhafter Beteiligung, zum Teil auf Initiative der Frauen ein⸗ geführt. Ebenſo energiſch arbeiten die Frauen für die öffentliche Geſund⸗ heitspflege. Es ſcheint, daß ihre Mitarbeit in ſtädtiſchen Verwaltun⸗ gen im weſentlichen ſolchen Zielen dient. Sie ſorgen für die An⸗ bringung von Trinkbrunnen und Abfallbehältern in den Straßen; ſie Das Staatsbürgertum der Frau. 136 ſetzen ſich für Sanitätsinſpektion in Wohnungen, Nahrungsmittel⸗ gewerben uſw. ein. Sie führten hygieniſchen Unterricht in die Schulen ein, und manche von den vorbildlichen raſſehygieniſchen Maßnahmen der Vereinigten Staaten (Anzeigepflicht bei veneriſchen Krankheiten) ſind auf ihre Initiative zurückzuführen. Das alles ſind Einzelbeiſpiele aus der Politik der Mutter, die man beliebig vermehren könnte und die im kleinen und großen illuſtrieren. Allenthalben, auch in den europäiſchen und auſtraliſchen Staaten benutzten die Frauen die er⸗ langte Macht, um endlich einmal eine ordentliche Regelung des Heb⸗ ammenweſens von Staatswegen durchzuſetzen. Auffallend iſt, wie in der geſetzgeberiſchen Mitwirkung der Frauen als Objekt die Mutter eine viel größere Rolle ſpielt als die Intereſſen der erwerbstätigen Frauen. Wo die Maſſe der Frauen durch das Stimmrecht, nicht wie bei uns nur ein fortgeſchrittener Teil durch die Vereine, auf die Geſetzgebung Einfluß gewinnt, da ſind eben doch die Mütter in der Majorität, und die großen allgemeinen Frauenintereſſen, nicht die der einzelnen weiblichen Berufsgruppe, ſtehen im Vordergrund. Das iſt ſelbſtverſtändlich, und die Befürchtung, daß die berufstätigen Frauen als die politiſch aktiveren beim Frauenſtimmrecht einſeitig ihre Inter⸗ eſſen durchſetzen würden, iſt hinfällig. Aber nicht nur direkt und unmittelbar ſetzt das Frauenſtimmrecht das Mutter⸗ und Hausfrauenintereſſe in politiſche Macht um, auch in einem mittelbareren und weiteren Sinn iſt die ſelbſtändige Staats⸗ bürgerin die Vertreterin des Mütterlichen in der Geſetzgebung. Die Frauen ſind die eigentlichen Vertreterinnen des ſozialen Ge⸗ dankens und aller Forderungen, die ſich daraus entwickeln. Im finn⸗ ländiſchen Landtag ſitzen die weiblichen Abgeordneten am zahlreichſten im Sozialausſchuß und im Kulturausſchuß: der ſoziale Mittlerdienſt aller Bildungspflege und die Sozialpolitik iſt das, was ihnen am nächſten liegt, denn beides dient unmittelbar der Pflege des Men⸗ ſchen, nicht der bloßen Sache, der Güteranhäufung und Verwal⸗ tung. Und man kann ſagen: keine Zeit hat das Gegengewicht des Ge⸗ dankens, daß der Menſch, das Leben den Mittelpunkt aller So⸗ zialpolitik zu bilden habe, nötiger gehabt als die unſere. Keine iſt ſo ſehr in Gefahr geweſen, die objektiven Mächte: den Staat, den Handel, die Technik, den Verkehr zum Selbſtzweck zu machen, dem die Das Staatsbürgertum der Frau. 137 Menſchen als Mittel und Werkzeuge untergeordnet werden. Keine Zeit hat es nötiger, die großartige Frage der Bibel: ob nicht das Leben mehr ſei als ſeine Mittel, wieder beſſer zu beherzigen. Wenn ein politiſcher Frauenwille entſteht, wirklich aus dem Weſen der Frau ſelbſt heraus, als ſelbſtändige Kraft, ſo wird er der Träger dieſes Gedankens ſein. Nun haben wir hier — auf dem Boden eines politiſchen Vereins — aber noch eine weitere Frage zu ſtellen. Wird dieſes Staatsbürgertum der Frau dem Liberalismus nützen? Ich will nicht ſagen, daß ich dieſe Frage für irgendwie entſcheidend für Wert oder Unwert des weiblichen Staatsbürgertums halte. Gladſtone hat einmal geſagt, wer für das allgemeine Wahlrecht eintrete, dürfe ſich eigentlich grundſätzlich nicht davon abhängig machen, welcher Partei das nachher zugute kommen werde. So liegt es auch mit dem Werden des politiſchen Frauen⸗ willens. Unſere liberalen Freunde pflegen zum Teil die Sache aber etwas⸗ kurzſichtig anzuſehen. Sie ſehen das Nächſte und behaupten: den Ge⸗ winn der politiſchen Frauenmacht werden Zentrum und Sozialdemo⸗ kratie davontragen. Wenn einmal dieſe Vermutung einem — wie mir einmal bei einem liberalen Politiker — mit dem Zuſatz entgegen⸗ tritt: „Na, unſere Frauen würden natürlich doch nicht wählen“ — ſo iſt man allerdings verſucht, zu denken, daß der liberale Mann, der es für ſo natürlich hält, daß ſeine Frau ihr Bürgerrecht nicht ausübt, nichts anderes verdient, als daß ſeine Partei den Schaden davon hat — nämlich den Schaden der eigenen Vernachläſſigung ihrer weiblichen Kräfte. Wenn ſich Zentrum und Sozialdemokratie ſo viel beſſer um die Frauen gekümmert haben, ſo verdienen ſie den Gewinn davon. Aber in dem weiteren Geſichtskreis, in dem wir die ganze Frage hier heute angeſehen haben, liegt es überhaupt anders. Das Weſen der politiſchen Frauenbewegung beſteht für uns darin, daß ein Stück Volkswille ſich ſeiner ſelbſt bewußt wird, ſich zuſammenballt und po⸗ litiſch organiſiert. Das iſt an ſich ein liberaler Vorgang, ein großes Beiſpiel — ſeit der Arbeiterbewegung das größte — für die liberale Theorie, die doch auf dem Glauben an die Kraft des Einzelnen beruht, Das Staatsbürgertum der Frau. 138 ſich zum politiſchen Weſen, zum Mitträger des Staatswillens zu ent⸗ wickeln. Einen glänzenderen Beweis für die Nichtigkeit des liberalen Gedankenganges als die große Reveille der Selbſtachtung bei den Frauen, die wir erleben, als das Entſtehen eines Staatsbürgertums aus den eigenſten Impulſen der Frauen ſelbſt heraus, läßt ſich doch eigentlich gar nicht denken. Der Liberalismus, der hier nicht den ver⸗ wandten Geiſt an ſich fühlt und verſteht, würde ſich ein merkwürdiges Zeugnis ausſtellen. Und weil dieſes Erwachen der Frauen zu politiſcher Selbſthilfe im Grunde ein liberaler Vorgang iſt, kann er auch auf die Dauer die Kräfte des Liberalismus nur ſtärken und nicht ſchwächen. Die Hun⸗ derttauſende von Frauen, die die Frauenbewegung geweckt, mit dem Bedürfnis nach Freiheit, nach einer ſelbſtändigeren Urteilsfähigkeit und nach neuen eigenen Verantwortungen erfüllt hat, gewann ſie damit, wenn nicht im parteipolitiſchen, ſo doch im allgemeinen Sinn für den Liberalismus. Jene Entwicklung zum Staatsbürgertum, die wir uns vergegenwärtigt haben, wird Unſelbſtändigkeit, Urteilsloſig⸗ keit, alle bloßen Herdeninſtinkte bei den Frauen in weitem Maße über⸗ winden, und ſofern Parteierfolge auf ſolchen negativen Tugenden be⸗ ruhen, werden die Frauen ihnen entwachſen. Jedenfalls wird und kann der Liberalismus von nirgendher überzeugtere Anhängerinnen bekommen, als aus der Frauenbewegung, denn die Gedankenverfaſſung einer Frau, die zwar politiſch liberal iſt, aber für ihre eigene Entwick⸗ lung, für die Ausübung ihrer eigenen Fähigkeiten die Konſequenzen des liberalen Gedankens nicht zieht, kann ich mir überhaupt nicht vor⸗ ſtellen. Jedenfalls ſind ſolche anſpruchsloſen Naturen, die für jede Freiheit außer für die eigene eintreten, kaum das, was der Libera⸗ lismus ſich wünſchen kann. Die Verwandtſchaft von Liberalismus und Frauenbewegung hat denn auch im Ausland faſt überall den Liberalismus zum Vorkämpfer und Bahnbrecher der Staatsbürgerin gemacht. In Norwegen hat mit ſeiner Hilfe das Frauenwahlrecht ſeine erſten Vorſtöße gemacht. In Schweden hat die liberale Partei direkt mit der Wahlparole Frauen⸗ ſtimmrecht gekämpft und nach ihrem Erfolge eine Vorlage eingebracht, die allerdings dann in der erſten Kammer fiel. In Dänemark und in Holland ſtellen nach den Wahlſiegen des vorigen Sommers (1913) die Das Staatsbürgertum der Frau. 139 Liberalen die Einführung eines Frauenwahlrechts in Ausſicht. In England — wo ja überhaupt die Parteiverhältniſſe anders liegen — hat ſich leider der Liberalismus wegen der Uneinigkeit des Kabinetts in dieſer Frage durch die Labour Party an Konſequenz übertreffen laſſen. Und die deutſchen Frauen müſſen ſich leider auch noch oft genug an den Liberalismus, wie er ſeinſollte, halten, wenn der Libera⸗ lismus, wie er iſt, verſagt, wenn wir nur hier und da einmal eine freundliche kleine Konzeſſion herausdrücken, die ſeitens unſerer Partei⸗ genoſſen mit dem vollen Gefühl, daß es eine Freundlichkeit und eine Konzeſſion iſt, gewährt wird, ſtatt daß ſich auch bei uns der Libera⸗ lismus als Vorkämpfer für die Befreiung der Frau fühlen ſollte. Nach dieſer kleinen Revue über die Stellung der liberalen Par⸗ teien zur Frauenbewegung habe ich aber meinen Gedankengang noch nach einer Richtung hin zu ergänzen. Ich habe die Bildung des po⸗ litiſchen Frauenwillens in den Vordergrund geſtellt, und alles Gewicht darauf gelegt, wie ſich ein Staatsbürgertum der Frau als politiſcher Ausdruck ihrer eigenſten Intereſſen, als politiſche Erweiterung ihrer eigenſten Lebensſphäre entwickelt. Und ich betone noch einmal, ſo muß auch der politiſche Frauenwille wachſen, wenn er nicht nur eine Laune und eine Aufregung, ſondern ein organiſcher, ausdauernder und ſicherer Ausdruck einer neuen Reife ſein will. Die Frau, die mit angelernten politiſchen Schlagworten um ſich wirft, aber ſich um die Krankenkaſſenwahlen für ihre Dienſtboten nicht kümmert, iſt nicht politiſch im ſoliden und ehrlichen Sinn des Wortes. Aber nun muß ich auch noch die andere Seite einmal betonen, damit ich nicht ſo mißverſtanden werde, als kennte ich nur eine weib⸗ liche Politik. So gewiß die politiſche Bildung der Frau wurzellos bleibt, wenn ſie nicht lernt, ihren Intereſſenkreis mit politiſchen Augen zu ſehen, ſo gewiß darf ſie nicht dabei ſtehen bleiben. Das heißt: das Staatsbürgertum der Frau kann nur wachſen in Verbin⸗ dung und Fühlung mit der großen Politik. Man hat von mancher Seite den Frauen geraten, ſich auf ihre eigene weibliche Intereſſenpolitik zu beſchränken, außerhalb der Par⸗ teien zu bleiben und ſich als eine geſchloſſene einheitliche Macht ohne parteipolitiſche Zerſplitterung zu entwickeln, bis ſie einmal in die Staatsbürgerrechte einrücken. Dieſer Rat entſpricht in vieler Beziehung einer Richtung unſerer Zeit, die an Stelle der Parteiprogramme über⸗ Das Staatsbürgertum der Frau. 140 haupt mehr große kulturpolitiſche Einzelfragen ſetzen möchte. Der eine die Naſſenhygiene, der andere die Bodenreform, der dritte die Alkoholbekämpfung uſw. So rät man auch den Frauen, aus ihrer Frauenfrage Politik zu machen. Aber es ſcheint mir ein bedenklicher Rat. Zu ſolchen Monomanen einer Idee, die meinen, die Welt beſtehe aus nichts anderem als aus ihnen und ihren Gegnern, möchten wir die Frauen nicht werden laſſen. Sie ſollen lernen, ihre eigenen Intereſſen einzuordnen in eine große Geſamtanſchauung, ein großes gemeinſames Ideal des Volkslebens. Dabei kommen ſie ohne die Grundſätze und Ideen nicht aus, die — ſei es im konſervativen oder liberalen oder ſozialiſtiſchen Programm — den inneren Zuſammenhang der Einzelfragen ergeben. Zum Politiſch⸗ werden gehört es auch, Grundſätze zu gewinnen, und nur der Gedanken⸗ loſe kann die Entſcheidung und die Stellungnahme zu den großen Grundrichtungen umgehen, die mit den politiſchen Parteien ge⸗ geben ſind. Und ſo kommen wir zum Ausgang zurück. In Deutſchland hat das letzte Jahr als bedeutſames Symptom der Zeit die Eingliederung der Frauen in die letzte Partei gebracht, die ſich bisher der politiſchen Frauenarbeit noch verſchloß: in die konſervative. Die Eingliederung der Frauen in die Parteien entſpricht einem beſtimmten Reifeſtadium des werdenden Staatsbürgertums der Frau. Nun beginnt das Ar⸗ beiten im Rahmen der großen Politik und mit den Parteien zuſam⸗ men. Dabei haben es theoretiſch wir liberalen Frauen am leichteſten, denn unſere Partei ſteht dem letzten Sinn und der treibenden Kraft des weiblichen Staatsbürgertums ſeiner prinzipiellen Grundlage nach am nächſten. Näher als die Sozialdemokratie, die in ihrem Staats⸗ ſozialismus, beſonders in ihrer Stellung zur Familie ein den Frauen doch im Grunde weſensfremdes Element enthält. Aber allerdings: wenn auch die Gedanken des Liberalismus und die der Frauen⸗ bewegung „leicht beieinander wohnen“, ſo iſt es — wie ich vorhin ſchon erwähnte — noch nicht ganz ſo in der Praxis. Wenn wir uns auch nicht gerade „hart im Raume ſtoßen“ — auch das kommt ge⸗ legentlich vor — ſo fehlt doch noch allerlei an dem richtigen Kontakt. Wer aber in der Politiſierung der Frau nicht etwas von Einzel⸗ nen Gewolltes und künſtlich Erzwungenes ſieht, ſondern die Geſetz⸗ mäßigkeit und Notwendigkeit in ihr erkennt, von der ich ein Bild zu Das Staatsbürgertum der Frau. 141 geben verſuchte, der ſteht auch der Arbeit in und mit den Parteien mit der unbeirrbaren Hoffnung gegenüber, daß es damit raſch und gut vorwärts gehen wird, weil die Zeit dafür reif iſt — auf beiden Seiten. Und vielleicht ſind — wenn durch nichts anderes — meine Aus⸗ führungen durch eins bemerkenswert: durch das, was darin fehlt. Ich habe weder die 9Z Millionen erwerbstätiger Frauen berührt, von denen unſere Gegner ſo gern annehmen, daß wir ſie — ausge⸗ rechnet um die jetzige Situation zu ſchaffen — zur Arbeit verlockt hätten, noch habe ich mit theoretiſchen und praktiſchen Gründen die Notwendigkeit des Stimmrechts für die Frau bewieſen. Das iſt ein Zeichen für die Erfüllung der Zeiten: das Frauenſtimmrecht iſt heute die banalſte Selbſtverſtändlichkeit. Die Überzeugung, daß ein Ge⸗ ſchlecht noch weniger für das andere als eine Klaſſe für die an⸗ dere eintreten könne, iſt doch auch bei uns im Wachſen begriffen, aber weniger als Reſultat eines Denkprozeſſes, denn als Reſultat eines Augenſcheins. Die überall einſetzende ſoziale Arbeit der Frau, die andersartige Werte zeitigt als die des Mannes, ſtärkt den Inſtinkt der Achtung vor der Eigenart und das Gefühl, daß ihr Raum zur Entfal⸗ tung zu geben ſei. Daß noch viele Reſte der alten Mundiumsgewohn⸗ heiten zu überwinden ſind, zeigen die Bildungsexperimente, die man in Preußen gerade jetzt wieder mit den Frauen vornimmt — ich meine den vierten Weg, die Studienberechtigung der Oberlyzeen —, Bil⸗ dungsexperimente, die die Männer ſich am eigenen Leibe mit aller Entſchiedenheit verbitten würden, die aber gegen den durch Jahre fortgeſetzten wohlbegründeten Proteſt der organiſierten Frauenbewe⸗ gung und der organiſierten Lehrerinnenſchaft unter lebhafter Zu⸗ ſtimmung vieler Männer aus allen Parteien an den Frauen ausge⸗ führt werden dürfen. Die große Lektion, daß die Frau dem Mundium entwachſen iſt und ſich unter ihrem eigenen Geſetz entwickeln will und zum Beſten der Geſamtheit entwickeln muß, hat der Deutſche noch zu Ende zu lernen. Und der Liberalismus iſt berufen, von dieſer Wahr⸗ heit am tiefſten durchdrungen zu werden. Wenn ich eine beſcheidene Hoffnung an meine heutigen Ausführungen knüpfen darf, ſo iſt es die, in unſeren Parteigenoſſen die Bereitwilligkeit dazu ein wenig geſtärkt zu haben. 142 Die Frau als Volkserzieherin im modernen Staat. Ein Lehrerinnenverein, der ſein 25jähriges Jubiläum feiert, ge⸗ hört zu den älteſten in der Geſchichte unſeres Standes.“) Iſt doch unſere nationale Standesorganiſation nicht älter. Auch ſie feiert erſt im nächſten Jahr das erſte Jahrhundertviertel ihres Beſtehens. Erſt in und mit ſeiner Organiſation exiſtiert aber ein Stand als Stand. Sie zeigt erſt, daß die einzelnen, die, hier und dorthin verſtreut, jede für ſich ihre Berufsarbeit tun, dieſe iſolierte Arbeit verſtehen lernten als Teil eines Ganzen, daß ſie ſich eingeordnet fühlen in Neih und Glied einer Gemeinſchaft, die unter den gleichen Bedingungen den gleichen Zielen folgt. Erſt mit dieſem Standesbewußtſein entſteht ein Berufsbewußtſein, das ſich über die individuelle Arbeit in dem ein⸗ zelnen kleinen Kreis, über die Verantwortung für die gerade vor⸗ liegende einzelne Aufgabe erhebt, und den Gedanken denken lernt: die Frau als Volkserzieherin. Vielleicht ſpricht nichts ſo deutlich die Entwicklung des Lehre⸗ rinnenſtandes aus wie die Tatſache, daß dieſes Wort „Volkser⸗ zieherin“ uns heute die eigentliche Summe unſerer Berufs⸗ ideale iſt. Das war urſprünglich nicht ſo. Wenn wir in die Anfänge der Frauenarbeit an der Schule zurückgehen, ſo ſteht nicht dieſer Gedanke über der Pforte, durch die man die Lehrerin in die öffentliche Schule hineinließ. Mindeſtens iſt er nicht der entſcheidende. Die Erwerbsnot der Töchter des gebildeten Mittelſtandes ſtand im Vordergrunde. Man mußte dieſe Frauen irgendwo nützlich unterbringen, und man fragte ſich, ob nicht die Schule ein Feld ſei, auf dem man ſie mit Vorſicht — als „Gehilfin des Mannes“ — zulaſſen könnte. Eines unſerer erſten königlichen preußiſchen Lehrerinnenſeminare (Droyßig) iſt eine Wohltätigkeitsſtiftung eines frommen Fürſten für arme Töchter ge⸗ bildeter Stände, deren Programme ſich aufs vorſichtigſte gegen den Verdacht einer fürchterlichen revolutionären Neuerung verwahren. Es ¹) Rede bei Gelegenheit der Jubiläumsfeier des Badiſchen Lehrerinnen⸗ vereins am 29. Juni 1914 (dem Tage nach dem Mord in Serajewo) in Karlsruhe. — Die Frau als Volkserzieherin. 143 könne ſich ſelbſtverſtändlich nur darum handeln, an gewiſſen geeigneten Stellen, als Ergänzung der männlichen Arbeit, Frauen zu beſchäftigen. Alle weitergehenden Hoffnungen ſeien von vornherein als Illuſion anzuſehen. Daß die Lehrerinnen, die nach ſolchen Grundſätzen ausgebildet und mit ſolchen Beſcheidenheitsanweiſungen verſehen wurden, ſelbſt ihre Tätigkeit voll Demut und dankbarer Anerkennung der ihnen ge⸗ ſetzten Schranken antraten, iſt weiter kein Wunder. Gab es doch da⸗ mals noch genug andere Gründe, die ihnen verboten, den Kopf beſon⸗ ders hoch zu tragen. Hatten ſie ſich doch — der allgemeinen öffent⸗ lichen Meinung nach — als die. Ausgemuſterten zu betrachten, denen es nicht geglückt war, ſich das normale Frauenſchickſal zu verſchaffen, und auf denen immer das leiſe Odium des mitleiderregenden armen Mädchens laſtete, das ſein Leben mit irgendeinem Notbehelf erhalten und ausfüllen muß. Kam doch hinzu, daß die Gehälter zumeiſt auch unter dem Geſichtspunkt normiert waren, daß die Frauen froh ſein könnten, überhaupt arbeiten zu dürfen, und daß die Lehrerin deshalb in ihrer äußeren Lebenshaltung der Typus der Frau war, die mit zu geringen Mitteln die Reputation des gebildeten Menſchen aufrecht erhalten muß. Alles dies wirkte bei vielen auch auf die Berufsauffaſſung. So etwas von der Kläglichkeit und Gedrücktheit der „Dame in Trauer“ in der Minna von Barnhelm umwehte ſie; ſah man in den Kreiſen, aus denen ſie kamen, die Erwerbsarbeit doch im letzten Grunde für die Frau als etwas geſellſchaftlich Degradierendes an. So ſuchten ſie um ſo ängſtlicher die Dame zu betonen und arbeiteten an der kläglich⸗ ſten Privatſchule unter den kläglichſten Bedingungen lieber als an der Volksſchule. Aber neben dieſen gab es doch gleich von Anfang an andere Frauen, die den Beruf überhaupt nicht aus Not, ſondern aus freiem Entſchluß, aus allgemeinem Wiſſensdrang und Arbeitsdrang und aus beſonderer Neigung gerade für dieſe Arbeit ſuchten, Frauen, die, wenn nicht eine volle und deutliche Vorſtellung, ſo doch eine Ahnung der beſonderen Miſſion hatten, die der Frau innerhalb der Volkserziehung zukommt. Das Weſen dieſer Miſſion aber entwickelte ſich ihnen immer klarer Die Frau als Volkserzieherin. 144 und beſtimmter aus der Arbeit ſelbſt. Wenn ſie den Beruf gewählt hatten, zunächſt, weil ſie ihn nötig hatten — geiſtig und wirtſchaft⸗ lich — ſo lernten ſie immer mehr ſehen, wie ſehr der Beruf, die Volks⸗ erziehung, ſie nötig hatte. Und aus dieſer Einſicht entſtand ein neues Heimatgefühl im Beruf, ein neuer Stolz, ein neues Bewußtſein des Nötig⸗, ja Unerſetzlichſeins, das ſich über das Bewußtſein, nur ge⸗ duldet zu ſein, erhob und ihnen den Mut gab, größeren Einfluß zu fordern als den man ihnen bis jetzt geſtattet hatte. Und ſo ähnlich ging es ſchließlich auch denen, die zunächſt noch nicht in voller innerer Freiheit ihre Berufswahl getroffen hatten. Von ihrer Arbeit ging etwas aus, das ihnen half, die Enge und Ängſtlichkeit ihrer Lebens⸗ anſchauungen zu überwinden, das aus der vom Schickſal mißhandelten höheren Tochter, der aus Not erwerbstätigen Dame den Berufs⸗ menſchen machte. Worin liegt nun dieſe unſere beſondere Aufgabe in der Volks⸗ erziehung? Was umſchließt die Idee der Frau als Volkserzieherin im modernen Staat? Ja, was ſoll überhaupt in dieſem Zuſammenhang dieſer Begriff des „modernen Staates“? Ziehen wir mit dieſem großen Wort nicht den Kreis etwas zu weit, in dem wir Bedeutung und Wirkung unſeres Berufs betrachten? Die Beziehung, durch welche unſer Beruf mit dem Weſen und den Entwicklungsbedingungen des modernen Staates verbunden iſt, iſt eine zwiefache. Einmal hat ſich Weſen, Aufgabe, Bedeutung der Volks⸗ erziehung im Staatsganzen gewandelt und in dieſem Wandel iſt die beſondere Aufgabe der Frau an der Schule entſtanden, und zweitens hat die entſcheidende Veränderung des Frauenlebens der Lehrerin eine große neue eigene Miſſion geſtellt. In der Umwandlung der Tendenzen und Ziele der Volkserziehung ſpiegelt ſich die geſamte wirtſchaftliche, geiſtige, politiſche Entwicklung des 19. Jahrhunderts am entſcheidendſten und deutlichſten. Urſprüng⸗ lich ſind es zwei Gedanken, die das Intereſſe des Staates an der öffentlichen Schule beherrſchen: das politiſch⸗wirtſchaftliche und das religiöſe. Der Staat brauchte Steuerzahler, Soldaten und Beamte. Und weil der Untertan für den Staat da iſt, und nicht umgekehrt, ſo wird die Volksmaſſe im wirtſchaftlichen Intereſſe des Staates aus⸗ gebildet. In den alten Schulordnungen tritt das ganz deutlich her⸗ Die Frau als Volkserzieherin. 145 vor. Man braucht die Schulbildung zur Hebung der wirtſchaftlichen Leiſtungsfähigkeit und der Wehrkraft. Dazu kommt dann die Pflicht, — nicht etwa zu jener religiöſen Innerlichkeit, jener Ehrfurcht zu erziehen, die das ganze Leben beherrſcht — ſondern dem Menſchen zu ſeinem Seelenheil durch die richtige Lehre zu verhelfen. Beides ſteht nebeneinander, — äußerlich verbunden, aber innerlich wenig in Ein⸗ klang geſetzt. Auf Erden erſcheint der Menſch nur als Mittel — erſt im Hinblick auf das Jenſeits als Selbſtzweck. Es hängt damit zuſammen, daß man auf die Bildung der Mäd⸗ chen kein beſonderes Gewicht legt. Ihr wirtſchaftlicher Nutzen für den Staat erſchöpft ſich in ihrer häuslichen Tätigkeit, die ſie auch am beſten zu Hauſe lernen. An ihrer Bildung als ſolcher lag niemandem etwas. Nun kommt die große geiſtige Welle des Humanismus, die große wirtſchaftliche des Induſtriezeitalters, die große politiſche der Mündig⸗ ſprechung des Volkes. Der Humanismus erklärt den Menſchen für das höchſte Gut des Staates. Seine Bildung um ſeiner ſelbſt willen, nicht ſeiner Brauchbarkeit und ſeines Nutzens wegen, wird das Erziehungs⸗ und Bildungsziel. Peſtalozzi überträgt dieſes Ziel auf die Volksbildung im Ganzen — nicht nur auf den Höhen der Geſellſchaft ſoll der Menſch als Selbſtzweck gelten — jede letzte, ärmſte Seele ſoll zuerſt als Menſch, aus ihren Anlagen heraus zu ihrer Beſtimmung gebildet, und erſt auf dieſem Wege von innen heraus für die beſonderen Aufgaben tüchtig gemacht werden, die ihr im Volksganzen zufallen. Das war ein höchſtes Ideal. Noch heute ſind wir weit davon entfernt, es erfüllen zu können. Ja, das Induſtriezeitalter mit ſeiner durchgreifenden Veränderung der Erziehungsbedingungen hat es uns zunächſt wieder ferner gerückt. Denn es hat Tauſenden und aber Tau⸗ ſenden von Kindern die Stelle genommen, an der alle natürlichen Keime der Menſchenbildung gepflanzt werden ſollten: die Wohnſtube der Familie mit ihrer ganzen vielgeſtaltigen Menge von natürlicher Arbeitserziehung. Und das Induſtriezeitalter hat auch noch in anderer Weiſe der ſozialen Ausbreitung und Verwirklichung des einmal ge⸗ wonnenen Bildungsideals neue Hemmungen geſchaffen, indem es die Arbeit entperſönlichte, indem es jenen Typus „Arbeiter“ ſchuf, bei Lange, Kampfzeiten. II. 10 Die Frau als Volkserzieherin. 146 dem wir gar nicht mehr fragen, was er eigentlich tut; dieſes „Was“ iſt ziemlich gleichgültig, weil die Arbeit ſo unperſönlich geworden iſt. Intenſiver und planvoller hat ſich angeſichts dieſer Tatſachen die Schule auf das beſondere Problem der Menſchen bildung ein⸗ geſtellt. Alle Fortſchritte der Pädagogik des 19. Jahrhunderts gehen nach der Richtung, immer beſſer den lebendigen Mittelpunkt dieſer Menſchenbildung im Kinde zu erfaſſen, immer weniger von außen hinein, immer mehr von innen heraus zu bilden. (Dahin geht we⸗ nigſtens die Abſicht, ſo viel auch die Praxis davon vermiſſen laſſen mag.) Die Schule muß dem Kinde irgendwie zu erſetzen verſuchen, was ihm an Familienerziehung verloren geht: ſie muß verſuchen, der modernen Gefahr, daß das Menſchentum in mechaniſierter und zu⸗ gleich immer intenſiverer Arbeit verloren geht, ein Gegengewicht zu ſchaffen, indem ſie ihre Bildung ſo perſönlich und lebendig wie möglich geſtaltet. So kamen wir von dem Intellektualismus der alten Schule zu all den modernen Idealen der Selbſttätigkeit, der planmäßigen Willensbildung, der Arbeitsſchule. Je ärmer in der Volksmaſſe die Familie an natürlichen Bildungsquellen geworden iſt, um ſo mehr muß die Schule verſuchen, die Vielſeitigkeit, Friſche und Fülle des Lebens in ihrem Nahmen zu entfalten, zu einer Stätte zu werden, wo das Kind nicht nur als Gehirn, ſondern als ganzer kleiner Menſch genommen wird und heimiſch werden kann. Dieſem Ziel aber kann die Schule nur näher kommen, dieſen Weg kann ſie nur gehen, wenn die Frau, die Lehrerin ihn mitgeht. Die gleichgewichtige Beteiligung von Mann und Frau an der Schule wird einfach ſelbſt verſtändlich von dem Augenblick an, wo die Schule nicht mehr als bloßer Lehr⸗ und Lernapparat, ſondern als erziehliche Lebensgemeinſchaft der jungen Generation verſtanden wird. Ich kann mir gar nicht denken, wie man ſich dieſer Konſequenz entziehen will, wie man alle dieſe neuen Ideale der Lebenserziehung — der Er⸗ ziehung durch das Leben und für das Leben — mit der Schule ver⸗ binden kann, wenn man nicht zugleich einen vollen wirkſamen weib⸗ lichen Einſchlag im Erziehungswerk wünſcht. Die Welt beſteht doch nun einmal nicht nur aus Männern, und am wenigſten die natürliche Welt des Kindes. Eine Berufs⸗ und Fachſchule iſt denkbar ohne Frau, weil ſie die Ausbildung einſeitiger Fähigkeiten zum Zweck hat und für Die Frau als Volkserzieherin. 147 einen beſtimmten Lebensausſchnitt vorbildet. Die Schule aber, die den ganzen Menſchen für das ganze Leben erziehen will, braucht in ihrer ſeeliſchen Atmoſphäre ſelbſtverſtändlich ebenſo viel weibliche wie männ⸗ liche Elemente, braucht ſie um ſo mehr, je mehr ſie dieſen Anſpruch der vollen Menſchenbildung ſtellt und ſtellen muß. Von ſeiten der Lehrer iſt gelegentlich dieſer Argumentation ent⸗ gegengehalten, daß der Mann in der Schulerziehung im Vordergrund ſtehen müſſe, weil in der Familie der Vater mehr und mehr zurück⸗ trete infolge ſeiner intenſiveren Berufsbelaſtung.“) Das iſt ein ſehr löcheriges Argument. Erſtens könnte man darauf hinweiſen, daß ſehr viele Kinder heute zu Hauſe auch der mütterlichen Erziehung ent⸗ behren. Und zweitens ergeben zwei Unvollkommenheiten keine Voll⸗ kommenheit. Es iſt gewiß bedauerlich, wenn heute der Vater ſo viel weniger Zeit für ſeine Kinder hat als früher, — obgleich wohl ſtets die Mutter den ſtärkeren Anteil an der häuslichen Erziehung gehabt hat — aber daß man in der Schule die umgekehrte Einſeitigkeit zum Prinzip macht, beſſert nichts an dieſen Mängeln der häuslichen Er⸗ ziehung. Es liegt ſicher keine pädagogiſche Weisheit darin, ein Kind, das zu Hauſe vorwiegend von der Mutter erzogen wird und an Frauenart gewöhnt iſt, darum in der Schule um ſo einſeitiger Männern in die Hand zu geben. Aber allerdings: dieſes Ideal eines vollen, ſtarken, wirkſamen, weiblichen Einfluſſes in der ganzen Volksbildung richtet ſich mit ſeinen Anſprüchen nicht nur an die Schulverwaltung, die Lehrerinnen in genügender Zahl anſtellen ſoll, ſondern auch an die Lehrerinnen, die fähig ſein müſſen, ſolchen Einfluß zu haben. Denn dazu gehört eben doch auch der elaſtiſche, lebensvolle Menſch, der ſeinerſeits Augen, Sinne und Seele offen hat für alle wirkenden Kräfte ſeiner Zeit. Wir haben vorhin uns ſchon die Entwicklung vergegenwärtigt, durch welche die Lehrerin zum Berufsmenſchen im vollen, freien und ſchönen Sinne des Wortes geworden iſt. Aber wir dürfen nicht ver⸗ geſſen, daß dieſes Ideal auch immer wieder vor uns ſteht, daß wir zu ihm hinſtreben müſſen über alle Gefahren des engherzig⸗einſeitigen ¹) Vgl. u. a. Die Lehrerinnenfrage auf dem deutſchen Lehrertag zu München, Band I dieſer Sammlung, Seite 317. 10* Die Frau als Volkserzieherin. 148 Fachmenſchentums hinweg. Das Fachmenſchentum in ſeinem verküm⸗ mernden und ſtarr machenden Einfluß iſt ohne Zweifel eine beſondere Gefahr für die Frau. Die große Welt kommt nicht in demſelben Maße wie zum Manne zu ihr, und ſo kommt ſie leichter zu einer Einkapſelung im Beruf, die gerade dem Weſen der Erziehung ganz widerſtrebt. Erziehung iſt keine Facharbeit, ſie ſoll aus dem vollen Leben ſchöpfen und ſich an das volle Leben wenden. Darum muß die Lehrerin grundſätzlich, bewußt, aus Pflichtgefühl gegen das höchſte und letzte Ideal der eigenen Arbeit die großen kulturellen, geiſtigen und ſozialen, wirtſchaftlichen und politiſchen Bewegungen der Zeit mitfühlen wollen. Sie muß ſich ſagen, daß die Bedeutung ihres Berufes im modernen Staat von ihr die Fühlung für alles große, entſcheidende Werden der Zeit ſo gut verlangt wie vom Manne, und daß ſie dieſer Forderung genügen muß, ſoweit nur irgend ihre Kräfte reichen. Nur wenn ſie ein ſolcher mitlebender, der Gegenwart im vollen Umfange aufgeſchloſſener Menſch iſt, löſen ſich in ihr die beſonderen Kräfte, die ſie als Frau beſitzt und einzuſetzen hat. Es iſt die beſondere Aufgabe unſerer Lehrerinnenvereine, vor den Kolleginnen immer wieder dieſe Weiten zu öffnen, ſie aus den vier Wänden des Schulzimmers geiſtig hinauszuführen auf einen Standpunkt, von dem aus ſie den ganzen Bau unſeres Unterrichts⸗ weſens von außen, auf dem großen, weiten Terrain des geſamten Staatslebens ſeinen Platz einnehmen ſehen. Wenn wir bisher aus allgemeinen Gründen, aus dem Weſen der modernen Volkserziehung heraus, aus ihren Tendenzen zu größerer Lebensnähe und Lebensfülle die Bedeutung der Frauenarbeit an der Schule ableiteten, ſo gilt es nun die beſondere Miſſion der Lehrerin in der weiblichen Bildung uns zu vergegenwärtigen, und zwar in ihrer beſonderen Beziehung zu den Umwandlungen des mo⸗ dernen Frauenlebens. Ich brauche dieſe Wandlung hier nicht zu beſchreiben — ich ſtelle gleich die Frage: Was für Forderungen ergeben ſich für die Frau, die Lehrerin, die eine klare Einſicht in die Wandlungen hat, die das Frauenleben bereits durchgemacht hat und denen es noch entgegengeht, für die Bildungsaufgaben der Mädchenſchule? Sie weiß, daß heute die Frau, im Gegenſatz zu früher, nicht mehr Die Frau als Volkserzieherin. 149 einem, ſondern zwei Lebenskreiſen angehört: dem Beruf, der nationalen Arbeitsgemeinſchaft einerſeits, der Familie andererſeits. Noch iſt die Familie ihre Hauptſphäre; ſchon aber beträgt die Ziffer der verfügbaren Frauenkraft unſeres Volkes, die der nationalen Ar⸗ beitsgemeinſchaft angehört, nahezu die Hälfte aller Frauen. Und wie ſehr der Beruf und die Vorbereitung darauf die Frauen in Anſpruch nimmt, dürfte ſich aus der ſchon aus der Statiſtik von 1907 heraus⸗ zurechnenden Tatſache ergeben, daß ſich die Zahl der Haustöchter, die nichts ſind, als ſolche, im ganzen deutſchen Neich nur noch auf 700 000 beläuft, eine Zahl, die in den letzten 7 Jahren ſicher noch geſunken iſt. Niemand kann im voraus wiſſen, welchem der beiden Lebens⸗ kreiſe ein Mädchen einmal angehören wird. So muß ſie möglichſt für beide gerüſtet ſein — das macht das Frauenbildungsproblem ſo viel komplizierter als die Frage der männlichen Bildung. Auch hier iſt es nicht meine Aufgabe, im einzelnen die Wege zu zeigen, auf denen dieſe Doppelaufgabe am beſten gelöſt werden kann. Es gilt nur nachzuweiſen, daß wir uns klar dieſer Aufgaben bewußt ſind, und daß ihre Löſung der Frau, die dauernd dieſem Doppelberuf zu genügen hat — und in irgendwelcher Form und zu irgendwelcher Zeit tritt er heute an die meiſten Frauen heran — naturgemäß leichter gelingen muß als dem Mann. Wenn etwas davor warnen kann, ihm hier Aufgaben zu ſtellen, denen ſeine Natur ſich verſagen muß, ſo iſt es das Schickſal der Frauenſchulen in Preußen, die nur in den ſeltenen Fällen, wo Frauen ſie ſchöpferiſch geſtalten dürfen, zu etwas Einheit⸗ lichem geworden ſind. Es iſt nun eine der vielen in Umlauf geſetzten Fabeln, wenn be⸗ hauptet wird, die Frauen, die mit der modernen Frauenbewegung in Berührung ſtehen, ſeien nur darauf aus, die Mädchen in das Berufs⸗ leben zu treiben und der Familie zu entfremden. Allerdings würde ich es für eine unverantwortliche ſoziale Gedankenloſigkeit halten, wenn die Mädchenſchule es ſich noch leiſten wollte, die Rückſicht auf das Berufsleben außer Acht zu laſſen oder wenn die Mädchen nicht darauf hingewieſen würden, daß es heute auch für ſie eine Pflicht und ein Glück bedeute, wenn ſie ſich fähig machen, auf eigenen Füßen zu ſtehen. Auch ſtehe ich nicht an, eine von jungen Oberlehrern bei uns nicht ſelten geübte Praxis, den jungen Mädchen, die ſie unterrichten, Die Frau als Volkserzieherin. 150 ihr künftiges Studium zu verekeln und zu verulken, den Beruf als ſicheres Heiratshindernis und die Heirat à tout prix als einzig mög⸗ liches Ziel hinzuſtellen, als gewiſſenlos zu bezeichnen. Solche Männer gehören nicht in die Mädchenſchule. Aber bei alledem erſcheint mir die Frage ſehr wichtig: wird nicht die Tüchtigkeit der Frau für die Aufgaben der Familie in Frage geſtellt, wenn ihre Bildung darauf abzielt, ſie zur Selbſtbehauptung im äußeren Leben vorzubereiten? Wird nicht ihre Opfer⸗ und Hingabefähigkeit darunter leiden, daß ſie zu innerer Selbſtändigkeit und höheren geiſtigen Anſprüchen erzo⸗ gen wird? Da iſt nun vor allem auf eins hinzuweiſen: Es hat ſich ja auch die Rolle der Frau in der Familie gegen früher verſchoben. Bei der ſtärkeren Inanſpruchnahme des Mannes durch ſeinen Beruf und der immer ſtärker durchgeführten Trennung von Berufsleben und Fa⸗ milienleben iſt die Frau vielfach ausſchließlich der geiſtige Mittel⸗ punkt der Familie geworden. Sie hat eigentlich die Aufgabe zu leiſten, die die Familie im modernen Leben überhaupt leiſten muß. Es iſt viel davon die Rede, daß die Bedeutung der Familie innerhalb unſerer Kultur zurückgegangen ſei. Das iſt im äußerlichen Sinne richtig, inſofern als wirtſchaftliche Aufgaben aus der Hausgemeinſchaft hinausgewandert ſind, als eine Anzahl erziehlicher Aufgaben durch Schule und andere öffentliche Veranſtaltungen der Familie abge⸗ nommen ſind. Trotzdem darf man vielleicht ſagen, daß die geiſtige Bedeutung der Familie gewachſen iſt; die Aufgaben der Erziehung ſind komplizierter geworden. Und der Anteil der Frau an ihrer Lö⸗ ſung iſt gewaltig gewachſen. Und weiterhin: je mehr das Berufs⸗ leben die einzelnen Mitglieder der Familie in Anſpruch nimmt und durch ſpezialiſtiſche Intereſſen innerlich ganz und gar ausfüllt, um ſo mehr wächſt die Bedeutung der Familie als der Stelle in unſerem ſozialen Körper, in der allgemeine Intereſſen, allgemeine Bildung, im Gegenſatz zu Fachintereſſen und Fachbildung entſtehen, in der perſönliche Kultur im Gegenſatz zu techniſcher Kultur zu Stande kommen ſoll. So ſtellt alſo die Familie erhöhte geiſtige Anſprüche an die Frauen, Anſprüche, denen nur ein Menſch mit ſelbſtändig erworbenem geiſtigen Beſitz und ſelbſtändigem inneren Leben genügen kann. Sie ſoll dem Wachstum der Jugend den Boden bereiten in eine Kultur hinein, Die Frau als Volkserzieherin. 151 die eine immer reichere Fülle von verderblichen oder beglückenden Möglichkeiten umfaßt; dieſe Aufgabe kann nicht von einer Frau er⸗ füllt werden, die geiſtig nur der Schatten ihres Mannes iſt. Um die geiſtigen Entwicklungskämpfe ihrer Kinder in ihrer ganzen Tiefe nachzuempfinden, muß ſie ſelbſt ſolche Kämpfe durchgemacht haben. So faſſen wir heute die Aufgabe der Frau in der Familie auf. Und bis zu einem gewiſſen Grade führt der Weg zum Berufsleben und zur geiſtigen Leiterin des Lebens der Familie die gleiche Straße: beide Male handelt es ſich um das Ziel der ſelbſtändigen geiſtigen Perſönlichkeit. Nur die fachliche Bildung: der Hausfrau einerſeits, der Berufsfrau andererſeits führt getrennte Wege, die jede nach Nei⸗ gung, Kraft und Gelegenheit aufſuchen muß. Aus alledem ergibt ſich wohl, daß wir uns ganz klar darüber ſind, wo die andersartigen Aufgaben der Frau liegen, die ihre Sphäre von der des Mannes trennen. Aber wir machen den Trugſchluß nicht mit, der aus den andersartigen Aufgaben und der fraglos anders gearteten Pſyche der Frau auf einen anders gearteten, der ſogenann⸗ ten weiblichen Eigenart angepaßten Unterrichtsbetrieb ſchließen will. Soweit es ſich dabei um die Anpaſſung an das natürliche Intereſſe, die natürlichen Gedankengänge der Mädchen handelt, wäre wohl ein naheliegender, gleichwohl ſelten gezogener Schluß, daß die Anpaſſung an dieſe ſpezifiſch weibliche Art am beſten durch ſolche geſchieht, die ſie in ſich darſtellen: durch Frauen. Sie brauchen doch alle die Umwege der Anpaſſung nicht mitzumachen, das Umdenken, das überdies nicht ſelten in die Irre führt, wie die ſorgfältig für Mädchen ausgeſuchten Aufſatzthemen auf der Oberſtufe mit ihrem Appell an das Gefühls⸗ leben beweiſen. Nach meiner Auffaſſung braucht man es aber mit dieſer Anpaſſung gar nicht ſo ängſtlich zu nehmen. Um unſere wirk⸗ liche weibliche Geiſtesart kann man eben unbeſorgt ſein und ſind wir Frauen unbeſorgt. Sie iſt angeborenes, unzerſtörbares Form⸗ prinzip und wird ſich um ſo mehr an den Stoffen zerlegend und auf⸗ bauend erproben und erweiſen, je unbefangener und unbereiteter ſie ihr geboten werden.“) Ich habe immer gefunden, daß tüchtige Knaben⸗ ²) Vgl. Organiſches oder mechaniſches Prinzip in der Mädchenbildung in dieſem Bande, S. 67. Die Frau als Volkserzieherin. 152 lehrer, die ohne jede beſondere Zutat ihr Penſum an die Mädchen heranbrachten, auch die beſten Mädchenlehrer waren. Soweit es ſich aber um die künſtliche Zuſtutzung ganzer Lehr⸗ und Bildungsgänge für die weibliche Eigenart handelt, lehnen wir ſie gerade im Intereſſe der Volkserziehung, im Hinblick auf die not⸗ wendige und ſich immer mehr erweiternde Arbeitsgemeinſchaft von Mann und Frau grundſätzlich ab. Als bei der preußiſchen Mädchen⸗ ſchulreform ſo manches altehrwürdige Stück ſogenannter Mädchenpäda⸗ gogik verſchwand, da glaubten wir tatſächlich erreicht zu haben, daß endgültig mit dem Gedanken gebrochen ſei, es gebe einen beſonderen Weg der Frau zur Weltanſchauung und Wiſſenſchaft. Die Geſchichte des vierten Weges in Preußen hat uns eines anderen belehrt, und der Kampf fängt bei uns wieder von vorn an. Dagegen erkennen wir eine weibliche Eigenart an, die nur durch die Frau richtig und ohne verhängnisvolle Umwege entwickelt werden kann: das iſt eben das, was wir als Inhalt des Wortes „weiblich“ mehr empfinden als allſeitig zutreffend definieren können. Hier ſetzt das Freimaurertum der Geſchlechter ein, das eine Generation der anderen weitergibt. Hier verſtehen wir das Wort Jules Simons von dem heiligen Recht der Frau, durch eine ihres eigenen Geſchlechts erzogen zu werden. Ein Mädchen, das in den entſcheidenden Ent⸗ wicklungsjahren vorwiegend durch Männer geleitet iſt, wird in dieſer Beziehung genau ſo an inſtinktiver Sicherheit einbüßen, wie der Knabe unter Frauenleitung. Gerade um dieſe inſtinktive Sicherheit iſt es uns heute zu tun. Es unterliegt nicht dem geringſten Zweifel, daß ein neuer Frauentyp ſich vorbereitet, ja ſchon in der Bildung be⸗ griffen iſt. Ein junges Mädchen, das ſich heute ſo geben würde, wie unſere Großmutter als junges Mädchen, würde als prüde und zimper⸗ lich erſcheinen, wenig geeignet für die neuen Aufgaben, die ihrer harren. Aber gerade die vollſtändige Umwälzung aller Anſchauungen und aller Verkehrsformen, auch der Verkehrsformen junger Mädchen und Männer untereinander, machen es durchaus notwendig, daß eine neue feſte Tradition ſich bilde, daß die Verminderung des äußeren Diſtanzhaltens nicht zu einer Einbuße an innerem Diſtanzhalten führe. Sie wäre gleichbedeutend mit einer Einbuße an jener Achtung vor unſerem Geſchlecht, die allein unſere Macht und unſeren Einfluß ga⸗ Die Frau als Volkserzieherin. 153 rantieren kann. Die hier angedeutete Gefahr iſt nicht theoretiſch aus⸗ geklügelt. Wir haben an unſeren erſten Studentinnen, die wir aus den eigens für ſie begründeten Gymnaſialkurſen hinausſchickten, ge⸗ ſehen, was der feſte Zuſammenhang mit den Frauen, die ihnen Bahn gebrochen hatten, für ſie bedeutete, das ſtarke Verantwortlichkeitsgefühl unſerer gemeinſamen Sache gegenüber. Die ſpäteren Generationen ſind von einer gewiſſen Unſicherheit nicht frei, die, wenn ſie auch zweifellos im Lauf der Entwicklung feſten Traditionen weichen wird, doch immerhin einen Verluſt, einen Umweg bedeutet. Gerade in den oberen Klaſſen der Studienanſtalt braucht das junge Mädchen den Rat und Beiſtand von Frauen, die denſelben Weg gegangen ſind, den ſie jetzt gehen wollen und ſeine Gefahren kennen. Das kann ihr kein Mann erſetzen. Und gerade hier iſt der Mann abſolut ausſchlagge⸗ bend, ja häufig Alleinherrſcher. Das iſt ebenſo unbegreiflich, wie daß die Aufgaben des Ordinariats noch faſt überall gerade auf der Oberſtufe in ſeine Hand gelegt werden. Dieſe Aufgaben ſind in erſter Linie erzieh⸗ licher Art. Alle zwiſchen den Unterrichtsſtunden liegende erziehliche Ein⸗ wirkung auf die Mädchen konzentriert ſich hier. Und man wird unbe⸗ dingt ſagen müſſen, daß die hier zu löſenden Aufgaben Frauenauf⸗ gaben ſind. Auch in der Familie werden beſtimmte Dinge den Mäd⸗ chen von der Mutter geſagt, nicht vom Vater. Gewiſſe Fragen der äußeren und inneren Diſziplin in der Mädchenſchule können tat⸗ ſächlich nur von einer Frau behandelt werden, wenn es mit der nöti⸗ gen Wahrung des Stolzes und des Zartgefühls der Mädchen geſchehen ſoll. Ganz beſonders in den Oberklaſſen. Was wir in dieſer Beziehung leider noch gewöhnt ſind hinzunehmen, das zeigt am beſten jener Paſſus in der preußiſchen Dienſtanweiſung für den Klaſſenordinarius, wonach er Schülerinnen, die nicht bei den Eltern wohnen, in ganz be⸗ ſonderer Weiſe ſeine Fürſorge zuzuwenden hat. Er ſoll ſich um Woh⸗ nung, Umgang und ſonſtige häusliche Verhältniſſe ſolcher Schülerinnen kümmern und eventuell Änderungen herbeiführen. Wenn man ſich die Einzelheiten dieſer Obliegenheiten ausdenkt, ſo muß man ſich klar darüber ſein, daß nur eine Frau ſie ausüben kann. So hoch ich den indirekten erziehlichen Einfluß anſchlage, den ein guter Lehrer durch ſeinen Unterricht erreicht, ſo wenig ich ihn in der Schule entbehren möchte, ſolche direkten erziehlichen Maßnahmen dürften nur der Frau Die Frau als Volkserzieherin. 154 zuſtehen. Und unter ihrer Leitung wird auch am beſten der Klaſſen⸗ geiſt garantiert ſein, der dann ſchon ſelbſt Erziehung in unſerem Sinne übt. Selbſtverſtändlich handelt es ſich bei dieſem erziehlichen Einfluß nicht um ein fortwährendes gouvernantenhaftes: Das ſchickt ſich — das ſchickt ſich nicht, das geradezu ein Zeichen pädagogiſcher Impotenz iſt, nicht um die geſellſchaftlich⸗moraliſch⸗äſthetiſche Zuſtutzung, die ihren für feine Naturen unerträglichſten Ausdruck in „Backfiſchchens Leiden und Freuden“ gefunden hat. Dazu wäre unſere heutige Jugend das allerungeeignetſte Objekt. Das moderne Backfiſchchen will auch ſelb⸗ ſtändig ein paar von den Dummheiten machen, die man ihrem Bruder als Flegeljahrprivileg ſo ausgiebig nachſieht. Worum es ſich aber eben deswegen um ſo mehr handelt, das iſt der ſichere Takt, der in heiklen Situationen, in ernſtlichen Schwierigkeiten, bei ſittlichen Gefahren, die rechten Wege weiſt. Den kann einzig und allein die Frau der Frau übermitteln — nicht in fühlbaren, ruckweiſen Erziehungsmaß⸗ nahmen, die oft mehr aufreizen als fördern, ſondern durch den ſtillen, ſicheren Einfluß, der von der eigenen gefeſtigten Perſönlichkeit ausgeht. Dieſer Überzeugung gibt der geniale badiſche Staatsmann Ro⸗ bert von Mohl Ausdruck, indem er auf das entſchiedenſte betont, daß die oberſte Leitung ſowohl als die ganze innere Führung von Mädchenſchulen einer Vorſteherin übertragen werden müſſe, ob⸗ wohl er — was bei dem damaligen Stande der weiblichen Bildung nicht verwunderlich iſt — weiblichen Unterricht im ganzen nicht hoch ſchätzt und ſich das Lehrerkollegium zum großen Teil aus Männern zuſammengeſetzt denkt. „Die Erziehung im engeren Sinn des Worts, der ſittliche Einfluß auf Mädchen“, die Bildung der ganzen Anſchauun⸗ gen iſt ihm ſo wichtig wie der Unterricht ſelbſt. „Nun kann es aber keinem Schatten von Zweifel unterliegen, daß dieſe Art von Einfluß von Frauen beſſer und zum Teil eigentlich ganz allein ausgeübt wer⸗ den kann.“ Ich bin hier im weſentlichen von Erfahrungen und Beiſpielen der höheren Mädchenbildung ausgegangen. Daß für die Gemeinſchafts⸗ ſchule, daß vor allem für die Volksſchule das Gleiche gilt, braucht kaum geſagt zu werden. Ja, in dem Maße als hier die Verſuchungen und Gefährdungen größer, der Einfluß der Mutter oft genug quan⸗ titativ und qualitativ zu gering iſt, um ihnen entgegen zu wirken, Die Frau als Volkserzieherin. 155 wächſt die pädagogiſche Wichtigkeit der Forderung, daß das heran⸗ wachſende Mädchen einen ſtarken, wirkſamen, weiblichen Erziehungs⸗ einfluß in der Schule nicht entbehrt. Hier gibt es Gebiete, auf denen der Mann, auch der edelſte und beſte Erzieher, das Mädchen gar nicht in ausre ichendem Maße ausrüſten kann, wo das Fehlen der Lehrerin geradezu eine Verſäumnis der Schule in ihren dringendſten ſittlichen Aufgaben an der weiblichen Jugend bedeutet. Aber da ſetzt nun das Hauptargument unſerer Gegner ein. Die Frau: ja! die Mutter: ja! Aber nun und nimmermehr die unver⸗ heiratete Frau. Das iſt ein Männer einwand. Er verkennt vollkommen das Weſen der Mütterlichkeit. Für mich liegt die Sache ſo: Da iſt zuerſt die phyſiſche Mutterſchaft, jener tiefe Liebesinſtinkt für die eigene Nachkommenſchaft, das innige Erbarmen mit dem hilf⸗ loſen Kleinen, durch das die Natur durchgehends die Sorge für das Neugeborene geſichert hat. Sie machen dem kleinen Kinde gegenüber die Mutter faſt ausnahmslos der Nichtmutter überlegen. Daneben aber ſteht jene pſychiſche Mütterlichkeit, die die Natur ſozuſagen als Mutterbereitſchaft dem weiblichen Geſchlecht mitgegeben hat, jener Trieb zur Fürſorge für alles Schwache und Hilfsbedürftige, der die Schweſternſchaften ſchuf, der gerade jetzt der ſozialen Frauen⸗ tätigkeit ſo mächtig neue Bahnen bricht. Und im Verein damit die warme Anteilnahme am Wachſen und Werden, die geduldige Pflege ſich entfaltenden Menſchentums, die der pſychiſchen Entwicklung jungen Lebens mit echter Mutterfreude zuſieht und ihr tiefſtes Genügen darin findet, wenn ſie mit leiſer Hand lenken und fördern kann. Wo dieſe ſeeliſche Mütterlichkeit in ihren höchſten Formen ſich mit der phyſiſchen Mutterſchaft eint, da entſteht jene Idealgeſtalt, die den Namen Mutter geadelt hat und mit ihrem Glanz ſo manche armſelige Mutter über⸗ ſtrahlt, die über die phyſiſche Mutterſchaft nie hinauskam, die dem Sohn gegenüber auch nur die Worte aus Hauptmanns Friedensfeſt ſtammeln kann: „Ich hab' ihm ſein ſchönes Eſſen gekocht, er hat ſeine warmen Strümpfe gehabt.“ Daß aber die höchſte Form pſychiſcher Mütterlichkeit nicht an die phyſiſche Mutterſchaft gebunden zu ſein braucht, dafür möchte ich nur an das eine große, klaſſiſche Beiſpiel erinnern, einer Mutter, die nie Die Frau als Volkserzieherin. 156 ein leibliches Kind ihr eigen genannt und doch den gewaltigſten Mutter⸗ kampf für den Sohn durchfochten hat, den unſere Zeit kennt: die Stief⸗ mutter von Anſelm v. Feuerbach. Und weniger pathetiſch, aber in warmen Farben dankbarer Erinnerung ſteht vielen von uns das Bild einer unverheirateten Schweſter oder Freundin der Mutter oder einer Lehrerin im Herzen, die vielleicht inniger und verſtändnisvoller unſere Kindererlebniſſe teilen oder unſere Entwicklung beeinfluſſen konnte, als die von allen begehrte, vielbeſchäftigte Mutter. Dieſe pſychiſche Mütterlichkeit muß in der Lehrerin zu lebendiger, tatkräftiger Entfaltung kommen, wenn ſie wirklich zur Erzieherin werden will. Und geweckt wird ſie durch die Jugend ſelbſt, als ihrem mütterlichen Boden. Ich habe mich einmal in der Schweiz, wo es verheiratete Lehrerinnen gibt, nach den damit gemachten Erfahrungen erkundigt. Und es hat mich gar nicht überraſcht zu hören, daß man die Mutter in erſter Linie bei den Kleinen ſchätze, in den salles d'asile, den Krippen und Kinder⸗ gärten. Für die größeren Mädchen ziehe man die unverheiratete Leh⸗ rerin vor, da die Mutter durch die eigene Familie weniger äußerlich als innerlich zu ſehr von der vollen geiſtigen Hingabe an die hier viel komplizierteren erziehlichen und unterrichtlichen Aufgaben abgezogen würde. So entſchieden ich gegen den Zwang bin, der die verheiratete Lehrerin ausſchließt, ſo glaube ich doch nach dieſen und ähnlichen Er⸗ fahrungen, wie man ſie z. B. auch in Norwegen gemacht hat, daß doch nur Ausnahmenaturen reich und kräftig genug ſein werden, um gerade auf der Oberſtufe dieſer Doppelaufgabe, wenigſtens in dem heute er⸗ forderlichen Umfang, genügen zu können. Vielleicht ſchaffen weitere Erleichterungen auf beiden Gebieten noch weitere Möglichkeiten. Wenn nun der Lehrer als verheirateter Mann den Mädchen ge⸗ genüber für ſich die ganze Kenntnis ihres Weſens beanſprucht, die ein Vater vom Weſen ſeiner Tochter habe, ſo iſt davon zunächſt ein ganz weſentlicher Abſtrich zu machen. Ihn trennt von dem fremden jungen Mädchen die ganze Geſchlechtsdiſtanz, die bei Vater und Brüdern durch die Verwandtſchaft überbrückt iſt. Dann aber iſt es doch auch noch fraglich, ob die Kenntnis eines Vaters vom Weſen ſeiner heran⸗ wachſenden Tochter über die einer Geſchlechtsgenoſſin hinausgeht. Sie iſt manchmal doch recht fragmentariſch — das empfindet die Tochter Die Frau als Volkserzieherin. 157 ſelbſt inſtinktiv, wenn ſie den Vater „zu nehmen weiß“. Die Literatur aller Völker wäre nicht ſo verſchwenderiſch mit Äußerungen über das Nätſelhafte in der Frau, wenn nicht in unſerem uns ſelbſt ſo ver⸗ ſtändlichen geiſtigen Organismus für den Mann ein letzter irrationaler Reſt bliebe. Wir alle, die wir Schulmädel waren, wiſſen, mit wie manchem Backfiſchmanöverchen, das unſere Lehrerinnen ſofort durch⸗ ſchaut hätten, wir ſelbſt bei den ernſthafteſten Familienvätern unter unſeren Lehrern Glück hatten. Das Gegenſtück dazu iſt das Glück, das „der liebe Junge“, den Vater und Lehrer ſtramm halten wollen, ſo häufig bei ſeiner Mutter hat. Wenn wir die harmlos⸗durchſichtige Kinderzeit abrechnen, ſo dürfen wir wohl ſagen: ganz durchſchaut in allen unſeren Motiven werden wir nur vom Geſchlechtsgenoſſen. Dieſe Wahrheit dürfen wir bei der Pädagogik der Entwicklungsjahre nicht außer Acht laſſen. Hier gibt es Gebiete, auf denen die Fremdheit einen beſonderen Reiz, eine beſondere Förderung ausübt und ſomit einen Vorteil bedeutet, aber es gibt andererſeits Gebiete und Situationen, die die Geſchlechtsgenoſſin zu ihrer Löſung durchaus verlangen. Es iſt ein Männer einwand, ſagte ich, der Einwand gegen die unverheiratete Lehrerin. Die Mütter, mit denen uns die gemeinſame Sorge um ihre Mädchen zu Beratungen zuſammenführt, beſtreiten uns die Möglichkeit des vollen Verſtändniſſes und der richtigen Beur⸗ teilung ihrer Töchter nicht. Und nicht ſelten erbitten ſie unſere Hilfe zur Beſeitigung jener Spannung, die ſo leicht zwiſchen der jüngeren und älteren Generation im Hauſe eintritt. Heute wohl mehr als ſonſt. Wenn von jeher das Kapitel: „Väter und Söhne“, „Mütter und Töchter“ nicht immer ein einfaches war, ſo iſt es beſonders ſchwierig in der jetzigen Zeit. Wenn die freieſte Jugend von heute auch die Frage, ob die Jugend nicht in beſonderen Städten wohnen ſolle, noch nicht für ganz aktuell hält, ſo empfindet ſie doch die „Alten“ — die bekanntlich für die Jugend ſchon beim Dreißiger beginnen — als gänzlichſt zurückgeblieben, ſtörend und läſtig. Im ganzen ſind Mäd⸗ chen der Baccalaureusſtimmung ja etwas weniger zugänglich als Knaben, aber in der Debatte über die Frage: „Was fangen wir mit unſeren Töchtern an?“ werfen ſie doch gern die Gegenfrage auf: „Was fangen wir mit unſeren Müttern an?“ Und bei dieſem Ringen um Verſtändigung zwiſchen der alten und jungen Generation hat die Leh⸗ Die Frau als Volkserzieherin. 158 rerin mehr Chancen auf Einfluß bei den Mädchen, als der Lehrer bei den Knaben. Bei dieſen erheiſcht es zur Zeit die Mode, den Lehrer als blutigen Tyrannen und hoffnungslos Zurückgebliebenen zur Ver⸗ achtung für die Mitwelt an den Pranger zu ſtellen. Die Mädchen ſind in dieſem Punkt vorurteilsloſer und reifer, und eine kluge und taktvolle Schulleiterin oder Lehrerin kann ohne indiskretes Fragen und Eindringen in die Beziehungen zur häuslichen Gemeinſchaft doch viel erfolgreiche indirekte Friedensarbeit tun. Wenn ich den weſentlichſten Teil meiner Ausführungen auf die Stellung der Frau zur Mädchenbildung verwandt habe, ſo geſchah das einmal, weil wir ein beſonderes Intereſſe daran nehmen, anderer⸗ ſeits weil hier die Zuſtände bei uns am unnatürlichſten ſind. Wie unnatürlich, das zeigte mir kürzlich der erſtaunte Ausruf einer Eng⸗ länderin, als ſie erfuhr, daß unſere öffentlichen Mädchenſchulen faſt durchweg unter Männern ſtehen: „How strange to have men as head⸗ mistresses“! Das Wort „headmaster“ war für ſie in bezug auf die Mädchenſchule überhaupt kein Begriff. Bei uns dagegen exiſtiert bei Verordnungen, Stellenausſchreibungen und in Wirklichkeit die Leiterin immer nur — in Klammern. Es iſt bei dem ganzen Gange der Frauenbewegung in Deutſchland natürlich, daß wir auf dieſes Stück der Erfüllung der Miſſion der Frau als Volkserzieherin: ſie als Leiterin der Mädchenbildung und Er⸗ ziehung zu ſehen, d. h. ſie im Staat die Stellung einnehmen zu ſehen, die ſie im Privatſchulweſen einnahm, ſo lange warten müſſen. Wir haben gerade auf das, was wir zuerſt ins Auge gefaßt und immer wieder erbeten haben: eine über das Elementare hinausgehende Frauen⸗ und Lehrerinnenbildung, faſt ein Vierteljahrhundert länger warten müſſen als die Frauen anderer Völker. Und dieſes Viertel⸗ jahrhundert hat einerſeits den unſachlichen Gefühlsvorurteilen Zeit zum Wachſen gegeben, die der Erfüllung des Ideals entgegenſtehen, das Robert von Mohl in Baden, das u. a. Adolf Harnack in Preußen vertritt; dies Vierteljahrhundert hat andererſeits die Bereitſtellung der weiblichen Kräfte verzögert, die es durchführen könnten. Aber wir reifen ihm entgegen. Vor kurzem hat der Landesverband preußiſcher Volksſchullehrerinnen die Theſe einſtimmig angenommen, daß bei gleicher Tüchtigkeit eines männlichen und weiblichen Be⸗ Die Frau als Volkserzieherin. 159 werbers um den Rektorpoſten an Mädchenvolksſchulen die Frau den Vorzug haben müſſe. Eine Theſe, deren Erfüllung durch die Zulaſſung der Frauen zum Rektorexamen, ſowie durch die Unterſtellung der preußiſchen Mädchenmittelſchulen unter weibliche Leitung nähergerückt zu ſein ſcheint. Und es iſt ſicher, daß die Mädchenvolksſchule mit der Unterſtellung unter die Frau manche Aufgabe ſozialer Art und manche Aufgabe der Berufsberatung erſt aufnehmen kann, die jetzt brach liegt. Auch das ein Erfolg, den wir uns vor 25 Jahren nicht hätten träumen laſſen und der uns die Kulturgeduld geben wird, mit der wir der Vollendung der Miſſion der Frau als Volkserzieherin ſpeziell an der weiblichen Jugend entgegenſehen. Nun wenden wir zum Schluß noch einmal den Blick über unſer engeres Wirkungsfeld — die Schule — hinaus auf das geſamte natio⸗ nale Kulturleben. Was ſich in unſerem Beruf vollzogen hat, das Bewußtwerden einer beſonderen Aufgabe, die der Lehrerin im Aufbau des Bildungs⸗ weſens zufällt, das hat ſeine große Parallele in der Geſamtentwick⸗ lung der modernen Frau. Die Frauen haben als Geſamtheit verſtehen gelernt, daß nicht nur jede von ihnen Erzieherin in ihrem Familien⸗ kreis, an den eigenen Kindern iſt, ſondern daß dieſe ihre Wirkung ſich ſummieren ſoll zu einer großen gemeinſamen erziehlichen Einwirkung auf unſer Volksleben. Die Frauen haben verſtanden, daß für be⸗ ſtimmte ſittliche und ſoziale Ideale ſie in beſonderem Maße einzu⸗ ſtehen haben, daß es ihre Miſſion iſt, auch in der ſozialen Gemeinſchaft bewußt zu vertreten, wofür ſie in der Familie von jeher arbeiten: Schutz und Pflege des perſönlichen Lebens, die Achtung vor allem Menſchentum, auch wenn es keine Macht und keinen wirtſchaftlichen Nutzen hinter ſich hat, überhaupt die Bewertung geſunden, frohen, kräftigen Menſchentums über alle äußere wirtſchaftliche und politiſche Machtentfaltung hinaus, die Fürſorge für Geſundheit, ſittliche Rein⸗ heit, für häusliches Behagen und Alltagskultur aller Volksſchichten. Unſere Zeit hat die Frau gelehrt, daß es nicht genug iſt, im Kreiſe des eigenen Heims dies alles wie von altersher zu verwirk⸗ lichen, ſondern daß ſie „Volkserzieherin“ werden, das heißt daß ſie helfen muß, den großen Maſſen alle dieſe Güter zu⸗ gänglich zu machen, daß ſie dafür einſtehen muß, daß in Die Frau als Volkserzieherin. 160 Gemeinde und Staat ſolche pflegeriſchen, direkt dem Men⸗ ſchen zugewandten Aufgaben ebenſo wichtig genommen werden wie bisher die Förderung von wirtſchaftlichem Reichtum und äußerer Macht. In Tauſenden von Frauen, die als Mitarbeiterinnen in ſtädtiſche und ſtaatliche Wohlfahrtspolitik eingerückt ſind, in anderen Tauſenden, in denen das Bewußtſein lebendig wird, daß auch außer⸗ halb des Hauſes eine weibliche Sphäre entſtanden iſt, die ihrer An⸗ teilnahme harrt, vollzieht ſich die Umwandlung der modernen Frau von der Familien⸗ zur Volkserzieherin. Vollzieht ſich, weil unſere moderne Geſellſchaft dieſer bewußten, planvollen Mitwirkung der Frau im Volksganzen bedarf. Und hier liegt eine letzte und höchſte Aufgabe der Lehrerinnen. Wie ſie ſelbſt ſich in ihrem Beruf als Volkserzieherinnen fühlen ge⸗ lernt haben, ſo haben ſie nun ihrerſeits mitzuarbeiten an der Er⸗ ziehung der Frauen für ihre zeitgemäßen ſozialen Aufgaben. Sie haben in der weiblichen Jugend dieſes neue Verantwortlichkeitsgefühl gegen die Geſamtheit zu pflanzen, den neuen Gemeinſchaftsgeiſt zu pflegen, der die häusliche Aufgabe im Sinne ſozialer Verantwortung erfaßt und die Grenzen ſeiner Pflicht weiter zieht, wenn er nur irgend die Kräfte dazu in ſich verſpürt. Darum gehört die Lehrerin mitten in den Strom des Werdens hinein, der die Frauen heute erneuernd und ſtärkend mit ſich trägt. Sie muß ſich nicht nur als die Übermittlerin vergangener Kultur, ſondern als die Mitſchöpferin der Zukunft fühlen. Als die Mitſchöpfe⸗ rin des neuen Frauentypus, den unſere Zeit braucht. Sie muß ihn in ſich ſelbſt darſtellen und in der weiblichen Jugend, den künftigen Müttern und Bürgerinnen, entwickeln helfen. Und wenn wir heute der Geſchichte unſeres Standes, ſeines raſchen Werdens gedenken, ſo wollen wir uns zugleich deſſen freuen, daß unſere Arbeit in eine Zeit fällt, wie ſie für den Pädagogen nie reicher, fruchtbarer, bedeutſamer geweſen iſt. Es gibt Zeiten, die von der Vergangenheit leben und ſtillſtehen. Die Gegenwart aber gehört für uns Frauen zu den herr⸗ lichen, beſchwingenden Zeiten, die die Brücke zu einer reicheren Zukunft ſind. Das ſollte niemand froher, ſtolzer und zugleich ernſter empfinden als die Lehrerin, der mit der Jugend dieſe Zukunft in beſonderem Maße anvertraut iſt. 161 Neujahr 1915. („Die Frau“, Jan. 1915.) Die Zukunft decket Schmerzen und Glücke. Schrittweis dem Blicke, Doch ungeſchrecket, Dringen wir vorwärts, Und ſchwer und ſchwerer Hängt eine Hülle Mit Ehrfurcht. Stille Ruh'n oben die Sterne Und unten die Gräber. Betracht' ſie genauer, Und ſiehe, ſo melden Im Buſen der Helden Sich wandelnde Schauer Und ernſte Gefühle. Doch rufen von drüben Die Stimmen der Geiſter, Die Stimmen der Meiſter: Verſäumt nicht zu üben Die Kräfte des Guten! Hier winden ſich Kronen In ewiger Stille, Die ſollen mit Fülle Die Tätigen lohnen! Wir heißen euch hoffen. Goethe. Das neue Jahr 1915! Zwiſchen dem Schweigen der Sterne und Gräber das Ringen der Völker; die atemloſe Spannung rieſiger ge⸗ ſchichtlicher Umwälzungen. Noch wiſſen wir nicht, was ſich im Sturm dieſer Monate vollzieht. Wenn Wiſſen jene Überſchau iſt, die von unbe⸗ teiligter Ferne die Ereigniſſe als Geſchichte — die vom Ziel aus den klaren Zug des Weges zu erkennen vermag. Noch ſchaffen unſer Wille, unſere Hoffnung, unſere Liebe mit an dem Bild dieſer Tage, wie es ſich in unſerer Erkenntnis formt. Wir ſind Wellen im reißenden Strom des Geſchehens und können nicht an ſeine Ufer treten und ihm zuſchauen. „Die Zukunft decket Schmerzen und Glücke ..“ Und doch haben wir — auf der Schwelle dieſer beiden ſchickſals⸗ vollen Jahre — mehr als jemals das Bedürfnis nach Gewißheiten, an die wir uns halten möchten. Je ſtärker wir unſer äußeres Leben und das unſeres Volkes in der Macht unbekannter Schickſale fühlen, um ſo klarer möchten wir die Leitſterne ſehen, die uns durch jedes Schickſal 11 Lange, Kampfzeiten. II. Neujahr 1915. 162 hindurch führen, deren Glanz uns unter allen Lebensumſtänden Kraft und Troſt zu ſein vermag. Und hat nicht gerade dieſe Zeit, haben nicht die Erfahrungen der letzten Monate ſelbſt uns dieſe Leitſterne deutlicher enthüllt, als irgendeine Zeit vorher? Wir ſehen das ganze Daſein um uns herum erhöht und geſteigert, ſehen alle großen Dinge, Glück und Schmerz, Leben und Tod, Begeiſte⸗ rung und Duldermut größer geworden; die Welt voll Heldentum, alles Menſchliche ſchwerer und heißer, alle Menſchen zugleich belaſteter und erhobener als ſonſt. In den Tiefen der Seele ſind ungeahnte Kräfte wach geworden, Kräfte der Leiſtung und Überwindung, des Mutes und Leidens. Die Summe menſchlicher Willenskraft iſt überwältigend geſtiegen. Aus ſich ſelbſt heraus, angeſichts rieſiger Anforderungen, iſt unſer ganzes Volk geiſtig größer geworden, hat ſeine ſittliche Kraft Engigkeiten und Alltäglichkeiten geſprengt, Eigenſucht und ⸗ſorge abgeſchüttelt. Dieſes Wachstum von innen heraus iſt die herrliche Erfahrung, die nichts uns nehmen kann. Sie vor allem gibt uns die Zuverſicht jener ſeltſam feierlichen Goetheworte: „Ungeſchrecket dringen wir vor⸗ wärts.“ Wir lernten mitten in Tod und Leiden eine Kraft in uns kennen, die unabhängig von Glück und Unglück uns zu erheben ver⸗ mochte. Im Anteil an einer großen, über ihr eigenes Leben und ſeine kleine Gewinn⸗ und Verluſtrechnung hinausreichenden Sache ſind Millionen Menſchen frei geworden von aller Angſt und von dem Druck perſönlicher Sorgen. Wenn aber die zuverſichtliche Stimmung, mit der unſer deutſches Volk die Schwelle des neuen Jahres überſchreitet, aus dieſen geiſtigen Urſprüngen quillt, ſo iſt ſie damit zugleich in ihrem Ernſt und ihrer ſittlichen Größe geſichert — mindeſtens da, wo ſie ihre volle Höhe und letzte Klarheit erlangt. „Und ſchwer und ſchwerer Hängt eine Hülle Mit Ehrfurcht“ — — Wie ſchön iſt in der ſchweren myſtiſchen Melodie dieſer Worte die Stimmung ausgedrückt, die aufſteigt, wo der einzelne über ſein eigenes Daſein hinausſchauend ſich als kleinſten Teil größeren Geſchehens, als Neujahr 1915. 163 winzigſte Kraft einer nach erhabenen Geſetzen ſich vollziehenden Menſchheitsentwicklung fühlt. Alle letzten Ziele umhüllt Geheimnis, alle tiefſten Zuſammenhänge wirken unerkannt durch uns hindurch; jenſeits unſerer Erkenntnis bleibt ein letzter Sinn alles Geſchehens verſchleiert. Nur im ahnenden Gefühl iſt er uns geſchenkt. Wiſſen wir auf das letzte Warum? keine Antwort, ſo ſagt uns doch ein Gefühl, wo wir im Dienſt der großen kosmiſchen Ziele ſtehen, und wo wir ihnen abtrünnig werden. Unendlich einfach iſt trotz aller Unergründ⸗ lichkeit der geiſtigen Welt die Richtſchnur, die uns leitet: „Verſäumt nicht zu üben die Kräfte des Guten.“ Zukunft und Arbeit, Zukunft und Wille, Zukunft und Tapferkeit ſind dieſelben Dinge. Die größte und ſicherſte Zukunft hat das Volk der lebendigſten Kräfte, des zäheſtens Willens, das Volk, das die meiſten zu überperſönlicher Tat bereiten Menſchen hat. Noch niemals iſt ein Volk zugrunde gegangen, in dem Hingabe und Opfermut für das Ganze der Ausdruck für überſchüſſige, im Einzelleben nicht verbrauchte Kraft war. Und darum — wenn es eine Gewißheit über Deutſch⸗ land im Jahre 1915 gibt, ſo quillt ſie aus der großen ſittlichen Volks⸗ leiſtung des Jahres 1914. Sie ſtützt uns, wenn wir auch für unſer Volk den Segen erhoffen, den nach ewigen Geſetzen Goethe dem „Täti⸗ gen“ in gewiſſeſte Ausſicht ſtellt. Bis dahin aber wiſſen wir, daß noch viel von uns verlangt wer⸗ den wird. Der Tribut an Kraft, Ausdauer und Hingabe, den wir für unſeres Volkes Sieg zahlen müſſen, iſt noch lange nicht abgetra⸗ gen. Es gilt vielleicht noch ſtärkere Proben zu beſtehen, als die bis⸗ herigen. Wenn unſere Gegner geſagt haben, die Entſcheidung würde von der letzten Milliarde abhängen, ſo läßt ſich das Wort auch auf das geiſtige Kapital beziehen: wer das letzte Aufgebot von ſeeliſcher Widerſtandsfähigkeit beibringt, wird ſiegen. Wir wiſſen alle, daß un⸗ vermeidlich die Zeit an dieſem Kraftkapital zehrt. Verluſte, Schmerzen, Warten, Sehnſucht, Ausharren, die großen und die kleinen Opfer reißen ihre Lücken in unſere ſeeliſchen Beſtände. Und je länger der Krieg dauert, um ſo zahlreicher und wichtiger werden die Aufgaben der Da⸗ heimgebliebenen. Um ſo mehr Ruhe, Überlegung und Selbſtbeherr⸗ ſchung verlangen ſie. Die ſoziale Fürſorge, die Regelung der Volks⸗ ernährung, die Aufrechterhaltung aller, auf die der Krieg ſeeliſche und 11* Neujahr 1915. 164 wirtſchaftliche Laſten wälzt — alles das wird je länger je mehr An⸗ ſprüche an die Mitarbeit und Hilfe aller ſtellen. Erſt die kommenden Monate werden die der härteſten Prüfung ſein. Dann aber gilt es dafür zu ſorgen, daß nicht das Jahr 1915 die glorreiche Erinnerung an die erſten Kriegsmonate auslöſcht. Es gilt, das ſtrahlende Bild der Volksſtimmung aus jenen erſten Monaten fleckenlos zu erhalten, damit nicht kommende Geſchlechter an der Echt⸗ heit und wahren Stärke dieſer mächtigen Erhebung zweifeln, die unſer aller koſtbarſtes Erinnerungsgut iſt. Es gilt unſerer Arbeit im Inne⸗ ren die Wärme zu erhalten, die ſie nicht zur bloßen Pflicht werden läßt, ſondern ſie als Ausdruck innerer Höhe und Schwungkraft erhält. Der Weg des deutſchen Volkes durch die kommenden Monate wird viel⸗ leicht noch eine rauhe Pilgerfahrt ſein, aber ihre Mühen werden den Geiſt, der uns erfüllt, nicht lähmen und ins Alltägliche herabdrücken können. Dazu wird uns ſchließlich noch eines helfen: der Gedanke an die Toten. „— — ſtille ruhn unten die Gräber.“ Jeder Tag mehrt die Zahl dieſer Opfer. Es gibt keinen Gedanken, der mit dem Hinſinken von ſo viel hoffnungsvollem Leben verſöhnen könnte als den einen, daß dieſe Opfer das ganze Volk der Zurückgebliebenen heiligen ſoll⸗ ten. Was die Toten des Jahres 1914 hätten bedeuten können an ſchaffender Kraft, was ſie hätten wirken können in jeder Art geiſtigen und ſittlichen Aufſtiegs, wenn ſie uns erhalten geblieben wären, das ſollte nun das Vorbild ihres Todes wirken. Den Gedanken an ihre Hingabe ſollten wir zur Kraft werden laſſen, die unſere Kräfte weckt. In dem heiligen Willen der Lebenden, das Werk zu vollenden, für das ſie ſich opferten, ſollten ſie fortleben. Von keinem Tode gilt es ſo wie von dieſem, daß er um der ande⸗ ren willen geſtorben wurde. Aus keinem Tode erwächſt den anderen eine höhere Verpflichtung. Auch in dieſer Weiſe muß und wird dem deutſchen Volke Kraft aus ſeinen Opfern erwachſen. 165 Die Dienſtpflicht der Frau. (Kriegstagung des Allgem. Deutſchen Lehrerinnenvereins, Pfingſten 1915.) Leitſätze. Vorbemerkung.“ Die Einführung der weiblichen Dienſtpflicht bedeutet einen ſo tiefen Eingriff in das Frauenleben, die Geſtaltung der Ausbildung dazu erfordert ein ſo großes Syſtem ſtaatlicher Organiſation, daß die Frage einer ſehr ein⸗ gehenden, alle praktiſchen Einzelheiten berückſichtigenden Bearbeitung bedarf. Die folgenden Richtlinien erheben nicht den Anſpruch darauf, die endgültige Form für die zu ſtellenden Forderungen zu ſein. Sie ſollen nur als leitende Gedanken für die Beſprechung dienen. 1. Der Krieg hat den Frauen zum Bewußtſein gebracht, daß über die Er⸗ füllung der Familienaufgabe und der Berufsleiſtung hinaus der Staat einen Anſpruch auf die unmittelbare Mitarbeit der Frauen bei ſeinen Aufgaben hat. Aus dieſem Bewußtſein hat der Gedanke einer weiblichen Dienſtpflicht in dieſer Zeit neue Kraft gewonnen. 2 Die männliche Dienſtpflicht zerfällt in die Pflicht zur Ausbildung für den Krieg und die Pflicht zur Heeresdienſtleiſtung im Kriegsfall. Die Aus⸗ bildung erfüllt neben ihrem unmittelbaren Zweck der Wehrhaftigkeit noch den einer körperlichen und ſtaatsbürgerlichen Schulung von hohem Wert. 3 Um den Inhalt des weiblichen „Dienſtjahrs“, d. h. der Ausbildungs⸗ zeit für den Dienſt, zu beſtimmen, muß man ſich zuvor darüber klar ſein, worin die weibliche „Dienſtpflicht“, d. h. die Leiſtung der Frauen für den Staat, beſtehen ſoll. 4. Die männliche Dienſtpflicht bekommt ihre weſentliche Beſtimmung erſt im Krieg; die weibliche Dienſtpflicht hat ihre weſentliche Beſtimmung in den dauernden Friedensaufgaben. Die Leiſtung der Frauen iſt im Kriege keine grundſätzlich andere als im Frieden. Sie beſteht in Krankenpflege und aller Art organiſierter Wohlfahrtsarbeit. Daraus ergibt ſich, daß die Frau nicht im beſonderen für den Krieg ausgebildet zu werden braucht. Der Friede erfordert ihre Dienſtleiſtung dauernd für alle Aufgaben der ſozialen Hilfsarbeit. Durch die Einführung einer weiblichen Dienſtpflicht mit vorher⸗ gehender Ausbildung würden für die geſamte ehrenamtliche Wohlfahrtspflege Kräfte gewonnen, die ſie erſt ihren Aufgaben wirklich gewachſen machen würden. Die Dienſtpflicht der Frau. 166 5. Die weibliche Dienſtpflicht beſteht in der Übernahme von Ehrenämtern in der Wohlfahrtspflege, Vormundſchaft, Armenpflege, Waiſenpflege, Jugend⸗ fürſorge uſw. Dieſe bürgerliche Pflicht ſollte in derſelben Weiſe wie den Männern allen Frauen auferlegt werden. Befreiung von dieſer Pflicht kann nur aus den auch für die Männer gültigen beſonderen Gründen erfolgen. Dazu käme dann noch eine Ausnahmebeſtimmung für Frauen mit kleinen Kindern oder in ſonſtigen häuslichen Verhältniſſen, die ihnen keine Zeit für ehrenamtliche Tätigkeit übrig laſſen; ebenſo für erwerbstätige Haus⸗ frauen. 6. Eine beſondere Kriegsdienſtpflicht der Frauen entſteht in der Ver⸗ wundetenpflege. Soweit es irgend möglich iſt, ſollte dieſe durch Berufs⸗ pflegerinnen erfolgen. Als Hilfskräfte in Lazaretten müſſen aber freiwillige Kräfte herangezogen werden. Dieſe Hilfsleiſtungen müſſen auch einen Teil der weiblichen Dienſtpflicht bilden. 7. Die allgemeine Bildungsgrundlage für alle Formen weiblicher Dienſt⸗ pflicht iſt die Beherrſchung der einfachen Hauswirtſchaft. Sie muß daher als Grundlage weiterer Ausbildung vorausgeſetzt werden, oder den Inhalt der weiblichen Dienſt⸗, d. h. Ausbildungszeit bilden. 8. Auf die körperliche Ausbildung — einer der weſentlichen Gewinne der männlichen Heeresausbildung — muß auch im weiblichen Dienſtjahr großes Gewicht gelegt werden. 9. Auf Grund der verſchiedenartigen Vorbedingungen iſt eine verſchieden⸗ artige Geſtaltung der Ausbildung für die aus den Volksſchulen und die aus den höheren Schulen entlaſſenen Mädchen notwendig. Sie hat ihre Analogie in der verſchieden geſtalteten Dienſtpflicht der Männer. 10. a) Für die aus der Volksſchule entlaſſenen Mädchen wäre grundſätzlich zu wünſchen: eine einjährige, unentgeltliche Anſtaltsausbildung zwiſchen dem 17. und 20. Lebensjahre. Sie müßte gewähren: gründliche Erlernung der Hauswirtſchaft unter ſtarker Berückſichtigung der volkswirtſchaftlichen Ver⸗ antwortung der Hausfrau; Geſundheitspflege, Kinderpflege, Bürgerkunde. Nur in dieſer Ausgeſtaltung könnte das Dienſtjahr ſeinen Zweck voll erfüllen. b) Aus privatwirtſchaftlichen und ſtaatswirtſchaftlichen Gründen iſt eine allgemeine Einführung dieſer Dienſtzeit zur Zeit nicht erreichbar. Anfänge dazu können in folgender Form gemacht werden: Die Dienſtpflicht der Frau. 167 1. Allgemeine Verlängerung der Schulpflicht der Mädchen um ein halbes Jahr, das ausſchließlich der hauswirtſchaftlichen Praxis beſtimmt ſein ſoll. 2. Einrichtung fakultativer Anſtalten, nach Art der däniſchen Volks⸗ hochſchulen, die erwachſenen Mädchen mit Volksſchulbildung Gelegen⸗ heit geben, unentgeltlich ein Dienſtjahr in der unter a) angegebenen Form durchzumachen. 3. Vermehrung und Ausbau der landwirtſchaftlichen Haushaltungs⸗ ſchulen. 11. Die aus den höheren Schulen entlaſſenen Mädchen müſſen — wie die Einjährigen — die Koſten ihrer Ausbildung ſelbſt tragen. Sie müſſen vor Eintritt in die Dienſtzeit eine hauswirtſchaftliche Bildung nachweiſen, die ſie zu Hauſe oder in einer Hauswirtſchaftsſchule erworben haben. Die Dienſt⸗ zeit — zwiſchen dem 17. und 20. Jahre — iſt durch die Ausbildung für die ſoziale Hilfsarbeit ausgefüllt. Dieſe kann ſich, auf einer gewiſſen allgemeinen Grundlage, fachlich differenzieren (Kleinkinderfürſorge, Armenpflege, Kran⸗ kenpflege uſw.). Der obligatoriſchen Einführung der weiblichen Dienſtzeit kann für dieſe Schichten vorgearbeitet werden durch Ausbau der Frauenſchule. 12. Die Geſtaltung des weiblichen Dienſtjahres muß in den Händen von Frauen liegen, und zwar ſowohl die ſtaatliche Verwaltung wie die Leitung der einzelnen Anſtalten. 13. Die Erfüllung der Dienſtpflicht (ſ. Leitſatz 3) erfolgt entſprechend der Vorbildung während des Dienſtjahres innerhalb der Wohlfahrtszweige, für welche die Frauen ſich beſonders ausgebildet haben. Selbſtverſtändlich kann hier nicht ſchematiſch verfahren werden. Die beſondere Tüchtigkeit der Per⸗ ſönlichkeit kann Spezialausbildungen unter Umſtänden erſetzen. Die Frauen, die ihr Dienſtjahr auf Grund der Volksſchulausbildung durchgemacht haben, ſind zu kommunalen Ehrenämtern ſelbſtverſtändlich in gleichem Maße heran⸗ zuziehen. Ihre praktiſche Kenntnis der Verhältniſſe iſt ein Erſatz für die ſoziale Ausbildung. 14. Durch Fortbildungskurſe muß allen Frauen Gelegenheit zur Auffriſchung und Erweiterung der im Dienſtjahr erworbenen Kenntniſſe gegeben werden. 15. Die Zulaſſung der Frauen zu allen Ehrenämtern der kommunalen und ſtaatlichen Wohlfahrtspflege und ihre Verpflichtung, dieſe Ämter an⸗ zunehmen, muß nach Beendigung des Krieges durch Geſetzgebung geſichert werden. Die Dienſtpflicht der Frau. 168 Als vor nunmehr drei Jahren der Bund Deutſcher Frauenvereine das Thema des weiblichen Dienſtjahres auf die Tagesordnung ſeiner Generalverſammlung geſetzt hatte, handelte es ſich für alle Beteiligten mehr um eine programmatiſche als um eine unmittelbar praktiſche Angelegenheit. Wir arbeiteten an der Vervollſtändigung des Bildes, das wir uns von der Eingliederung der Frau in das Gemeinſchafts⸗ leben gemacht hatten, und fragten uns, ob nicht eine feſtere Beſtim⸗ mung der öffentlichen Pflichten der Frauen dazu gehöre, und eine obligatoriſche Ausbildung für dieſe Pflichten. Wir ſuchten einen nächſten Schritt in der Entwicklung des Bürgertums der Frau — ſuch⸗ ten ihn, zwar auf dem Erreichten fußend, zwar durch die Vergangen⸗ heit gedrängt und kommende Notwendigkeiten erſchließend, aber doch immer mit dem Bewußtſein, daß wir uns im weſentlichen auf Kom⸗ mendes rüſteten, daß wir Vorarbeit leiſteten für eine Zeit, da das Durchdrungenſein der Frauen von einer ſtaatsbürgerlichen Verpflich⸗ tung ſtärker, die allgemeine Einſicht in die Notwendigkeit, dieſer Ver⸗ pflichtung einen feſten Rahmen zu geben, verbreiteter ſein würde. Heute ſtehen wir vollſtändig anders zu der Frage. Der Krieg hat uns, wie niemals zuvor ein Gedanke oder ein Ereignis, die Grund⸗ lagen unſerer Volkskraft enthüllt, hat uns gezeigt, daß alle Stärke des modernen Staates in der „Organiſation“, d. h. in dem feſten Gefüge der Gemeinſchaftsleiſtungen liegt, in der Fähigkeit zu geſammeltem Tun, und in dem Willen und in der Gewohnheit des einzelnen, ſich einzugliedern und als ein Teil des Ganzen zu handeln. Was vor hundert Jahren den führenden Staatsmännern als Offenbarung der Volksleiſtung von 1813 aufging: die Fähigkeit des Volkes zur Verantwortung für ſein eigenes Schickſal, das haben wir in größerer, gewaltigerer Form heute erlebt: wir können, ja wir ſollen und müſſen uns noch vertrauensvoller ſtützen auf die Mitarbeit aller für das Ganze, auf eine Mitarbeit, die nicht nur unbewußt und zu⸗ fällig dem Ganzen zugute kommt, indem ſie den eigenen nächſten Intereſſen dient, ſondern die ſich ihrer Verantwortung und Bedeutung für die Geſamtheit bewußt iſt, und die das Ganze, den Staat, fördern will. Die Folge dieſer Einſicht für die Frage, die uns heute beſchäftigt. iſt, daß man heute zugänglicher als je für die Betrachtungsweiſe iſt, Die Dienſtpflicht der Frau. 169 die auch das Frauenleben mit dem Inhalt ſeiner Leiſtungen in Be⸗ ziehung zu dieſem Ganzen ſetzt, es in ſeiner unmittelbaren Bedeutung für den Staat erfaſſen will. Und die Frauen ſelbſt? Sie erlebten den Ruf der Zeit an ihre Kraft, ihre Mitarbeit teils wie eine lang erſehnte Berufung, teils wie eine neue, hinreißende Forderung. Ihnen gab dieſe Zeit beides: plötzliche Erhellung des Weges, den ſie in Zukunft zu gehen hatten, und Erkenntnis über das Maß ihrer Vorbereitung für das, was von ihnen verlangt wurde. Der Wunſch, dem Staat zu helfen, ein letztes, beſcheidenſtes Stück nationaler Kraft zu ſein, wuchs in einer einzigen Stunde in Millionen deutſcher Frauen empor; er hat Millionen durch nun faſt ein Jahr bei ihrer Arbeit für den Staat feſtgehalten. An uns, die wir in dem Aufflammen dieſes Bedürfniſſes und dieſer Lei⸗ ſtung die Erfüllung eines Jahrzehnte hindurch verkündeten Glaubens ſehen, iſt es nun, dafür zu ſorgen, daß dieſer Frauenwille, der ein ſo weſentlicher Teil unſerer inneren Verteidigung iſt, eine dauernde, zu⸗ verläſſige Kraft werde in dem Aufbau jenes neuen Deutſchland, dem der Heldenmut unſerer Heere draußen und dem unſere Arbeit im Innern im letzten Sinne gilt. Und darum reden wir heute von der Dienſtpflicht der Frau als einer Aufgabe, die wir jetzt anfaſſen, die uns von einer akademiſch fernen zu einer praktiſch nahen geworden iſt. Indem wir ihr aber nun ins Auge ſehen, müſſen wir uns zugleich klar ſein, daß es ſich um eine Aufgabe handelt, die nicht im Sturm des aufflammenden Gefühls zu löſen iſt. Ein Eingriff in das Frauen⸗ leben — ſo einſchneidend und vielbedeutend, ein neuer Zweig im ſtaatlichen Bildungsweſen, ſo ausgedehnt, koſtſpielig und neuartig, daß die ſorgſame Arbeit vieler Sachverſtändiger dazu gehören wird, um dieſe neue Forderung in ihrer geiſtigen und praktiſchen Bedeutung zu durchdringen. Mit Aufrufen „an Deutſchlands Jungfrauen“, wie ſie naive Gemüter übereifrig in die Welt ſchicken wollten, iſt die Sache nicht gemacht, und ſelbſt ernſthafte Aufſätze und Broſchüren können nicht mehr als erſte Grundlagen andeuten, Ziele beſtimmen, Richt⸗ linien geben, während für die praktiſche Geſtaltung auch nur erſter Anfänge eine genaue ſorgſame Einzelarbeit einſetzen muß. Auch meine Ausführungen ſollen nur Einleitung zu ſolcher Arbeit ſein, Grundlage Die Dienſtpflicht der Frau. 170 einer erſten allgemeinen Verſtändigung über die Frage in unſerem eigenen Kreis und der Verſuch einer Klärung des Problems ſelbſt. Zu dieſer Klärung iſt zunächſt eines notwendig: daß wir uns ver⸗ ſtändigen über den Begriff des „Dienſt jahrs“. Jetzt wird dieſes Wort in den verſchiedenen Äußerungen zur Sache in doppeltem Sinne gebraucht: als Ausdruck für die Ausbildungs zeit für eine Dienſt⸗ pflicht und als Inbegriff dieſer Dienſt pflicht ſelbſt in dem Sinne etwa, als ob mit dem einen Jahr, das die Frauen dem ſozialen Dienſt in irgendeiner Form widmen, die Sache abgetan iſt. Wir müſſen aber als Vorausſetzung aller weiteren Erörterungen klar unterſcheiden, worin die Dienſt pflicht und worin das Dienſt jahr, d. h. die Ausbildung für dieſe Pflicht beſtehen ſoll. Daß dieſe beiden Dinge verwechſelt werden, liegt in der Analogie zur männlichen Dienſtzeit. Da die männliche Dienſt pflicht im eigent⸗ lichen Sinne des Worts nur im Kriegsfall eintritt, für Generationen von Männern ſich alſo der „Dienſt“ in der Ausbildungszeit erſchöpft, gewöhnt man ſich, bei der männlichen Dienſtpflicht nur an dieſe Aus⸗ bildungszeit zu denken und zu vergeſſen, daß der Mann in dieſer Zeit dem Staat eigentlich noch nicht „dient“, — im Gegenteil ihm viel Arbeit und Koſten verurſacht —, ſondern nur für einen möglicherweiſe notwendigen künftigen Dienſt vorbereitet wird. Unſere erſte Frage iſt alſo die nach einer weiblichen Dienſtpflicht. Worin ſoll ſie beſtehen? Es gibt — zumal in den Äußerungen zur Sache aus der Zeit vor dem Kriege — Auffaſſungen, die von einer beſonderen Dienſtpflicht der Frauen abſehen wollen. Die weibliche Dienſtpflicht beſteht, ſo heißt es hier wohl, in der Mutterſchafts⸗ leiſtung, und von einem Dienſtjahr iſt dann nur die Rede im Sinne einer obligatoriſchen Ausbildung für dieſe hauswirtſchaftlich mütter⸗ liche Aufgabe. Wer nur das will, ſollte lieber den Ausdruck Dienſt⸗ pflicht und Dienſtjahr für ſeine Pläne nicht gebrauchen. Denn tat⸗ ſächlich führt er irre, indem er doch den Gedanken an eine Leiſtung erweckt, die, wie der Heeresdienſt des Mannes, noch neben Familien⸗ und Berufsleiſtung unmittelbar dem Staate zugute kommt. Wahrſcheinlich aber werden nach dem Kriege manche, die von einer beſonderen Dienſtpflicht der Frau nichts wiſſen wollten, und vom Dienſtjahr nur im Sinne einer obligatoriſchen hauswirtſchaft⸗ Die Dienſtpflicht der Frau. 171 lichen Ausbildung aller Mädchen ſprachen, jetzt anderer Meinung ge⸗ worden ſein. Jedenfalls reden wir hier von einer Dienſtpflicht im eigentlichen Sinne; einer Übernahme gewiſſer Pflichten über Familien⸗ und Berufsleiſtung hinaus — eines eigentlichen Dienſtes an Aufgaben, die unmittelbar von der Geſamtheit, von Staat und Gemeinde, ge⸗ ſtellt und ihnen geleiſtet werden. Wenn wir ſo die Analogie einer weiblichen Dienſtpflicht zur Heeresleiſtung des Mannes betonen, ſo müſſen wir uns doch zugleich von einem Mißverſtändnis frei machen, zu dem dieſe Analogie führen kann. Die männliche Dienſtpflicht tritt in Kraft im Kriege. Das heißt die Dienſtpflicht, von der wir gewohnt ſind, dieſen Namen zu ge⸗ brauchen. Im Grunde aber, genau genommen, gibt es eine doppelte männliche Dienſtpflicht: nämlich eine für den Krieg, und eine für den Frieden. Die Heerespflicht und die Staatsbürgerpflicht zur Über⸗ nahme ſolcher Aufgaben, die von den Bürgern ehrenamtlich kraft ihrer Zugehörigkeit zur ſtaatlichen oder kommunalen Gemeinſchaft geleiſtet werden müſſen. Es iſt kein Zufall, daß beides: die allgemeine Wehr⸗ pflicht und die Selbſtverwaltung der Gemeinden, die militäriſche und die Zivildienſtpflicht, gleichzeitig geſchaffen wurden. Sie beide ge⸗ hören zu dem modernen Begriff des Bürgers, zum Begriff auch des modernen Staates: die Selbſtverteidigung des Volkes nach außen, wie ein gewiſſes Maß der Selbſtverwaltung des Volkes nach innen. Dieſe beiden Formen des öffentlichen Dienſtes ſind beim Manne nach Weſen und Art verſchieden. Die eine, der Heeresdienſt, hat ihre ausgebildete Form der Vorbereitung und Ausbildung. Die andere, der Zivildienſt in bürgerlichen Ehrenämtern, in Armen⸗ und Wohl⸗ fahrtspflege, hat ſie bis jetzt nicht. Und zwar deshalb nicht, weil man für dieſe Ämter bisher nur eine Auswahl von Männern nötig hatte, die ſich in der Ausübung ihrer ehrenamtlichen Pflicht auf all⸗ gemeine Lebenserfahrung und perſönliche Qualitäten ſtützen konnten. Ob dieſe Faktoren genügen, um alle Ehrenbeamte, deren Gemeinde und Staat zur Erfüllung ihrer Aufgaben bedürfen, wirklich ganz und gar auf die Höhe ihrer Leiſtung zu führen, mag dahingeſtellt ſein. In den Fachkreiſen iſt die Frage nach zweckmäßiger Vorbildung von Armenpflegern tatſächlich ja ſchon viel erörtert. Jedenfalls haben die Frauen von dem Augenblick an, in dem ſie ihrerſeits an ſolche Die Dienſtpflicht der Frau. 172 Ämter dachten, gewußt, daß ein wirkliches Gewachſenſein gegenüber den höchſten Anforderungen dieſer Ämter, ein auf der Höhe ihrer ideellen Verpflichtung Stehen, nur denkbar iſt bei einer gewiſſen Schulung. Und damit kommen wir auf das Beſondere der weiblichen Dienſtpflicht. Gehen wir vom Kriege und ſeinen Erfahrungen aus, ſo zeigt ſich: der Krieg hat die Frauen— von dem Gebiet der Verwundetenpflege zunächſt abgeſehen — im ganzen nur in erwei⸗ tertem und verſtärktem Maße zu ſozialen Friedensaufgaben gerufen. Woran wir auch denken mögen von den beſonderen Anforderungen, die der Krieg an die Frauen geſtellt hat: ſie bedeuteten nur Friedens⸗ arbeit in geſteigerter und etwas gewandelter Form. Angefangen von der Hausfrau, die ihre Haushaltsführung als einen volks wirtſchaft⸗ lichen Auftrag, ein Amt in der großen Geſamtleiſtung der Volksernäh⸗ rung betrachten lernen mußte, bis hin zu jeder einzelnen Teilaufgabe der Kriegsfürſorge, hat der Krieg nur in eindringlicherer Weiſe gefor⸗ dert, was der Frieden auch fordert. Denn wäre es nicht auch in ruhi⸗ ger Zeit wertvoll, wenn die Hausfrau ihre Arbeit im Licht ihrer großen volkswirtſchaftlichen Verantwortung zu erfaſſen vermöchte? Iſt nicht auch zur Friedenszeit das Feld der ſozialen Hilfe unüberſehbar groß — bereit und imſtande, Tauſenden von Kräften Arbeit zu geben? Läßt ſich nicht alles, was hier geleiſtet wird, noch unabſehbar viel beſſer und vollkommener, ſorgfältiger und wirkungsvoller denken, wenn mehr und beſſere Kräfte da ſind als jetzt? Dieſe Frage ſtellen, heißt die Antwort auf Sinn und Bedeutung der weiblichen Dienſtpflicht geben. Die beiden ſtaatsbürgerlichen Dienſtpflichten des Mannes, die militäriſche und die bürgerliche, ver⸗ ſchmelzen in ihr in eines. Die weibliche Dienſtpflicht liegt im Krieg wie im Frieden in der Arbeit an der Er⸗ haltung und Pflege unſerer Volkskraft. Und ſo entſpricht das, was ſich in den Anfängen einer praktiſchen äußeren Arbeitsteilung der Geſchlechter gerade im Kriege ſo deutlich zeigt, auch einer tieferen Beſtimmung. Wenn in der modernen Geſell⸗ ſchaft die gemeinſchaftliche planmäßige und organiſierte Pflege der Volkskraft einen immer größeren Naum gewinnt, ſo iſt das im Grunde nur die ſoziale Geſtaltung deſſen, was von Urzeiten an in wechſeln⸗ Die Dienſtpflicht der Frau. 173 den Formen Frauenaufgabe geweſen iſt. Ich kann dieſe tiefere ſozio⸗ logiſche Begründung der weiblichen Dienſtpflicht hier nicht ausfüh⸗ ren¹), weil es zu weit abführen würde und ich diesmal die praktiſche Geſtaltung der Aufgabe im Auge habe. Nur andeuten muß ich, um die volle Bedeutung deſſen zu kennzeichnen, was wir mit einer weib⸗ lichen Dienſtpflicht eigentlich wollen, daß es ſich tatſächlich darum handelt, den weiblichen Anteil an den Aufgaben des modernen Staates bewußt und planmäßig, mit allen Mitteln der Bildung und Stärkung der Kräfte aufzubauen. Wenn die weibliche Dienſtpflicht ſo erfaßt wird, ſo rechtfertigt ſich auch erſt die Forderung einer obligatoriſchen Ausbildung dafür. Man könnte ſich ja mit der Form zufriedengeben, in der bisher die Be⸗ teiligung des Mannes an ehrenamtlichen Zivilaufgaben verlaufen iſt. Wenn auch natürlich zuzugeben iſt, daß die ungeſchulte Frau für dieſe Poſten weniger Kenntnis von Verwaltung und öffentlichem Leben mitbringt, ſo läßt ſich doch auf dieſem Mangel allein nicht die Forde⸗ rung einer ſyſtematiſchen Ausbildung begründen, die vom Manne nicht verlangt wird. Die Forderung eines weiblichen Dienſtjahrs fällt vielmehr zuſammen mit der Forderung, daß die Frauen in den Stand geſetzt werden ſollen, dieſes ganze Gebiet der Volkspflege im weiteſten Sinne des Wortes intenſiver, gründlicher und ſorgfältiger anzufaſſen, als es bisher überhaupt angefaßt werden konnte. Es iſt alſo zunächſt notwendig, die Beteiligung an ehrenamtlichen Aufgaben in Armenpflege, Waiſenpflege, Jugendfürſorge jeder Art, Vormundſchaft, Volksbildungsbeſtrebungen uſw. uſw. zur Frauenpflicht in dem Sinne zu erklären, daß nicht nur einzelne als Ausnahmen (wie bisher) dieſe Pflichten übernehmen, ſondern für alle Frauen die Berufung dazu im Rahmen ihrer ſelbſtverſtändlichen bürgerlichen Pflichten liegt. Praktiſch bedeutet das die Aufhebung des Rechtes der Ablehnung ſolcher Ämter, das den Frauen noch uneingeſchränkt zu⸗ ſteht, während es bei den Männern an beſtimmte Bedingungen des Alters, der Größe der eigenen Familie uſw. gebunden iſt. Solche Aus⸗ nahmen müßten natürlich auch für die Frauen gelten, aber eben als ¹) Sie findet ſich in dem Heftchen: „Das weibliche Dienſtjahr“, Berlin 814, W. Moeſer, Verlag, 1913. Die Dienſtpflicht der Frau. 174 Ausnahmen von der Regel, daß auch die Frau Ehrenämter an⸗ nehmen muß, während es heute gerade umgekehrt iſt, daß in der Re⸗ gel die Frauen gar nicht daran denken, Pflichten in der Gemeinde zu übernehmen, und die es tun, Ausnahmen ſind. Selbſtverſtändlich kann auch in Zukunft die Bürgerpflicht der Frau nicht auf Koſten ihrer Familienaufgabe gehen. Frauen, deren volle Kraft in der Familie, als Mutter kleiner Kinder oder durch ſonſtige Gebundenheit, vor allem auch durch Erwerbsarbeit neben dem Familienberuf, gebraucht wird, müſſen das Recht haben, von der bürgerlichen Dienſtpflicht zeit⸗ weiſe befreit zu werden. Dieſes Recht kann auch deshalb ruhig zuge⸗ ſtanden werden, weil die Rekrutierung für dieſe Zivilaufgaben keines⸗ wegs ſo viele Menſchen erfordert wie die für die Landesverteidigung. Mag man die Beteiligung der Frauen an ehrenamtlicher ſozialer Arbeit noch ſo ausgedehnt denken, ſo wird ſie doch immer nur einen verhältnismäßig kleinen Prozentſatz aller Frauen beanſpruchen. Des⸗ halb kann man ruhig weitgehende Rückſicht auf tatſächliche Familien⸗ pflichten nehmen und doch ſicher ſein, genug geeignete Kräfte zur Ver⸗ fügung zu haben. Aber, ſo könnte man nun fragen, wenn die Zahl der im ehren⸗ amtlichen öffentlichen Dienſt überhaupt vorhandenen Poſten ſelbſt bei großer weiterer Zerteilung der Arbeitskreiſe immer noch ſo klein bleibt, daß gar nicht daran zu denken iſt, jemals auch nur die Mehr⸗ heit der Frauen für dieſe Tätigkeiten zu berufen, iſt es dann richtig, eine allgemeine obligatoriſche Ausbildung dazu für alle einzuführen? Iſt es nicht ein viel zu ſtarker Aufwand an Verwaltung, Geld und Arbeit, ein Eingreifen in den bisherigen Lebenslauf der Frauen weit über Bedürfnis und Notwendigkeit hinaus? Der Gegenſatz zwiſchen den vielen Generationen von Männern, die militäriſch ausgebildet werden, und den wenigen Generationen, die den Heeresdienſt im Kriege erleben, iſt nicht weniger groß. Trotzdem betrachten wir die militäriſche Ausbildung des Mannes nicht als ver⸗ lorene Zeit, weil wir ſie als eine vorzügliche Schule der körperlichen Ausbildung, der Willensbildung, der ſtaatsbürgerlichen Erziehung anſehen. Dieſen allgemeinen Bildungswert ſoll aber das weibliche Dienſtjahr — man kann ruhig ſagen: in noch geſteigertem Maße haben. Man kann ſagen: in geſteigertem Maße, weil das, was der Inhalt Die Dienſtpflicht der Frau. 175 dieſes weiblichen Dienſtjahres iſt, den tatſächlichen Aufgaben der Frauen in Familie und Geſellſchaft näher ſteht, als der Inhalt der militäriſchen Ausbildung der praktiſchen Friedensarbeit des Mannes. Auch die Frauen, die ſpäter nicht zur Ableiſtung einer bürgerlichen Dienſtpflicht kommen, haben die Möglichkeit, dem Staat die geiſtigen Früchte dieſer Dienſtzeit darzubringen: durch die Art, wie ſie in Fa⸗ milie und Beruf ihre Arbeit auffaſſen und leiſten. Damit kommen wir zum Inhalt des Dienſt jahrs, d. h. der obligatoriſchen ſtaatsbürgerlichen Ausbildung aller Mädchen. Ich ſage gleich: „ſtaatsbürgerliche“ Ausbildung, um die Richtung des weib⸗ lichen Dienſtjahrs zu bezeichnen. Eine Ausbildung ſoll es ſein, die alle einzelnen Stoffe dem einen Zweck unterordnet: in dem jungen Mädchen das Bewußtſein der Verantwortung gegenüber dem Volk, dem Staat zu erziehen, deſſen Teil ſie iſt. Sie ſoll in dieſer Zeit ihr künf⸗ tiges Leben, in ſeinen einfachen täglichen Aufgaben, als Dienſt in einem großen Organismus gemeinſamer Kulturarbeit anſehen lernen. Das Dienſtjahr ſoll der Mädchenbildung abſchließend den Stempel der „Nationalerziehung“ im Fichteſchen Sinne aufdrücken. Nicht die ein⸗ zelnen Stoffe, die in dieſem Ausbildungsjahr aufgenommen werden, ſind das Weſentliche, ſondern der Zweck, dem ſie dienen, der Geſichts⸗ punkt, unter dem ſie behandelt werden ſollen. Das Bürgerbewußtſein, d. h. das Bewußtſein der Verantwortlichkeit des ganzen Lebens vor dem Staat, ſoll hier entſcheidend gefeſtigt werden. Es iſt nun nicht möglich, hier im einzelnen die Fächer aufzu⸗ bauen und ihre Behandlungsweiſe darzulegen, die ſich aus dieſem Grundprinzip des Dienſtjahrs ergeben. Nur das Weſentliche darüber muß geſagt werden. Das Weſentliche des Weſentlichen iſt aber dies: daß die Wurzel aller ſtaatsbürgerlichen Tugend die Beherrſchung der nächſten, der all⸗ täglichen Pflichten iſt, das Ernſtnehmen der praktiſchen Leiſtung, die im Arbeitsleben des Ganzen von dem einzelnen verlangt wird. Und ſo unbedingt, wie wir von der Frau das Ernſtnehmen der Berufs⸗ leiſtung verlangen, ſo unbedingt ſtellen wir als Grundlage aller wei⸗ teren Leiſtungen für den Staat die Forderung der Beherrſchung der Hauswirtſchaft. Auf die Dienſtpflicht in der ſozialen Arbeit hin angeſehen, iſt ſie notwendig, weil es keine — ſchlechthin keine Die Dienſtpflicht der Frau. 176 — ſoziale Arbeit gibt, die ohne Verſtändnis für die Hauswirtſchaft geleiſtet werden kann. Viel wichtiger aber noch iſt dieſe Forderung, angeſehen auf den zuſammenfaſſenden Sinn des Dienſtjahrs: die Pflicht zur Tüchtigkeit iſt das erſte Gebot in jedem ſtaats⸗ bürgerlichen Katechismus. Und die Frau, die ihren täglichen Auf⸗ gaben unfähig und nachläſſig gegenüberſteht, die ſich hier mit Un⸗ zulänglichem begnügen lernt, wird das Weſen ſtaatsbürgerlicher Pflicht nicht erfaſſen, und wenn ſie in noch ſo vielen Vereinen arbeitet und noch ſo viel bürgerkundliche Kenntniſſe beſitzt. Darum muß die Be⸗ herrſchung der Hauswirtſchaft als allgemeine Grundlage aller anderen Ausbildung, die das Dienſtjahr geben kann, vorhanden ſein. Und wo ſie, den Verhältniſſen entſprechend, nicht vorhanden ſein kann, muß das Dienſtjahr ſelbſt ſie erſt vermitteln. Praktiſch bedeutet das, daß für die Schülerinnen der Volksſchule wegen des bekannten und hier nicht näher zu erörternden Verſagens der Familie auf dem Gebiet haus⸗ wirtſchaftlicher Bildung die Hauswirtſchaft einen weſentlichen Teil der Ausbildung ausmachen wird. Bei den Schülerinnen höherer Schulen kann die Familie die hauswirtſchaftliche Bildung normaler⸗ weiſe geben. Und im übrigen kann hier die hauswirtſchaftliche Schule eintreten. Es wird alſo hier genügen, wenn eine praktiſche hauswirt⸗ ſchaftliche Bildung vor Eintritt in das Dienſtjahr nachgewieſen wer⸗ den muß. Was aber, ob die praktiſche hauswirtſchaftliche Ausbildung in das Dienſtjahr hineinverlegt wird oder nicht, auf alle Fälle im Dienſtjahr geleiſtet werden muß, iſt die Erweckung des Verſtändniſſes für das, was der Einzelhaushalt als Wirtſchaftszelle im Volksorganismus bedeutet. Und hier iſt vielleicht am beſten der beſondere ſtaatsbürger⸗ liche Sinn des Dienſtjahrs deutlich zu machen. Man hat jetzt ſo viel von dem Verſagen der Hausfrauen gegenüber den Aufgaben der Kriegsernährung geſprochen, und der Ruf nach hauswirtſchaftlicher Bildung iſt lauter denn je erſchallt. Was uns aber jetzt tatſächlich gefehlt hat, iſt gar nicht die Kochkunſt der Hausfrau in jenem Sinne, der durch das Sprichwort „durch den Magen in das Herz“ be⸗ zeichnet wird — im Gegenteil, man kann vielleicht ſogar ſagen, daß wir von dieſer im Dienſt der kulinariſchen Genußſucht geübten Haus⸗ fraulichkeit eher zuviel gehabt haben. Was aber gefehlt hat, iſt die Die Dienſtpflicht der Frau. 177 volkswirtſchaftliche Auffaſſung der Haushaltsführung. Die Hausfrauen, die trotz aller Aufklärung vom Kuchenbacken nicht ab⸗ laſſen konnten, gehörten ganz gewiß zu jenem Typus der guten Haus⸗ frauen, deren Lob an wohlbeſetzten häuslichen Mittagstiſchen immer wieder mit ſatter Rührung verkündet wird, mit deren Nennung ſich die duftende Vorſtellung von delikaten Lieblingsgerichten angenehm ver⸗ bindet. Aber dieſe „gute Hausfrau“ der Leibgerichte iſt nicht die gute Hausfrau im Sinne der Volkswirtſchaft. Das weibliche Dienſtjahr ſoll tun, was bisher keine hauswirtſchaftliche Bildung geleiſtet hat: den Frauen die Bedeutung ihrer Arbeit für Volksgeſundheit und Wirtſchaftsleben ſo eindringlich wie nur möglich machen — eine Be⸗ deutung, die ganz die gleiche iſt, ob ſich das hausfrauliche Leben in der Dreizimmerwohnung mit dem Eintopfgericht auf dem Mittags⸗ tiſch oder im großen Nahmen abſpielt. Noch eine zweite für jede Geſtaltung des Dienſtjahrs gültige und praktiſche Forderung tritt neben die der hauswirtſchaftlichen Bildung: das iſt die körperliche Schulung. Auch in dieſer Frage kann es nicht meine Aufgabe ſein, auf einzelnes einzugehen. Nur Grundſätzliches kann ich andeuten. Bis jetzt haben wir das Bild einer ſtarken Vernach⸗ läſſigung der körperlichen Ausbildung durch falſche Lebensweiſe, Ar⸗ beitsüberlaſtung, Unkenntnis in den breiten Volksſchichten beſonders der Großſtädte und einer vielfach falſch gerichteten Überſchätzung rein ſportlicher Ausbildung in den höheren Ständen. Die körperliche Aus⸗ bildung als die nationale Pflicht der künftigen Mutter, die dafür zu ſorgen hat, daß ſie ihrer Beſtimmung körperlich gewachſen iſt — das iſt der Geſichtspunkt, unter den im Dienſtjahr die körperliche Ausbildung geſtellt werden ſoll — theoretiſch und praktiſch. Das Dienſtjahr hat nicht die Aufgabe, Rekordgewinnerinnen in Tennis oder Hochtouren zu ſchulen, ſondern die Kraft und Geſundheit zu fördern, die nötig iſt zur Arbeit und zur Mutterſchaft, und dieſe Kraft unter die Verantwortung der Einſicht zu ſtellen, daß ſie nicht uns gehört, ſon⸗ dern dem Volk, dem wir durch ſie dienen wollen, zu deſſen Blüte und Leiſtung wir ſie darbringen. Ich komme nun zu dem organiſatoriſchen Aufbau des Dienſtjahrs. Dazu eine Vorbemerkung. Lange, Kampfzeiten. II. 12 Die Dienſtpflicht der Frau. 178 Bei den bisher veröffentlichten Plänen iſt vielfach abſichtlich die Beziehung zur praktiſchen Wirklichkeit außer acht gelaſſen. Es baut ſich dann nämlich beſſer, wenigſtens ſolange als es einem nur darauf an⸗ kommt, ein ſchönes Zukunftsbild im Gehirn zu tragen oder zu Papier zu bringen. Wer mit der Praxis der Erziehung zu tun hat, hat für ſolche Zukunftsbauten ohne Gegenwartsfundament wenig Sinn. Wir müſſen das Mögliche, das Vorbereitete ins Auge faſſen, denn wir wollen nicht die Zahl der Kriegsbroſchüren um eine vermehren, die in ſpäteren Jahren nur als Dokumente für den kühnen Gedankenflug der Zeit aus den Bibliotheken ausgegraben werden, wir wollen anfangen, etwas zur Zeit Notwendiges zu verwirklichen. Und darum müſſen wir die Wirklichkeit als den Boden anſehen, auf dem wir bauen. Wie ſieht er aus? Der Krieg muß auf alle Fälle mit einer Rieſenbelaſtung aller ſtaatlichen und kommunalen Finanzen enden. Jahre hinaus werden wir an den unmittelbaren Kriegslaſten ſo zu tragen haben, daß alle anderen Ausgaben dadurch ihre unausdehnbaren Grenzen geſetzt be⸗ kommen. Andererſeits: mehr als je werden die Töchter unſeres Volkes darauf angewieſen ſein, ihr Brot zu verdienen. Mehr noch als ſonſt wird die Unterbrechung der Berufsausbildung oder Erwerbstätigkeit als ein Eingriff empfunden werden, der die Eltern der Mädchen ſchwer belaſtet. Mit dieſen Tatſachen muß gerechnet werden. Man kann ſich nicht mit der billigen Wendung über ſie hinwegſetzen: was das weibliche Dienſtjahr koſtet, bringt es durch die Werte, die es ſchafft, zehnfach wieder ein. Das iſt die Rechnungsweiſe des Idealiſten, und ſie hat ihre Berechtigung. Aber der Finanzminiſter oder Stadt⸗ kämmerer muß ſchließlich fragen, ob das Anlagekapital jetzt aufgebracht werden kann. Wer das nicht hat, muß im realen bürgerlichen Leben auch auf Unternehmungen verzichten, die goldene Berge verſprechen. Aber noch in anderer Beziehung müſſen wir uns an die Wirklich⸗ keit halten. Als ein Gedanke, der ſeine Kraft aus dieſer Kriegszeit gewonnen hat, aus der großen Vereinheitlichung unſeres Volkes im Bekenntnis der Tat zu unſerem Vaterlande, iſt der Plan des Dienſt⸗ jahres getränkt durch den Willen, Unterſchiede der Klaſſe und Bildung aufgehen zu laſſen in der Gemeinſamkeit der nationalen Pflichten. Wir möchten den Frauen, den Töchtern unſeres Volkes jene wertvolle Die Dienſtpflicht der Frau. 179 Frucht der männlichen Dienſtzeit: die kameradſchaftliche Berührung der Angehörigen aller Klaſſen auch zugute kommen laſſen. Wir möch⸗ ten den Grundgedanken des Dienſtjahrs, den einer allgemeinen natio⸗ nalen Pflicht auch darin zum Ausdruck kommen ſehen, daß dieſes Dienſtjahr die Mädchen aller Stände zuſammenführt zu gemeinſamer Ausbildung. Hier aber ſtellt die Wirklichkeit dem Ideal ihre großen Hemmun⸗ gen in den Weg. Verglichen mit der männlichen Heeresausbildung, liegt die Schwierigkeit bei der weiblichen zunächſt darin, daß ſie weniger als die Heeresausbildung eine rein körperliche iſt. Sie muß der Natur ihres Zweckes nach mehr geiſtige, theoretiſche Stoffe in ſich umfaſſen, und es werden daher die Unterſchiede der Vorbildung für ſie ſtärker ins Gewicht fallen. Und wir müſſen auf dieſen günſtigeren Voraus⸗ ſetzungen der allgemeinen Bildung zum Teil fußen, um Kräfte für die ſozialen Aufgaben zu gewinnen, die nun einmal die Grundlage einer fortgeſchrittenen Allgemeinbildung unbedingt erfordern. Es liegt alſo im Intereſſe der Beſtimmung des Dienſtjahrs, die Möglich⸗ keiten der Differenzierung in dem Ausbildungsſtoff zu ſchaffen. Das Dienſtjahr hat an den Mädchen der verſchiedenen Schichten neben eini⸗ gen allgemeinen und gleichen eben doch auch verſchiedene Aufgaben zu erfüllen. Tatſächlich beſteht ja dieſer Unterſchied — weil er unver⸗ meidbar iſt — in gewiſſer Weiſe auch in der männlichen Heeresaus⸗ bildung. Wir mögen es bedauern, daß ſich dieſes Dienſtjahr nicht für alle Mädchen gleich und gemeinſam geſtalten läßt. So, wie die Dinge liegen, iſt es aber unmöglich. Das eine Dienſtjahr kann nicht Unter⸗ ſchiede der Bildung überbrücken, die durch unſer ganzes Schulſyſtem geſchaffen ſind. Man ſollte, ſtatt dieſes Unmögliche jetzt gewaltſam zu verſuchen, an ganz anderen Stellen einſetzen, mit einer Umgeſtaltung unſeres Bildungsweſens, durch welche jedem fähigen Kinde der Zu⸗ gang zu höherer Bildung frei gemacht wird. Aber das auszuführen iſt hier nicht der Ort. Es ſoll nur angedeutet werden, daß andere Neformen in unſerem Schulweſen hinzugedacht werden müſſen, die das zu leiſten haben, was das Dienſtjahr allein nicht leiſten kann. Wir müſſen uns an die Wirklichkeit halten. Aber allerdings: wir ſollen auch dieſe Wirklichkeit in dem, was ſie bieten kann, meſſen an 12* Die Dienſtpflicht der Frau. 180 dem, was wir ſachlich für wünſchenswert halten, wenn das Dienſtjahr ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll, und wohin wir deshalb den Weg ſuchen und bahnen wollen. Ich will aus dieſem Grunde zunächſt auch ohne Rückſicht auf die gegenwärtige Verwirklichung den Idealplan ſkizzieren, um dann zu der Frage zurückzukommen, was ſich davon ſo⸗ fort durchſetzen läßt. Für die aus der Volksſchule entlaſſenen Mädchen müßte das Dienſtjahr an den Schluß der normalen Fortbildungsſchule gelegt wer⸗ den — zugleich ſo viel Spielraum gebend, daß eine vielleicht noch länger dauernde handwerkliche oder ſonſtige Berufsausbildung nicht unterbrochen zu werden braucht. Wir ſetzen alſo die Zeit vom 17. bis zum 20. Jahre an. Innerhalb dieſer Zeit kann das Mädchen wählen. Das iſt auch das Alter, das für die ganze Beſtimmung des Dienſt⸗ jahres am aufnahmefähigſten iſt. Das Dienſtjahr müßte in Anſtalten abgeleiſtet werden. Das liegt in jeder Weiſe in ſeinem Zweck begrün⸗ det. Es ſoll die ſtärkſten und wirkſamſten Grundlagen für die Schulung des Gemeinſchaftsgeiſtes geben. Die kann nur die Anſtalt bieten. Es ſoll aber auch mit ſeiner Erziehung das ganze äußere Leben des Mädchens ergreifen. Auch das iſt nur möglich in einer Lebens⸗, d. h. Wohngemeinſchaft. Außerdem iſt es ſelbſtverſtändlich, daß weſentliche Inhalte der Ausbildung, alſo vor allem die hauswirtſchaftliche Seite, den gemeinſamen Haushalt als praktiſches Wirkensfeld nötig machen. Eine gute Haushaltungsſchule erfordert an ſich faſt unumgänglich das Internat. Nehmen wir noch hinzu, daß dieſes Jahr ſelbſtverſtänd⸗ lich unentgeltlich ſein muß, ſo werden die ungeheuren Anforderungen deutlich, die eine vollkommene Durchführung des weiblichen Dienſt⸗ jahrs an den Staat ſtellen würde. Aber laſſen wir uns durch dieſe Vorſtellung zunächſt einmal nicht beirren, ſondern führen wir unſeren Plan weiter aus. Die Anſtalten müßten auf dem Lande oder doch an der Grenze der Städte im Freien liegen. Für die Mädchen des Landes müßte die Ableiſtung des Dienſtjahres in zwei Winterhalb⸗ jahren möglich ſein. Inhalt der Ausbildung wäre alſo in erſter Linie Hauswirtſchaft, aber — wie ſchon vorhin angedeutet — mit ſtarker Hervorhebung Die Dienſtpflicht der Frau. 181 der volkswirtſchaftlichen Bedeutung des Einzelhaushalts. Das ſoll nicht in gelehrten Hinweiſen geſchehen, aber die Mädchen ſollen die Begriffe Volksgeſundheit, Volksernährung, Volks wirtſchaft faſſen lernen. Es ſoll ſich ihnen gewiſſermaßen hinter ihrem haus⸗ wirtſchaftlichen Tun eine ſoziale Pflichtenlehre aufbauen, die das Wort „Hausmutter“ in der ganzen Fülle ſeines Wertes für Geſellſchaft und Staat umfaßt. Was wir in dieſen Monaten der Kriegsnot den Haus⸗ frauen deutlich zu machen ſuchten, die Stellung des Einzelhaushalts im Volkshaushalt — das ſoll durch das Dienſtjahr ein Stück ſelbſt⸗ verſtändlicher Einſicht werden. Und dieſe Verbindungsfäden von der einzelnen Familie zur Geſellſchaft ſollen auch für alle anderen Ge⸗ biete: Geſundheitspflege, Kindererziehung uſw. gezogen werden. Alle ſittlichen und religiöſen Kräfte, die man bisher zur Stütze für die Pflichterfüllung der Mutter aufgerufen hat, ſollen eine Verſtärkung erhalten aus einem klaren, gegenwärtigen Bewußtſein der Verbunden⸗ heit — der Solidarität aller. Dieſes Bewußtſein, in breiten Volks⸗ ſchichten heute ſchon vielleicht der ſtärkſte ſittliche Faktor, hat der Krieg aus den Feſſeln der bloßen Klaſſengemeinſchaft befreit. Es wird leicht ſein, daran anzuknüpfen, und den Sinn dafür zu entwickeln, wie ſehr in unſeren modernen Verhältniſſen der eine an den anderen gebunden iſt, wie ſehr unſere Geſellſchaft auf dem freiwilligen ſelbſtverſtänd⸗ lichen Verantwortungsgefühl aller Mitglieder beruht. Theoretiſch ſoll dann dieſes an allen praktiſchen Einzelſtoffen entwickelte Bürger⸗ bewußtſein ſeinen Unterbau bekommen durch die Bürgerkunde, die das Verſtändnis für die wichtigſten geſetzlichen Grundlagen unſeres Staats⸗ und Gemeinſchaftslebens im Anſchluß an das, was ſchon die Fort⸗ bildungsſchule in dieſer Hinſicht gelehrt hat, befeſtigt und vertieft. Durch eine ſolche Bildung werden die Vorausſetzungen geſchaffen, unter denen dann tüchtige Frauen ſpäter wohl imſtande ſein werden, auch eine bürgerliche Dienſt pflicht zu leiſten. Denn es iſt ſelbſtverſtändlich, daß zur ehrenamtlichen Mitarbeit im Gemeinde⸗ dienſt auch die Frauen der breiten Volksſchichten heranzuziehen ſind, wie ſie ja auch hier und da tatſächlich ſchon mitarbeiten. Darauf werde ich zum Schluß noch kurz eingehen. Jetzt fragen wir uns: wie können wir ein ſolches Dienſtjahr für alle Mädchen erreichen? Wir ſind uns vollkommen klar darüber, daß Die Dienſtpflicht der Frau. 182 die Vorausſetzungen dafür jetzt noch nicht gegeben ſind — ja, daß nach dem Krieg die Bedingungen ungünſtiger liegen als vorher. Ungünſti⸗ ger wegen der Höhe, zu der an ſich die wirtſchaftlichen Laſten ange⸗ wachſen ſind, und ungünſtiger auch deshalb, weil bei dem Kriegstode ſo vieler junger Männer die Eheausſichten der Mädchen ganz bedeu⸗ tend eingeſchränkt ſind und die Erwerbsnotwendigkeit für ſie verſtärkt iſt. Sowohl Familie wie Staat ſind nach dem Kriege weniger als zuvor imſtande, die Opfer zu bringen, die das Dienſtjahr von beiden verlangt. Es kommt hinzu, daß ſelbſtverſtändlich für eine unmittel⸗ bare allgemeine Einführung des Dienſtjahres auch noch andere Vor⸗ ausſetzungen fehlen, vor allem mit bezug auf die pädagogiſchen Kräfte, die ſolche Anſtalten in dem Geiſte der neuen Sozialpädagogik, auf dem ſie begründet ſind, zu leiten imſtande wären. Es heißt alſo Wege ſuchen, auf denen man von gegenwärtigen Anſätzen und Anfängen zum Dienſtjahr kommen kann. Da iſt das Nächſte, was ſich bietet — ich habe es in meinen Leitſätzen nicht erwähnt, weil an anderer Stelle unſerer Tagesordnung von dieſer Forderung die Rede iſt — die volle Durchführung der weiblichen Fortbildungsſchule. Gewiß, ſie kann, da die Fortbildungsſchule beruflich geſtaltet werden ſoll und muß, nur ſehr indirekt unſerem Ziel dienen. Aber ſie kann doch — an den Beruf anknüpfend, in gleicher Weiſe den Geiſt ſtaatsbürgerlicher Verant⸗ wortlichkeit wecken und ſtärken. Und ſie wird in dieſer Hinſicht um ſo mehr leiſten können, wenn zuvor die Forderung erfüllt iſt, die uns ſachlich dem Dienſtjahr noch näherbringt: die Verlängerung der Schulpflicht der Mädchen um ein hauswirt⸗ ſchaftliches Halbjahr. Damit iſt die Forderung ausgeſprochen, die heute ſchon geſtellt werden kann und von den Frauen mit einheitlich gerichtetem Willen und zäher Ausdauer vertreten werden müßte. Gewiß, dieſes Halbjahr fällt in ein Alter, das weder körperlich noch geiſtig dem Vollgewinn eines Dienſtjahres, wie wir es uns denken, gewachſen iſt. Aber wir haben ja auch den hauswirtſchaftlichen Unterricht in die Volksſchule ſelbſt verlegt, weil es — alle Hemmungen zugeſtanden — doch immer noch mehr als nichts war. Und ſo wäre dies immer noch das Beſſere. Was wir uns als Inhalt des Dienſtjahres denken, wäre dann ver⸗ teilt: ſtatt eines Dienſtjahrs zwiſchen dem 17. und 20. Jahr hätten Die Dienſtpflicht der Frau. 183 wir ein Stück hauswirtſchaftlicher Bildung im 15. und zwiſchen dem 15. und 17. Jahr eine Fortſetzung der hauswirtſchaftlichen Bildung in der Fortbildungsſchule für alle nichtberufstätigen und für die haus⸗ wirtſchaftlich berufstätigen Mädchen, und für ſie ebenſo wie für die kaufmänniſch und gewerblich tätigen Mädchen eine ſtaatsbürgerliche Allgemeinbildung, die entweder an die Hauswirtſchaft oder an den Beruf angeknüpft wird. Das iſt natürlich — verglichen mit dem Zukünftigen — ſo wenig, daß viele darin kaum den richtigen Anfang zu dem, was wir wün⸗ ſchen, erkennen werden. Aber wir ſind uns klar, daß es im Augenblick undenkbar iſt, für alle mehr als das durchzuführen, ja, daß das ſchon ſehr ſchwer zu erreichen ſein wird. Darum ſollte man aber das, was allgemein noch nicht erreichbar iſt, als Einzeleinrichtung — gewiſſermaßen als Muſter — zu ſchaffen verſuchen. Wir haben ſolche Muſter: das ſind die däniſchen Volkshoch⸗ ſchulen (die ja auch in Schleswig⸗Holſtein ſchon Nachahmung gefunden haben). Ausgeſprochen demokratiſchen Urſprungs, mit dem ausdrück⸗ lichen Zweck, den Geiſt des Volkstums, den Gemeinſchaftsſinn, die Ver⸗ antwortlichkeit des einzelnen gegenüber der Geſamtheit auf die ein⸗ fachſte praktiſche Art zu ſtärken, geben ſie ihren Schülerinnen etwa das, was das Dienſtjahr ihnen geben ſoll. Wenn wir ſolche Anſtalten ſchüfen, ſo würden ſich gewiß Schülerinnen dafür finden. Wenn man den Mädchen des Volks Gelegenheit geben würde, zwiſchen dem 17. und 20. Jahr noch ein unentgeltliches Jahr körperlicher und geiſtiger Ausbildung einzulegen, es würden ſich genug finden, die dieſe Einrich⸗ tung benützten. Gewiß, es würden nicht die ſein, die eine ſolche Bil⸗ dung am nötigſten brauchten. Sie würden durch wirtſchaftlichen Zwang oder auch durch mangelndes Verſtändnis für den Wert eines ſolchen Jahres zurückgehalten werden. Dafür aber könnte man mit tüchtig⸗ ſtem Schülerinnenmaterial und mit Frauen an der Spitze, die von der Idee des Dienſtjahres ganz durchdrungen ſind, den Gedanken ein⸗ mal durchführen — als Vorarbeit für die Verallgemeinerung in der Zukunft. Nach der Richtung der Volkshochſchulen ließen ſich auch die landwirtſchaftlichen Haushaltungsſchulen ausbauen, die — freilich erſt vereinzelt — ſchon heute für die Töchter von Kleinbauern vorhanden ſind (z. B. in Württemberg). Die Dienſtpflicht der Frau. 184 Für die aus den höheren Schulen entlaſſenen Mädchen iſt die Frage des Dienſtjahrs viel leichter lösbar. Vor allem als Koſten⸗ frage. Sie müßten, wie die Einjährigen, die Koſten ihrer Ausbildung ſelbſt tragen. (Freiplätze für unbemittelte begabte Mädchen wären aber vorzuſehen.) Über die Grundlage hauswirtſchaftlicher Bildung iſt ſchon geſprochen. Sie muß vorausgeſetzt werden, damit für die In⸗ halte, die das Dienſtjahr hier haben ſoll, Zeit genug bleibt. Als Alter müßte hier gleichfalls das 17. bis 20. Jahr angenommen wer⸗ den, wobei die beiden letzten Jahre dieſes Spielraums den beiden erſten vorzuziehen wären. Internat iſt wünſchenswert, wäre aber hier nicht Bedingung zur Erfüllung der erziehlichen Aufgabe des Dienſt⸗ jahrs. Als Inhalt iſt von dem Lehrgang der ſozialen Frauenſchule ſo viel zu nehmen, wie ſich unter den gegebenen Vorbedingungen in einem Jahr behandeln läßt. Die ſozialen Frauenſchulen ſind Berufs⸗ ſchulen und müſſen dementſprechend ihre Ziele höher ſtecken als das Dienſtjahr, das allgemeine Vorausſetzungen bürgerlicher Pflichter⸗ füllung ſchaffen ſoll. Ich möchte aber nicht einfach ſagen, man ſoll die Penſen des Unterkurſes der ſozialen Frauenſchule nehmen. Man muß aus dem geſamten Stoff eine geeignete Auswahl treffen. Erreicht werden muß ein Doppeltes: Klarheit und Feſtigkeit des Bürger⸗ bewußtſeins, und die Grundlage für praktiſche Mitarbeit, eine Grund⸗ lage allgemeiner Vertrautheit mit dem Weſen organiſierter öffent⸗ licher und privater Wohlfahrtspflege, auf der ſich vielleicht noch etwas ſpezifiſche Übung in irgendeinem beſonderen Zweige erreichen läßt. Man wende nun nicht ein, daß ſoziale Arbeit etwas ſei, wozu überhaupt nicht unterſchiedlos jeder berufen ſei — ein Vorrecht der wenigen Menſchen, denen ein wahrhaft karitatives Herz, die brennende Menſchenliebe und die feine Fühlung für Not in jeder Form gegeben iſt, die ſicher iſt, dem Bedürftigen wohlzutun. Gewiß, dieſe Menſchen ſind die wertvollſten Kräfte, ſie ſchaffen den Geiſt und das Leben der ſozialen Arbeit. Aber das große Gebiet aller modernen geſellſchaftlichen Leiſtungen im Kampf gegen Armut, Krankheit, Ver⸗ wahrloſung und andere Mißſtände aller Art kann auch Menſchen an⸗ derer Begabungen brauchen. Es handelt ſich dabei gar nicht nur um jene ſpezifiſche ſeeliſche Pflege, die wir unwillkürlich in den Mittel⸗ Die Dienſtpflicht der Frau. 185 punkt des Begriffs Karitas oder ſoziale Arbeit ſetzen. Es handelt ſich auch um Verwaltungsarbeiten höherer und niederer Art, um eine Menge rein ſachlicher Leiſtungen, zu denen nicht unbedingt ein Höchſt⸗ maß ſozialer Begabung notwendig iſt. Und überdies: jene ſoziale An⸗ lage, die imſtande iſt, die Hilfstätigkeit mit perſönlicher Wärme zu durchdringen, ſie iſt zweifellos in höherem Maße natürliche Gabe der Frau als des Mannes, in deſſen Händen heute noch weitaus der größte Teil öffentlicher ſozialpflegeriſcher Arbeit liegt. Und überſchauen wir dieſe männliche Rieſenarmee kommunaler Ehrenbeamter, ſo wird es uns ohne weiteres klar, daß dieſe Arbeit viel zu groß iſt, als daß man ſie allein mit ſozialen Genies beſtreiten könnte. Was wir brau⸗ chen, iſt ein Heer pflichtbewußter Frauen, denen es Gewiſſensſache iſt, an irgendeiner Stelle des großen Geſellſchaftskampfes gegen die inne⸗ ren Feinde ihren Poſten zu haben, ein Stück Kraft und Zeit einzu⸗ ſetzen, und die dafür die nötige Vertrautheit mit dem Weſen organi⸗ ſierter Arbeit mitbringen. Wer dieſe Kriegszeit erlebt hat, weiß es noch beſſer als vorher: es fehlt den Frauen nicht an Herzenswärme, Menſchenliebe und Hilfsbereitſchaft, es fehlt an dem Maß von Me⸗ thode, Schulung, Organiſationsfähigkeit, das alle dieſe ſchönen Schätze des Gemüts erſt in brauchbare geſellſchaftliche Kräfte verwandeln kann. Schaffen wir dieſe Schulung, ſo wird noch viel Liebe und Hin⸗ gabefähigkeit, die ſich jetzt in der Familie erſchöpft, ihren Weg in die öffentliche Wohlfahrtspflege finden. Und das iſt es, was wir ſuchen: wir wollen die ſo reich vorhandene Kraft perſönlicher Hingabe und Aufopferung in einer neuen Weiſe geſellſchaftlich verwertbar machen. Über die Ausbildung im einzelnen zu ſprechen, würde hier zu weit führen. Ein beſonderes Wort aber wäre an dieſer Stelle über die Krankenpflege zu ſagen. Der Krieg hat die Bedenken beſtätigt, die vorher gegen die Dienſtpflichtpläne des Herrn Geheimrat Witzel geltend gemacht wurden, beſtätigt: daß die Verwundetenpflege am beſten in den Händen von Berufspflegerinnen aufgehoben iſt. Er hat aber andererſeits gezeigt, daß neben ihnen ein Bedürfnis nach frei⸗ willigen Helferinnen zur Unterſtützung der Fachkräfte beſteht. Für dieſe Helferinnen iſt eine beſſere Vorbildung als der ſechswöchige Kriegskurſus wünſchenswert. Man könnte ſich ihre Ausbildung ſo denken, daß ſie an der allgemeinen ſtaatsbürgerlichen Ausbildung Die Dienſtpflicht der Frau. 186 der ſozialen Frauenſchule teilnehmen, aber etwa ein halbes Jahr praktiſch krankenpflegeriſch geſchult und ſpäter öfter zu Wiederholungs⸗ kurſen einberufen werden. Eine obligatoriſche Einführung des Dienſtjahrs wäre für die aus den höheren Schulen entlaſſenen Mädchen ſicher leichter als für die anderen. Bei der ſtarken Stimmung, die hier jetzt für eine Pflicht⸗ leiſtung der Frauen vorhanden iſt, die der männlichen Heeresleiſtung entſpricht, würde man vielleicht auf gar keine ſtarken Widerſtände mehr ſtoßen. Aber es iſt natürlich trotzdem nicht daran zu denken, ein Dienſtjahr nur für beſtimmte Schichten einzuführen, und deshalb müſſen wir auch hier mit der obligatoriſchen Einführung warten, bis ſie allgemein erfolgen kann. Dies Warten iſt aber auch noch aus anderen Gründen unerläßlich. Vor allem, um dem ſozialen Dienſtjahr ſeine ruhige Geſtaltung durch die Frauen ſelbſt zu ſichern. Wir könnten — bei allgemeiner Einführung einer weiblichen Dienſtpflicht — in nächſter Zeit leider nicht damit rechnen, daß man den Frauen dabei freie Hand laſſen würde, das Dienſtjahr nach ihren eigenſten Gedanken zu geſtalten. Das aber wäre erſte unerläßliche Bedingung. Es handelt ſich darum, weibliche Kraft in einer neuen Welt heimiſch zu machen, die eigenſte Lerſtung der Frau in Haus und Familie an Volkswirtſchaft und Staatsleben geiſtig und praktiſch an⸗ zuknüpfen, aus der ſpezifiſchen Frauenbeſtimmung heraus ein Staats⸗ bürgertum weiblicher Prägung zu entwickeln. Dieſe Aufgabe kann nur von Frauen gelöſt werden. Das Dienſtjahr der Zukunft muß, und zwar ſowohl die Aufgaben ſtaatlicher Verwaltung, die es mit ſich bringt, wie die Leitung der einzelnen Anſtalten, in weiblicher Hand liegen. Darum aber können wir keine ſchnelle allgemeine Einführung von oben herab wünſchen, ehe der Plan in der praktiſchen Erprobung durch ſolche Frauen, die imſtande ſind, ihm Geſtalt zu geben, reif ge⸗ worden iſt zur Verbreiterung. Der Weg zum weiblichen Dienſtjahr für die Mädchen der höheren Schulen iſt die Ausgeſtaltung der Frauen⸗ ſchule zur ſozialen Schule unter weiblicher Leitung — ebenſo wie na⸗ türlich auch die Weiterentwicklung all der Anfänge, die in den wirt⸗ ſchaftlichen Frauenſchulen auf dem Lande und ähnlichen Anſtalten vorliegen. Die Erörterung der Frage der Frauendienſtpflicht iſt daher aus doppeltem Grunde ſo wichtig; einmal, um alle dieſe Anfänge in Die Dienſtpflicht der Frau. 187 der rechten Richtung weiterentwickeln zu können, und zweitens, um eine verfrühte Einführung einer obligatoriſchen Dienſtpflicht auf falſcher Grundlage zu verhindern. Die Geſchichte unſeres ganzen Mädchenſchul⸗ weſens lehrt, wie verhängnisvoll eine ſolche falſche Grundlage werden kann, und wie ſchwer es iſt, davon wieder loszukommen. Es bleiben noch viele Einzelfragen zu beantworten, auf die ein⸗ zugehen hier nicht möglich iſt. Schließlich würde natürlich die Geſtal⸗ tung jedes einzelnen Faches, ſeine Verbindung mit onderen, das In⸗ einandergreifen von Praxis und Theorie, die Anknüpfung von Spe⸗ zialausbildungen an die allgemeine Grundlage, je eine beſondere Ab⸗ handlung erfordern. Darauf einzugehen, iſt alſo unmöglich. Aber eins muß noch geſagt werden: wenn es notwendig iſt, in bezug auf den inneren Ausbau jetzt der Entwicklung möglichſt freien Spielraum zu laſſen, ſo wird man auch für die Zukunft dem ſozialen Dienſtjahr eine möglichſt mannigfaltige Geſtaltung wünſchen müſſen. Zum Beiſpiel wird in den ſpezifiſchen Zweigen ſozialer Arbeit, die aufgenommen werden, die einzelne Anſtalt abhängig ſein von den Bedingungen des Ortes, wo ſie ſich befindet. Vielleicht hat der Ort eine beſonders aus⸗ gedehnte und gut organiſierte Säuglingsfürſorge, vielleicht eine Blin⸗ denanſtalt, vielleicht Arbeiterinnenheime, je nachdem wird der Bil⸗ dungsplan geſtaltet werden müſſen. Auf Landpflege wird ſelbſt⸗ verſtändlich auch genügende Rückſicht zu nehmen ſein. Und ebenſowenig kann man ſchematiſch verfahren in der Verwen⸗ dung der im Dienſtjahr geſchulten Frauenkraft, in der Geſtaltung der Dienſtpflicht. In der ſozialen Arbeit gilt vielleicht mehr noch wie bei anderen, daß, wer ſich in einen Zweig ordentlich eingearbeitet hat, auch in einem anderen raſch brauchbar wird. Man wird ſich deshalb darüber keine Skrupel machen können, ob es möglich ſein wird, die Frauen — ſagen wir bildlich: bei der Waffengattung nachher zu be⸗ ſchäftigen, für die ſie ausgebildet ſind. Die Frau, die im Dienſtjahr etwa insbeſondere bei der Tuberkuloſefürſorge oder Säuglingsfürſorge gearbeitet hat, wird auch als Armenpflegerin oder ehrenamtliche Wohnungsfürſorgerin verwendbar ſein. Unter ähnlichen Geſichtspunkten wird man ein anderes praktiſches Problem betrachten, das ſich vielleicht ſchon manche geſtellt haben. Wir bekommen zwei Arten von dienſtpflichtigen Frauen, ſolche mit Die Dienſtpflicht der Frau. 188 einer ſpezifiſchen ſozialen Ausbildung, und ſolche, die ein mehr haus⸗ wirtſchaftlich geſtaltetes Dienſtjahr durchgemacht haben. Könnte man nicht ſagen, daß, wenn wir eine Ausbildung für die ehrenamtliche ſoziale Arbeit verlangen, wir alle ablehnen müßten, die dieſe Aus⸗ bildung nicht haben? Ich bin nicht der Meinung, daß wir dieſe Konſequenz ziehen müſſen. Was die eine Gruppe von Frauen an theoretiſcher Ausbildung mitbringt, das hat die andere an praktiſcher Urteilsfähigkeit voraus. Beides iſt für die Aufgaben notwendig, um die es ſich handelt, und gerade die Verbindung von größerer Erfah⸗ rung und größerer formaler ſozialer Bildung ſichert dem Geſamt⸗ werk weiblicher Hilfsarbeit alle die Elemente, die es braucht, um wirk⸗ ſam zu ſein. Allen in der Dienſtpflicht ſtehenden Frauen müßte außer⸗ dem durch Fortbildungskurſe — nach Art der militäriſchen Ein⸗ berufung zu den Übungen — Gelegenheit zur Ergänzung und Auf⸗ friſchung ihrer ſozialen Bildung gegeben werden. — Es iſt noch nicht der Zeitpunkt für die Einführung des Dienſt⸗ jahrs. Und darum habe ich auch kein fertiges Syſtem geboten. Ich glaube überhaupt nicht an fertige Syſteme. Ich glaube an ein organiſches Wachſen und Werden. Und für dies Wachſen und Werden müſſen wir die Vorbedingungen ſchaffen. Und darum iſt für eines heute der Zeitpunkt gekommen: für die Beſeitigung aller Schranken, die immer noch hier und da der bürgerlichen Dienſt⸗ leiſtung der Frau in der Gemeinde entgegenſtehen. Wir haben noch Städte, die noch keine Frauen zur öffentlichen Armenpflege zulaſſen. Wir haben andere, in denen ſie nicht Mitglieder der Kommiſſionen werden können. Wir haben noch ungezählte Überreſte einer Zeit, die von dem Bürgertum der Frau nichts wußte. Mit dieſen Reſten muß aufgeräumt werden. Nachdem die Frauen die große Stichprobe ihrer Bereitſchaft in der Kriegsfürſorge abgelegt haben, iſt auch der letzte Schein eines Grundes, ihnen dieſe Arbeitsgebiete vorzuenthalten, ver⸗ blaßt. Und andererſeits: dieſe Bereitſchaft mag als Gewähr dafür genommen werden, daß ſchon jetzt die Zeit iſt, den Frauen die Dienſt⸗ pflicht in der Form aufzuerlegen, daß ſie Ehrenämter in Vormund⸗ ſchaft, Armenpflege uſw. annehmen müſſen, unter den Bedingun⸗ Die Dienſtpflicht der Frau. 189 gen, die vorhin ſchon gekennzeichnet wurden. Es iſt nicht zu befürchten, daß dadurch ungeeignete Frauen zu ſolchen Poſten kommen. Das zu verhindern iſt Sache derer, die die Frauen ausſuchen und vorſchlagen. Praktiſch werden vielleicht durch die Erklärung einer ſolchen Pflicht gar nicht mehr Frauen zu ſolchen Ämtern gelangen als ohne ſie. Aber es wäre mit einer ſolchen Einbeziehung der Frauen in den Kreis der bürgerlichen Selbſtverwaltung das Siegel auf eine Entwicklung gedrückt, die heute auch die Frauen, die noch ganz ihrem Hauſe ge⸗ hörten, im tiefſten berührt hat: die Entwicklung eines weiblichen Bür⸗ gerſinns, der ſich ſeinem Lande, ſeinem Staat, ſeiner Gemeinde ver⸗ antwortlich verbunden fühlt. Was den Frauen jetzt jede Stunde dieſer durch Arbeit und ſchmerzliche Opfer erfüllten Zeit predigt: über dem Einzelleben ſteht fordernd und beglückend, ſegnend und Opfer heiſchend das Vaterland, und unſer Schickſal iſt ein Teil ſeiner Geſchicke — das möchten, das müſſen wir feſthalten als eine Kraft, die dieſe Zeit voll Blut und Tränen geweckt hat, damit ſie uns ſpäter den Friedensbau des neuen Deutſchland errichten helfe. 190 Fünfzig Jahre deutſcher Frauenbewegung. (Vortrag gehalten zur Feier des 50 jährigen Beſtehens des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins, Leipzig 1915.) Unſere Gedanken ſind niemals ſo ſehr wie jetzt der Gegenwart und der Zukunft zugewandt geweſen. Sie ſind niemals ſo, wie ſeit einem Jahr, von allen Einzelbeſtrebungen gelöſt, in dem Ganzen unſerer nationalen Geſchicke aufgegangen. Wir ſind niemals ſo ſehr geſtimmt geweſen, die Toten ihre Toten begraben, das Vergangene vergangen ſein zu laſſen. Und wir waren niemals weniger geneigt, irgendeinen Teilausſchnitt aus unſerer deutſchen Kulturarbeit — und wäre es der Inhalt unſerer eigenen Lebensarbeit — beſonders her⸗ vorzuheben und wichtig zu nehmen. Aber es gibt Vergangenheit, die Ströme lebendiger Kräfte in unſere Gegenwart hinein ergießt, und es gibt Einzelgebiete der Kultur, die ihrem Weſen nach auf alle anderen hinüberwirken und dem Ganzen eine neue Färbung geben. Solch ein Teilgebiet mo⸗ derner Kulturentwicklung iſt die Frauenbewegung und ſolche lebendige Vergangenheit iſt ihre Geſchichte. Und darum iſt der Augenblick nicht zu groß und vielbedeutend für den Gedenktag, den wir heute zuſammen feiern wollen. Ja, der Rückblick auf ein halbes Jahrhundert deutſcher Frauenbewegung ſtimmt ſich gut hinein in eine Zeit, da von allen großen Willens⸗ richtungen in unſerm Volk eine höchſte Rechenſchaft gefordert wird und wir uns auf alle echten Kräfte für den Aufbau unſerer Zukunft beſinnen. Wir wiſſen heute beſſer und ſicherer als je zuvor, daß der Weg, den wir durch dieſe letzten Jahrzehnte hindurch geſucht haben, der richtige war. Denn was die deutſchen Frauen an Kraft mitgebracht haben, ſich den beſonderen Anforderungen dieſer Zeit anzupaſſen, das haben ſie auf dieſem Wege erworben. Ich meine ſelbſtverſtänd⸗ lich nicht die ganze Summe moraliſcher Widerſtandskraft, die Millio⸗ nen von Frauen im Ertragen von Schmerzen und Sorgen bewieſen haben. Aber alles, was die Frauen heute praktiſch leiſten mußten, ihre ganze Stellung in der inneren Mobilmachung, das konnten ſie 50 Jahre Frauenbewegung. 191 nur erfüllen in dem Maße, als ſich an ihnen ſchon die Erziehung der Frauenbewegung erfüllt hatte: die Erziehung zu verantwortlicher Mitarbeit im öffentlichen Leben, in den organiſierten Leiſtungen von Gemeinde und Staat. Das iſt heute unſer freudiger Stolz und unſere höchſte Rechtferti⸗ gung, daß wir unſeren Anteil haben an der Erziehung unſeres Volkes zu jener Fähigkeit, die heute die deutſche Kraft im Munde der ganzen Welt iſt: die deutſche Organiſation. Die Frauenbewegung hat die deutſchen Frauen — gewiß: noch viel zu wenige von ihnen, aber doch ſchon ein ganzes Heer — zu verſtändnisvollen Gliedern und Kräften in dieſer Organiſation gemacht. Und das war die Grundlage für alle wirkſame und tüchtige Kriegsarbeit. Viele ſehen dieſen Zuſammenhang nicht, weil ſie nicht wiſſen, wie eng gebunden noch zwei oder drei Jahrzehnte früher ein gleiches geſchichtliches Schickſal die deutſche Frauenkraft gefunden hätte. Weil ſie nicht wiſſen, daß jeder kleinſte Schritt aus der Familie in die Gebiete hinein, auf denen die Frauen ſich heute ſelbſtverſtändlich be⸗ wegen, einen Kampf koſtete. Die Zeit, da es keine Frauenvereine außer Wohltätigkeitsvereinen und keine Frauenzeitſchriften außer Modezeitungen gab, da der öffentliche Vortrag einer Frau eine lächerliche Unſchicklichkeit war, und der Gedanke an irgendeine ernſt⸗ hafte Zuſammenarbeit von Behörden und Frauen weltenfern lag, — dieſe Zeit und die unerſchütterliche Feſtigkeit ihrer Meinungen und Sitten iſt eben den meiſten vollkommen unvorſtellbar, und noch weniger deutlich iſt ihnen die Tatſache, daß dieſe ganze feindliche Welt ſich den Frauen an keiner Stelle freiwillig ergeben, ſich an keinem Punkt „von ſelbſt“ — wie man ſo gern annimmt — umgeſtaltet hat, ſondern auf der ganzen Linie überwunden werden mußte, überwunden in ihren Anſchauungen und Urteilen, in ihren Sitten und Rechtsbegriffen, in ihren wirtſchaftlichen und ſozialen Privilegien — und überwunden von Frauen, die für dieſen Kampf nichts mitbrachten als die heilige Überzeugung und den feſten Willen! Vielleicht kann niemand von uns — nicht einmal jene, die ein gutes Stück dieſes Kampfes ſelbſt mitgekämpft haben, ſich heute noch ganz deutlich machen, wie ſtark die kulturellen und ſozialen Mächte wwaren, denen die Frauenbewegung die Verwirklichung ihrer neuen 50 Jahre Frauenbewegung. 192 Ideale abringen mußte. Wenn eine Schicht im Aufſtieg der letzten Jahrzehnte ſich ihre Fortſchritte ſelbſt verdankt, ſo ſind es die Frauen. Ihnen iſt nichts geſchenkt, ſie haben alles erarbeiten müſſen. Nicht, um anzuklagen, wird dies ausgeſprochen. Sondern um einen Maßſtab zu gewinnen für die Kraft und den Glauben, die für unſere Sache eingeſetzt ſind — um uns hineinzuverſetzen in die Zeit und in die Lage der Frauen, deren wir heute gedenken wollen. Dem Tage des Jahres 1865, an dem die Begründerinnen unſeres Vereins, Luiſe Otto und Auguſte Schmidt, mit wenigen Gleichgeſinnten den Allgemeinen Deutſchen Frauenverein und damit die organiſierte deutſche Frauenbewegung ins Leben riefen, geht eine Vorgeſchichte voran. Sie führt tief hinein in das Ringen der vierziger Jahre, und eine Zeitlang ſchien es, als ob das zarte Reis, das da⸗ mals gepflanzt wurde, auch dem Hagelſchlag erliegen ſollte, der auf den „Völkerfrühling“ herniederpraſſelte. Wenn die Frauenbewegung in ihrer ſpäteren Entwicklung von ganzen Schichten getragen wird, ſo iſt ihre Trägerin in dieſer erſten Zeit nur eine einzige geniale Perſönlichkeit geweſen. Denn ſo darf man Luiſe Otto nennen, trotzdem ihr alles fehlte, was man äußerlich mit dieſer Bezeichnung verbindet, trotzdem ihr ſogenannte geniale Allüren in Wort, Schrift und äußerem Auftreten vollſtändig abgingen und zuwider waren. Das Charakteriſtiſche ihres Weſens lag gerade in der Verbindung kühner, neuer Gedankenverknüpfungen und bürger⸗ lichſter Solidität. Die Situation, in der einer ihrer literariſchen Freunde ſie einmal fand: Hegel ſtudierend mit dem Strickſtrumpf in der Hand und der Hauskatze auf dem Schoß, iſt bezeichnend für ſie. Und dieſe Miſchung weitſchauender Ideenverbindung mit bürgerlich einfachem Weſen und anſpruchsloſem perſönlichen Auftreten hat ihr zweifellos die erſten Erfolge geſchenkt, die die vierziger Jahre ihr gewährten. Das heutige Geſchlecht kann ſich ſchwer in die Stimmung jener Zeit hineinverſetzen, wo das lange verbotene, vergötterte Schwarz⸗ Rot⸗Gold des Deutſchen Reichs endlich die Trikolore erſetzen durfte. 50 Jahre Frauenbewegung. 193 deren Farben als Symbol der Bürgerfreiheit noch das Schulkind Luiſe Otto mit Begeiſterung in Tüchern und Schleifen getragen hatte. Die Zeit, in der eine der heutigen ganz entgegengeſetzte geſchichtliche Woge zu allgemeiner Völkerverbrüderung zu tragen ſchien, der der Kampf für Ideen, die Nichtachtung materieller Güter als ſelbſtver⸗ ſtändlich galt, der Schillerſcher Idealismus, Jean Paulſche Romantik und ein politiſcher Optimismus ohne Grenzen die Wege in neue, hohe, von der Sonne der Freiheit durchglühte und durchleuchtete Hallen zu weiſen ſchien. Unter dieſen Zeichen hat auch die Frauenbewegung ihre erſten Schritte getan. Aber, und das danken wir Luiſe Otto, von vornherein in der rechten Richtung und nichts vorwegnehmend, was die Zeit noch nicht gewähren konnte. Es war ihr geſunder Wirklichkeitsſinn und das tiefe und echte ſoziale Empfinden, das der Anblick der Klöpplerinnen des Erzgebirges geweckt hatte, der Kampf der um ihre Daſeinsberechti⸗ gung ringenden „Kleiderverfertigerinnen“, denen ihre männlichen Konkurrenten nicht einmal die Bezeichnung „Schneiderinnen“ ge⸗ ſtatteten, dieſe Eindrücke waren es, die ſie nicht in vager Begeiſterung ganz allgemein — wie gleichzeitig die Amerikanerinnen — die „Menſchenrechte“ verlangen ließen, ſondern dem liberalen ſächſiſchen Miniſterium Oberländer im Sommer 1848 die realpolitiſche Forderung vorlegen, durch die von ihm begründete Arbeiterkommiſſion auch die Arbeit der Frauen mit organiſieren zu laſſen. Sie begleitete ihre Ein⸗ gabe mit den ſehr wenig petitionsmäßigen, aus überquellender Seele kommenden Worten: „Glauben Sie nicht, meine Herren, daß Sie die Arbeit genügend organiſieren können, wenn Sie nur die Arbeit der Männer und nicht auch die der Frauen mit organiſieren. Und wenn man überall vergeſſen ſollte, an die armen Arbeiterinnen zu denken — ich werde ſie nicht vergeſſen!“ Die Worte ſtammten aus tiefer Wurzel. In zwei Nomanen (Ludwig, der Kellner, 1843, und Schloß und Fabrik, 1846) und einer von den Zeitgenoſſen warm aufgenommenen begeiſterten Lyrik, deren unzureichende Technik uns nicht ungerecht machen darf gegen den echten, glühenden Idealismus, der ſie trug, hatte Luiſe Otto ſich ſchon den Kämpfern der Zeit um neue ſoziale Grundlagen und Formen ge⸗ ſellt. Als erſte Frau. Aus der Empfindung heraus, der ſie ſchon im Lange, Kampfzeiten. II. 13 50 Jahre Frauenbewegung. 194 Jahre 1844 in Robert Blums „Vaterlandsblättern“ Ausdruck gegeben hatte, als ſie auf die Frage: „Haben die Frauen ein Recht zur Teil⸗ nahme an den Intereſſen des Staats?“ die Antwort gegeben hatte: „Die Teilnahme der Frauen an den Intereſſen des Staats iſt nicht allein ein Recht, ſondern eine Pflicht der Frauen.“ So wird hier zum erſtenmal, ganz unabhängig von äußeren Nöten und Bedräng⸗ niſſen dem innerſten Beweggrund der Frauenbewegung die Formel gefunden. Und die Richtung, in der ſich dieſe Pflichterfüllung zunächſt durchzuſetzen hatte, iſt mit jenem weiteren Wort gegeben: Organiſa⸗ tion der Arbeit der Frauen, an die niemand dachte, die von den männlichen Berufsgenoſſen als „Pfuſcherinnen“ geächtet waren, die einzig und allein auf ihr eigenes Geſchlecht zu hoffen hatten. Den kurzen Erfolg, den die wohlwollende Aufnahme der Eingabe von Luiſe Otto beim Miniſterium Oberländer hatte, den ihre viel⸗ ſeitig verlangte Mitwirkung an Arbeiterzeitungen und ihr eigenes, unter dem Motto: „Dem Reich der Freiheit werb' ich Bürgerinnen“ begründetes erſtes Frauenorgan ihr brachte, verſchlang die Reaktion. Die Notwendigkeit, an Stelle des Vermögens, das ſie ihren Beſtre⸗ bungen geopfert hatte, neue Mittel zum Lebensunterhalt zu be⸗ ſchaffen, das Harren und Bangen um den Mann, der erſt nach dem Martyrium ſchwerer Kerkerhaft ihr angehören konnte, füllte das nächſte Jahrzehnt. Jeder Verſuch, die „Märzblüte“ des Jahres 1848 zu weiterer Entwicklung zu bringen, würde mehr geſchadet als genützt haben. Es hieß ſeinen Tag abwarten. Und das eine wurde Luiſe Otto⸗Peters in dieſer Zeit klar: wenn die Begeiſterung der vierziger Jahre die Forderung der Frauen zur Teilnahme an den Staats⸗ intereſſen auch politiſch mitgetragen hatte: im Grunde gab es keinen Politiker, der dieſe Forderung ernſtlich und aus politiſcher Einſicht heraus zu der ſeinen gemacht hätte. Es galt ſie neu zu ſtellen auf anderm als politiſchem Grunde; ſie wurde nach Luiſe Ottos eigenem Ausdruck neu aufgeſtellt im Dienſte der Humanität und der daraus hervorgehenden ſozialen Beſtrebungen. Der Durchführung dieſer Aufgabe ſollte der Allgemeine Deutſche Frauenverein dienen. Er fand ein anderes Deutſchland vor als das der vierziger Jahre. Ein Deutſchland, das nicht im kühnen Schwung idealiſtiſcher Gedanken, 50 Jahre Frauenbewegung. 195 ſondern auf dem breiten Grunde wirtſchaftlicher Tatſachen und im Geiſt eines eiſernen politiſchen Realismus ſeiner großſtaatlichen Zu⸗ kunft entgegenwuchs. Und andere Frauenprobleme. Die Arbeiterinnenfrage, an der Luiſe Ottos ſozialer Wille, aber auch das Feuer ihres Kampfes für die Frauen ſich einſt entzündet hatte, hatte ſich verſchoben. Hatte ſie in den vierziger Jahren neben dem ewig gleichen Heimarbeitselend in der Notlage von Frauen beſtanden, die durch Gewerbebeſchränkungen in der Verwertung ihrer Fähigkeiten verkürzt waren, ſo entſtand jetzt — Luiſe Ottos ſächſiſchen Jugenderfahrungen noch ganz fremd — die großinduſtrielle Arbeiterinnenfrage. Sie war in ihrem Kern weder eine Konkurrenz⸗ noch eine Lohnfrage, ſie war das Problem der Frau, die ſich hilflos in eine auf Manneskräfte und männliche Lebens⸗ umſtände eingerichtete Arbeitsorganiſation einſpannen laſſen mußte, bei der ſie als Hausmutter keine Berückſichtigung finden konnte. Und in dem Maße als Großinduſtrie und Frauenarbeit in Deutſchland wuchſen, entſtand die ganze Folge von wirtſchaftlichen Verkettungen, die uns heute in ihrem Zuſammenhang ſo geläufig ſind, damals aber erſt Glied für Glied neu erkannt werden mußten: ungelernte Frauen⸗ arbeit, Organiſationsunfähigkeit der Frauen, Lohndrückerei, Über⸗ laſtung durch den Doppelberuf — und daraus hervorgehend neue Hemmungen für Arbeitsqualität, Lohnkampf uſw. in ewig wechſeln⸗ dem Zirkel. Was aber zu Luiſe Ottos Jugendzeit die Signatur der Arbeite⸗ rinnenfrage geweſen war, Kampf um die Arbeit, das wiederholte ſich jetzt in einer anderen Schicht: in den bürgerlichen Frauenkreiſen. Ich brauche die Veränderung des Frauenlebens im Mittelſtande, von der 1865 die deutſche Frauenbewegung im weſentlichen ausging, hier nicht erſt ausführlich zu kennzeichnen. Sie iſt bekannt genug. Die Begründerinnen des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins ſtan⸗ den ganz und gar im Geſichtskreis ſolcher Erfahrungen. Sie ſahen um ſich herum Mädchen, die wirtſchaftlich gezwungen waren, ſich auf eigene Füße zu ſtellen, und nicht wußten, wo im deutſchen Arbeits⸗ leben ſie für dieſe ihre Füße einen Platz finden ſollten. Sie ſahen andere, die an der Leere ihres Daſeins krankten, und durch unzer⸗ brechliche Sitte und unüberwindbares Vorurteil in dieſer Leere ver⸗ 13* 50 Jahre Frauenbewegung. 196 kümmern mußten. Sie ſahen die ſeeliſche und wirtſchaftliche Not der Mädchen „aus guter Familie“ in dem weiteſten Sinne des Bürger⸗ und Beamtentums. Man muß bedenken: niemals, ſolange es eine deutſche Geſchichte gab, hatte die Tochter der geſellſchaftlich führenden Kreiſe für fremde Arbeitgeber gegen Geld gearbeitet — niemals außer in den Fällen beſonderen perſönlichen Unglücks, wie ſie etwa Achim von Arnim für das adlige Fräulein in der Gräfin Dolores, oder wie ſie ſpäter die Marlitt in ihren Romanen von armen Mädchen zu allgemeiner Rüh⸗ rung beſchrieb. Die Berufsarbeit der gebildeten Frau war eine Folge unglücklicher Lebensumſtände, das Los der vom Schickſal Benachteilig⸗ ten, denen ſich ein beſtenfalls mit ein wenig moraliſcher Achtung ge⸗ paartes Mitleid zuwandte. Und ſie war auch — Notbehelf im ſtärk⸗ ſten Sinne des Wortes — nicht danach angetan, ihre Trägerin er⸗ hobenen Hauptes und feſten Schrittes durch das Leben ſchreiten zu laſſen. Zuſammengedrängt auf den ſchmalen Naum von ein paar „ſtandesgemäßen“ Berufen konnten dieſe Frauen bei der verſchämten Heimarbeit, als „Stützen“ oder in einem mit unzulänglicher Vorbe⸗ reitung beſtrittenen Lehramt kaum die innere Sicherheit und den freien Stolz gewinnen, der der Welt eine andere Anſchauung von dem Wert der Arbeit als Geſtalterin des Frauenſchickſals hätten ge⸗ ben können. An der Lage dieſer Frauen wurden die alten achtundvierziger Ideale Luiſe Ottos wieder lebendig. Sie ſah darin nicht nur eine wirtſchaftliche, ſie ſah auch die ſeeliſche und rechtliche Gebundenheit, die in dem alten Sinne nach „Freiheit“ rief. Als Menſch mit einem weiten geiſtigen Leben und kräftigen politiſchen Intereſſen erfaßte Luiſe Otto dieſe Frauenfrage des Mittelſtandes ſofort in ihrer all⸗ gemeinen kulturellen und ſozialen Bedeutung, der mit bloßer beruf⸗ licher Freiheit allein nicht abzuhelfen war, ſondern die ein neuer Be⸗ weis war, daß die geſellſchaftliche Entwicklung auch nach einer geiſtigen und rechtlichen Befreiung der Frauen verlangte. Der ſeltſame Gegen⸗ ſatz dieſes großen, vielumfaſſenden Programms und der unendlich be⸗ ſchränkten Möglichkeiten, es zu verwirklichen, ſtempelt die Gründung des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins mit dem Zeichen des muti⸗ 50 Jahre Frauenbewegung. 197 gen Idealismus, der ſo oft das einzige Gut der Anfänge großer Be⸗ wegungen war. Zum 16. Oktober 1865 rief Luiſe Otto eine Konferenz der Schwäch⸗ ſten der Schwachen in Deutſchland, der deutſchen Frauen, nach Leipzig ein. Dieſe deutſche Konferenz war ſchon in den Satzungen des Frauen⸗ bildungsvereins vorgeſehen, der als erſter ſeiner Art im Februar des gleichen Jahres in Leipzig gegründet worden war. Dieſer Satzungs⸗ paragraph war damals heftig bekämpft worden als geeignet, den ganzen Verein lächerlich zu machen. Luiſe Otto trug ruhig den Ver⸗ luſt von Mitgliedern, die auf dieſem Boden ſtanden, und ſtellte ſich ihrerſeits auf den des unbeſiegbaren alten achtundvierziger Reichs⸗ gedankens: „Das ganze Deutſchland ſoll es ſein!“ Sie wußte, daß es galt, eine Organiſation über das ganze Reich zu ſchaffen, die als Trä⸗ gerin der Idee der Frauenbewegung zugleich die Verfolgung der prak⸗ tiſchen Ziele in Angriff nehmen ſollte. Und ſo fand denn die erſte große öffentliche Verſammlung in Deutſchland ſtatt, die von einer Frau geleitet wurde. Sie erklärte „die Arbeit, welche die Grundlage der ganzen neuen Geſellſchaft ſein ſoll, für eine Pflicht und Ehre des weiblichen Geſchlechts“, ſie nahm dagegen das Recht auf Arbeit und erhöhte geiſtige Bildung und die Beſeitigung aller für die Frauen noch dafür beſtehenden Hinderniſſe in Anſpruch. Die Grenzen wurden dabei mit vollem Bewußtſein nach oben und unten ſo weit gezogen, daß einmal die Intereſſen der Arbei⸗ terinnen, andrerſeits die Erſchließung höherer Frauenberufe hinein⸗ fielen. Und wenn auch dieſe Ziele: Freiheit der Arbeit und der Bil⸗ dung, im Vordergrund ſtanden, ſo wurden ſie doch in tieferem und weiterem Sinne begründet. Auguſte Schmidt führte ſie in ihrer Er⸗ öffnungsrede auf die natürliche Berechtigung der Frauen zurück, ſich „aus der bisherigen Unterordnung zu der ihnen gebührenden Gleich⸗ berechtigung neben dem Manne emporzuheben“. Auf dieſem Boden trat dann am 18. Oktober der Allgemeine Deutſche Frauenverein ins Leben. Als reine Frauenorganiſation. Der Paragraph, der die Männer von der Mitgliedſchaft ausſchloß, wurde von dieſen ſelbſt als durchaus konſequent gutgeheißen, von vielen Frauen aber anfänglich als „männerfeindlich“ heftig bekämpft. Der Erfolg hat gezeigt, daß nur auf dieſe Weiſe das Prinzip der 50 Jahre Frauenbewegung. 198 Selbſthilfe, auf dem die ganze Bewegung ruhen mußte, gewahrt werden konnte. Dieſe Gründungsverſammlung fand ſchon die für die nächſten Jahrzehnte feſtſtehende Nollenverteilung: Luiſe Otto als Leiterin, Auguſte Schmidt als erſte Rednerin. Wenn das, was Luiſe Otto zu ſagen hatte, auch immer der Beachtung ſicher war, weil es ſachliche Bedeutung hatte, ſo waren doch ihre geringen Stimmittel, die ſtark dialektiſch gefärbte Sprache und andere Äußerlichkeiten Hinderniſſe für große redneriſche Wirkungen; darüber täuſchte ſie ſich ſelbſt am wenigſten. Ihre Kraft lag in der organiſatoriſchen und parlamen⸗ tariſchen Leiſtung, für die ſie als eifrige Hörerin der ſächſiſchen Kammerverhandlungen eine gute Schulung mitbrachte. Da war ihr Auguſte Schmidt die glücklichſte Ergänzung. Sie war tatſächlich die geborene Rednerin. In freier, ſchöner, von großen Stimmitteln ge⸗ tragener Sprache wußte ſie gerade das zum Ausdruck zu bringen, worauf es in jenen Tagen ankam: den geiſtigen und ſittlichen Ur⸗ grund der Frauenbewegung. Selbſt an dem geiſtigen Beſitz unſerer klaſſiſchen Literatur reich geworden, betonte ſie wieder und wieder in den einleitenden Vorträgen, die durchweg ſchon den Sieg der Frauen⸗ tage entſchieden, daß der Schwerpunkt der Frauenfrage die Bil⸗ dung, ihr notwendigſtes Moment die Selbſthilfe ſei, daß ſie als Brotfrage nur mittelbare Bedeutung, ihr eigentliches Weſen als Frage der freien Perſönlichkeit habe. Was aber dieſen Ausführungen die ſchlagende Überzeugungskraft gab, das war das Gefühl, daß da⸗ hinter eine edle, große, ganz der Sache hingegebene lautere Perſönlich⸗ keit ſtand, und daß jeder Satz das Gepräge der Wahrhaftigkeit und feſten eigenen Überzeugung trug. Die Bedeutung, die Auguſte Schmidt für unſere Bewegung gehabt hat, iſt von den Nachlebenden nicht leicht zu ermeſſen, da ſie ganz auf dem Zauber des perſönlichen Worts und unmittelbaren Verkehrs beruhte. Um ſo mehr iſt es an uns, die wir noch mit ihr arbeiten durften, dafür Zeugnis abzulegen. Eine bedeutſame Ergänzung erfuhr der Verein gerade für ſeine propagandiſtiſche Tätigkeit durch den Beitritt von Frau Henriette Goldſchmidt. Sie vertrat von Anfang an das Gebiet, das heute ſein Spezialgebiet geworden iſt: die kommunale Tätigkeit der Frau. Schon im Jahre 1869 ſprach ſie über das Thema der Verwendbarkeit 50 Jahre Frauenbewegung. 199 der Frauen zu den Gemeindeämtern; wieder und wieder hat ſie im Verlauf der Jahre auf den Frauentagen die Anſchauung vertreten, daß die Gemeinden neben den Vätern auch Mütter brauchten, eine Anſchauung, die ſie ſchlagend zu belegen verſtand. So leiſtete ſie zu einer Zeit, wo man noch kaum an die tatſächliche Erfüllung dieſer uns heute ſo geläufigen Forderung dachte, wertvolle Arbeit durch Unter⸗ minierung des alten Gedankenbeſtandes, in dem „Frau“ und „öffent⸗ liches Leben“ unvereinbare Gegenſätze bildeten. Dieſer Grund war es denn auch vor allem, der den Allgemeinen Deutſchen Frauenverein zunächſt bei aller Betonung der leitenden Ideen in der Hauptſache auf die praktiſchen Ziele verwies, die ſich auch dem Kurzſichtigſten aufdrängen mußten. Das war vor allem die Er⸗ weiterung der weiblichen Erwerbstätigkeit. Ihr ſuchten die „Neuen Bahnen“ zu dienen, die als Vereinsorgan unter erſchwerenden Um⸗ ſtänden — Luiſe Otto durfte als Frau nicht einmal verantwortlich zeichnen — ſchon im Dezember 1865 ins Leben getreten waren. Dieſen Zwecken konnten auch die Lokalvereine dienen, die in langſamer Folge, meiſtens im Anſchluß an die Generalverſammlungen, in den größeren deutſchen Städten entſtanden. Die meiſten traten als Frauenbildungs⸗ vereine ins Leben, ſo auf beſcheidener Ebene den Zuſammenhang ver⸗ körpernd, der zwiſchen Erwerbsfähigkeit und Bildung beſteht. Alle weitgehenden Pläne hieß es bei der Ungunſt der Zeiten, die noch durch die Kriege von 1866 und 1870 wuchs, zurückſtellen, eine Anforderung an die Selbſtverleugnung der Führerinnen, die nicht leicht zu erfüllen war, ſich aber immer wieder unerbittlich geltend machte. Denn die Zeitſtimmung war der Entwicklung der Frauenbewegung nichts we⸗ niger als günſtig. Wir finden keine großen Namen unter den erſten Freunden der jungen Organiſation, keine „führenden Geiſter“, die die innere Notwendigkeit des ſchweren Kampfes erkannten, den die Frauen begannen, und ihnen die Schritte erleichtert hätten. Wir finden ein paar verfrühte Sozialpolitiker, ein paar übriggebliebene Achtund⸗ vierziger nud einige der Führer der beginnenden Arbeiterbewegung unter ihnen. Gewiß, man begann die Verſorgungsbedürftigkeit der Mittel⸗ ſtandstöchter einzuſehen, zumal ſie ſo vielen Vätern am eigenen Leibe demonſtriert wurde. Ihr galt die Gründung des Präſidenten Lette 50 Jahre Frauenbewegung. 200 in Berlin, der Letteverein zur Förderung der weiblichen Erwerbsfähig⸗ keit, der bald nach dem Allgemeinen Deutſchen Frauenverein (Februar 1866) entſtand und kräftige und dankenswerte Arbeit für die Frauen leiſtete, aber deutlich und unbedingt jedes andere Ziel als das wirt⸗ ſchaftliche ablehnte. Die liberalen Politiker der ſechziger Jahre, zu denen Lette gehörte, waren eine nüchterne, dem praktiſch Nahen zu⸗ gewandte Generation, ohne den idealiſtiſchen Hochflug der Achtund⸗ vierziger und in ihren ſozialen Anſchauungen noch ganz befangen im Mancheſtertum. Eines oder das andere, idealiſtiſches Vertrauen in die Freiheit, oder ſozialpolitiſcher Weitblick hätte aber dazu gehört, um den Sinn der Frauenfrage und Frauenbewegung zu erfaſſen. Bei den führenden Leuten vollends des neuen Deutſchlands, dem Kreiſe Bis⸗ marcks, war an Verſtändnis für dieſen Teil der inneren ſozialen Probleme erſt recht nicht zu denken. Man braucht ſich nur der Urteile Treitſchkes über die Frauenfrage zu erinnern. Die Kathederſozialiſten ferner, die in den ſiebziger Jahren der Arbeiterfrage ihre Teilnahme zuwandten, konnten ihrer ganzen Richtung nach den einen weſentlichen Nerv der Frauenbewegung, den Drang nach Selbſtverantwortlichkeit, das Freiheitliche daran, nicht erfaſſen. Sie ſahen die Schutzbedürftig⸗ keit der Arbeiterin und verlangten Schonung ihrer mütterlichen Be⸗ ſtimmung, Beſchränkung oder gar Verbot der Fabrikarbeit verheirateter Frauen, aber das Temperament der bürgerlichen Frauen, die nach dem Beruf — nach neuen Berufen — verlangten, blieb ihnen fremd. Der Liberalismus war nicht ſozial und die neue Sozialpolitik war nicht liberal genug, um dem Doppelweſen der Frauenfrage als Arbeite⸗ rinnen⸗ und als Mittelſtandsfrage gerecht zu werden. So waren die Frauen im weſentlichen auf eigene Kraft geſtellt; ſie mußten ſich den geiſtigen Weg durch ihre Probleme faſt ohne Führer und den organiſatoriſchen in das öffentliche Leben hinein ohne weſentliche Hilfe von irgendeiner Seite her bahnen. Auch die Hoff⸗ nung des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins, bei größeren ſozial⸗ politiſchen Körperſchaften Unterſtützung zu finden, ſchlug ſo ziemlich fehl. Der volkswirtſchaftliche Kongreß, eine Vereinigung liberaler Wirtſchaftspolitiker, an den ſchon im Jahre 1867 eine Zuſchrift ging, hatte den warmen Appell, die weibliche Arbeitskraft vor der Ver⸗ kümmerung retten zu helfen, in der ſie ſich befand, und zu einem nutz⸗ 50 Jahre Frauenbewegung. 201 bringenden Faktor im Staatshaushalt heranzuziehen, zu den Akten gelegt. Der Arbeitertag in Gera hatte zwar volles Verſtändnis für den Kampf der Frauen gezeigt, die man, wie Luiſe Otto meinte, als den fünften Stand bezeichnen könnte, „wenn man es wirklich ſchon dahin gebracht hätte, ſie der ſozialen Gliederung des Staates miteinzu⸗ reihen“; aber über den Ausdruck warmer Zuſtimmung hinaus konnte von dieſer Seite vorläufig auch nichts geſchehen. Für die gleichfalls im Jahre 1867 dem Norddeutſchen Reichstag eingereichte Bitte, bei Fragen wie Freizügigkeit, Orts⸗ und Heimatsberechtigung, Gewerbe⸗ freiheit die Frauen mit den Männern gleichzuſtellen, wurde „Erwä⸗ gung“ in Ausſicht geſtellt. So waren die Ausſichten auf Beiſtand nir⸗ gends überwältigend. Selbſthilfe blieb das Leitmotiv. Sie war nur denkbar auf der Grundlage einer beſſeren Frauen⸗ bildung. Gerade dafür verfügte der Verein über gute Fachkräfte, die das Elend der „Töchterbildung“ — ſchon das Wort ein Programm! — aus eigenſter Erfahrung kannten, die da wußten, dieſer Boden konnte nichts tragen. Und ſo wurde in logiſcher Rückführung auf erſte Ur⸗ ſachen die Frage einer umfaſſenden und vertieften Frauenbildung zum Ausgangs⸗ und Mittelpunkt für den Verein. Schon auf der erſten Frauenkonferenz hatte man über das Frauenſtudium verhandelt, allerdings noch in der Anſchauung befangen, daß es ſich nur auf weib⸗ lichen Hochſchulen durchſetzen laſſen würde; auf der erſten General⸗ verſammlung wurde dann ſchon eine Petition an die deutſchen Re⸗ gierungen und Hochſchulen um Zulaſſung der Frauen zu allen Bil⸗ dungsanſtalten, insbeſondere auch zu akademiſchen Studien im Prinzip beſchloſſen, Forderungen, die dann unter beſonderer Zuſpitzung auf den weiblichen Arzt immer wieder erörtert und zum Gegenſtand von Petitionen gemacht wurden. Aber hier wie in der unermüdlich weiter betriebenen Propaganda für die Zulaſſung der Frauen zu den kommunalen Ämtern hatte man nicht nur die dichte Maſſe alter Vorurteile gegen ſich, ſondern auch die geſetzlichen Formen, in denen ſie feſtgerammt waren. Eine Änderung der rechtlichen Stellung der Frau war Vorbedingung jedes wirklichen Fortſchritts. Am nächſten lag die Änderung der Stellung der Frau im Familienrecht, zumal eine neue Zivilgeſetzgebung bevorſtand. Eine ſorgfältige Zuſammenſtellung der beſſerungsbedürftigen Paragraphen 50 Jahre Frauenbewegung. 202 durch Luiſe Otto lag einer Petition bei, die mit ſpezialiſierten Ände⸗ rungsvorſchlägen 1877 den deutſchen Bundesſtaaten eingereicht wurde. Eine Vorgängerin von vielen! Das alles waren kleine Schritte zu einem großen Ziel. Und zu kleinen Schritten hatte man ſich auch außerhalb des Allgemeinen Deut⸗ ſchen Frauenvereins aufgemacht — in den Frauenbildungs⸗ und Er⸗ werbsvereinen, die in Anlehnung an den Letteverein, auf ſeine An⸗ regung auch zu einem Verband zuſammengeſchloſſen, ſich bildeten und die Ausbildung der Frauen für weibliche Gewerbe und kaufmänniſche Berufe in die Wege leiteten. Hier fand man auch gelegentlich die För⸗ derung einflußreicher Perſönlichkeiten, z. B. des Juriſten v. Holtzen⸗ dorff, aber was ſie poſitiv der Sache nützen konnten, wurde doch viel⸗ fach wieder dadurch aufgewogen, daß gerade ihre überlegene Ablehnung ſcheinbar „utopiſcher“ Ziele die mitarbeitenden Frauen von der Er⸗ kenntnis des letzten Antriebes ihrer eigenen Sache zurückſchrecken ließ. Übrigens hinderte der Unterſchied in der letzten Zielſetzung die beiden Verbände nicht, in praktiſchen Fragen gelegentlich mit einander zu arbeiten, wie denn überhaupt das freundlichſte Einvernehmen zwiſchen den Leitungen herrſchte. So grundſätzlich, wie von den Führerinnen des Allgemeinen Deut⸗ ſchen Frauenvereins die Frauenbewegung aufgefaßt, wenn auch noch nicht nach außen vertreten wurde, ſah ſie während der zwei Jahr⸗ zehnte, die auf 1848 folgten, niemand in Deutſchland — weder negativ noch poſitiv, weder zuſtimmend noch ablehnend. Die erſte grundſätzliche Erörterung des ganzen Problems der Stellung der Frau in der modernen Geſellſchaft iſt nicht durch die vor⸗ ſichtigen praktiſchen Forderungen der organiſierten Frauenbewegung hervorgerufen, ſondern durch einen Anſtoß aus dem Auslande: der Schrift von John Stuart Mill. Der engliſche Nationalökonom, mit deſſen allgemeinen ſtaatswiſſenſchaftlichen Theorien ſich auch die deutſche Wiſſenſchaft beſchäftigte, erzwang, wie anderswo, ſo auch bei uns eine Erörterung der Frauenfrage auf der Grundlage letzter ſozialer, poli⸗ tiſcher und moraliſcher Prinzipien. Die Art der Begründung, die John Stuart Mill ſeinen Forderungen einer vollen wirtſchaftlichen, recht⸗ lichen und politiſchen Gleichſtellung der Frau gab, war freilich nicht geeignet, die Beſprechung in ein ausſichtsvolles Fahrwaſſer zu leiten. 50 Jahre Frauenbewegung. 203 Seine Rückführung aller Forderungen auf das Menſchentum, das die Frau mit dem Manne gemeinſam hat, und auf Grund deſſen ſie unter das Geſetz der gleichen Freiheit geſtellt werden müſſe, diente dazu, jene Auffaſſung zu verſtärken, die man ſchon an ſich geneigt genug war, an die Frauenbewegung heranzubringen: als wolle ſie die kulturellen Unterſchiede der Geſchlechter verwiſchen und die Frau dadurch „befreien“, daß ſie ſie ganz in männliche Wirkensweiſe hin⸗ einſchiebe und zu männlicher Weſensart bilde. Wenigſtens wurde in dieſem Sinne John Stuart Mill allgemein in deutſchen wiſſenſchaftlichen Kreiſen beſprochen — und abgelehnt. Und aus der Frauenbewegung ſelbſt hatte ſich noch nicht mit voller theo⸗ retiſcher Klarheit jener Gedankengang entwickelt, der allein imſtande iſt, ſie wirklich zu tragen: daß ihr Ziel die volle kulturelle Ausprägung und die unbeſchränkte ſoziale Auswirkung der weiblichen Per⸗ ſönlichkeit ſei. Was an theoretiſcher Verfechtung ihrer Gedanken ent⸗ ſtand — die klugen, bürgerlich maßvollen Schriften Fanny Lewalds und die geiſtvollen ſtreitbaren Hedwig Dohms waren wertvolle Bau⸗ ſteine, aber noch kein Fundament. Und in den Kreiſen des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins, ſo durchaus man dort praktiſch der richtigen Linie folgte: vollwertige Ausbildung der Frau für ihre weibliche Kulturaufgabe, mußte man den praktiſchen Aufgaben ſtärkeres Inter⸗ eſſe ſchenken als den theoretiſchen. Bis Anfang der neunziger Jahre ſind die Erfolge der Frauen⸗ bewegung in Deutſchland — die praktiſchen ebenſo wie die geiſtigen — verſchwindend. Sie beſtehen in nicht viel mehr als der Erweckung der Frauen ſelbſt, der Gewinnung von Anhängerinnen — oder, um es mehr im Sinne der geleiſteten Erziehungsarbeit zu ſagen: der Ent⸗ zündung lebendigerer geiſtiger Bedürfniſſe, einer klareren Einſicht in ihre Lage, eines ſtärkeren Bewußtſeins perſönlicher Würde und Selbſt⸗ achtung bei den Frauen ſelbſt. Dazu kam eine ſteigende Ausdehnung der beruflichen Tätigkeit der Frauen. Die neunziger Jahre bedeuten in vieler Hinſicht den Beginn einer neuen Zeit in Deutſchland. Wir ſehen das gerade jetzt — in dieſem Krieg —, da um alles gekämpft wird, was Deutſchland in dieſem letzten Vierteljahrhundert geworden iſt, noch deutlicher als bisher. Um jene Zeit entſcheidet ſich der Typus neudeutſchen Lebens 50 Jahre Frauenbewegung. 204 — in ſeiner Beſtimmtheit durch Induſtrie, Weltwirtſchaft, Bevölke⸗ rungsvermehrung, techniſche Entwicklung. Mit dieſen Veränderungen kommt eine neue Auffaſſung der inneren und äußeren Aufgaben, eine neue Geſinnung den Fragen der Wirklichkeit gegenüber, eine neue Lebensanſchauung, die allenthalben mancherlei Konventionen zerbricht und vorurteilsloſer macht, weil ſie ſich des Kommens einer neuen ſozialen Ordnung ganz bewußt geworden iſt. An dieſer ganzen Wand⸗ lung nahm die Frauenbewegung teil, ſowohl was ihren Inhalt, ihre tatſächlichen Probleme als was ihre geiſtigen Grundlagen betraf. Eine ſtarke Vermehrung der weiblichen Erwerbstätigkeit war die eine Seite der wirtſchaftlichen Entwicklung Deutſchlands. Eine Vermehrung, die freilich vor allem untere, und die unteren Stufen der mittleren Be⸗ rufe in Induſtrie und Handel ergriff. Hier entſtanden neue Probleme, und alte traten in neuer Ausdehnung auf. Schutzfragen, Lohnfragen, Ausbildungsfragen, Organiſationsfragen — die Rückwirkung der weiblichen auf die männliche Erwerbsarbeit, die Bedeutung der Frauenarbeit für die Familie. Das alles war ſchon vorher dageweſen, aber es nahm jetzt größere Ausdehnung an, es entfaltete weiter⸗ tragende Wirkungen. Und vor allem: es wurde beſſer erkannt. Als⸗ ein Teil der neuen Wirklichkeitserfaſſung, die den Geiſt der neunziger Jahre von dem der ſiebziger ſo ganz unterſchied, entſtand die neue volkswirtſchaftliche Tatſachenerforſchung, mit der es gelang, die Maſſen⸗ probleme nicht nur für die Wiſſenſchaft zu bewältigen, ſondern ihre Exiſtenz auch dem allgemeinen Bewußtſein eindringlich bemerkbar zu machen. Die allgemeine wiſſenſchaftliche Vorurteilsloſigkeit, die den ſozialen Fragen gegenüber zur Geltung kam, mußte auch helfen, daß die der Frauenbewegung zugrunde liegenden Fragen richtiger geſehen wurden und ein ernſteres ſachliches Intereſſe hervorriefen. Und abge⸗ ſehen von den Frauenfragen, die ſolcher Betrachtung zugänglich waren — auch den inneren Beweggründen der Frauenbewegung mußte eine Zeit zugänglich werden, die in ihrer geiſtigen Geſamtrichtung unter⸗ nehmender, weniger philiſterhaft, weniger bürgerlich eng geartet war. Es kam hinzu, daß alle dieſe Probleme nun auch in die Arbeit der Frauenbewegung in neuer, vielgeſtaltigerer Form als die ein⸗ fachen alten Erwerbsfragen eintraten. Alles das brachte jene raſche Entwicklung zur Vielgeſtaltigkeit, 50 Jahre Frauenbewegung. 205 die das Werden der deutſchen Frauenbewegung vom Ende der achtziger Jahre kennzeichnet, und die es unmöglich macht, in einer kurzen Skizze ihrer Entwicklung alle Linien im einzelnen zu verfolgen. Es entſtan⸗ den die großen Berufsvereine der Lehrerinnen, kaufmänniſchen Ange⸗ ſtellten, Künſtlerinnen, es entſtanden innerhalb der Frauenbewegung ſelbſt Organiſationen für einzelne Fragen und Arbeitsgebiete. So die Vereine Frauenbildung⸗Frauenſtudium, erſte Zuſammenſchlüſſe zur Bearbeitung der Sittlichkeitsfrage, die Rechtsſchutzvereine uſw. uſw. Und dieſer ſelbe Vorgang der Ausbreitung und Spezialiſierung, der ſich in der Organiſation zeigte, kennzeichnet auch die ganze innere Entwick⸗ lung: das Programm der Frauenbewegung wuchs aus ſeiner erſten ein⸗ fachen Geſtalt heraus, nahm eine Fülle praktiſcher Einzelfragen als ſolche auf und verfeinerte ſich auch in der geiſtigen Deutung der einzelnen For⸗ derungen immer mehr. Eine große, vielſeitige Literatur — reicher als in irgendeinem Lande — blüht auf. Aus der Frauenbewegung wird ein Stück Leben, das in immer wachſenden Tauſenden von Gehirnen zündet, das ſich mit immer zahlreicheren Fragen des wirtſchaftlichen, ſozialen und politiſchen Lebens verbindet und zu allen geiſtigen Strö⸗ mungen der Zeit in Beziehung tritt. Der Allgemeine Deutſche Frauenverein hat in dieſem Stadium der Entwicklung das Schwergewicht auch weiterhin auf die Fragen der höheren Frauenbildung, der akademiſchen Berufe gelegt. Sie ſchienen praktiſch und auch zum inneren Vorwärtskommen, zum Durch⸗ ſetzen der Idee der Frauenbewegung das wichtigſte. Eine große Maſſenpetition mit 60 000 Unterſchriften, die im Jahre 1893 um Freigabe des mediziniſchen Studiums für die Frauen dem Neichstag eingereicht wurde, hatte zwar tatſächlich keinen anderen Erfolg, als nochmals wieder „Übergang zur Tagesordnung“. Aber man ſpürte doch an der wachſenden Breite der Verhandlungen, die auf die Frage verwendet wurden, an manchem einſichtigen Wort liberaler Politiker zu ihren Gunſten, wie allmählich ſich auch in Deutſchland ein Schritt vorbereitete, der doch einmal getan werden mußte. Die wortreichen Schutzreden für die alte Zeit wurden doch ſchließlich mehr und mehr Rückzugsgefechte — das iſt uns heute deutlicher als damals, aber auch damals wuchs doch die Überzeugung, daß man in abſehbarer Zeit mit der Eröffnung der Univerſitäten rechnen könnte. Freilich — daß die 50 Jahre Frauenbewegung. 206 bloße Zulaſſung zunächſt noch nicht Ausdruck eines wirklichen Inter⸗ eſſes an Frauenſtudium und höheren Frauenberufen ſein, daß nie⸗ mand daran denken würde, den Frauen nun auch poſitiv zum Studium zu verhelfen, das war ebenſo klar. So beſchritt der Allgemeine Deutſche Frauenverein auch hier den Weg der Selbſthilfe, den man in Berlin und Karlsruhe durch Begründung von gymnaſialen Vorbereitungs⸗ anſtalten ſchon eingeſchlagen hatte, und eröffnete 1894 unter Leitung von Dr. Käthe Windſcheid ſeine Gymnaſialkurſe in Leipzig. Durch die bedeutenden Mittel, die ihm das Ehepaar Ferdinand und Luiſe Lenz in hochherzigſter Weiſe zur Verfügung geſtellt hatte, war ihm nicht nur dafür, ſondern auch zu weitgehender Unterſtützung des Frauenſtudiums die Möglichkeit gegeben. Das Daſein der erſten Abi⸗ turientinnen, die in größerer Zahl zuerſt Berlin (1896) ſtellte, er⸗ zwang dann wirkſamer als alle Petitionen endlich die Erſchließung der Univerſitäten — wenn auch zunächſt nur für Gaſthörerinnen. Man hat wohl geſagt, daß in der Frauenbewegung die Bedeu⸗ tung des Frauenſtudiums im Nahmen der Frauenfrage überſchätzt ſei. Gewiß, für das Maſſenproblem der Frauenfrage bedeutete dieſe ſchmale Schicht der Frauen nicht viel, die nun „in der Arena der Arbeit“ ein neues Feld beſchreiten durften. Aber ideell war dieſe Zulaſſung zu den höchſten Bildungsanſtalten viel mehr: eine Erfüllung innerſter geiſtiger Antriebe der Frauenbewegung, die Aufhebung einer Schranke, deren Beſtehen im Grunde mehr Geringſchätzung der Frau ausdrückte als manche Rechtsbeſchränkung. Es war die Zulaſſung der Frauen zu der Möglichkeit, ihr geiſtiges Weſen mit den höchſten Bildungsmitteln der Zeit auszuprägen, der Beſitz der beſſeren Methoden, die eigene Lage im ſozialen und kulturellen Leben der Nation zu begreifen, die Freiheit, in Berufen geiſtigen Inhalts den beſonderen Beitrag zu dieſer Kultur zu leiſten, zu dem ſich die Frauen außerhalb der Familie fähig fühlten. Die Eröffnung der Univerſitäten bedeutete die Ent⸗ zündung neuen inneren Lebens in Tauſenden von jungen durſtigen Seelen, bedeutete neue Ziele, zu denen friſche Kräfte ſich ſpannen, neue Lebensformen, in denen ſie ſich entfalten konnten, bedeutete neue Kraft, neue innere Sicherheit. Das kann heute von der jungen Gene⸗ ration, die den Weg gebahnt und die Tür offen findet, nicht mehr nachgefühlt werden. Ja, es iſt verſtändlich, daß zuweilen die inneren 50 Jahre Frauenbewegung. 207 Schwierigkeiten und Probleme, die den Einzug der Frauen in ein Reich ausſchließlich männlicher Geiſtesprägung notwendig begleiten, einen Schatten auf dieſes erſte Glück werfen. Aber um ſo lebendiger iſt es heute noch denen, die das Aufgehen der Tür erlebten. Sie haben vielleicht den geiſtigen Sinn der Frauenbewegung am tiefſten und lebendigſten an ſich erfahren — ſie und diejenigen von uns Älteren, die mit ihnen und für ſie arbeiten konnten. Daß die Eröffnung der Univerſitäten — im Sommerſemeſter 1900 wurden die erſten immatrikulierten Studentinnen in Baden zugelaſſen, dann folgten Bayern 1903, Württemberg 1904, Sachſen 1906⸗07, Preußen, Reichsland, Heſſen 1908⸗09 — daß die Er⸗ öffnung der Univerſitäten auch in anderem Sinne ein grund⸗ ſätzlich großer, in der Geſchichte der Frauenbewegung bisher der — ſagen wir: radikalſte und entſchloſſenſte Schritt war, zeigte ſich erſt recht in dem Bildungskampf, der ſich an dieſe Eröffnung anſchloß und ſie begleitete: in dem Kampf um die höhere Mädchen⸗ ſchule, zeigte ſich darin, daß bis heute die einfache, ſchnurgerade Löſung, die auf der höchſten Stufe durch die unbeſchränkte Zulaſſung der Frauen zu den beſtehenden Bildungsanſtalten gefunden wurde, auf der zweiten nicht zu erreichen iſt. Dieſer Kampf um die höhere Mädchenbildung hat ſeine doppelte Seite: er hat eingeſetzt und iſt durchgeführt, um den Mädchen die⸗ jenige Ausrüſtung für das neue Leben zu gewähren, die ſie brauch⸗ ten, und zugleich, um die Geſtaltung der weiblichen Erziehung als eines der weſentlichſten Gebiete weiblicher Kulturarbeit wieder in höherem Maße in weibliche Hände zu bringen. Wenn es ſich überhaupt in der Frauenbewegung weniger um eine Neueroberung als um eine Rück⸗ gewinnung von Einflußſphären handelt, die die Frau ehemals ſelbſt⸗ verſtändlich beſaß, ſo gilt das insbeſondere von der Mädchenbildung. Hier handelt es ſich um eine der weſentlichſten. Denn es bedeutet tat⸗ ſächlich eine Selbſtentfremdung der weiblichen Jugend, wenn ihr Ziele und Wege ihrer geiſtigen Entwicklung ſo ausſchließlich vom Manne vorgeſchrieben werden, wie das üblich war und — ſagen wir es ruhig: heute noch in großem Umfang üblich i ſt. Der doppelte Sinn des Kampfes um die höhere Mädchenbildung kommt in zwei Programmen zur Geltung, die für ihre Geſtaltung aus der Frauen⸗ 50 Jahre Frauenbewegung. 208 bewegung hervorgegangen ſind. Einerſeits: gemeinſamer Unterricht der Geſchlechter unter Mitwirkung der Frau als Lehrerin, andererſeits Mädchenbildungsanſtalten, die ſich in entſchiedener Form den ſachlichen Anforderungen der Univerſität und des mittleren Berufslebens an⸗ paſſen und in denen auf Lehrplan und Aufbau, auf äußere Ziele und innere Geſtaltung die Frauen den entſcheidenden Einfluß haben. Die beiden Programme ſind unter dem doppelten Druck der wirtſchaftlichen Verhältniſſe und der unermüdlichen Werbearbeit der Frauenbewegung nebeneinander verwirklicht; wir haben die Einführung des gemein⸗ ſamen Unterrichts vor allem dort erlebt, wo keine praktiſchen Mög⸗ lichkeiten waren, den Mädchen die gleiche Bildung als Mädchenſchule zugänglich zu machen, und wir haben, in Preußen anfangend, vom Jahre 1908 ab die ſyſtematiſchen Mädchenſchulreformen gehabt, die die Univerſitätsvorbildung der Mädchen ſo oder ſo in feſte Formen ge⸗ bracht und der höheren Mädchenſchule als ſolcher eine zeitgemäßere Geſtalt gegeben haben. Freilich, damit ſind die Programme der Frauenbewegung nur zur Hälfte erfüllt. In der Vorbildung der Mädchen zur Univerſität hat man den Frauen die Pionierdienſte zu leiſten geſtattet, hat man ſie das Experiment machen laſſen. Dann aber haben wir die in der Geſchichte aller Anfänge und Fortführungen gewiß ſeltene Erfahrung machen dürfen, daß man uns hinausſchob, als unſere Pläne weiter⸗ geführt wurden, unſere Anfänge in das bequemere Stadium ſtaatlicher Anerkennung und feſter Einfügung in das öffentliche Bildungsweſen gelangten. Hinausſchob wenigſtens, ſoweit die Leitung in Betracht kam. Aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als ob es die Zu⸗ rückſetzung und Ungerechtigkeit wäre, die uns dieſe Entwicklung der Dinge vor allem bedauern läßt. Es iſt ganz etwas anderes: es iſt die Überzeugung, und jetzt ſchon die Erfahrung, daß die Studentinnen, daß überhaupt die junge weibliche Generation auf ihrem Wege in die Berufswelt der Tradition bedarf, die von den Anfängen einer ſpontanen, innerlich notwendigen geiſtigen Bewegung zu ihrer Reife führt. Es wäre gut, mehr als das: es wäre notwendig, daß die Studentinnen ſich in einer geiſtigen Gemeinſchaft fühlen könnten, einer Einheit der inneren Richtung, wie ſie Gymnaſium und Univerſität ver⸗ bindet, eben durch den führenden Einfluß und die geiſtige Prägung der 50 Jahre Frauenbewegung. 209 Männer, die den Geiſt der Univerſität an ſich erfahren haben und ihn weitergeben an ihre Schüler. Der weibliche Träger eines höheren geiſtigen Berufs — dieſes ganz Neue in der Kultur! — bedarf der gleichen Tradition. Je feſter wir (in dieſem Punkt in merkwürdiger Übereinſtimmung mit unſeren Gegnern!) davon durchdrungen ſind, daß die höheren Frauenberufe nicht eine bloße Nachahmung der ihnen entſprechenden männlichen Berufe, ſondern ein eigenes Stück Kultur⸗ arbeit darſtellen ſollen, um ſo ſtärker müſſen wir auf den — nicht ausſchließlichen, das keineswegs! — aber ausſchlaggebenden Einfluß der Frau auf die Mädchenbildung Gewicht legen. Daß auch in anderer Hinſicht die ſyſtematiſchen Mädchenſchulreformen eine Halbheit beſtehen ließen oder vielmehr erſt ſchufen: die Zulaſſung der Oberlyzeiſtinnen zur Univerſität, ſcheint man jetzt in den maßgebenden Kreiſen ſelbſt mehr und mehr zu bedauern, ſo daß man faſt wieder zu hoffen beginnt, es möchte dieſer Einrichtung der Anfang vom Ende tagen. Wenn die Errungenſchaften unſerer Bewegung auf dem Gebiet der höheren Frauenbildung ihr Schwergewicht nicht ſo ſehr in ihrer ſozialen als in ihrer geiſtigen Bedeutung haben, ſo hat die Frauen⸗ bewegung als ſolche weniger Einfluß zu gewinnen vermocht auf die Erwerbsgebiete der breiteſten Frauenſchichten in Landwirtſchaft, In⸗ duſtrie und Handel. An jener Erſcheinung, die dem oberflächlichen Blick ſo leicht als eigentliches Ergebnis der Frauenbewegung erſcheint: der gewaltigen zahlenmäßigen Zunahme der weiblichen Erwerbstäti⸗ gen haben viel mehr äußere, ſachlich⸗wirtſchaftliche Gründe mitgewirkt als eine ſeeliſche Beeinfluſſung der Frauen durch die Frauenbewegung. Es iſt ohne weiteres klar, daß die Textilarbeiterinnen, die zu Hundert⸗ tauſenden an die Webſtühle traten, die Metallarbeiterinnen, die in wachſenden Ziffern an den Schraubſtöcken und Fräsmaſchinen ſtehen, die Verkäuferinnen, die mehr und mehr die Plätze hinter den Laden⸗ tiſchen einnehmen, daß ſie alle ihre Poſten nicht etwa als Bekehrte der Frauenbewegung eingenommen haben, getrieben von dem ur⸗ ſprünglichen Sinn der Parole: gebt uns die Arena der Arbeit frei! Sie ſind vielmehr ausſchließlich von dem Bedürfnis der Induſtrie und des Handels gezogen und von der tatſächlichen Notwendigkeit eigenen Erwerbs geſchoben; die Frauenbewegung hat ſie auf ihrem Wege ge⸗ funden als volkswirtſchaftliche Tatſache, die als ſolche ihrer Macht Lange, Kampfzeiten. II. 14 50 Jahre Frauenbewegung. 210 vollſtändig entrückt war. Für ſie kam es jetzt auf ganz andere Fragen an: darauf, ob und wieweit es möglich war, die Lage der Frauen in dieſen Berufen zu heben und ihnen in den ſchweren Konflikten zu helfen, in die auf Manneskräfte zugeſchnittene Berufsanforderun⸗ gen mit weiblichen Gebundenheiten jeder Art geraten mußten. Die alte Parole der „Freiheit“ der Arbeit bekam einen anderen Sinn; es hieß: richtige Verwertung der Frauenkräfte und richtige Aus⸗ rüſtung dafür. Nicht mehr darum handelte es ſich, ob die Frau er⸗ werbstätig ſein ſollte, ſondern um das Wie. Es iſt ein Beweis für das Maß ſozialpolitiſcher Einſicht in der deutſchen Frauenbewegung, daß ſie die Wendung von dem „Ob“ zu dem „Wie“ der Frauenarbeit ſchnell und ſachgemäß gefunden hat, daß ſie von ihrer urſprünglichen freiheitlichen Arbeitsforderung zur Er⸗ kenntnis der Frauenarbeit als eines ſchweren wirtſchaftlichen und ſozialen Problems überzugehen vermochte. Der Allgemeine Deutſche Frauenverein, der auch in der Zeit des Sozialiſtengeſetzes die Füh⸗ lung zur Arbeiterinnenfrage niemals verloren hatte, hat dieſe Um⸗ ſchaltung des Gedankens der Berufsfreiheit zu der Forderung einer zweckmäßigen Berufsarbeit der Frauen ohne Schwanken voll⸗ zogen. Als in der internationalen Frauenbewegung auf dem Lon⸗ doner Kongreß von 1898 noch die alte mancheſterliche Richtung durch⸗ aus das Übergewicht hatte, war in der deutſchen das Grundprinzip des ſtaatlichen Schutzes der Arbeiterin ſchon längſt durchgeſetzt. Aber freilich: die Verhältniſſe der Frauenarbeit ſtanden unter einem ſo ſtarken Druck wirtſchaftlicher Faktoren, daß der ſozialpolitiſche Wille nur ſchwer dagegen aufzukommen vermochte: der Zehnſtundentag für die Fabrikarbeiterinnen, die Einführung der weiblichen Gewerbe⸗ aufſicht, die Einführung der Fortbildungsſchulpflicht für kaufmänniſche und gewerbliche Arbeiterinnen, die Regelung des weiblichen Hand⸗ werks ſind nur kleine Errungenſchaften in der Löſung eines großen Problems. Die Verbeſſerung der kaufmänniſchen, gewerblichen, land⸗ wirtſchaftlichen Fachbildung, die zweckmäßige Berufsberatung, die Mit⸗ wirkung der Frauen bei geſetzlichen Berufsvertretungen, Kranken⸗ kaſſen uſw. — die Entwicklung auf all dieſen Gebieten zeigt eine ent⸗ ſchieden und unveränderlich aufſteigende Linie, die aber noch allent⸗ halben ſehr weit vom Ziel abbricht. 50 Jahre Frauenbewegung. 211 Das entſchiedenſte Symptom einer fortſchreitenden Entwicklung war das Erſtarken der weiblichen Berufsorganiſation im letzten Jahr⸗ zehnt des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn auch noch nicht zur rela⸗ tiven Stärke der männlichen Berufsorganiſation vorgedrungen, doku⸗ mentieren doch die Verbände der Lehrerinnen, kaufmänniſchen Ange⸗ ſtellten, Krankenpflegerinnen, Handwerkerinnen, Poſt⸗ und Eiſen⸗ bahnbeamtinnen, die ſteigenden Ziffern weiblicher Mitglieder in den Arbeiterorganiſationen das Wachſen des Willens und der Kraft bei den Frauen, ihr Berufsſchickſal gemeinſam zu geſtalten, das Wachſen der Eigenſchaften des modernen Berufsmenſchen: Solidaritätsgefühl, Wirklichkeitsſinn, Beherrſchung der Methoden ſozialpolitiſchen Ein⸗ fluſſes. So zeigt ſich uns die Frauenbewegung nicht als treibende Kraft für die wachſende Maſſe der weiblichen Erwerbstätigkeit, ſondern als die innere Kraft tapferer bewußter Anpaſſung an dieſes wirtſchaft⸗ liche Schickſal, als eine Kraft zur Klarheit über unvermeidliche wirt⸗ ſchaftliche Entwicklungen, als ein Wille, der Frau in dieſer Verſchie⸗ bung ſolchen Boden zu gewinnen, daß ſie die Doppelſeitigkeit ihrer mütterlichen Aufgabe und ihres Beitrags zur ſachlichen Arbeitsleiſtung entfalten kann, als Kampf für eine Verwertung der Frauen nach dem Maß ihrer menſchlichen Anlagen und der beſonderen Art ihres Ge⸗ ſchlechts. Denn das iſt das ſchwerſte Mißverſtändnis, das die Frauen⸗ bewegung getroffen hat, daß man meinte, ſie habe ausſchließlich Inter⸗ eſſe an der erweiterten Berufstätigkeit der Frau. Ihr Beſtreben geht vielmehr dahin, der Frau in jeder Beziehung die Anpaſſung an ver⸗ änderte wirtſchaftliche und ſoziale Verhältniſſe zu erleichtern, und zwar ebenſo der Hausfrau, wie derjenigen, die — nicht auf Wunſch der Frauenbewegung, ſondern unter dem Druck unabänderlicher Zeitver⸗ hältniſſe — zum Beruf gezwungen iſt. Darum iſt auch die hauswirt⸗ ſchaftliche Frauenbildung jederzeit ein Teil des Bildungsprogramms der Frauenbewegung geweſen, darum geht die moderne Entwicklung der Hausfrauenorganiſation in Stadt und Land im letzten Grunde aus ihrem Geiſt hervor. Je größer in der Geſtaltung der weiblichen Erwerbstätigkeit der Einfluß äußerer Faktoren iſt, um ſo vollſtändiger iſt eine andere Er⸗ weiterung des alten weiblichen Wirkungskreiſes durch den Geiſt der 14* 50 Jahre Frauenbewegung. 212 Frauenbewegung beſtimmt und ihr eigentlichſter Ausdruck: alles das nämlich, was inhaltlich mit dem Wort ſoziale Arbeit bezeichnet wird und in den Formen der Ausübung in das Gebiet kommunaler und ſtaatlicher Verwaltung hinüberreicht. In dieſem Eintritt der Frau in die ſtets wachſende Organiſation der öffentlichen Wohlfahrtspflege ſpricht ſich vielleicht am reinſten und reſtloſeſten die innerſte Bedeutung der Frauenbewegung aus. Das Gemeinſchaftsleben über die Familie hinaus — früher ein loſes Neben⸗ einander von Einzelexiſtenzen — wird dichter und dichter: ein Syſtem geordneter geſellſchaftlicher Hilfeleiſtungen gegen allgemein empfun⸗ dene Notſtände breitet ſich aus; eine Erweiterung der Gemeinde⸗ und Staatsaufgaben, die mehr iſt als eine bloße Einrichtung äußerer Zweckmäßigkeit, in der ſich vielmehr ein ganz neues Bewußtſein der ſozialen Verpflichtung, der Zuſammengehörigkeit und gleichzeitig eine tiefere Teilnahme für den Kulturſtand der Maſſe ausſpricht. Dies iſt der Geiſt, der die Frau im Innerſten berührt, der zu ihr ſpricht, der ſie ruft, weil er ihrer bedarf. Die reine Verwaltungsarbeit wird zuc Volkspflege und mußte es werden, Polizei und Bürokratie bekommen mehr als die bloße Ordnung, bekommen die Aufrichtung von Menſchen⸗ tum anvertraut. Etwas von der Wärme und Gegenſeitigkeit der Fa⸗ milie liegt über den neuen Wirkensgebieten öffentlicher Inſtanzen: über Säuglingspflege und Wohnungsfürſorge, Kinderſchutz und Ge⸗ ſundheitsüberwachung. Und in beſonderer Weiſe verbindet ſich hier die amtliche Tätigkeit mit der Notwendigkeit der Berückſichtigung des Einzellebens in ſeinen individuellen Bedingungen. Das aber iſt Frauen⸗ ſache. Und ſo entſteht, nachdem innerhalb der Frauenbewegung die Idee der Mitwirkung der Frau in Gemeinde und Staat aus ethiſchen Wurzeln und demokratiſch⸗liberalen Gedankengängen lebendig gewor⸗ den war, draußen das praktiſche Feld für die Bürgerin. Neben die alte ideelle Menſchenrechtsforderung der Mitbeſtimmung im Staat treten zwei mächtige praktiſche Faktoren: die weibliche Erwerbstätig⸗ keit, die über Berufsorganiſation und berufliche Intereſſenvertretung in Staatstätigkeiten hineinführt, und die erweiterte öffentliche Wohl⸗ fahrtspflege, die der weiblichen Kräfte bedarf. Wir dürfen ſagen, daß dieſe praktiſche Entſtehung des weiblichen. Bürgertums ſich raſch vollzogen hat, ſoweit die Frauen ſelbſt etwas. 50 Jahre Frauenbewegung. 213 dazu tun konnten. Wenn unſere Auskunftsſtelle für die Gemeinde⸗ ämter der Frau im Jahre 1912 etwa 12 000 Frauen in ehrenamtlicher Gemeindetätigkeit nachwies, wenn wir heute die Eingliederung der Frauen in die ſtädtiſche Kriegsfürſorge ſehen, die noch viele weitere Tauſende in den Dienſt der öffentlichen Wohlfahrtspflege gezogen hat, und wenn wir bedenken, daß von all dieſem vor drei Jahrzehnten noch nicht der Anfang da war, ſo will uns ein Umgeſtaltungsprozeß, der uns in ſeinem Vollzug von Schritt zu Schritt langwierig und mühſam vorkam, heute doch ſchnell und kraftvoll erſcheinen. Ich ge⸗ brauche das Wort „kraftvoll“ mit Abſicht. Denn hier, wo es ſich um freiwillig übernommene Pflichten handelt, mußte es ſich ja am deut⸗ lichſten zeigen, ob die Teilnahme der Frauen an den öffentlichen An⸗ gelegenheiten, die Luiſe Otto als Recht und Pflicht in Anſpruch nahm, eine lebendige, produktive Kraft und nicht nur eine Agitationsphraſe war. In der praktiſchen kommunalen Arbeit iſt der kräftige Nährboden weiblichen Bürgerſinns; für alles, was darüber hinaus an politiſcher Macht erſtrebt wird, müſſen hier zu⸗ nächſt die Kräfte gebildet und die Beweiſe geführt werden. Auch nachdem im Jahre 1908 durch das neue Vereinsgeſetz den Frauen die Möglichkeit direkter politiſcher Betätigung in den Parteien gegeben iſt, auch nachdem dadurch der größere Spielraum ſtaatspolitiſcher Inter⸗ eſſen ſich ihnen erſchloſſen hat, wird die Mitarbeit in der Gemeinde⸗ verwaltung das Gebiet bleiben, deſſen praktiſche Pflege nach wie vor der geſundeſte Ausdruck des modernen Bürgerbewußtſeins der Frau ſein wird. Indem ich von dieſer Mitarbeit der Frau in der Gemeindever⸗ waltung ſpreche, berühre ich das jetzige Hauptarbeitsgebiet unſeres All⸗ gemeinen Deutſchen Frauenvereins. Und damit komme ich zum Schluß: zu der organiſatoriſchen Ausgeſtaltung, die in den beiden letzten Jahr⸗ zehnten die Frauenbewegung gefunden hat. Es iſt bei ihr wie bei an⸗ deren Bewegungen auch: als eine Geſchichte der Perſonen, der Führer, beginnt ſie; im Anfang ſind die einzelnen Menſchen, die ihr das Ge⸗ präge geben, aufzuzählen. In und mit ihnen lebt die Sache, die ſie ſchufen. Dann verſchwinden die einzelnen hinter der Maſſe der Ge⸗ folgſchaft und das Perſönliche in der Größe und Bedeutung der Or⸗ ganiſation. Und in gleichem Maße verſchwindet die Möglichkeit, die 50 Jahre Frauenbewegung. 214 Geſchichte der Frauenbewegung als eine Linie zu ſehen, aus der als ihre Verzweigungen die zu ihr gehörigen Sonderbeſtrebungen her⸗ vorwachſen. Es entſtehen neue, mehr oder weniger unabhängige An⸗ fänge und Ausgangspunkte für neue Organiſationen. In der um⸗ faſſenden Vielgeſtaltigkeit der Arbeit, die in den Rahmen der Frauen⸗ bewegung fällt, der Ideen, die zu ihr gehören, lagen ja die Keime zu zahlreichen Einzelbeſtrebungen. Solche beſtanden in den neunziger Jahren in mannigfacher Form: als Berufsorganiſationen, als Frauen⸗ bildungsvereine — der Kampf um die Stellung der Frau im bürger⸗ lichen Geſetzbuch hatte die Rechtsſchutzvereine belebt, die Sittlichkeits⸗ frage war von einzelnen mutigen Frauen in Angriff genommen. Vom. Verband Frauenbildung⸗Frauenſtudium iſt ſchon die Rede geweſen.. In dieſen Stand der Dinge hinein kam die Anregung zur Gründung, des Bundes Deutſcher Frauenvereine. Sie kam von außen — durch deutſche Frauen, die gelegentlich der Weltausſtellung in Chikago eine ähnliche Organiſation amerikaniſcher Frauen kennen gelernt hatten, aber ſie bedeutete — den damaligen deutſchen Verhältniſſen angepaßt — den Anfang einer neuen Zuſammenfaſſung, die notwendig war, um die aus dem erſten Impuls allmählich herausgewachſenen ver⸗ ſchiedenartigen Beſtrebungen wieder als ideell eines Stammes zu charakteriſieren und zugleich die tatſächliche Macht der geeinigten deut⸗ ſchen Frauenbewegung in die Wagſchale werfen zu können. Der Allgemeine Deutſche Frauenverein ſtand damals (1894) vor der Frage, ob er ſelbſt ſich zu dieſer Organiſation erweitern, in ihr aufgehen wollte. Tatſächlich bildete er mit ſeinen Ortsgruppen und Mitgliedsvereinen den weitaus größten Verband, und es erſchien auch außerhalb ſeiner eigenen Kreiſe ſelbſtverſtändlich, daß ihm die Füh⸗ rung bei der neuen Gründung anvertraut wurde. Auguſte Schmidt war Leiterin der Gründungsverſammlung und erſte Vorſitzende des Bundes Deutſcher Frauenvereine. Aber der Allgemeine Deutſche Frauenverein war ſeiner Entſtehung und dem Geiſt ſeiner Arbeit nach eine innerlich ſo feſt gefügte Geſinnungsgemeinſchaft; er beruhte ſo ſehr nicht nur auf der Verfolgung gewiſſer gemeinſamer äußerer Ziele, ſondern auch auf einer beſtimmten Auffaſſung dieſer Ziele und der Wege, die zu ihnen führten, daß er ſeine durch faſt drei Jahrzehnte gefeſtigte Eigenart nicht aufgeben, ſondern vielmehr ſeine Aufgabe 50 Jahre Frauenbewegung. 215 darin ſehen wollte, innerhalb des Bundes in ſeinem Geiſte und auf ſeine Art zu wirken. So trat er als größter Verband in den Bund Deutſcher Frauenvereine ein, und während der erſten fünf Jahre waren Bund und Allgemeiner Deutſcher Frauenverein durch die Per⸗ ſonalunion in der Vorſitzenden verbunden. Der Bund Deutſcher Frauenvereine wurde das große Sammel⸗ becken für alles, was ſich in Deutſchland im engeren oder weiteren Sinne zur Frauenbewegung rechnen konnte, mit Ausnahme der Frauen, die im Zuſammenhang mit der ſozialdemokratiſchen Partei organiſiert waren. Wie allenthalben, ſo hielten auch in Deutſchland die ſozial⸗ demokratiſchen Frauen an der grundſätzlichen Abgeſchloſſenheit ihrer eigenen Bewegung im Rahmen der Partei feſt, das heißt an der Auf⸗ faſſung, daß die Klaſſenbewegung zur Befreiung ihres Geſchlechts ausreichend ſei und dahin führen werde. Später entſtanden neben dem Bunde die konfeſſionellen Organiſationen der evangeliſchen und der katholiſchen Frauenbewegung, begründet in der Auffaſſung der Frauenfrage als einer Kulturfrage, deren Löſung nicht ohne die fun⸗ damentale Mitwirkung letzter Weltanſchauungswerte erfolgen könne. Die raſche Entwicklung beider Organiſationen ſpiegelt wieder die ſtarken Lebenskräfte der Frauenbewegung. Der deutſch⸗evangeliſche Frauenbund gehört ſeit 1908 dem Bund Deutſcher Frauenvereine an, der katholiſche Frauenbund bleibt bis jetzt außerhalb der gemeinſamen Organiſation. Im übrigen bewies die Entwicklung des Bundes, daß er einem Bedürfnis entſprochen hatte. Er ſtieg in zwei Jahrzehnten von 65 Vereinen auf annähernd 60 Verbände mit etwa 3000 Zweigvereinen und über eine halbe Million Mitgliedern. Seine Geſchichte bewies aber auch, daß es richtig war, wenn der Allgemeine Deutſche Frauen⸗ verein ſeine gefeſtigte innere Einheit nicht aufgehen laſſen wollte in einer Organiſation, die — aus verſchiedenſten Richtungen zuſammen⸗ geſetzt — ſtets darauf angewieſen war, den Ausgleich zwiſchen ihnen zu ſuchen, und deren gemeinſamer Geiſt erſt allmählich und nur da⸗ durch wachſen konnte, daß ſich die geiſtigen Strömungen und praktiſchen Beſtrebungen, die er umſchloß, mit innerer Klarheit und Geſchloſſen⸗ heit nebeneinander zur Geltung brachten. Eine Konſequenz aber ergab ſich doch mit der Zeit für den All⸗ 50 Jahre Frauenbewegung. 216 gemeinen Deutſchen Frauenverein aus der weiteren Entwicklung der Dinge: die Notwendigkeit, ſeine Arbeit um einen beſtimmten ſach⸗ lichen Mittelpunkt zu konzentrieren. War er anfangs der alleinige Träger alles deſſen geweſen, was keimhaft in der erſten Gedanken⸗ bildung und praktiſchen Entfaltung der Frauenbewegung ſteckte, ſo mußte ſich die erneute Zuſammenfaſſung der ſelbſtändig gewordenen Einzelbeſtrebungen in anderen Formen vollziehen, als ſie ſeine Orga⸗ niſation bot. Man kann ſagen, daß es überhaupt keine „allgemeine Frauenbewegung“ mehr gibt, ſeit jedes ihrer Einzelgebiete ſpezieller Pflege bedarf, ſondern nur noch eine Gemeinſamkeit des letzten Ideals und einen äußeren organiſatoriſchen Rahmen, innerhalb deſſen alle praktiſche Arbeit Spezialarbeit ſein muß, um ſolide und wirkſam zu ſein. So entſchloß ſich der Allgemeine Deutſche Frauenverein im Jahre 1910, das Gebiet der kommunalen Frauenarbeit als ſein beſonderes Arbeitsgebiet zu wählen; er folgte damit ſowohl ſeiner Tradition, wie der ſchon vorhandenen Praxis ſeiner Ortsgruppen, wie auch dem Gedanken von der überwiegenden Wichtigkeit gerade dieſes Gebiets, das einer Zuſammenfaſſung noch entbehrte. Seitdem ſind wir „Verband für Frauenarbeit und Frauenrechte in der Gemeinde“, mit einer Zen⸗ tralſtelle für die Gemeindeämter der Frau in Frankfurt a. M., unter Leitung von Frau Apolant. Und ſowohl die Leiſtungen dieſer Zentral⸗ ſtelle für die geſamte Frauenbewegung, wie auch die bisherige Ent⸗ wicklung unſeres eigenen Verbandes haben uns bewieſen, daß wir mit dieſer Konzentration recht gehabt haben. Darin allerdings ſind wir nicht den Gefahren des Spezialiſten⸗ tums erlegen, daß wir nicht nach wie vor unſerer Einzelarbeit das große ideelle Programm der Frauenbewegung zugrunde legten, und uns deſſen bewußt wären, daß nur auf ſeiner Grundlage jede Einzel⸗ arbeit ihren Lebensodem bewahren kann. Das iſt durch das ſchon 1905 in Halle angenommene, ſeither unſeren Satzungen angefügte Programm des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins ausgedrückt, das die Richtlinien unſerer Arbeit enthält und das Bekenntnis zu den letzten Zielen, denen auch unſere Arbeit dient: der vollen Verwirklichung des weiblichen Bürgertums. Wir erfüllten nur eine Pflicht unſerer Tradition, als wir in unſer Programm das politiſche Frauenſtimm⸗ recht aufnahmen. Denn was im Rahmen der Organiſation der deut⸗ 50 Jahre Frauenbewegung. 217 ſchen Frauenbewegung erſt nach Erlaß des neuen deutſchen Reichs⸗ vereinsgeſetzes 1908 mit voller Kraft durch die neubegründeten Ver⸗ eine für Frauenſtimmrecht in den Vordergrund geſtellt werden konnte, das war doch ſchon von den Augen derer als letztes Ziel geſchaut, die im Jahre 1865 hier zuſammenkamen, wenn ſie ſich auch mit ihren aus⸗ geſprochenen Forderungen nach den Vorbedingungen der Zeit richten mußten. Ich bin am Schluß. Den ganzen Inhalt der deutſchen Frauen⸗ bewegung, die Fülle der einzelnen Fortſchritte, der Ziele, der Organi⸗ ſation in einem Überblick zu geben, iſt unmöglich. Wir wollten uns in dieſer Stunde nur der großen Linien erinnern, die unſere Bewegung mit der wirtſchaftlichen und kulturellen Geſamtentwicklung unſeres Vaterlandes verbinden, wir wollten insbeſondere uns die Stelle ver⸗ gegenwärtigen, die in der deutſchen Frauenbewegung der Verein ein⸗ nimmt, deſſen fünfzigjähriges Beſtehen wir heute feiern. Fragen wir uns, was wir gewonnen haben. Nach außenhin mag es noch wenig erſcheinen. Und trotzdem: ein halbes Jahrhundert zwiſchen jener Stunde, da die erſten deutſchen Frauen aus taſtend ergriffenen folgen⸗ ſchweren Gedanken das erſte Ziel der deutſchen Frauenbewegung in die Mitte einer kleinen Arbeitsgemeinſchaft ſtellten, und dem heutigen Tage, da wir über eine unabſehbare Blüte neuer Kräfte und Leiſtun⸗ gen hinſchauen, iſt vielleicht für geſchichtliche Wandlungen von dieſer Tragweite nicht zu lang. Und deſſen ſind wir gewiß: alles, was wir in dieſem halben Jahrhundert erarbeitet haben: an prakliſchen Erfolgen, an neuen Wirkensmöglichkeiten, aber auch an Klarheit über unſere Ziele und über das Weſen der Veränderung, die ſich in dem Anteil der Frau an der Kultur vollzieht, es iſt ein großes Erbe der Kraft und der inneren Sicherheit, das jeden weiteren Schritt feſter und ziel⸗ gewiſſer macht. Die deutſche Frauenbewegung iſt, wie die gleichen Entwicklungen anderswo auch, im Zeichen demokratiſch⸗liberaler Ideen zuerſt ins Leben getreten, fußend auf dem „Menſchenrecht“ der Frau. Sie hat im Laufe ihrer Geſchichte gelernt, hat die Einſeitigkeiten dieſes Ideals innerlich und äußerlich, praktiſch und gedanklich überwunden. Weil es den Frauen ernſt war mit dem Willen zu tatkräftigem Anteil an der Arbeit der ſo ſchnell entſtehenden modernen Geſellſchaft, einem Anteil 50 Jahre Frauenbewegung. 218 nach Maß und Weſen der beſten, entwickeltſten weiblichen Kräfte, ſo war ihr Auge empfänglich für die Tatſache, daß die Kulturſendung der Frau eine andere iſt als die des Mannes, und daß es heißt, dieſer beſonderen Sendung Geſtalt zu geben. Ankuüpfend an die Leiſtung der Frau in der Familie — die immer der Kern und das weſentlichſte Stück ihrer Kulturleiſtung ſein wird — fordert die deutſche Frauen⸗ bewegung, fordert insbeſondere unſer Allgemeiner Deutſcher Frauen⸗ verein heute — um es mit den Worten unſeres Programms zu ſagen — höchſtmögliche Entfaltung und freie ſoziale Wirkſamkeit der weib⸗ lichen Kulturkräfte. Sie verkennt keineswegs die ſchweren Probleme, die aus der Hereinziehung der Frau in die produktive Wirtſchafts⸗ leiſtung und aus den Rückwirkungen auf ihre Familienaufgaben ent⸗ ſtehen; ſie verkennt auch nicht, daß die neue geiſtige Fundierung der weiblichen Beſtimmung Konflikte und Entgleiſungen zur Folge haben kann und muß — aber ſie iſt unerſchütterlich davon überzeugt, daß der Weg, den ſie ſeit fünf Jahrzehnten durch dieſe Probleme hindurch ge⸗ ſucht hat, der richtige iſt, für die Frauen ſelbſt, wie — was mehr und größeres bedeutet — für das Vaterland. So ſtehen wir heute, da uns dieſes Wort „Vaterland“ mehr denn je erfüllt erſcheint von Verant⸗ wortlichkeit jedes einzelnen, mit vollſter innerer überzeugung zu unſe⸗ ren alten Idealen. Wir wiſſen, daß ihre Verwirklichung zu dem inneren Bau jenes größeren Deutſchland gehört, auf den wir nach dem Frieden hoffen. Möge dieſe Stunde uns helfen, den Willen dazu rein und klar und feſt zu machen und die Kräfte zu ſtählen. 219 Neujahr 1916. („Die Frau“, Januar 1916.) „Zwiſchen dem Schweigen der Sterne und Gräber das Ningen der Völker; die atemloſe Spannung rieſiger geſchichtlicher Umwälzungen“ — ſo leitete „Die Frau“ das neue Jahr 1915 ein, und ſo beginnt das neue Jahr 1916. Aber unverrückt wie dieſe ſtehen auch die an⸗ deren Worte da: „Die größte und ſicherſte Zukunft hat das Volk der lebendigſten Kräfte, des zäheſten Willens, das Volk, das die meiſten zu überperſönlicher Tat bereiten Menſchen hat.“ Unverrückt auch die Forderung an uns: „Je länger der Krieg dauert, um ſo zahlreicher und wichtiger werden die Aufgaben der Daheimgebliebenen. Um ſo mehr Ruhe, Überlegung und Selbſtbeherrſchung verlangen ſie. Die ſoziale Fürſorge, die Regelung der Volksernährung, die Aufrechterhal⸗ tung aller, auf die der Krieg ſeeliſche und wirtſchaftliche Laſten wälzt — alles das wird je länger je mehr Anſprüche an die Mitarbeit und Hilfe aller ſtellen.“ Für die „kommenden Monate“ glaubten wir damals dieſe Forde⸗ rungen und Anſprüche ſtellen zu dürfen. Aber es iſt gekommen, wie mit den Milliarden, die zur Kriegsführung gebraucht wurden: aus den erſten ungeheuren Summen, deren Höhe ſchon kaum vorſtellbar war, ſind ſteigend immer gewaltigere, immer unvorſtellbarere gewor⸗ den — und alle haben wir aus unſerem Volksvermögen aufgebracht. Und die Überwindung der erſten Organiſationsſchwierigkeiten mit der Brotverſorgung hat die Kraft gezeitigt, immer weiterer Schwierig⸗ keiten Herr zu werden, ſo daß wir heute mit vollem Vertrauen vor der Aufgabe ſtehen, wirtſchaftlich den Kampf durchzukämpfen, der die Heldentaten unſerer Heere begleiten muß. Aber dieſe „Hälfte unſeres Geiſtes“, die Kraft des äußeren Zwingens allein kann uns nicht retten. die andere alterprobte Kraft: die der Innerlichkeit muß aufgerufen werden. Ich gehöre nicht zu denen, die den Krieg als ſittlichen Erneuerer unſeres Volkes begrüßen oder auch nur für nötig halten. Wir ſehen ſchon jetzt an unerfreulichen Erſcheinungen, wie dem Lebensmittel⸗ wucher, der ſittlichen Verwahrloſung der Jugendlichen und noch un⸗ Neujahr 1916. 220 erfreulicheren — daß dieſe ſittliche Erneuerung ſich keineswegs in allen Schichten unſeres Volkes zeigt. Wir haben keine Urſache zu erwarten, daß nach dem Kriege ſich etwas vollziehen wird, was jetzt nicht ein⸗ tritt. Die ſittlichen Entwicklungen ſind meiſt viel weniger dramatiſch, viel einfacher und indirekter als wir ſie uns vorſtellen möchten. Außer⸗ ordentliche Zeiten heben vorübergehend auch ſchwache Menſchen über ſich ſelbſt hinaus; die plötzlich errungene Höhe zu halten, iſt nur wenigen von ihnen gegeben. Aber ſo wenig die großen Worte von dem ſittlichen Aufſchwung der Wahrheit ſtandhalten, ſo wenig war wohl die Vorausſetzung richtig, daß wir aus einem tiefen „Niedergang“ emporgeriſſen werden mußten. Dieſer beſondere Niedergang war nicht da. Wenn es manchen Beobachtern ſo ſchien — die immer um des Nachdrucks der eigenen Predigt willen abrunden und verallgemeinernd übertreiben — ſo lag das an der Beſchaffenheit der Menſchengattung, die ſich überall in den Vordergrund drängt, wo ſolche Beobachtungen gemacht werden. Es gibt eine Schicht der Obenſchwimmenden, deren Sichvordrängen das Kulturbild fälſcht, die Leute, die überall zu ſehen ſind, die das großſtädtiſche Kulturgeſchwätz betreiben, deren Sitten und Sittlichkeit ſich dem oberflächlichen Blick als Norm aufdrängt und zu peſſimiſtiſchen Schlüſſen verleitet. Aber das ſind ja gar nicht die Träger der eigentlichen Volkskraft. Sie ſind nur wie die angeklebte Faſſade des feſten Baus. Und darin liegt wohl die ſtärkſte Veränderung, die dieſe Zeit uns gebracht hat, daß ſie dieſe Leute in den Hintergrund geſchoben und die einfache wortloſe Tüchtigkeit in allen Schichten in ihrer Be⸗ deutung offenbart hat. Die ſtrengere, unerbittlichere Ausleſe der Fähigen und das nicht zu verhüllende Verſagen der Untüchtigen — das ſcheint mir die folgenſchwerſte ſittliche Wirkung des Krieges. Eine Wirkung nach doppelter Richtung, nämlich auf die Kraft⸗ verteilung ſelbſt und auf das allgemeine Urteil über Wert und Un⸗ wert. Der ſicherſte, unvergängliche Gewinn des Krieges liegt darin, daß neue Aufgaben von unvorhergeſehener Größe die herbeigerufen haben, die ohne die Stütze von Tradition und Gewohnheit etwas leiſten konnten und daß die automatiſch abgeſchoben wurden, die ohne dieſe Stützen und ohne einen unverdienten Nimbus nichts waren als 25 Jahre „Die Frau“. 221 ein „Stümpfchen Unſchlitt“, um Goethiſch zu reden. Dieſes große Gericht war aber zugleich eine Luftreinigung hinſichtlich des Urteils. Zu den größten Eindrücken des Krieges gehören die von der ſchlichten Tüchtigkeit, der einfachen geräuſchloſen Pflichterfüllung. Der Mann, der, glänzende Lebensausſichten im Stich laſſend, ſich einfach zur Ver⸗ fügung ſtellte, der Burſch, der ſein junges Leben ſelbſtverſtändlich ein⸗ ſetzt, die Frau, die ſtill und ohne Beſinnen die Doppellaſt der Arbeit auf ſich nimmt und mit letzter Kraftanſpannung durchſetzt — alle dieſe Tauſende, die das ganz Einfache tun, die ſich ohne Fragen und Klagen ganz und gar als Werkzeug des Ganzen hingeben, ſie waren uns eine unvergeßliche Offenbarung ſittlicher Kraft. Sie haben uns etwas gelehrt: den Wert ſolcher einfachen Pflichterfüllung gegenüber allem anſpruchsvollen Individualismus, aller unechten Intereſſantheit, die Bedeutung der Grundmauern gegenüber allem Schmuck der Faſſade. So erhebt ſich ein neues — nicht ein neues, aber ein vorher ver⸗ kanntes — Ideal aus der Kriegserfahrung, das im neuen Kriegs⸗ jahr jedem einzelnen von uns immer heller erſtrahlen möchte: ganz Grundmauer, ganz Kraft und Tat und Leiſtung ſein. Fünfundzwanzig Jahre „Die Frau“. („Die Frau“, September 1918.) Wenn der letzte Federſtrich an dieſer Nummer getan ſein wird, ſo hat „Die Frau“ fünfundzwanzig Jahre hindurch die Frauenbewe⸗ gung begleitet. Ein Vierteljahrhundert hat ſie in ſich aufgenommen, verarbeitet, an ihrem Teil wohl auch beeinflußt. Ich blättere in dieſen Jahrgängen mit dem ſeltſamen Gefühl, das uns überkommt, wenn die eigene Vergangenheit, fremd und vertraut zugleich, uns anſchaut. Lebendiger noch wird mir aus dieſen Heften die Vergangenheit als aus der Erinnerung an Arbeit, Verſammlungen, Vereine. Das wird daher kommen, daß in ihnen die Stimmen derer, die mit erlebt haben, das eigene Bild erweitern und beſeelen. Zuerſt die Zeit des Anfangs. Es gab damals außer den „Neuen 25 Jahre „Die Frau“. 222 Bahnen“ des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins keine Frauen⸗ zeitſchrift, die über das Unterhaltungsblatt hinausging. Ein paar mit Ernſt und hohem Idealismus begonnene Frauenblätter hatten vorzeitig ihr Erſcheinen einſtellen müſſen. Wo waren denn auch die Maſſen der Frauen, deren geiſtige Schulung ihnen die leichte Bewälti⸗ gung von ſachlich ernſthaften Aufſätzen geſtattete? Wo andrerſeits die, in denen ein neues Lebensideal ſchon zu arbeiten begonnen hatte und in denen wir daher ein Echo zu finden hoffen durften? Die Frauen⸗ bewegung war immer noch eine Sache von einzelnen, wenigſtens wenn man die ganz und gar Lebendigen und Ergriffenen, die Aktiven und Mitgeſtaltenden anſieht. Es gab natürlich viele, die ihre ſeeliſche oder äußere Not fühlten, und bereit waren, perſönlich neue Wege zu gehen. Es gab ſchon genug Berufstätige, die ihr Leben nach neuen inneren und äußeren Normen geſtalten mußten, und von denen man erwarten konnte, daß ſie Beratung, Beleuchtung eigenſter Lebensfragen freudig aufnehmen würden. Aber gab es ſchon einen Kreis, dem das alles nahe und wichtig genug war, um die Leſerſchaft einer Zeitſchrift zu bilden, die nicht als Vereinsblatt eine ſolche Leſerſchaft gewiſſermaßen zu ſich zwingen konnte und ſollte? Das war unſere Lebensfrage. „Die Frau“ iſt gegründet mit der doppelten Abſicht, die Frauenbewegung nach innen durchzuarbeiten und ihr nach außen größere Kreiſe zu gewinnen. „Gewinnen“ iſt dabei im Grunde kaum der richtige Ausdruck. Hätten wir zu Anfang nicht die Gewißheit beſeſſen, daß ſich mit der Folgerichtigkeit alles Le⸗ bendigen auch ohne unſer Zutun eine Entwicklung in den Frauen vollzog, ſo hätten wir die Arbeit nicht begonnen. Die Frauenbewe⸗ gung iſt nicht gemacht. Sie iſt geworden. Und was Ausſprache, Ziel⸗ ſetzung, ſtoffliche Erkenntnis bedeuten konnte, war nur Klärung, Zu⸗ ſammenfaſſung, Erhebung eines unbeſtimmt Gefühlten zur deutlichen Überzeugung, Bahnung der Wege, um dunkel Gewolltes in die Tat umzuſetzen. Dieſes Doppelziel der Verbreitung und Vertiefung der Gedanken der Frauenbewegung gleichzeitig zu erreichen, war nicht leicht. Wollte man auf Maſſen wirken, ſo hätte man Zugeſtändniſſe machen müſſen, die auf Koſten des Gehalts der Aufſätze gingen. Machte man keine, ſo konnte der Kreis zunächſt nur ein kleiner ſein, aber ein ſolcher, der 25 Jahre „Die Frau“. 223 fähig war, weiter zu wirken. Wir haben in voller Abſicht den zweiten Weg gewählt; denn das wichtigſte war zunächſt die innere Förde⸗ rung, die geiſtige Verarbeitung der kommenden Probleme durch ſolche, die ſie zu beeinfluſſen imſtande waren. Und wir haben dieſen Weg innehalten können, dank den treuen Freunden unſerer Sache und der weitherzigen Bereitwilligkeit des Verlags, die uns die äußeren Schwierigkeiten überwinden halfen. Wenn ich die alten Jahrgänge durchſehe, ſo wird mir ſelbſt wieder bewußt wie die Frageſtellung ſich allmählich verändert hat, beſtimmter, zugleich innerlicher und fachlicher geworden iſt. Was brachten wir zuerſt? Die erſte, allgemeine Faſſung der Idee, daß die Frau ein Menſch für ſich ſei, und ihr Menſchſein durch Bildung und Arbeit betätigen und bewähren müſſe, — ganz unabhängig davon, an welche Stelle das Schickſal ſie ſtellte. Daß dieſes ihr geiſtig⸗ſittliches Menſchentum aber auch ihr gegenüber anerkannt werden müſſe durch ihre Rechtsſtellung in Familie und Staat. Es galt, dieſen Gedanken immer wieder aus⸗ zuſprechen, ihn zu feſtigen durch ſeine Verknüpfung mit Weltanſchauung und Ethik, durch ſeine Anwendung auf ſoziale und wirtſchaftliche Tat⸗ ſachen. Auf jeder Stufe der Einſicht galt es weiter zu arbeiten. Wei⸗ ten Kreiſen mußte die einfache Forderung, ihre Töchter auszubilden, noch nahegebracht werden. Wir mußten Aufſätze bringen, deren Titel ſchon uns heute verſchollen anmuten: „Allein durchs Leben“ — „Alte Jungfern“ — „Das Recht auf Arbeit“ und ähnliches. Wir mußten die einfachſten Angaben und Mitteilungen über Erwerbsmöglichkeiten aufnehmen, die heute ſelbſtverſtändlichſten Forderungen der Mädchen⸗ erziehung in Familie, Schule, Beruf erörtern. Wir mußten vor allen Dingen Mut machen, Selbſtvertrauen ſtärken, Entſchlußfähigkeit wecken. Man muß heute lächeln, wenn man in der Abteilung „Frauen⸗ leben und⸗Streben“ (heute heißt dieſelbe Abteilung „Zur Frauenbewe⸗ gung“) winzigſte kleine Erfolge gewiſſenhaft verzeichnet findet. Da⸗ mals haben wir ſozuſagen die Sandkörner gezählt und konnten es noch: jedes Oberlehrerinnenexamen, jede Promotion, jede Armen⸗ pflegerin, jedes ermutigende und anerkennende Wort, jeden männ⸗ lichen Anhänger von irgendwelchem Gewicht. Aber „Die Frau“ ſollte gleichzeitig ein Zeitſchrift für die Führen⸗ den ſein, unſere Probleme durchdenken, die Kenntnis unſerer Arbeits⸗ 25 Jahre „Die Frau“. 224 gebiete erweitern helfen. Man kann an ihren Jahrgängen dieſe innere Entwicklung verfolgen: wie aus den erſten einfachen allgemei⸗ nen Grundſätzen die Problematik herauswuchs, wie die eine ungeglie⸗ derte, einfache Frauenbewegung verſchiedene Antworten auf die glei⸗ chen Fragen aus ſich heraustrieb, wie ihre Grundſätze, indem ſie ſich entfalteten und vertieften, ſich voneinander trennten. Die Prinzipienkämpfe: um Beruf und Mutterſchaft, um Menſchen⸗ rechtliches und weibliche Beſtimmung, um ſexuelle Freiheit und Ver⸗ antwortung kennzeichnen eine zweite Periode der „Frau“ — das zweite Jahrzehnt. Waren wir erſt ungeſchieden und einfach „Frauen⸗ bewegung“, ſo wurden wir nun Vertretung beſtimmter Auffaſſungen. Man nannte die in der „Frau“ vertretene Richtung „die gemäßigte“ — eine Kennzeichnung, die vielleicht ſchon heute den Leſer etwas be⸗ fremdet. Ich habe ſelbſt nie recht gewußt, womit ich ſie verdient habe: durch die Abneigung gegen alles bloße Zetern oder durch den Inhalt unſerer Anſchauungen. Dieſer aber iſt durch das Wort „gemäßigt durchaus nicht gekennzeichnet. Wir haben niemals aus Opportunismus oder Taktik auf die Ausſprache von Überzeugungen verzichtet, die uns gewiß geworden waren. Wir haben niemals mit Forderungen zurück⸗ gehalten, die wir für notwendig hielten. Wenn man in der Frauen⸗ bewegung eine Stufenleiter von radikalen, radikaleren und radikalſten Forderungen aufbauen will, ſo hat „Die Frau“ zweifellos auch an denen Teil gehabt, die in dieſer übrigens unſinnigen Gruppierung auf der oberſten Spitze ſtehen: das Stimmrecht zum Beiſpiel. Aber wir haben allerdings alle Forderungen aus zwei Grundſätzen entwickelt: dem der weiblichen Sonderbeſtimmung in der Kultur (im Gegenſatz zu den menſchenrechtlichen Gleichheitstheorien) und dem der ſozialen Verantwortung (im Gegenſatz zur individualiſtiſchen Freiheitstheorie). Von dieſen beiden Grundſätzen aus ſind alle Probleme von uns durch⸗ gearbeitet. Sozialpolitiſches iſt im Laufe der Zeit ſtärker in den Vordergrund gerückt. Damit wurde „Die Frau“ fachlicher. In den erſten Jahren mußten dieſe Aufſätze mehr dem allgemeinen Zweck ſozialer Erweckung und Geſinnungsbildung dienen. Für Fachliches — eine national⸗ ökonomiſch gehaltene Begründung ſozialer Forderungen — fehlte im Leſerkreiſe die Schulung. Wie ſehr ſie allmählich gewachſen iſt, läßt 25 Jahre „Die Frau“. 225 ſich an der wachſenden Sachlichkeit der Aufſätze von Schritt zu Schritt feſtſtellen. Man hatte andere Mitarbeiter und konnte den Leſern anderes zumuten. Es iſt heute lehrreich, zu ſehen, wie ſich im Laufe eines Vierteljahrhunderts die Sprache verändert hat, die man zu den Frauen ſprechen kann, wie ſelbſtverſtändlich das Verſtändnis für Be⸗ griffe geworden iſt, die man früher mit langen Erklärungen verſehen mußte. Es iſt wirklich feſtzuſtellen, daß die Frauen — oder doch ein größerer Teil von ihnen — in Welten heimiſch geworden ſind, die ihnen früher fremd und unverſtändlich waren. Wachstum iſt überhaupt der Eindruck, den die Rückſchau immer wieder in neuen Zügen vermittelt. Die einzelnen Fragen ſelbſt: der Erwerbstätigkeit, der ſozialen Fürſorge, werden vom Kleinen und Einzelnen ins Große und Allgemeine geführt — rücken aus der Enge des individuellen Schickſals oder Arbeitsgebietes in die Weite ſozialer und politiſcher Betrachtung. Und dabei ſcheint mir doch, als ob das Weſentliche gelungen ſei: das Feſthalten der weiblichen Gefühls⸗ einſtellung zu dem allen, das die Erſtarrung im Nurwiſſenſchaftlichen oder Nurorganiſatoriſchen verhütet. Schließlich kommt ja darauf alles an, ob die Frauen, indem ſie in die männliche oder richtiger die bisher vom Manne geſtaltete Welt hineinwachſen und deren Methoden ſich zu eigen machen, ihr Eigenſtes nicht verlieren und verwiſchen laſſen. Unſere Mitarbeiter. Es ſind nahezu alle Frauen darunter, die im Rahmen unſerer Anſchauungen an der Frauenbewegung mitgear⸗ beitet haben. Der Rahmen iſt dabei weit gezogen — politiſch oder welt⸗ anſchauungsmäßig ſehr anders gerichtete finden ſich darin zuſammen. Viele von ihnen — aus der erſten und auch ſchon aus der zweiten Generation — ſind ſchon dahingegangen. Wir hatten in der erſten Zeit mehr männliche Mitarbeiter. Daß ihre Zahl zurückgegangen iſt. iſt nicht Prinzip, ſondern Folge der Tatſache, daß auf allen Gebieten die weiblichen Kräfte erſtanden und zu Wort kommen ſollten. Als wir anfingen, hätte man eine Zeitſchrift nicht mit weiblichen Mit⸗ arbeitern durchführen können. Jetzt kann ſie ihrem weſentlichen Zweck, Stimme der Frau zu ſein, ohne Mühe genügen. Ich muß einiger von ihnen beſonders gedenken. Von Männern half uns anfangs die Generation des deutſchen Kulturliberalismus: der feinſinnige Georg von Bunſen, Joſeph Kohler, Wilhelm Förſter. Lange, Kampfzeiten. II. 15 25 Jahre „Die Frau“. 226 Max Haushofer, Theobald Ziegler, Otto Pfleiderer, denen ſich aus dem Auslande noch Harald Höffding geſellte. Später ſind es mehr die Schüler des „Kathederſozialismus“, die mit uns ſoziale Frauenpro⸗ bleme durcharbeiteten: Nobert Wilbrandt, Heinz Potthoff und andere. Im literariſchen Teil iſt uns Ernſt Heilborn eine weſentliche Stütze ge⸗ weſen, iſt uns auch Felix Poppenberg bis zu ſeinem frühen Tode treu geblieben. Die Frauen waren immer eine innere Gemeinſchaft. Ich brauche über den Eintritt meiner jetzigen Mitherausgeberin in den Mit⸗ arbeiterkreis unſeren Leſern nichts zu ſagen. Sie wiſſen, was ſie be⸗ deutet hat: die lebensvolle Verknüpfung mit der neuen Zeit, der jungen Generation, die es macht, daß eine 25 Jahre beſtehende Zeit⸗ ſchrift keine Alterserſcheinung zeigt. Und ſo ziehen die anderen an mir vorüber: Auguſte Schmidt, Helene Adelmann, Marie von Ebner⸗ Eſchenbach, Frieda von Bülow, Charlotte Broicher, Jeannette Schwerin, Ika Freudenberg — und alle, die heute noch zu uns gehören: Marianne Weber, Adele Gerhard, Marie von Bunſen, Emmi Lewald, E. Vely, Eliſabeth Siewert, Ida Boy⸗Ed, Helene Simon, Alice Salo⸗ mon, Hedwig Heyl, Helene Herrmann, Agnes Bluhm, Joſephine Levy⸗ Rathenau, Eliſabeth Altmann⸗Gottheiner, S. D. Gallwitz, M. E. Lüders, Anna Pappritz, Roſa Mayreder und viele andere. Indem ich mir ihre Mitarbeit vergegenwärtige, kommt ein Gefühl des Glückes und der Dankbarkeit über mich dafür, daß wir mit einem Kreis arbeiten, dem die innere und äußere Führung der Frauen⸗ entwicklung heute in großem Maße anvertraut iſt. So ſoll das zweite Vierteljahrhundert beginnen. Noch liegt un⸗ erſchöpflich Unerreichtes, Ungelöſtes vor uns. Noch — und gerade während der Zeit des Wiederaufbaues — bedarf die Stimme der Frauen ihrer beſonderen Stelle, an der ſie zu Gehör kommt. Noch iſt der innere Ausbau unſerer Überzeugungen nicht abgeſchloſſen. Noch heißt es auch für uns: „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag! 227 Rechtsfrieden? („Die Frau“, November 1918.) Der Bund deutſcher Frauenvereine hat folgende Erklärung erlaſſen: „Die deutſchen Frauen haben auf die Entſcheidungen, die in dieſen Tagen getroffen werden, keinen Einfluß. Wenn trotzdem der Bund deutſcher Frauenvereine ein öffentliches Bekenntnis ſeiner Stellungnahme ablegt, ſo geſchieht es, um dem ſtummen Gefühl von Millionen Frauen Ausdruck zu geben, und aus dem Bewußtſein heraus, daß wir in dieſem Augenblick der Geſchichte unſeres Vater⸗ landes ein Zeugnis der Frauen ſchuldig ſind. Die deutſchen Frauen haben in dieſem Kriege eine Notwendigkeit geſehen, die unſerem Vaterlande in einer durch die Macht geſtalte⸗ ten und beherrſchten Welt zur Verteidigung ſeines Daſeins und ſeiner Entwicklung aufgezwungen war. In dieſer Überzeugung haben ſie einmütig der Aufgabe nationaler Verteidigung gedient und alle Wünſche und Hoffnungen ſich fern gehalten, die ihre Kraft ſchwächen und ihren Willen lähmen konnten. In mehr als vier Jahren des Blutvergießens, Jahre, in denen Gatten und Söhne ſich in heldenhaftem Kampf gegen eine ganze Welt an unbegrenzten Fronten geopfert haben, Jahre, in denen die Grau⸗ ſamkeit der Vernichtungsmittel über alles Maß hinausgeſtiegen iſt. in denen die völkerrechtswidrige Blockade des überlegenen Feindes die Kraft der Frauen und die Geſundheit der Kinder in qualvollem Ertragen zerrieben hat — in dieſen Jahren haben die Herzen deut⸗ ſcher Frauen unter der Herrſchaft des Machtprinzips in der Welt millionenfach geblutet. Wie ſollten ſie ſich nicht dem Gedanken, die Geſchicke der Menſch⸗ heit und die Beziehungen der Völker auf die Grundlage der Freiheit und der Gerechtigkeit zu ſtellen, als einer neuen ſchönen Hoffnung zu⸗ wenden? Auf keinem Volk der Erde — ſo ſagt uns die harte Geſchichte unſeres Vaterlandes — hat der Druck des Kampfes um ſeine bloße Exiſtenz ſchwerer gelaſtet, von keinem hat er größere Opfer verlangt, 15* Rechtsfrieden? 228 keinem Volk könnte die Befreiung von dieſer bitteren Notwendigkeit eine willkommenere Entlaſtung gewähren. Als Frauen und als Deutſche ſehen wir in dem Völkerbund, der die Entwicklung der eigenartigen Kräfte der Nationen, ihre Freiheit ſicherſtellt ge⸗ gen die brutale Macht, einen Verſuch, für deſſen Gelingen wir auch unſere Kraft aus vollem Herzen einſetzen möchten. Wir glauben, daß nur ein neuer Beginn in einem neuen Geiſt uns erlöſen kann von der verzehrenden Laſt des Haſſes und der Lei⸗ denſchaften, die die Welt verwüſtet haben. Aber wirkönnenkein Vertrauenhaben zu einem Völkerbund, der begründet iſt auf der zertretenen deutſchen Ehre. Wir können kein Vertrauen haben zu einem Völkerbund, der ſeinem Eintritt in die Geſchichte die Flut von Beſchimpfungen voraus⸗ ſchickt, die ſich in dieſen Wochen über das deutſche Volk ergoſſen haben. Wir können kein Vertrauen haben in einen „Rechtsfrieden“, der als erſte Bedingung dem deutſchen Volk die Zumutung ſtellt, ſeine inneren Angelegenheiten unter dem Drucke äußerer Macht zu regeln. Wir können einem Programm, das für das Recht der Nationali⸗ täten eintritt, nicht glauben, wenn es zugleich die Preisgabe deutſcher Menſchen und alter Stätten deutſcher Kultur und Arbeit an fremde Staaten einſchließen ſollte. Wir vermögen den neuen Geiſt der Gerechtigkeit nicht zu erkennen. wenn dem deutſchen Heer die Notwendigkeiten militäriſcher Verteidi⸗ gung moraliſch zur Laſt gelegt werden, denen alle Heere ihre Maß⸗ nahmen unterworfen haben. Wir vermögen den Namen eines Rechtsfriedens nicht anzuerkennen für Bedingungen, die nur den Zweck haben können, den Unterlegenen die Macht des Siegers fühlen zu laſſen. Ob das deutſche Volk ſich dieſer Macht zu erwehren vermag — das zu beurteilen, müſſen wir Regierung und Heeresleitung überlaſſen. Aber wir proteſtieren gegen die Unwahrhaftigkeit, die einen ſolchen Gewaltfrieden mit dem Prinzip des Rechts umkleiden will. Die deutſchen Frauen halten es für eine Forderung der natio⸗ Rechtsfrieden? 229 nalen Selbſtachtung und für eine Pflicht gegen die Toten, die reinen Willens für die Ehre des Vaterlandes geſtorben ſind, daß das deutſche Volk ſich keinen Maßnahmen beugt, die den Charakter der „Beſtra⸗ fung“ tragen. Ehe das deutſche Volk Bedingungen auf ſich nimmt, die das Andenken ſeiner Toten verleugnen und ſeinem Namen einen unauslöſchlichen Makel anheften, würden auch die Frauen bereit ſein, ihre Kräfte für einen Verteidigungskampf bis zum äußerſten einzu⸗ ſetzen.“ Der Vorſtand des Bundes deutſcher Frauenvereine. J. A.: Dr. Gertrud Bäumer. Mit dieſer Erklärung hat der Bund deutſcher Frauenvereine der geſchichtlichen Pflicht genügt, die in dieſem Augenblick ein Zeugnis darüber verlangt, wie die Frauen dieſes ſchwerſte und gewaltigſte Stück deutſcher Geſchichte erleben, und wie ihr Wille und ihre Ge⸗ ſinnung dieſer Stunde unerhörter Entſcheidungen gegenüberſteht. Die Organiſation der deutſchen Frauenbewegung, d. h. aller der Frauen, die ſich in einem neuen Sinne ihrer ſtaatsbürgerlichen Ver⸗ antwortung bewußt ſind, hat damit dem Gefühl Ausdruck gegeben, das Millionen deutſcher Frauen in dieſen Wochen bis in die Tiefen hinein bewegt und aufgewühlt hat. An einer Wende der Welten mußte die Stellung der Frauen zu dem Neuen ſich vorbereiten — die Warnung der Frauen vor einer empörenden Verfälſchung einer großen, erlöſenden Möglichkeit ausge⸗ ſprochen werden. Dieſe Aufgaben erfüllt die Erklärung. Sie iſt nach innen und außen, dem eigenen Gewiſſen, der Regierung, der Welt gegenüber ein Bekenntnis und ein Dokument. Was haben wir durchgemacht in dieſen Wochen! Den Verzicht auf den Sieg. Viele von uns haben nie gewagt, ganz daran zu glauben. Als im Auguſt 1914 Schlag auf Schlag die Welt einen geſchloſſenen Ring der Feindſchaft um uns bildete, da haben wir alle uns die bange Frage gegenſeitig verhüllt: werden wir uns auch nur verteidigen, unſere Grenzen ſchützen können? Als der Fort⸗ gang des Krieges die Schlagkraft unſerer Heere und die Größe ſeiner Führer gewaltiger zeigte, als wir zu erwarten ein Recht hatten, iſt unſere Zuverſicht gewachſen. Aber mit unſerer Kraft wuchs die Zahl Rechtsfrieden? 230 und wuchſen die Machtmittel der Gegner. Und hundertmal mußten wir uns in dieſen vier Jahren des Standhaltens ſagen, daß das deutſche Volk Übermenſchliches leiſte — das deutſche Volk draußen und drinnen, im Kämpfen und Entbehren. Und ebenſo oft mußten wir uns fragen, wie lange wir — abgeſchloſſen, mit ſchwindenden Roh⸗ ſtoffen und zerrieben von Entbehrung — dieſen Rieſenkampf gegen die unerſchöpflichen Machtmittel einer ganzen Welt würden beſtehen können. Wenn wir jetzt vor uns und der Welt eingeſtehen: wir können nicht mehr ſiegen, wir können uns nur noch verteidigen, ſo wollen und dürfen wir uns dabei aus allem Schmerz und aller Enttäuſchung her⸗ aus ſagen: dieſes Eingeſtändnis iſt dem Sieger keine Ehre und uns keine Schande. Wir dürfen uns aus dem Schmerz, daß in dem von uns gehofften Sinn alles umſonſt war, erheben durch das Bewußt⸗ ſein, daß niemals ein Volk in der Geſchichte an ſtrategiſchem Geiſt, an zäher, organiſatoriſcher Bewältigung immer neuer Rohſtoffſchwie⸗ rigkeiten, an Aushalten in Hunger und ungeheuerſter Arbeitsan⸗ ſpannung Ähnliches geleiſtet hat. Auch das endliche Verſagen der Kraft an dieſer oder jener Stelle kann die unüberſehbare Summe der Leiſtungen nicht nennenswert herabſetzen. Das iſt es, was wir uns heute vor Augen halten müſſen — das iſt es, was uns ſtark machen muß gegen den Anſturm der Schmähungen, die unſere Selbſt⸗ achtung erſchüttern ſollen. Tiefer und brennender noch als der Schmerz des Verzichtes hat uns die Sorge um den Schutz unſerer nationalen Würde bewegt. Millionen deutſcher Seelen haben einen geiſtigen Schützengrabenkampf beſtanden in dieſen Wochen — haben in bitteren Stunden immer von neuem ihre Selbſtachtung zurückgewonnen unter dem Trommelfeuer der De⸗ mütigungen. Aber dieſes Trommelfeuer hat uns einen Dienſt geleiſtet: es hat uns ganz ſicher gemacht, daß wir eher das Letzte daran ſetzen, als unter dem Druck von Friedensbedingungen weiter leben können, die unſere nationale Ehre antaſten, die uns der Würde berauben. Dieſe Gewißheit beſtimmt unſere Stellung zu den Friedensver⸗ handlungen. Aus dem Chaos der Zerſtörung und der Leidenſchaften erſteht der Gedanke des Rechtsfriedens und des Völkerbundes — der Gedanke der Neuordnung der Menſchheit im Zeichen nicht der Macht, ſondern der Gerechtigkeit. Rechtsfrieden? 231 Dem Frauengefühl liegt dieſer Gedanke nicht fern. Was die Frauen an Achtung und Kultureinfluß in der Welt bisher erreicht haben, haben ſie dem Machtprinzip abringen müſſen. Sie wiſſen, daß ihre Geſchicke nur in dem Maße wohl aufgehoben ſind, als das Recht des Stärkeren dem Recht des Edleren Platz macht. Die deutſche Frauenbewegung hat ſchon vor dem Kriege immer wieder jedem Verſuch ihre Sympathie bewieſen, der auch im Verkehr der Völker den Entſcheidungen des Rechts vor denen der brutalen Macht den Vorrang ſichern wollte. Sie iſt durch ihre Vertretung im Bund deutſcher Frauenvereine oft genug ausdrücklich für den Friedens⸗ gedanken eingetreten. In den hinter uns liegenden vier Jahren, in denen unſere Kraft der nationalen Verteidigung gehörte, iſt der Ausdruck dieſes Gedan⸗ kens zurückgetreten. Die Frauen aller Länder glichen der „gefeſſelten Mutter“, jener Statue Sindings von der Frau mit in Ketten ge⸗ ſchloſſenen Händen, die ihrem Kinde die Nahrung gibt. Wir konnten nicht Friedenspropaganda treiben, denn wir ſahen, wie jedes Wort aus ſolchem Geiſt den Vernichtungswillen der Feinde ermutigte, wie jedes Symptom menſchlicher Geſinnung, jeder Ausdruck des Leidens unter der raſenden Vernichtung triumphierend aufgegriffen und durch die Blätter der Feinde als Zeichen beginnender Zermürbung geſchleppt wurde. Alle Frauen in allen Ländern ſind verſtummt, um das Vater⸗ land nicht zu ſchädigen, um ſeinen Verteidigungswillen nicht zu ſchwächen, während draußen keineswegs die Weltgerechtigkeit, ſondern der Vernichtungswille auf das Erlahmen der Kraft wartete. Und nun taucht der Gedanke der Menſchheitseinigung auf, und es wird uns geſagt, daß er dem Frieden die Form geben ſoll. Die Frauen aller Länder werden — ſie können nicht anders — auf dieſem Wege eine Hoffnung ſehen. Mit ſo viel Fragen und Zwei⸗ feln man der Verwirklichung einer durchgreifenden Rechtsgemeinſchaft der Völker gegenüberſteht, die unausſprechliche Völkerzerfleiſchung der letzten Jahre fordert den Verſuch — den ehrlichen Verſuch unter Mit⸗ arbeit alles Geiſtes, alles guten Willens, aller Geduld, aller Hoff⸗ nungen und aufbauenden Kräfte, deren die Menſchheit fähig iſt. Wir Alten, die keine Zukunft mehr vor ſich ſehen, deren Wurzeln in der Welt haften, die wir — ſo oder ſo — hinter uns laſſen, werden Rechtsfrieden? 232 hier keine Vollendung, ſondern nur Anfänge erleben. Aber man könnte ſich noch einmal wiederaufrichten — man könnte das qual⸗ volle Gefühl unermeßlicher und ſinnloſer Opfer überwinden, wenn dieſes Neue irgendwo, irgendwie Geſtalt zu gewinnen begönne; wenn über den blutigen Feldern der ſittliche Wille der Menſchheit ſich auf ſich ſelbſt beſänne und das Recht und die Koſtbarkeit des Lebens end⸗ lich auf den Altar erheben wollte. Statt deſſen ſollen wir den Völkerbundsgedanken erkennen in den Noten, in denen der Präſident der Vereinigten Staaten das deutſche Friedensangebot beantwortete. In jenen Noten, die das deutſche Volk zum alleinigen Sündenbock einer Welt machen, die von der Macht regiert war, und in der alle Völker unter dem Geſetz der Macht ſtan⸗ den und handelten. In dieſer erziehlichen Abrechnung, die keinen Zug von jener Achtung vor der Perſönlichkeit der Nation verrät, deren Intaktheit die Grundlage einer Völkergemeinſchaft ſein müßte, wie er die Grundlage jeder anſtändigen Menſchengemeinſchaft iſt. In jenen Noten, die dem deutſchen Volk die Proſtitution ſeiner Ehre zu⸗ muten, die darin liegt, daß es das Recht auf die Regelung ſeiner inne⸗ ren Angelegenheiten dem Sieger verkaufen ſoll. Indem wir uns auflehnen gegen die Verletzung der nationalen Ehre, die in dieſen Zumutungen liegt, kämpfen wir zugleich für die Reinheit des Gedankens einer Rechtsgemeinſchaft der Völker. Aus ungeheurem Schickſal iſt dieſer Gedanke als erlöſende Hoff⸗ nung entſtanden. Die Sühne für millionenfachen Tod ſoll in ihm liegen. Es wäre der größte Zynismus, den die menſchliche Geſchichte jemals zu verzeichnen gehabt hat, wenn er Mittel würde, um die Ausnutzung des reinſten Gewalterfolges, den die Geſchichte kennt, den Erfolg von „allen gegen einen“, mit einem ethiſchen Gewand zu um⸗ hüllen. Kommt die Rechtsgemeinſchaft der Völker in dieſer Entſtellung, als Mittel unlösbarer Knebelung des Beſiegten, dann lohnt es, den letzten Blutstropfen für die Freiheit auf der Erde hinzugeben. Denn was nachher kommt, lohnt das Leben nicht mehr. Dem deutſchen Geiſt iſt der Gedanke der Völkergemeinſchaft nicht fremd. Diejenigen, aus denen wir immer noch unſere Kraft ſchöpfen, die Führer des deutſchen Idealismus, haben an ihn geglaubt. Sie haben mit dieſem Glauben den anderen verbunden: daß im Kultur⸗ Die ſchwerſte Stunde. 233 austauſch der Menſchheit der deutſche Gedanke ſeine beſondere Miſſion — wie andere Völker die ihre — zu erfüllen hätte. Man hat es uns verargt, daß wir dieſen Glauben teilten, ja daß wir unſere nationalen Ziele im Menſchheitsleben in das Zeichen dieſes Gedankens ſtellten. Wir wiſſen, daß alldeutſche Plumpheit viel an dem Mißverſtehen dieſer Miſſion in der Welt verſchuldet hat. So wie unſere geiſtigen Führer ſie wollten, halten wir ſie gleichwohl feſt. Keine Herabſetzung kann uns den Glauben an die Aufgabe des deutſchen Volkes im Menſchheits⸗ leben nehmen. Die Begründung einer wahren Rechtsgemeinſchaft der Völker, die uns befreit von der Notwendigkeit der Machtbehauptung, kann ſie uns nur beſſer erfüllen helfen. Aber eben darum können wir nicht als Gezeichnete in den Bund der Völker eintreten. Wer das nicht fühlt, der löſt ſich innerlich von dem ſtolzen Erbe deutſchen Geiſtes: „Wo Freiheit und Selbſtändigkeit klar ausgeſprochen, und doch mit offenen Augen Verzicht auf ſie getan und ſie zum bloßen Mittel der Unfreiheit herabgewürdigt wird, wo die Nationaleigentümlichkeit, als die Bedingung der Entwicklung, in fremde Feſſeln geſchlagen wird: da hat ein Staat öffentlich das Siegel der Verwerfung ſich ſelbſt aufge⸗ drückt.“ (Fichte: Begriff des wahrhaften Krieges.) 22. Oktober 1918. Die ſchwerſte Stunde. („Die Frau“, Juni 1919.) 13. Mai 1919. Die ſchwerſte Stunde deutſcher Geſchichte. Und doch für viele von uns nicht die hoffnungsloſeſte. Die hoffnungsloſeſte Zeit liegt — we⸗ nigſtens in ihrer ſchlimmſten Form — hinter uns. Die Zeit, in der jedes Gefühl für die Nation erloſchen ſchien, in der alles nur auf Be⸗ täubung, Genuß, auf die eigenen, die Klaſſen⸗ und Parteiintereſſen gerichtet war, und das Wort „Deutſchland über alles“ hohnvoll nieder⸗ geſchrien wurde — in der alle, die anders empfanden, nichts tun konnten, keine Aufgabe hatten, als warten und zuſehen. Heute iſt wieder ein Ziel da, an dem, und ſei es nur zu moraliſcher Stellung⸗ Die ſchwerſte Stunde. 234 nahme, die Geiſter ſich ſammeln können. Und wir erleben die Zeug⸗ niſſe tiefinnerlicher Treue, mit der die Volksgenoſſen, die den ſkrupel⸗ loſen Siegern überantwortet werden ſollen, lieber Verderben und Un⸗ tergang mit uns teilen wollen, als ſich von uns trennen. Heute haben wir eine Pflicht übernommen, deren Erfüllung uns wieder das Recht geben würde, das Haupt höher zu halten als ſeit lange. Die Durchführung unſeres Entſchluſſes wird ſehr hart ſein. Aus⸗ ſicht auf äußere Hilfe haben wir nicht. Kaum auf eine moraliſche Unterſtützung der Neutralen. Kein Volk wird ſich um uns ernſtliche Ungelegenheiten bereiten. Es geſchehen keine Wunder in der modernen politiſchen Welt; es zieht niemand ſein Schwert mehr, auch nicht im geiſtigen Sinne des Proteſtes, mit dem Ruf „Gott will es“. Wir ſind nur auf uns ſelbſt geſtellt. Und von all unſeren reichen, ſo unerſchöpf⸗ lich ſcheinenden Hilfsmitteln blieb uns nur eines. „Ruf ich die Gott⸗ heit um ein Wunder an? Iſt keine Kraft in meiner Seele Tiefen?“ So iſt auch heute die Frage zu ſtellen und in gleichem Sinne zu beantwor⸗ ten: Uns hilft einzig und allein die Kraft, die trotz allem in unſerem Volke lebt. Dieſer Winter hat in vielen den Glauben daran zerſtört; dieſer ſchlimmſte Frühling darf ihn vielleicht wieder aufbauen — wenn wir „durchhalten“ — durchhalten in ſo ganz anderem Sinne als ihn das Wort Jahre hindurch getragen hat. Wenn wir den ungeheuerlichen Rechtsbruch, der an uns begangen wird, wenn wir die Verurteilung zum jahrzehntelangen Todeskampf mit Entſchiedenheit zurückweiſen und die Vergewaltigung der Selbſtpreisgabe vorziehen. Aber was wird dann aus uns werden? Dieſe Frage vieler iſt nicht richtig geſtellt. Es handelt ſich nicht um „uns“ im Augenblick. Es handelt ſich um die Zukunft. Dieſe Zukunft, wie ſie die Friedens⸗ bedingungen zeichnen, iſt ſo furchtbar, daß die Flüche von verſklavten Generationen uns treffen müßten, wenn wir nicht die letzte Kraft des Proteſtes aufböten, ihnen zu begegnen. Gewiß, die „chriſtlichen“ Staatsmänner, die uns jetzt wehrlos in unbarmherzigen Händen hal⸗ ten, werden jede Marter anwenden, die ihnen unſere Zermürbung verſpricht. Die Illuſion, daß auch nur einer unter ihnen, wenn es nicht etwa ſein Vorteil verlangt, ſich für das Recht einſetzt, dieſe Illuſion iſt wohl in uns allen in dem Augenblick geſchwunden, als das in ſechs⸗ Die ſchwerſte Stunde. 235 monatlicher Arbeit durch Haß und Gier und trunkene Gewalt zuſam⸗ mengeſchmiedete ſchändliche Schriftſtück erſchien, das den Wilſonſchen „Rechtsfrieden“ enthält. Wir haben — das zeigt die während dieſer ganzen Zeit einem ſchon halbverhungerten Volk gegenüber aufrecht⸗ erhaltene Hungerblockade, das zeigt die Mißhandlung unſerer wehr⸗ loſen Gefangenen — das Ärgſte zu gewärtigen. Aber das Ärgſte wäre nicht ſo arg, als wenn wir uns ſelbſt verlören und die Schmach auf uns nähmen, mit dieſem „Frieden“ das Leben des heranwachſenden Geſchlechts zu knebeln, zu lähmen, zu töten. Denn das Leben, das ihm bleibt, iſt der Tod. Wir aber wollen mit unſerem „Nein“ für das unbefleckte Fort⸗ leben alles deſſen ſorgen, was als geiſtige Keimmaſſe in unſer Volk gelegt und von Geſchlecht zu Geſchlecht weiter gegeben iſt. Wir haben in jener entſcheidenden Auguſtwende, wo wir die Erſtickung der deut⸗ ſchen Nation durch die von allen Seiten herandrängenden Millionen der Feinde vor uns ſahen, die jetzt ſo ganz unſchuldig ſind, Gewalt der Gewalt entgegenſetzen müſſen. Heute bleibt uns nur noch der Kampf in den Lüften — nicht mit dem Flugzeug des Maſchinenzeit⸗ alters, ſondern mit dem alten geiſtigen Rüſtzeug, das uns von jeher die vorderſte Reihe im Geiſterkampf geſichert hat. Dies Rüſtzeug darf nicht verſagen! Es muß uns die Kraft geben, die große, mutige, cha⸗ raktervolle Entſcheidung unſerer Volksvertretung zu beſtätigen und zu rechtfertigen. Heute nacht fiel mir ein Erlebnis ein. Es iſt ſo ziemlich ein halbes Jahrhundert her, daß ein alter Direktor uns jungen angehenden Leh⸗ rerinnen die Nachtſtunden des 10. Auguſt 1813 ſchilderte — jene Stun⸗ den, als die Vertreter Preußens und Öſterreichs auf dem Prager Friedenskongreß beieinander ſaßen, voll Angſt, daß noch in letzter Stunde Napoleon das Metternichſche Ultimatum annehmen und damit einen ſchwächlichen Frieden beſiegeln und die Vereinigung Preußens und Öſterreichs verhindern werde. Mir iſt noch der Eindruck lebendig, wie dem alten Manne vor Erregung die Stimme brach bei der Schil⸗ derung, wie mit dem Glockenſchlage 12 Preuße und IÖſterreicher ein⸗ ander in die Arme fielen und Wilhelm von Humboldt hinauseilte, um auf dem Hradſchin das Feuerſignal zu entzünden, das, über Schle⸗ Das Verſagen. 236 ſiens Berge fortgeleitet, dem preußiſchen Heer den Wiederbeginn des Krieges verkünden ſollte! Wir können auf keine entſcheidende Wendung durch Kampf und Sieg mehr hoffen. Aber ein Gefühl ſolcher Erlöſung wie damals iſt doch über uns alle gekommen, als die Zeitung das einmütige „Nein“, den großen Tag der deutſchen Volksvertretung bekundete. Und alle, alle einig! „Nur Therſites allein noch krächzt unmäßig Geſchwätz her“ — was tut's? Aber der Abſchluß, den die parlamentariſchen Bräuche der Alten noch geſtatteten: „Aus der Verſammlung geſtäupt mit ſchmählichen Geißelhieben“ hatte doch etwas Herzerfriſchendes. Wenn dieſe Ausführungen erſcheinen, werden wir vermutlich ſchon etwas klarer über die nächſte Zukunft ſein. Aber das Entſchei⸗ dende hat dennoch der 12. Mai gebracht: er hat uns wieder eine Auf⸗ gabe geſtellt, an der wir groß werden können. Nun mag der Haß tun, was die geſchichtliche Vernunft ihm zu tun erlaubt: an uns iſt es, das Recht, nicht die Vergewaltigung als herrſchendes Prinzip in der Völkergemeinſchaft durchzuſetzen und damit für die kommenden Geſchlechter die Zukunft zu ſichern. Das Verſagen. („Die Frau“, Juli 1919.) Die Hoffnung, die ich im Juniheft an dieſer Stelle ausſprach, iſt zerſtört. Das deutſche Volk hat am 22. Juni nicht die Kraft ge⸗ funden, die es ſich in der Entſcheidung vom 12. Mai zutraute. Der Wille iſt ſeitdem unterwühlt, teils durch eine gewiſſenloſe oder liſtige Agitation, teils durch die Müdigkeit des Volkes ſelbſt, das, trotz aller großen Kundgebungen, als Ganzes nicht mehr fähig war, den Ge⸗ danken an Wiedereröffnung des Kriegszuſtandes zu ertragen. So ſetzen wir unſere Unterſchrift unter unſeren Sklavenbrief, und zugleich, in⸗ dem wir uns als die allein Schuldigen bekennen, unter die ungeheuerſte Lüge der Weltgeſchichte, die Bosheit und Rachſucht nur ausdenken konnte. Das Verſagen. 237 Dieſer Brief kann nicht mehr ſein als ein Fetzen Papier. Wir haben beteuert, daß ſeine wirtſchaftlichen Forderungen tatſächlich unerfüllbar ſind. Erzwingt man gleichwohl die Unterzeichnung, ſo iſt unſer Wort⸗ bruch nicht freiwillig. Seine moraliſchen Forderungen ſind ein gewalt⸗ tätiger Zwang zu einer ungeheuerlichen Treuloſigkeit. Es iſt höchſte ſittliche Pflicht, ſich dieſem Zwang zu entziehen. Seine politiſchen For⸗ derungen ſchlagen dem Selbſtbeſtimmungsrecht der Völker, dem Grund⸗ ſatz nationaler Zuſammengehörigkeit ins Geſicht. Es iſt Pflicht und innerſte Notwendigkeit zugleich, die Kraft zu erhalten, die dieſe Forde⸗ rungen einmal wieder ſprengt. So ſehen wir ſelbſt die Verpflichtung an, die uns unſere Unter⸗ ſchrift auferlegt. Es gibt niemand in Deutſchland, der ſie anders be⸗ trachtet. Es ſollte keinen anſtändigen Menſchen in der ganzen Welt geben, der uns in anderer Weiſe für gebunden hält. Was nun? Es wird ſchwer ſein, uns vor der Selbſtverachtung zu bewahren, die bei Durchführung dieſes Vertrages uns überwältigen muß. Schwer, ein Volk, das Unſittliches tun, ſich Unſittliches gefallen laſſen muß, bei geiſtiger Kraft zu erhalten. Wir müſſen es verſuchen. Im Vollbewußt⸗ ſein der Schwere unſeres Kampfes. Noch wiſſen wir nicht mehr, als daß dies notwendig iſt. Die Wege liegen dunkel vor uns. Noch einmal wird das Chaos uns bedrohen. Wir werden mit unſerem „Ja“ zu den Friedensbedingungen den revo⸗ lutionären Willen nicht entſpannen. Er wird ſich erſt recht zu einem neuen Verſuch aufraffen, ermutigt, verſtärkt durch die Zuſammenbruch⸗ ſtimmung, die infolge der Unterzeichnung unſer Volk notwendig er⸗ greifen muß. Haben wir doch unſere vollkommene Schwäche nun rück⸗ haltlos bekannt. Wenn es gelingt, durch dieſe nächſte Zeit hindurchzukommen, ohne daß noch mehr äußerlich und ſeeliſch zerſtört wird, dann wird ſich all⸗ mählich unſer Weg erhellen. Noch iſt es zu früh, Richtlinien ziehen zu wollen, den Grundriß für den neuen Aufbau klar zu ſehen. Noch ſtehen uns Monate bevor, in denen es heißt, von der Hand in den Mund leben, das Nächſtliegende tun. Und vor allen Dingen: Ruhe erkämp⸗ fen. Unſer Volk, von oben bis unten, von den Verantwortlichen bis zu den Maſſen, bedarf der Ruhe, und wenn der Weltgeiſt die Mittel Das Verſagen. 238 hätte, uns für eine Weile in einen traumloſen Schlaf zu verſenken, ſo müßte ſeine Barmherzigkeit es uns ſchenken. Einmal aber werden wir wieder ſtark ſein. Kein Volk iſt noch an einer Revolution oder an einem Krieg wirklich zugrunde gegangen. Vielleicht treibt die Überſpannung des Siegesrauſches den Schritt der Weltgeſchichte zu raſcherem Tempo. Bis dahin heißt es: bereit ſein. Die erſte Bedingung dafür iſt Sachlichkeit und kühles, leidenſchafts⸗ loſes Urteil. Wir haben durch unſere Unterzeichnung den unheroiſchen Weg gewählt. Nun muß er gegangen werden. Wir ſind die Unterle⸗ genen, und leidenſchaftliche Handlungen und Worte gehören nun nicht mehr zu uns. Sie müſſen gezügelt werden, um nicht jede erſtarkende Kraft gleich wieder in neuem Widerſtand zu verzetteln. Das Werk unſerer Regeneration iſt nun ein lang ausſchauendes; es muß groß und weiſe angelegt werden. Gebe Gott, daß die Kraft der berufenen Führer zu dieſer Weisheit reicht. Vor allem aber auch: Frieden nach innen. Heute muß für alle überhaupt verantwortungsbewußten Menſchen die Befeſtigung der inneren Einheit oberſtes Geſetz ſein. Wir haben keine Kraft zu inne⸗ rer Zerſplitterung übrig. Es muß Brücken geben über alle Gegenſätze, — ſie zu bauen ſind insbeſondere auch die Frauen berufen. Die Zu⸗ ſammengehörigkeit muß zum Bewußtſein kommen, die Notwendigkeit des Zuſammenhalts muß gefühlt werden. Wie ſollen wir das Wich⸗ tigſte und zugleich Bedrohteſte — das Zuſammenbleiben des Reiches — erhalten, wenn das Deutſchſein uns nicht höher ſteht als Parteien, Einzelforderungen, wirtſchaftliche und innerpolitiſche Intereſſen. Dies Zuſammenhalten bedarf heute des Kitts einer ſtarken Geſinnung, die ſich den Gegenſätzen gegenüber aber auch wirklich als Kraft bewährt, nicht in Gehäſſigkeit umſchlägt an den Grenzen der eigenen Partei. Wie ſoll das Deutſchtum der von uns getrennten Volksgenoſſen ſtark bleiben, wenn nicht ein Strom von ungetrübtem nationalen Bewußt⸗ ſein über die Grenzen flutet, wenn nicht im Kern der deutſchen Heimat es dennoch heißt: Deutſchland, Deutſchland über alles — über Partei und Klaſſe! An dieſem Geiſt zu arbeiten iſt ſchon heute möglich, wenn wir auch im einzelnen den Weg noch nicht ſehen. Nicht der großen Worte bedarf dieſe Arbeit. Wir ſind müde ge⸗ worden an großen Worten. Sie ſind behaftet mit Mißtrauen und Frauen und Frauenweltbund. 239 Engherzigkeit. Aber jeder für ſich kann ſie wortlos durchführen, indem er jede Handlung und jede Stunde in das Licht des Bewußtſeins rückt: daß wir, um wieder zu erſtarken, um einmal wieder Politik machen zu können, vor allem einig ſein müſſen. Die deutſchen Frauen und der Frauenweltbund. („Die Frau“, Auguſt 1920.) Der Bund deutſcher Frauenvereine hat den Beſchluß gefaßt, die Generalverſammlung des Frauenweltbundes in Chriſtiania nicht zu beſchicken. Der Beſchluß wird ſelbſtverſtändlich einer Kritik über die eigenen Reihen hinaus unterworfen werden, in der vorausſichtlich ſowohl für als wider dieſe Entſcheidung Stellung genommen wird. Daher ſoll er auch hier beleuchtet werden. Für viele deutſche Frauen iſt eine Begründung dieſer Entſcheidung überhaupt überflüſſig. Es iſt ihnen nicht nach Internationalismus im Augenblick zumute. Not und Demütigung unſeres Vaterlandes erfüllt ihre Seele ſo ganz, daß ihnen die Aufgabe, mit den Frauen des Auslandes über irgendwelche Frauenangelegenheiten zu diskutieren, ſehr fern liegt und ſehr unweſentlich erſcheinen muß. Andere wieder ſehnen ſich nach dem Augenblick, der die inter⸗ nationale Gemeinſchaft der Frauen wiederherſtellt und die Möglichkeit gibt, wieder in einer vom Haß befreiten Luft miteinander zu atmen. Sie fühlen etwas Großes und Befreiendes in der Wiederaufnahme der internationalen Arbeit. Gefühle der einen oder der anderen Art, ſo ſehr wir ſie verſtehen, dürfen aber in dieſer Frage nicht maßgebend ſein. Sie darf — ſo oder ſo — nicht aus ſubjektiven Stimmungsmomenten, ſie muß nach tieferen und grundſätzlicheren Überlegungen entſchieden werden. Wenn es objektiv richtig für die deutſchen Frauen iſt, in die internationale Gemeinſchaft wieder einzutreten, müßten auch die das Opfer bringen, denen alles andere heute innerlich näher liegt, als eine Tagung des Frauenweltbundes. Und wenn andererſeits die politiſche Lage es Frauen und Frauenweltbund. 240 richtiger erſcheinen läßt, wenn die Deutſchen diesmal noch der Tagung fern bleiben, dann müſſen die international geſinnten ihre Gefühle zügeln. Bei allen dieſen Fragen internationaler Gemeinſchaft ſteht für uns Deutſche die Tatſache im Vordergrund, daß wir von den Regie⸗ rungen der feindlichen Staaten — und doch auch wohl von den Völ⸗ kern! — als eine Nation zweiter Güte (in moraliſcher Hinſicht) ange⸗ ſehen werden, und daß man daraus das Recht ableitet, uns en canaille zu behandeln. Die im diplomatiſchen Verkehr von Sieger und Beſiegten unerhörte Tatſache, daß unſere Delegation in Verſailles von den Vertretern der Entente nicht einmal in den Formen einer normalen menſchlichen Höflichkeit begrüßt wurde, erlaubt uns nicht, einen anderen Ausdruck für unſere Rolle zu wählen: „en canaille“. Auch bei der Verabſchiedung haben die Franzoſen an dieſem Ton feſtgehalten — äußeres Symbol für alle diejenigen Beſtimmungen des Friedensvertrages, die reine Demütigung ſind, insbeſondere der Aus⸗ ſchluß vom Völkerbund. Dieſe Geſinnung kommt auch bei den freien internationalen Gemeinſchaften zum Ausdruck. In der parlamen⸗ tariſchen internationalen Union haben ſich einige Vertreter feindlicher Länder geweigert, mit Deutſchen zuſammenzukommen, und die daraus entſtehenden Schwierigkeiten ſind in dieſem Jahr nur dadurch über⸗ wunden, daß man auf die Tagung überhaupt verzichtete. Sogar die Chirurgen haben ſich geweigert, mit Deutſchen auf einem internatio⸗ nalen Kongreß zuſammenzutreffen. Um ſo mehr — ſo wird mancher ſagen — ſollten wir dahin gehen, wo man anders denkt und uns haben will. Es iſt keine Frage, daß das im Frauenweltbund der Fall iſt. Alles deutet darauf hin. Im Programm von Chriſtiania wird von den drei Begrüßungsanſprachen der Norwegerinnen die eine in deutſcher Sprache gehalten werden. Für die Vorſtandsämter ſind zwei Deutſche ſogar von den National⸗ bunden der feindlichen Länder mit vorgeſchlagen. Dem Frauenwelt⸗ bund liegt ohne Zweifel daran, wieder eine wahrhaft internationale Gemeinſchaft zu ſein, und darum Deutſchland voll und ganz einzu⸗ ſchließen. Sollen wir nicht die dargebotene Hand mit Freuden er⸗ greifen? Es kann ſelbſtverſtändlich keine Rede davon ſein, daß der deutſche⸗ Frauen und Frauenweltbund. 241 Bund etwa ſeine Mitgliedſchaft im Frauenweltbund aufgibt oder unterbricht. Es kann ſich nur um die Frage handeln, ob es richtig iſt. jetzt dieſe Tagung zu beſuchen. Ihre Vorausſetzung iſt Friede. Für uns iſt noch kein Friede. Nicht, ſo lange uns in jedem Augenblick der Einmarſch droht, wenn ſich eingegangene Verpflichtungen als unerfüllbar erweiſen. Nicht, ſo lange feindliche Beſatzungen noch ganz andere Ziele verfolgen als die der bloßen militäriſchen Sicherung der Erfüllung von Friedensbedin⸗ gungen. Nicht, ſo lange eine franzöſiſche Propaganda ſich in deutſches Gebiet einzufreſſen bemüht. Ihre Vorausſetzung iſt Gleichberechtigung. Wir ſind durch den Frieden von Verſailles und alles, was ſich daran angeſchloſſen hat, aus der Geſellſchaft der anſtändigen Leute ausgewieſen. So lange man uns ausſchließt, werden auch wir uns ausſchließen müſſen, wenn wir von irgend jemandem vor die Frage internationaler Zuſammen⸗ arbeit geſtellt werden. Es iſt eine politiſche Oberflächlichkeit, zu ſagen, daß die Frauen der Länder, die dieſe Einſchätzung uns gegenüber an den Tag legen, an dieſer Stellung keine Verantwortung trifft. Das konnte man ſagen, ſo lange die Frauen außerhalb der Politik ſtanden. Heute aber nicht mehr. Darum iſt die unklare Vorſtellung, als ob die Frauen rein als ſolche ſchon in einer anderen als der politiſchen Sphäre zu⸗ ſammenträfen, heute unhaltbar. Wenn der Frauenweltbund ſich auf den Boden der Gleichberechtigung Deutſchlands ſtellen will, muß er es ausſprechen. Er muß es um ſo mehr tun, wenn Anträge ſeiner Tagung ſich mit dem Völkerbund befaſſen, für den Deutſchland noch nicht würdig befunden iſt. Die Friedenskommiſſion ſoll, einem engliſchen Antrag zufolge, „Völkerbundskommiſſion“ umgetauft werden. Einem nor⸗ wegiſchen Antrag zufolge ſoll ein Internationales Erziehungsbüro als Teil der League of Nations von dem Frauenweltbund angeregt und mitbegründet werden. Ein italieniſcher Antrag ſchlägt eine Kommiſſion. des J. C. W. vor, die nur aus Frauen ſolcher Nationen beſtehen ſoll, die der League of Nations angehören. Nun liegen zwar zu all dieſen Anträgen ſchon Amendements anderer Nationalbünde vor, die ver⸗ ſuchen, ihnen die (ſelbſtverſtändlich nicht beabſichtigte) Spitze gegen Lange, Kampfzeiten. II. 16 „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit.“ 242 Deutſchland abzubrechen. Aber ſo lange dieſe Anträge noch nicht abge⸗ ſtimmt und damit die Stellung des Frauenweltbundes noch nicht aus⸗ geſprochen iſt, kann der deutſche Bund zweierlei nicht wiſſen: 1. will der Frauenweltbund die Umgeſtaltung der League of Nations zu einem wahren Völkerbunde? 2. will er, ſo lange dieſe League of Nations eine Machtkoalition, aber kein Völkerbund iſt, offizielle Be⸗ ziehungen zu ihr vermeiden? Es iſt nicht nur ein Gebot der Selbſt⸗ achtung, ſondern es iſt auch taktiſch richtiger, wenn wir den Frauen⸗ weltbund dieſe Frage entſcheiden laſſen, ehe wir und ohne daß wir an ſeinen Verſammlungen teilnehmen. Das Fernbleiben Deutſchlands von dem Kongreß in Chriſtiania wird im Frauenweltbund ohne Zweifel bedauert werden — nicht nur von den uns freundlich geſonnenen unter den neutralen Bünden. Auch den anderen iſt es begreiflicherweiſe lieber, wenn der Riß wieder geſchloſſen erſcheinen kann. Aber gerade deshalb ſoll der deutſche Bund durch ſein Fernbleiben Zeugnis dafür ablegen, wie ſchwer wir an der Deklaſſierung durch den Frieden von Verſailles tragen, und daß wir gegen ſie proteſtieren. Die Frauen unſerer Feinde müſſen wiſſen, daß ſich über die ungeheure Ungerechtigkeit dieſes Friedens nicht ſo leicht eine Brücke bauen läßt. Daß wir das bei dieſer Gelegen⸗ heit vor der ganzen Welt zum Ausdruck bringen — indem wir natür⸗ lich zugleich der Idee des Frauenweltbundes treu bleiben und unſere Mitgliedſchaft aufrecht erhalten — iſt viel wichtiger und notwendiger, als daß wir dort dieſe oder jene freundliche Beziehung knüpfen, da⸗ für aber in einer unklaren und unwahrhaftigen Lage ſind. „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit.“ („Die Frau“, November 1920.) Auf der Tagung des deutſchen Vereins für das höhere Mädchen⸗ ſchulweſen, die Anfang Oktober in Kaſſel ſtattfand, hat Herr Direktor Lenſchau ſich in einem Vortrag ſcharf gegen den Anſpruch der Lehre⸗ rinnen auf Klaſſen⸗ und Schulleitung im Mädchenſchulweſen gewandt. „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit.“ 243 „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit müſſe entſcheiden,“ an dieſem alten bewährten Grundſatz werde der deutſche Verein auch in Zukunft feſthalten. Nun, in dieſem Zugeſtändnis liegt immerhin ein Fortſchritt im Verhältnis zu der Meinung, die ſeinerzeit Herr Profeſſor Lenſchau als Wortführer des Philologenverbandes verlautbarte, als er die Un⸗ terſtellung von Männern unter weibliche Leitung deshalb ablehnte, weil ein ſolcher Zuſtand das Autoritätsverhältnis des Oberlehrers zu ſeiner eigenen Ehefrau gefährden könnte. Die Revolution hat alſo auch bei den Gegnern der weiblichen Leitung einige ſanfte Spuren hinterlaſſen. „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit.“ Das Schlagwort hat einen Nimbus von Sachlichkeit und Gerechtigkeit um ſich, der ſehr geeignet iſt, viele zu blenden. Als allgemeinen Grundſatz der Berufs⸗ ausleſe können wir Frauen ihn uns um ſo eher gefallen laſſen, als er uns gegenüber noch erſt ſehr kümmerlich durchgeführt iſt und wir in ſeinem Zeichen immerhin noch allerhand Siege erkämpfen könnten. Es wird doch vielleicht auch im deutſchen Verein für das höhere Mädchen⸗ ſchulweſen niemand behaupten wollen, daß die Schulleitung bisher nach Maßgabe der vorhandenen geeigneten Perſönlichkeiten ohne Rückſicht auf das Geſchlecht beſetzt iſt. Die Tatſache, daß kaum ein Dutzend öffentlicher Lyzeen in ganz Deutſchland unter weiblicher Lei⸗ tung ſtehen, dürfte wohl auch die naivſte Überheblichkeit nicht aus dem Umſtand erklären, daß mehr geeignete Perſönlichkeiten nun einmal leider unter den Oberlehrerinnen nicht zu finden geweſen ſeien. (Aller⸗ dings verſucht Herr Direktor Winter in München, wo der Anſpruch der Frauen auf weibliche Beſetzung einer ſtädtiſchen höheren Mädchen⸗ ſchule mit Frauenſchule abzuwehren iſt, allen Ernſtes den Beweis zu führen, daß geeignete Frauen dafür in Bayern noch nicht zu finden wären! — wobei die Eignung des Mannes für die Frauen⸗ ſchule ſo ſelbſtverſtändlich angenommen wird, daß ſie nicht einmal als Problem berührt wird.) Es würde alſo zunächſt der Satz „nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit“ den Einfluß der Frauen auf die Mädchenbildung ſehr erheblich erweitern können, wollte man ihn nur ernſthaft durchführen! Das darf uns trotzdem nicht dazu verleiten, unſer Ziel an der 16 „Nicht das Geſchlecht, ſondern die Perſönlichkeit.“ 244 Mädchenſchule dieſem Satz anzuvertrauen. Die Perſönlichkeit, nicht nach dem Grade, aber nach dem Weſen ihrer Eignung wird eben doch durch das Geſchlecht mitbeſtimmt. Im Geſchlecht als ſolchem liegt unter Umſtänden das Weſentliche der Eignung beſchloſſen. Es iſt ſehr merk⸗ würdig, daß gerade in den Kreiſen, in denen ſonſt mit der „weiblichen Eigenart“ ſehr ſtark operiert wird, dieſe Tatſache plötzlich ausſchaltet, wenn ſich Anſprüche der Frauen daraus ableiten laſſen. Im Ge⸗ ſchlecht liegt das Weſentliche der Eignung für die Erziehung von Mäd⸗ chen beſchloſſen, und darum gehört prinzipiel! Klaſſenführung und Schulleitung an Mädchenſchulen in weibliche Hand. Daran kann die Tatſache, daß auch Männer geeignete Erzieherperſönlichkeiten für Mädchen ſein können, nichts ändern, ebenſowenig wie der Umſtand, daß Lehrerinnen manchmal ausgezeichnet mit Knaben umgehen können, an der Durchführung des gleichen Prinzips in den Knabenſchulen etwas ändert. Die Erziehung von Kindern zu der in ihnen angelegten ſeeliſchen Form bedingt nun einmal eine Fühlung, die nur das eigene Geſchlecht gibt. Darum, ſo notwendig die Einwirkung von Lehrer⸗ perſönlichkeiten des anderen Geſchlechts bei Knaben und Mädchen iſt, für gewiſſe zentrale Erziehungsaufgaben iſt die Geſchlechtsgleichheit einfach Bedingung. Es gibt Gebiete des ſeeliſchen — und körperlichen — Lebens, auf denen der Lehrer das Mädchen ſo wenig führen kann wie die Lehrerin den Knaben. Leider laſſen ſich auch Lehrerinnen durch die Scheingerechtigkeit des von dem deutſchen Verein vertretenen Ausleſcprinzips blenden. Sie bedenken gar nicht, was ſie eigentlich damit zugeſtehen. Es klingt ſo plauſibel, daß, wenn ein tüchtiger Mann und eine wenig tüchtige Frau ſich um eine Schulleitung bewerben, es doch richtig ſei, den tüch⸗ tigen Mann zu nehmen. Nein, richtig iſt, nach der tüchtigen Frau zu ſuchen. Es muß ſie geben. Es ſei denn, daß die Lehrerinnen als Geſamtheit nicht imſtande ſeien, die für die Mädchenbildung not⸗ wendige Zahl von Leiterinnen zu ſtellen. Wenn man das annimmt, dann allerdings ſoll man ſich auf das Prinzip der „geeigneten Per⸗ ſönlichkeit“ zurückziehen. Dann braucht man es. Wenn man aber der Meinung iſt, daß die erziehliche Leiſtungsfähigkeit der Lehrerinnen den Anſprüchen an leitende Stellungen, die im Rahmen der Mädchen⸗ ſchule entſtehen, gewachſen iſt, dann ſage man ruhig: Die Leitung Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 245 gehört prinzipiell der Frau. Für jeden Mann, dem wir die Eignung zuſprechen, findet ſich eine Frau, die um ſoviel höher geeignet iſt, weil ſie Frau iſt. Darum muß vom Frauenſtandpunkt aus an dem Anſpruch auf die erziehliche Führung im Mädchenſchulweſen feſtgehalten werden. Wer es nicht tut, ſtellt ſeinem Geſchlecht ein Armutszeugnis aus und verſtärkt in unverantwortlicher Weiſe die Front, die im bitteren Kon⸗ kurrenzkampf eines verarmten Volkes ſich ſowieſo gegen die Frauen aufrichtet. Das wäre eine klägliche Kapitulation angeſichts neuer Möglichkeiten endlichen Sieges! Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. („Die Frau“, Juni 1921.) In der traulichen Geborgenheit der thüringiſchen Wälder, in die das kleine Friedrichroda damals noch ganz eingebettet lag, ſind zu Pfingſten 1890 die deutſchen Lehrerinnen zum erſtenmal zuſammen⸗ gekommen, um ſich über Wege und Endziel der Mädchen⸗ und Frauen⸗ bildung zu beraten. Nur die Mutigſten waren dem Ruf dorthin ge⸗ folgt, nur ſolche, die der feſten Überzeugung waren, daß die Bildung der Frau andere Wege zu ſuchen hatte, als die männliche Pädagogik und die ihr folgende ſtaatliche Autorität ihr anwies, daß unſerer ſcheinbar ſo hoch entwickelten Mädchenſchule das fehlte, was ſie erſt zur Stätte wirklicher Frauenbildung machen konnte: der beſtimmende Fraueneinfluß in Zielſetzung, Erziehung und Methode. Wie groß die Ketzerei war, die in dieſen wenigen Worten liegt, das ſagte die Kölner Theſe des deutſchen Vereins für das höhere Mädchenſchulweſen, die, zwiſchen den Bezeichnungen „zuläſſig“ und „unentbehrlich“ durch⸗ lavierend, den Fraueneinfluß auf der Oberſtufe der Mädchenſchule nach wildem Widerſtand einer ſtarken Gruppe von Oberlehrern end⸗ lich mit dem farbloſen „wünſchenswert“ bezeichnet hatte — das ſagten die Eiſenacher Beſchlüſſe des gleichen Vereins (1888), die das Über⸗ Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 246 wiegen des männlichen Einfluſſes auf der Oberſtufe als Forderung aufſtellten. Das war zum letzten Weckruf geworden; jetzt ſchweigen, hieß zugleich ſein Gewiſſen zum Verſtummen bringen. Sie ſtehen mir noch lebendig vor Augen: ſie, mit denen ich dieſe Pfingſtverſammlung einberufen, ſie alle, mit denen ich ſie durchleben durfte. In meinen „Lebenserinnerungen“ habe ich verſucht, ihr An⸗ denken feſtzuhalten; hier möchte ich ſagen, wie weit jene erſten Tage richtunggebend geworden ſind für die drei Jahrzehnte, auf die der Verein jetzt zurückblickt. Da war vor allem eines, das, mir ſelbſt überraſchend, in den Reden und eifrigen Debatten jener erſten Pfingſtverſammlung zutage trat: ſtatt des verdroſſenen, mutloſen Tagewerkens, des gleichgültigen Dahintrottens auf gebahnten Wegen, das mir bei Mußlehrerinnen in gedrückter Stellung oft ſo hoffnungslos entgegengetreten war, ein freudiges Bekenntnis zum Erzieherberuf, ein bewußtes Erfaſſen der beſonderen Aufgabe der Frau auf dieſem ihrem ureigenſten Gebiet, und die Fähigkeit, die Wege und Methoden zu finden, die zu ihrer Löſung führen mußten. Und wenn mir auch während unſerer Verhandlungen ſtets im Bewußtſein blieb: es iſt eine Ausleſe der deutſchen Lehre⸗ rinnen, die hier verſammelt iſt, ſo wußte ich doch zugleich: dieſe leben⸗ dige Kraft wird andere, noch gebundene Kräfte löſen, wird den Mut⸗ loſen ein Ziel, den Gleichgültigen einen Lebensinhalt zeigen. Es war mir damals ſchon ganz ſicher, faſt wie ein ſeheriſcher Eindruck, was ich dreißig Jahre ſpäter als Ergebnis dieſer Verſammlung buchen durfte: „So iſt Friedrichroda die Geburtsſtätte eines neuen, aus geiſtig⸗ſittlichem Grunde ſtammenden Berufsgefühls geworden; die eigentliche Geburtsſtätte des deutſchen Lehrerinnenſtandes. Nicht als „Gehilfin, die um ihn ſei“, als Führende fühlten wir uns auf unſerem beſonderen Gebiet. Wir fühlten, weit über das hinaus, was wir ſatzungsmäßig ausſprechen konnten, daß gerade wir Lehrerinnen das entſcheidende Gewicht in die Wagſchale der Frauenbewegung zu werfen hatten, daß wir es ſein mußten, die der Frau die Leitung der Mädchenerziehung und ⸗bildung erkämpften, damit ſie die beſon⸗ deren Frauenkräfte in der weiblichen Jugend löſe, ſie vom Echo zur Stimme mache. Wir wußten, daß wir an der Schwelle einer Ent⸗ wicklung ſtanden, die einen bedeutſamen Abſchnitt der menſchlichen Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 247 Geiſtesgeſchichte einleiten mußte: die Einführung neuer produktiver Kräfte in eine einſeitig orientierte Welt. Dieſe Entwicklung herauf⸗ führen zu helfen, dafür fühlten wir uns freudig in erſter Linie mit⸗ verantwortlich. Das war unſer Dienſt der Idee, das der verjüngende Quell, aus dem der Allgemeine Deutſche Lehrerinnenverein die Jahr⸗ zehnte ſeiner Wirkſamkeit hindurch geſchöpft hat, das das Freimaurer⸗ zeichen, das Geheimnis von Friedrichroda.“ Ich würde bei dieſen Entſtehungstagen des Vereins nicht ſo lange verweilt haben, wenn ſie nicht tatſächlich den unverrückbaren Stand⸗ punkt geſchaffen hätten, von dem aus der Allgemeine Deutſche Lehre⸗ rinnenverein ſeine Kreiſe zog. Keine Feindſchaft der offiziellen Päda⸗ gogik, die ihm von Herzen zuteil wurde, kein Spott, kein „beleidigtes Mannesgefühl“, auch keine gelegentliche Verwirrung in den eigenen Reihen hat ihn dem Glauben abwendig gemacht, daß die Erziehung der Mädchen in die Hand der Frau gelegt werden muß, wenn ſie wirklich zur Frau, auch mit der geiſtigen Sonderart ihres Geſchlechts erzogen werden und damit den Einfluß auf die Geſtaltung des Ge⸗ meinſchaftslebens gewinnen ſoll, den wir zum Wohl des Ganzen wünſchen müſſen. In ungezählten Aufſätzen und Flugſchriften, Reden und Eingaben iſt dieſer leitende Gedanke von ſeinen Mitgliedern ver⸗ treten worden; immer bewußter hat er ſich auch in das Herz der Jüngeren geſenkt, wenn auch zeitenweiſe die einſeitig männliche Leitung ihrer Lehrſtunden und Studien ſie verwirrt hatte. Erſt im ſtillen ge⸗ pflegt, iſt der Gedanke durch die Vereinsverſammlungen in die Groß⸗ ſtadt getragen; er hat ſich den männlichen Kollegen und den Behörden gegenüber behaupten müſſen. Er hat ſich nahe dem Siege geſehen bei jener Mädchenſchulreform von 1906, die dann durch ungeklärte Ein⸗ flüſſe gerade in dieſem entſcheidenden Punkt den Gegnern noch einen Pyrrhusſieg verſchafft hat. Wie oft habe ich als Vorſitzende des Ver⸗ eins dieſen ſeinen Grundgedanken den vorſichtig taſtenden Begrüßun⸗ gen der Behörden gegenüber, die ſich mit ihrer Einſtellung auf die männliche Mädchenſchulpädagogik vor den dicht gedrängten Reihen der Lehrerinnen nicht ganz am Platze fühlten, vertreten, wie oft ihn auch in der ſcharfen Form des Proteſtes geltend machen müſſen! Das wurde — ſeltſamer⸗ und doch begreiflicherweiſe — ſchwieri⸗ ger, je mehr ſich nach der Reform die Stellung der Lehrerinnen hob. Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 248 je mehr vor allem an der höheren Mädchenſchule die Zuſammenarbeit mit Lehrern von größerer Objektivität einen Zuſtand ſchuf, der als wohltätiger Friede empfunden wurde und den man nicht gern geſtört ſah. Es iſt natürlich, daß der Gedanke: die Leitung der Mädchen ge⸗ hört in die Hand der Frau, bei offener Geringſchätzung der Lehrerin durch die männlichen Kollegen ſtärker im Bewußtſein ſtand, als bei einem Gleichgewichtszuſtand, der bei zufällig günſtigen Verhältniſſen die Bedeutung der grundlegenden Ideen leicht überſehen läßt. Darin wird auch für die Zukunft eine große Gefahr gerade für unſere Aka⸗ demikerinnen liegen. Hoffentlich ſind ſie ihr gewachſen. Unſere Akademikerinnen! Welcher Hohn iſt einmal auf uns nie⸗ dergeraſſelt, als wir das Frauenſtudium forderten! Auf dieſem Ge⸗ biet wenigſtens iſt ein voller Sieg zu verzeichnen. Und man darf wohl ſagen: nur durch den unermüdlich geführten Anſturm der Frauen⸗ bewegung, dem der A. D. L. V. mit ganzer Seele ſeinen Arm geliehen hat. Wenn auch das Bild, das unſere jetzige Generalverſammlung in Halle bot: Frauen, die uns als Vertreterinnen von Reichs⸗ und Lan⸗ desminiſterien begrüßten, nicht ohne die großen politiſchen Umwäl⸗ zungen hätte geboten werden können, ſo ſteht andererſeits feſt, daß ohne die Frauen⸗ und Lehrerinnenbewegung die Frauen gar nicht dageweſen wären, die dieſe Stellungen erfolgreich hätten ausfüllen können. Und ſo fühlten die verſammelten Lehrerinnen mit Stolz, daß hier doch ein erſter Kampfpreis geboten war, der weitere verheißt. Die Tagung in Halle war durch zweierlei bedeutſam: durch die Neuorganiſation des Vereins und die programmartige Stellungnahme zu den Fragen des Mädchenſchulweſens und der Lehrerbildung. Die Neuorganiſation hat den alle Schul⸗ und Fachgattungen umfaſſenden Landeslehrerinnenverbänden und den Reichsfachverbänden einen ihrer Bedeutung entſprechenden Einfluß auf Geſtaltung und Wirkſamkeit des Vereins gegeben, in der Art wie dem Geſamtvorſtand im Bunde Deutſcher Frauenvereine. Sie wird ihre Probezeit durchzumachen haben, entſpricht aber im ganzen ſicher den in organiſchem Wachstum herausgebildeten Lebensbedürfniſſen des Vereins. Daß die Vorſchläge und Erörterungen zur Lehrerbildung, die durch eine Akademikerin Dr. Charlotte Großmann und eine Volks⸗ ſchullehrerin Frl. Ottilie Klein vertreten waren, nur zu einem Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 249 vorläufigen Ergebnis führten, war vorauszuſehen. Ein endgültiges Ergebnis kann in einer ſolchen Verſammlung gerade in dieſer Frage nur herausgearbeitet werden, wenn die gewiſſenhafte Erwägung der großen Probleme und Schwierigkeiten fehlt, die ſie bietet. Auch der für dieſe Frage von der Verſammlung eingeſetzte Vertreterinnenaus⸗ ſchuß wird noch ſehr ſorgfältige und gewiſſenhafte Vorarbeit zu leiſten haben, ehe er zu konkreten Vorſchlägen kommen kann, die ſich ange⸗ ſichts unſerer verwickelten und wirtſchaftlich ſo ſchwierigen Verhältniſſe als durchführbar erweiſen. Das Thema „Das Mädchenſchulweſen im Neuaufbau der deutſchen Schule“ wurde von Oberlehrerin Emmy Beckmann⸗Hamburg be⸗ handelt. Wenn über die Grundfragen im weſentlichen Übereinſtim⸗ mung mit der Rednerin feſtgeſtellt werden konnte, ſo lag das mit daran, daß hier ſchon vielfach Vorarbeit geleiſtet worden war und bewährte Grundſätze des Vereins knapp und wirkungsvoll zur Geltung gebracht werden konnten. Starken Eindruck machte die in die Tiefe gehende pſychologiſche Begründung der Notwendigkeit des entſcheiden⸗ den Fraueneinfluſſes in der Mädchenbildung; ſie gab der Verſamm⸗ lung die Überzeugung, daß dieſe entſcheidendſte Überlieferung des Vereins in der Rednerin, die ſie nachher zu ihrer Vorſitzenden er⸗ wählte, treuen Händen weitergegeben wurde. Die entſcheidendſte Überlieferung. Denn mit ihr ſteht und fällt die Notwendigkeit einer beſonderen weiblichen Berufsorganiſation. So lange dieſes Prinzip umſtritten oder in ſeiner Auswirkung irgend⸗ wie gehemmt wird, ſo lange nicht der Frauenwille hinreichend erſtarkt iſt, um jeden Kompromiß in dieſer Beziehung auch mit wohlmeinen⸗ den männlichen Kollegen der alten pädagogiſchen Überzeugung abzulehnen, ſo lange iſt an ein Aufgeben der weiblichen Sonderorgani⸗ ſation nicht zu denken. Daß dieſer Zeitpunkt vorläufig noch nicht ge⸗ kommen iſt, davon waren wir in Halle durchdrungen. Und daß dieſe Überzeugung ſo einheitlich und ſtark und immer wieder zum Ausdruck kam, daß auch der Wille zum Zuſammenhalten ſich trotz mancher Miß⸗ verſtänoniſſe bei der ganz überwältigenden Mehrheit ſo feſt erwies, das habe ich beim Rücktritt von der Leitung des Vereins, der mir in den 31 Jahren faſt ein Teil von mir ſelbſt geworden iſt, mit tiefem Dank empfunden. Das Gleiche gilt von den Vorſtandskolleginnen, die Drei Jahrzehnte Allgemeiner Deutſcher Lehrerinnenverein. 250 ſo lange mit mir die Geſchicke des Vereins geleitet und nun mit mir zugleich Abſchied genommen haben. Es war eine echte und rechte Ta⸗ gung des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenvereins, wie wir ſie ge⸗ wohnt ſind; verſchönt durch die ſelbſt unter den heutigen ſchwierigen Verhältniſſen ſo voll und freudig gebotene Gaſtlichkeit unſerer Halle⸗ ſchen Kolleginnen, in den ſchönen Räumen der Univerſität und der Bergloge, unter ſonnigſtem Pfingſthimmel und in all ihren Äußerun⸗ gen getragen von tiefer Liebe zu unſerem Beruf und der uns anver⸗ trauten Jugend: ſo wird ſie in unſerm Gedächtnis ſtehen. Die Zu⸗ kunft des Vereins aber iſt bei den Jüngeren in guter Hut; vielleicht dürfen wir uns gemeinſam ſchon des heiß erſehnten Aufſtiegs unſeres Volkes freuen, wenn wir uns in zwei Jahren auf ſüddeutſchem Boden wieder begegnen. 251 Steht die Frauenbewegung am Ziel oder am Anfang? („Die Frau“, November 1921.) Rouſſeau begründet bekanntlich den Urſprung der Ungleichheit unter den Menſchen ſo: „Der erſte, der ein Stück Land einfriedete und ſich einfallen ließ zu ſagen, dies gehört mir, und der Leute fand, die einfältig genug waren, um ihm zu glauben, war der eigent⸗ liche Begründer der bürgerlichen Geſellſchaft.“ Als ich dieſe Stelle zum erſtenmal las, lagen mir bodenreformeriſche Pläne ebenſo fern wie geiſtige Kämpfe nahe, und die Formel ſetzte ſich mir dement⸗ ſprechend um. Waren doch auch in der geiſtigen Welt ganze Gebiete vom erſten Beſitzergreifer, dem Manne, für ſein Eigentum erklärt worden, und hatten ihm doch die Frauen das als männlich abgeſtem⸗ pelte Gebiet unbeanſtandet überlaſſen, weil ſie „einfältig genug ge⸗ weſen waren, ihm zu glauben.“ Und der Schutz, den dieſes Patent verlieh, hatte ſich mit kurzen, aber um ſo beweiskräftigeren Unter⸗ brechungen allmächtig erwieſen, durch Jahrhunderte und Jahrtauſende hindurch; erſt bittere innere und äußere Not hatte die Frauen gezwun⸗ gen, das ſelbſtherrlich gegebene Patent erſt hier und da zu überſchrei⸗ ten und endlich ganz in Frage zu ſtellen. Den Tatſachenkomplex aber, der dieſer Bewegung der Frauen auf ihnen bis dahin verſchloſſenes Gebiet zugrunde liegt, hat man kurzweg als „Frauenfrage“ bezeichnet. Schlägt man dieſes Stichwort in irgendeiner Enzyklopädie nach, ſo findet man etwa folgende Begriffsbeſtimmung: „Frauenfrage iſt die Frage, wie die Stellung der Frau im Geſellſchaftsorganismus zu regeln iſt.“ Und weiter: „In der Frauenfrage offenbart ſich das Bewußtſein von dem Vorhandenſein eines Widerſpruchs zwiſchen den Anſprüchen, welche die Frauen an die Geſellſchaftsordnung zu ſtellen wirklich oder vermeintlich berechtigt ſind, und der Stellung, die ihnen tatſächlich zugewieſen iſt.“ Und als „Frauen bewegung“ wird dann die Geſamtheit aller jener Beſtrebungen bezeichnet, die auf die Be⸗ ſeitigung jenes Widerſpruchs durch eine Neuregelung der Beziehungen des Weibes zur übrigen Geſellſchaft gerichtet ſind. Das iſt genau ſo richtig und ſo ſchief, wie die Definition eines außenſtehenden Beob⸗ achters nur ſein kann, der genötigt iſt, nach Symptomen zu urteilen. 252 So ſchöpft nach ihm die Frauenbewegung ihre nachhaltige Kraft auch vornehmlich aus ihren wirtſchaftlichen Zielen; ſo betrifft ſie nach ihm vorzugsweiſe die Unverheirateten, und ihre Löſung ſcheint ihm im weſentlichen mit der der Frauen beſchäftigungs frage zuſammen⸗ zufallen. Richtig iſt zweifellos, daß es ſich bei dieſer größten aller Kultur⸗ bewegungen, die die überwiegende Hälfte des ganzen Menſchen⸗ geſchlechts umfaßt, um eine grundlegende Änderung zunächſt der äuße⸗ ren Stellung, eine Tilgung aller Reſte von Hörigkeit handelte. Sie war Vorbedingung, und iſt es zum Teil noch heute. Bezeichnend aber iſt dann, daß in allen Kulturſtaaten, die eine wirkliche Frauenbewe⸗ gung haben — den Staaten germaniſcher Raſſe —, die Bewegung in ihren erſten Stadien Bildungs bewegung iſt. Aber nicht aus dem Beweggrund „Wiſſen iſt Macht“, nicht nur um ſo den Zugang zu den höheren Berufen zu erzwingen, ſondern in erſter Linie — wenigſtens ſicher in Deutſchland — aus dem Bedürfnis inneren Wachstums her⸗ aus. Das Ausgeſchloſſenſein von jedem tieferen, ſelbſtändigen Ein⸗ dringen in das Kulturleben unſeres Volks, vom Erwerb einer ſicher begründeten, ſelbſt erarbeiteten Weltanſchauung iſt von mancher deut⸗ ſchen Frau ſchwerer empfunden worden, als der Ausſchluß von den nur auf wiſſenſchaftlicher Grundlage zu erwerbenden Ämtern und Würden. Aber der wirtſchaftliche Druck der Zeiten, eine geſunde Selbſteinſchätzung und die Überzeugung, daß nur die Angehörigen der geiſtigen Oberſchicht genügend Einfluß auf die Änderung der beſtehenden Zuſtände haben könnten, ließ dann die Bildungsbewegung vom Selbſt⸗ zweck zum Mittel werden: die Frauenkraft, in den unteren Schichten durch den Zwang bloßer induſtrieller Berufsarbeit mehr gelähmt als gelöſt, konnte ſich in allmählichem Aufſtieg durch felſige und dornige Pfade freier entfalten und langſam unter ſtetem Widerſpruch Naum und Einfluß gewinnen. Die fortſchreitende Politiſierung der Welt rückt dann auch für die Frauen das Stimmrecht in den Vordergrund, zuerſt in den politiſch vorgeſchrittenſten Staaten, Nordamerika und England. Wie Schopenhauer das Geld als das abſolut Gute bezeich⸗ net, weil man alle Güter damit erkaufen kann, ſo erſchien das Stimm⸗ recht als das abſolut Gute, weil es die Möglichkeit gab, die bisher tropfenweiſe und im Gnadenwege gegebenen Rechte ſelbſt zu beſtim⸗ Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 253 men. Darum tritt allmählich das Stimmrecht in den Vordergrund der Frauenbewegung. Das war unvermeidlich, hat aber zugleich vielfach das eigentliche Ziel verdunkelt. Eine Frauenbewegung ohne Richtung auf das Stimm⸗ recht iſt ein Widerſpruch in ſich; eine große Frauenorganiſation, die es nicht gefordert hätte, konnte von einem gewiſſen Zeitpunkt ab als Frauenbewegungsorganiſation nicht mehr angeſehen werden. Organi⸗ ſationen, die nur das Stimmrecht als Ziel ſetzten, kamen aber leicht in Gefahr, einem bloßen Formalismus zu verfallen, über der Schale den Kern aus dem Auge zu verlieren. Es iſt keine Frage, daß manche Frau und mancher Verein dieſer Gefahr erlegen iſt. In gewiſſer Weiſe war die bloße Stimmrechtspropaganda die leichteſte Form der Frauen⸗ bewegung. Man bekannte ſich zum äußerſten, noch ganz unpopulären Ziel, was immer etwas ſehr Beruhigendes hat, man hatte ganz feſte Formeln bei ſeiner Propaganda und hatte kein ſchlechtes Gewiſſen, wenn es nur eine Propaganda des Wortes ſein konnte. Und ſo zog gerade dieſe Agitation neben ſehr tüchtigen Kräften, denen wir viel verdanken, auch die unproduktiven Frauen, vor allem auch die waſch⸗ echte Frauenrechtlerin an, die es als einen unbedingten „Sieg der Sache“ anſah, wenn irgendwo eine Frau Schlachter oder Schmied geworden war. Auf ſolche Elemente mag es zurückzuführen ſein, daß die Stimmrechtspropaganda der Frauenbewegung ſehr wenig Sym⸗ pathie zugeführt hat, — wozu ja freilich kam, daß das männliche Pa⸗ tent hier „auf ewig“ angemeldet war. Bei Begründung des Lette⸗ vereins hatte ſein frauenfreundlicher Gründer mit ganz beſonderem Nachdruck betont: „Was wir nicht wollen, und niemals, auch nicht in noch ſo fernen Jahrhunderten wünſchen und bezwecken, iſt die poli⸗ tiſche Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen.“ Davon wich bei uns kaum ein Mann ab. „Damen,“ meint Wilhelm Raabe, „erheben ſich über ihre Schweſtern auf Erden am beſten nur ſo weit als Eſel und Tragſeſſel reichen; ſtudieren ſie aber kurz geſchoren in Zürich, ſo mögen ſie meinetwegen in Männerhoſen den Montblanc erklettern. Eſel ſind die, welche ſie ſich wieder herunterholen, und mögen dann auch unbeſchadet ihres häuslichen Glückes für das politiſche Stimmrecht ihrer Weiber reden und drucken laſſen — es kommt wirklich nichts Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 254 darauf an für uns andere —, es geht gottlob fürs erſte nur ſie allein etwas an.“ Heute ſind wir nun ſo weit, daß jeder Eſel und Nichteſel nur eine Frau bekommen kann, die mit dem Stimmrecht behaftet iſt. Er kann auch bei noch ſo konſervativer Geſinnung ſeiner Erwählten nicht einmal ſicher ſein, daß ſie nicht Gebrauch davon macht; wir ſehen Frauen in eifriger politiſcher Tätigkeit, die vorher die politiſche Eman⸗ zipation der Frau für ein großes Unglück für unſer Vaterland erklärt hatten. Sind wir nun damit am Ziel? Sollen wir nun nur noch das wünſchen, was Naumann einmal ganz hübſch und wirkungsvoll auf die Frage: „Was ſoll die Frau in der Politik?“ geantwortet hat: 1. den Männerzank vermindern! 2. die Volkseinheit erhalten! 3. den Volksſtaat für alle wohnlich machen! 4. die Volksſchule in Stadt und Land beſſern! 5. die Volksſitte und Volksgeſundheit pflegen! 6. ſich ſelbſt als Bürgerin fühlen! — Das iſt eine gute und tüchtige Männer⸗ antwort. Die Frauen können ſie in allen Einzelheiten annehmen, haben ſelbſt aber doch wohl aus dem Bewußtſein um ihre eigene We⸗ ſensart heraus noch eine tiefgründigere Antwort zu geben. Die Frage, ob die Frauenbewegung am Ziel oder am Anfang ſtehe, würde von uns ohne gewiſſe ſeltſame Erfahrungen überhaupt nicht aufgeworfen ſein. Da kamen u. a. nach dem November 1918 Anfra⸗ gen, ob der Allgemeine Deutſche Frauenverein ſich nun nicht auflöſe, da ja das Ziel der Frauenbewegung erreicht ſei. Eine Auffaſſung, die den Naum, die bloße Möglichkeit, als gleichbedeutend ſetzt mit der inhaltlichen Erfüllung, der vollendeten Wirklichkeit; die die Forderung der Frauenbewegung in der Formulierung unſeres Verbandes: „den Kultureinfluß der Frau zu voller innerer Entfaltung und freier ſozia⸗ ler Wirkſamkeit zu bringen“ für erfüllt hält, wenn der Eingang zu dem Gebäude geöffnet iſt, in dem ſich dieſe Wirkſamkeit vollziehen ſoll, wenn ſogar noch ungezählte Zimmer darin mit ſcharfen oder ſtumpfen Waffen hartnäckig verteidigt werden. Die Antwort kann nur ſo lauten: Der ganze bisherige Kampf um Möglichkeiten und Rechte, um Bildungs⸗ und Berufsfreiheit, den wir gewohnheitsmäßig als Frauenbewegung bezeichnen, iſt es ihrem innerſten Weſen nach nur zum kleinen Teil. Mit voller Abſicht ſind in Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 255 dem Programm des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins alle Er⸗ rungenſchaften auf dem Gebiet der Bildung, der Berufstätigkeit und des öffentlichen Lebens nach ihrer kulturellen Bedeutung gewertet worden, nicht nach ihrer wirtſchaftlichen. Ob ſie den Frauen ſubjektive Kultur vermitteln, ob ſie zu Anfängen einer beſonderen objektiven Frauenkultur führen, das iſt die Frage, die die Frauenbewegung, als geiſtige Bewegung erfaßt, zu ſtellen hat. Daß dieſer ganze wirtſchaft⸗ liche Kampf zur äußeren Befreiung der Frau von den um ſie gezoge⸗ nen Schranken von ihr ſelbſt geführt werden mußte, hat ſeinen Grund nicht in ihr, ſondern außer ihr: in dem mangelnden Ge⸗ rechtigkeitsgefühl und dem Brotneid ihrer männlichen Mitmenſchen, oder, mildernde Umſtände zugegeben, ihrer geſchichtlichen Bedingtheit, ihrem Mangel an Erkenntnis. Wäre dieſe vorhanden geweſen, ſo hätte die äußere Befreiung der Frau ſich ganz ebenſo ohne ihre Mit⸗ wirkung vollziehen können, wie die der Sklaven in Nordamerika, die ſelbſt weder als Anreger noch als Mitwirkende dabei in Betracht ka⸗ men. Ein Beiſpiel dafür im kleinen iſt ja die Begründung des Lette⸗ vereins rein auf männliche Initiative hin. Und für die unteren Schich⸗ ten der Frauenarbeit vollzog ſich ja die — hier ſehr wenig erwünſchte — Emanzipation der Frau von den häuslichen Schranken unter dem ſtarken wirtſchaftlichen Druck ganz von ſelbſt; die Frauenbewegung hat da höchſtens eingegriffen, um dieſen Frauen an Kulturgut zu retten, was vor der ſie erraffenden und an ſich reißenden Großinduſtrie noch zu retten war. Im ganzen handelt es ſich alſo in dem großen Emanzipationskampf der Frauen in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts um einen Kampf entrechteter Menſchen weiblichen Ge⸗ ſchlechts, der ihnen unter anderen geſchichtlichen Bedingungen hätte erſpart werden können. Daß dieſer äußere Kampf ſchon als Frauen⸗ bewegung gewertet wird, entſpricht im Grunde mehr der Definition der Enzyklopädien als unſerer eigenen Auffaſſung. Aber es entſpricht der „Vernunft der Geſchichte“, daß die Frauen dieſen Befreiungskampf ſelbſt führen mußten, daß ſie, aus dem ſchützenden Hauſe in die un⸗ wirtliche öffentlichkeit geſtoßen, durch Betätigung von Kräften, die ſie ſelbſt nicht gekannt hatten, zu dem ſtolzen: „Triumph, die Paradieſe ſchwanden“, ſich durchringen lernten. Und daß ſie auf Grund der neuen Erkenntnis und mehr und mehr auf eigenes Urteil und eigenes Geſetz Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 256 geſtellt, jedem Beruf, in den ſie eintraten, jedem Recht, das ſie erran⸗ gen, die Tönung gaben, die ihrem beſonderen Frauenempfinden ent⸗ ſprach. Das Stück weibliche Sonderkultur, das, gering wie es noch iſt, doch ſchon das Frauenberufsleben und die ſoziale Frauentätigkeit färbt, das, und das allein, iſt eigentlich in unſerem Sinne Frauen⸗ bewegung, d. h. eine Bewegung der Frauen zu dem Ziel hin, den ſitt⸗ lichen Geſetzen ihrer eigenen Perſönlichkeit innerhalb der Kulturwelt neben denen Geltung zu verſchaffen, nach denen der Mann ſie bisher einſeitig aufgebaut hat. Darauf kommt es an, „daß die Frau aus der Welt des Mannes eine Welt ſchafft, die das Gepräge beider Geſchlechter trägt. Die Frau will nicht nur äußerlich die gleichen Mög⸗ lichkeiten haben, zu wirken, am Leben teilzunehmen, ſondern ſie will in dieſes Leben ihre eigenen Werte tragen, ſie will dadurch eine ſoziale und ſittliche Geſamtanſchauung ſchaffen, in der ihre Maßſtäbe die⸗ ſelbe Geltung haben wie die des Mannes“ — ſo habe ich früher ein⸗ mal, (1904) das Endziel der Frauenbewegung zuſammenzufaſſen verſucht. Daß uns noch eine Welt von wirtſchaftlichen Hemmniſſen, aber auch von Vorurteilen, Haß, Geringſchätzung, daß uns die wuchtende Maſſe jahrtauſende alter Überlieferung — nicht zum wenigſten aber auch die Gleichgültigkeit und gewohnheitsmäßige Unterordnung der Maſſe der Frauen unter das Geſetz der Trägheit, das Herkommen, von dieſem Ziel in weiter Ferne hält, iſt ohne weiteres klar. Ich könnte die Antwort auf mein Thema alſo rein formal durch den Hinweis geben, daß die Frauenbewegung erſt am Ziele ſtehe, wenn alle dieſe Hemmniſſe beſeitigt ſeien und der Fraueneinfluß ſo wirklich zu freier Entfaltung gelangen könne. Aber das hieße Steine ſtatt Brot ge⸗ ben, Formales ſtatt Lebendigem. Was ich im Grunde zu beantworten habe, iſt die Frage nach dem innerſten Weſen der Frauenbewegung, nach dem Geſetz der weiblichen Perſönlichkeit, deſſen Verwirklichung im Kulturleben das Endziel der Frauenbewegung iſt. Das iſt um ſo mehr meine Aufgabe, als es kaum etwas gibt, worüber ſo viel Un⸗ gereimtes vorgebracht wird als die „weibliche Eigenart“; wenn man von einer Mädchenſchulkonferenz herkommt oder gerade erlebt hat, wie einer Klaſſe von Mädchenabiturienten als Aufſatzthema „Das iſt das Los des Schönen auf der Erde“ gegeben wird, ſo iſt man davon ganz Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 257 durchdrungen und erſchüttert. Die Beantwortung der Frage nach der wirklichen weiblichen Eigenart iſt aber entſcheidend für Nichtung und Linie der ganzen weiteren Frauenbewegung, die dann, nach dem mehr auf Intuition geſtellten früheren Verlauf, erſt bewußt einen neuen Anfang nehmen kann. Das Thema „Weibliche Eigenart“ wäre ſo recht eigentlich ein Thema für eine Frauen⸗Doktordiſſertation. Daß keine daran denkt, ſie in Angriff zu nehmen, mag mit dem Mangel an exakten Grundlagen auf dieſem Gebiet zuſammenhängen; bekanntlich verzweifelt die Pſycho⸗ logie bis heute daran, genaue Grenzbeſtimmungen zwiſchen männ⸗ lichem und weiblichem Seelenleben feſtzuſtellen. Auch wird die nicht unbegründete Annahme mitſprechen, daß eine mehr auf Intuition und Empirie fußende Arbeit als „befangen“ von den natürlich un⸗ befangenen männlichen Beurteilern abgelehnt würde. Männer, denen nun auch noch die intuitive Erkenntnis abgeht, haben wohl allerlei mehr oder weniger Erheiterndes über weibliche Eigenart, meiſt mit pädagogiſcher Zuſpitzung geſchrieben; die ernſthafte Philoſophie aber hat ſich wenig um dieſes doch ſehr ernſthafte Problem gekümmert. Denn Schopenhauers Phantaſien über das Weib als Knalleffekt der Natur kommen in dieſem Zuſammenhang überhaupt nicht in Betracht; ſie ſind eine verzerrte Kennzeichnung der Frauen als Geſchlechtsweſen, von der Verärgerung durchdrungen, daß der große Philoſoph dieſem mißachteten Typus auch ſeinen Tribut zahlen mußte. Der einzige tief⸗ gründige Verſuch auf deutſchem Boden, dieſe Eigenart und ihre Be⸗ deutung für die Entwicklung der menſchlichen Kultur zu kennzeichnen, iſt von Georg Simmel in ſeinem Aufſatz „Weibliche Kultur“ gemacht worden.“) Die ganz ungewöhnliche Fähigkeit Simmels zum Nachempfinden fremder Seeleninhalte iſt ſchon durch die Bemerkung gekennzeichnet, daß es ſich bei den erſten Vertreterinnen der Frauenbewegung nur um ſubjektive Kultur handelte, „um den perſönlichen Anteil an ſchon be⸗ ſtehenden, ihnen bisher nur verſagten Kulturgütern — mochten dieſe ¹) Zuerſt erſchienen im „Archiv für Sozialwiſſenſchaft und Sozialpolitik“. XXXIII. Band, 1. Heft. Tübingen, J. C. B. Mohr. 1911. Dann in „Philo⸗ ſophiſche Kultur“, Leipzig 1911. Lange, Kampfzeiten. II. 17 Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 258 ihnen nun neues Glück, neue Pflichten oder neue Perſönlichkeits⸗ bildung gewähren ſollen“. Aber abgeſehen von dieſer Richtung, auf der „vielleicht alle eudämoniſtiſchen, ethiſchen, ſozialen Akzente der Frauenbewegung“ ruhen, erhebt ſich die Frage nach der Möglichkeit eines Gewinns an Inhalten objektiver Kultur, was zu der Vorfrage nach dem prinzipiellen Verhältnis des weiblichen Weſens zu der ob⸗ jektiven Kultur führt. Als Ausgangspunkt ſeiner ganzen Betrach⸗ tung ſtellt Simmel nun zunächſt die Tatſache feſt, „daß die Kultur der Menſchheit auch ihren reinen Sachgehalten nach ſozuſagen nichts Geſchlechtsloſes iſt und durch ihre Objektivität keineswegs in ein Jen⸗ ſeits von Mann und Weib geſtellt wird. Vielmehr, unſere objektive Kultur iſt, mit Ausnahme ganz weniger Gebiete, durchaus männlich. Männer haben die Kunſt und die Induſtrie, die Wiſſenſchaft und den Handel, den Staat und die Religion geſchaffen. Daß man an eine nicht nach Mann und Weib fragende, rein „menſchliche' Kultur glaubt, entſtammt demſelben Grunde, aus dem eben ſie nicht beſteht: nur der ſozuſagen naiven Identifizierung von „Menſch' und „Mann', die auch in vielen Sprachen für beide Begriffe das gleiche Wort ſetzen läßt“. Simmel greift nur ein Beiſpiel dieſes maskulinen Weſens ſcheinbar völlig neutraler Kulturinhalte heraus: das Recht. Die oft betonte „Rechtsfremdheit“ der Frauen, die Oppoſition gegen juriſtiſche Nor⸗ men und Urteile „braucht keineswegs eine Fremdheit gegen das Recht überhaupt zu bedeuten, ſondern nur gegen das männliche Recht, das wir allein haben und das uns deshalb als das Recht ſchlechthin er⸗ ſcheint ... Das vielfach vom männlichen abweichende „Gerechtigkeits⸗ gefühl' der Frauen würde auch ein anderes Recht ſchaffen.“ Es „würde nur deshalb nicht als ſachlich gültiges „Recht“ anerkannt werden können, weil das Sachliche a priori mit dem Männlichen identifiziert wird.“ Wenn nun unſere moderne Kultur ſich immer mehr verſachlicht und ſpezialiſiert, immer mehr ihren Wertakzent vom Menſchen weg auf die autonome Entwicklung des Objektiven verlegt, immer ſtärker das Sachelement vor dem Perſonal⸗ element betont, ſo iſt auch das ein Ausdruck männlichen Weſens. Der Mann — ſo führt Simmel mit vielleicht etwas zu ſtarker Betonung aus — hat die Fähigkeit, „ſich durch eine arbeitsteilige, keine ſeeliſche Einheit in ſich tragende Leiſtung gerade deshalb ſein perſönliches Sein Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 259 nicht zerreißen zu laſſen, weil er die Leiſtung in die Diſtanz der Ob⸗ jektivität ſtellt“. Wenn dieſe Fähigkeit der weiblichen Natur fehlt, ſo iſt das keine Lücke, ſondern entſpringt durchaus dem Poſitiven dieſer Natur. Denn bei der Frau iſt, ſymboliſch ausgedrückt, die Peri⸗ pherie enger mit dem Zentrum verbunden, ihre Natur iſt einheitlicher, darum weniger imſtande, die entſeelte Spezialiſtik der einzelnen Arbeitsleiſtung mit einer vollen, beſeelt perſönlichen Exiſtenz ver⸗ träglich zu machen. Eben dieſe Weſensart, für die „alle Lebensinhalte nur aus der Kraft eines unteilbaren ſubjektiven Zentrums heraus und unmittelbar mit dieſem verſchmolzen exiſtieren“, erſchwert der Frau die Bewährung in einer Sachenwelt, wie ſie durch die differen⸗ tielle Natur des Mannes aufgebaut iſt, ohne daß das ein Manko gegenüber einer allgemeinen menſchlichen Forderung bedeutete. „Ge⸗ wiß ſind die Männer ſachlicher als die Frauen. Aber dies ganz ſelbſt⸗ verſtändlich als das Vollkommenere anzuſehen und das Leben in der Ungeſchiedenheit des Einzelnen vom Ganzen als das Schwächere und „Unentwickeltere“, das iſt nur durch einen circulus vitiosus möglich, indem man von vornherein nicht eine neutrale, ſondern die männ⸗ liche Wertidee über den Wert von Männlichem und Weiblichem ent⸗ ſcheiden läßt.“ Dieſe naive Verwechſlung der männlichen Werte mit den Werten überhaupt iſt von hiſtoriſchen Machtverhältniſſen getra⸗ gen. Das Sachliche erſcheint nun, ſtatt der rein neutralen Idee, die in gleichmäßiger Höhe über den männlich⸗weiblichen Einſeitigkeiten ſteht, als die Sonderform der Leiſtung, die der ſpezifiſch männlichen Weſens⸗ art entſpricht. Damit nicht genug: die Kultur iſt in doppelter Weiſe männlich, inſofern „die Leiſtungselemente in einer Weiſe zu beſon⸗ deren Berufen zuſammengefaßt ſind, wie es eben der männlichen Fähigkeit, ihrer beſonderen Rhythmik und Intention angemeſſen iſt.“ Natürlich paſſen ſich die Frauen trotz dieſer Formſchwierigkeiten den männlich geſtalteten Berufen an und vermehren ſo reichlich die Summe wertvoller Leiſtungen und ſubjektiver Kultur. Eine Vermehrung der objektiven Kultur aber, neue Tönungen und Grenzerweiterungen ſind „nur dann von den Frauen zu erwarten, wenn ſie etwas leiſten, was die Männer nicht können. Das iſt der Kern der ganzen Frage, der Drehpunkt des Verhältniſſes zwiſchen der Frauenbewe⸗ gung und der objektiven Kultur.“ In den Lücken, die die männliche 17* Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 260 Leiſtung läßt, kann ſo eine originale ſpezifiſch weibliche Leiſtung er⸗ wachſen. Wenn Simmel ſchon dem weiblichen Arzt, der eben dasſelbe kann und tut wie der männliche, einen ſehr hohen praktiſchen und ſo⸗ zialen Wert beimißt, ſo ſcheint ihm eine qualitative Mehrung der mediziniſchen Kultur, wie ſie durch männliche Mittel nicht erreichbar iſt, darin zu liegen, „daß Frauen gegenüber der weibliche Arzt nicht nur oft die genauere Diagnoſe und das feinere Vorgefühl für die richtige Behandlung des einzelnen Falles haben wird, ſondern auch rein wiſſenſchaftlich typiſche Zuſammenhänge entdecken könnte, die dem Mann unauffindbar ſind, und ſo zu der objektiven Kultur ſpe⸗ zifiſche Beiträge leiſten würde; denn die Frau hat eben an der gleichen Konſtitution ein Werkzeug der Erkenntnis, das dem Mann verſagt iſt.“ Ähnliche Folgerungen zieht Simmel für andere Berufe und Ge⸗ biete; ſo für die Geſchichtswiſſenſchaft, wo, „ſoweit die Geſchichte an⸗ gewandte Pſychologie iſt, das weibliche Naturell die Baſis ganz origi⸗ naler Leiſtungen in ihr ſein könnte“, ſowie für die Literatur, ſofern die Frauen hier „nicht den ſklavenhaften Ehrgeiz haben, zu ſchreiben „wie ein Mann“, vielleicht ſogar „durch männliche Pſeudonyme zu er⸗ kennen geben, daß ſie von dem eigentlich Originellen und ſpezifiſch Bedeutſamen, das ſie als Frauen leiſten könnten, keine Ahnung haben“. Es mag ein Zufall ſein, daß Simmel, der gelegentlich von den großen Leiſtungen der Frauen als Lehrerin ſpricht, für dieſe nicht die gleiche Konſequenz zieht wie für die Ärztin: daß Mädchen gegen⸗ über die Frau etwas leiſtet, was der Mann nicht kann, weil ihr an der gleichen geiſtigen Konſtitution ein Werkzeug der Erkenntnis und der Einwirkung gegeben iſt, das dem Manne verſagt iſt. Zu beſonders feinen und tiefen Bemerkungen gibt das Spezifiſche der weiblichen Leiſtung in der Schauſpielkunſt Veranlaſſung, die jenes vorbehaltloſe Eingehen der ganzen Perſönlichkeit in die künſtleriſche Erſcheinung verlangt, die der Frau natürlich iſt, weil bei ihr das Ich und ſein Tun, das Zentrum der Perſönlichkeit und ſeine Peripherie enger verſchmolzen ſind als beim Manne. Ein weiteres Eingehen auf die daraus gezogenen Folgerungen, die manche vom Manne als Manko empfundenen Züge der weiblichen Pſyche als eigene poſitive, zu der männlichen polare Weſensart erkennen läßt, iſt hier nicht mög⸗ lich. Es gilt nun, ſtatt dieſer einzelnen Züge das große objektive Ge⸗ Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 261 bilde zu betrachten, bei dem nach Simmels Darlegung die Frau im großen Stil kulturſchöpferiſch geweſen iſt: das Haus²). Das Haus ſpielt dieſelbe Doppelrolle wie andere der allerwichtig⸗ ſten kulturellen Gebilde: die Religion, die Kirche, die Erkenntnis, der Staat. Sie ſind einerſeits anderen nebengeordnete Teile des Geſamt⸗ lebens, andererſeits je eine ganze Welt für ſich, das heißt, alle Er⸗ lebnisinhalte können unter ihre Herrſchaft geſtellt werden. So iſt das Haus einerſeits nur ein Lebensmoment ſeiner Teilnehmer, anderer⸗ ſeits eine beſondere Art, das ganze Leben zuſammenzubringen, abzu⸗ ſpiegeln, zu formen. „Es gibt — wenigſtens innerhalb der entwickel⸗ teren europäiſchen Kultur — kein Intereſſe, keinen Gewinn oder Ver⸗ luſt äußerer oder innerer Art, kein von den Individuen irgend be⸗ rührtes Gebiet, das nicht, mit allen anderen zuſammen, in die Syntheſe des Hauſes einſtrömte, keines, das nicht irgendwie in ihm abgelagert wäre. Dies nun zuſtande gebracht zu haben“, ſo erkennt Simmel rück⸗ haltlos an, „iſt die große Kulturleiſtung der Frau. Hier iſt ein ob⸗ jektives Gebilde, deſſen Eigenart mit nichts anderem verglichen werden kann, durch die beſonderen Fähigkeiten und Intereſſen, Gefühlsweiſe und Intellektualität der Frau, durch die ganze Rhythmik ihres Weſens geprägt worden.“ — Soweit das geſchichtlich Gewordene. Nun würde es ſich darum handeln, die Zukunftsmöglichkeiten zu ermeſſen, die für ²) Eine zweite originale und objektive Kulturleiſtung der Frauen ſoll darin beſtehen, daß die männliche Seele zum großen Teil von ihnen ge⸗ ſtaltet wird, daß ſie in ihr ein objektives und nur durch ſie mögliches Ge⸗ bilde ſchüfen. Simmel findet bei dieſer Auffaſſung eine Unklarheit. „Jene „Einwirkung' mag noch ſo ſtark ſein — eine Bedeutung für die objektive Kultur gewinnt ſie erſt, indem ſie ſich in den Männern in diejenigen Er⸗ folge umſetzt, die der männlichen Weſensart entſprechen und eben nur in dieſen hervorgerufen werden können.“ Unſere Kultur iſt eben auch ihrer Form nach männlich und wird dadurch nicht weiblich, daß ihre aktiven Träger Einwirkungen, wie tiefe auch immer, von Frauen erfahren. „Das Leben, ja die Geiſtigkeit unzähliger Männer wäre anders und ärmer, wenn ſie nicht etwas von Frauen empfingen. Aber was ſie empfangen, iſt nicht ein Inhalt, der ſo ſchon in den Frauen beſtünde“, ſondern, paradox geſagt, „ein Unmittelbares, ein in ihnen verbleibendes Sein,“ das im Manne etwas auslöſt, in ihm zur „Kultur“ wird. Nur in dieſer Modifikation kann es verſtanden werden, daß die Frauen die „Anregerinnen“ der Kulturleiſtun⸗ gen ſind. Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 262 eine objektiv weibliche Kultur beſtehen, „für die Produktion ſolcher Inhalte, die die Männer als ſolche prinzipiell nicht leiſten können. Führte die neu erſtrebte Bewegungsfreiheit der Frau zu einer Ob⸗ jektivation des weiblichen Weſens, wie die bisherige Kultur eine ſolche des männlichen Weſens iſt, ... ſo wäre damit freilich ein neuer Weltteil der Kultur entdeckt. Nicht ein „ſelbſtändiges Men⸗ ſchentum', das man von einem anderen Standpunkt aus als das Ideal der Frauenbewegung bezeichnet hat, ſondern ein „ſelbſtändiges Weibtum' kann uns hier als ein ſolches Ideal gelten.“ Um es heraus⸗ zulöſen, muß vielleicht zunächſt die Bedingung der mechaniſchen Gleich⸗ macherei von Erziehung, Rechten, Berufen, Verhalten erfüllt werden; die übertriebene Ungleichheit mit den Männern, die den Frauen ſo⸗ lange aufgezwungen wurde, mag zunächſt einmal dem entgegengeſetzten Extrem, der übertriebenen Gleichheit, weichen müſſen, ehe „die neue Syntheſe: eine objektive Kultur, die mit der Nuance des Weiblichen bereichert iſt“, ſich erheben kann — eine Anſicht, der die Frauenbewe⸗ gung ja im Prinzip durchaus beipflichtet, weil nur ſo den Frauen die Möglichkeit gegeben werden kann, ihren eigenen Tätigkeitsbereich ſelbſtändig zu finden und zu geſtalten. Hier macht Simmel Halt. Halt in doppeltem Sinne. Nicht nur, daß er keinerlei Linien in die Zukunft hineinzuziehen verſucht: er wirft auch die Frage auf, ob nicht ein Denkfehler darin liege, von dem ſpezifiſch weiblichen Sein die Objektivation ſeiner Inhalte zu ver⸗ langen, die ein Leiſtungskriterium männlichen Weſens ſei. Mir ſcheint nun gerade aus dem, was Simmel unbedingt als die große Kulturleiſtung der Frau wertet: das Haus — mir ſcheint daraus die Beantwortung beider Fragen, des Ob und des Wie der künftigen objektiven weiblichen Kultur mit einer logiſchen Notwendigkeit ſich zu ergeben, die vielleicht nur der Frau ſelbſt aufgehen kann. Warum hat das Haus die große Kulturleiſtung der Frau werden können? Weil es das umſchließt, weckt, hegt und entfaltet, in all ſeinen Eigentümlichkeiten liebt und ſchützt, was die Frau vermöge ihrer Beſtimmung zur Mutterſchaft, vermöge der in ihr als Mutter⸗ bereitſchaft angelegten geiſtigen Mütterlichkeit mit der ausſchlag⸗ gebenden, tiefinneren warmen Teilnahme ihres ganzen Seins um⸗ fängt: Leben. Weil ſich darauf ihre ſchöpferiſchen Fähigkeiten Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 263 zwanglos einſtellen, weil ſie hier ganz ſie ſelbſt iſt, ganz Original; weil ſie hier ſich immer und unbedingt dem Manne überlegen fühlt, den Zahlen und Räder und Ideen füllen, während das lebendige Leben, ſoweit er es nicht ſelbſt lebt, mehr an Augen und Ohren pocht, als an ſeine tiefſte Seele — er ſei denn ein Künſtler, dem die Pſycho⸗ logie neben ſtärkſter männlicher Kraft der Objektivation mit Recht einen weiblichen Einſchlag beimißt. Hier iſt die einzige Stätte, wo die Frau über den unbeholfenen Mann lächeln kann, weil ſie mit leichter Hand geſtaltet, wo er verſagt oder verwirrt; hier iſt ſie in ihrem Eigentum, hier übt ſie Herrſchaft, auch wo ſie ſcheinbar ganz zurücktritt. Und das alles hängt nicht einmal unbedingt an der Familie, obwohl es dort um das emporſtrebende junge Leben am ein⸗ drucksvollſten ſich entfaltet: auch die kinderloſe, auch die alleinſtehende Frau kann ein Heim ſchaffen, in dem fremdes Leben ſich ſonnt; der alleinſtehende Mann kann das nur durch eine ihm naheſtehende Frau. An ganz anderer Stelle, in ſeinem nachgelaſſenen Tagebuch, hat Simmel einmal drei Kategorien von Philoſophen unterſchieden: die einen hören das Herz der Dinge klopfen, die andern nur das der Menſchen, die dritten nur das der Begriffe“). Als ganz grobes Schema gibt das eine Definition der Geſchlechter: hier der Mann, der das Herz der Dinge und Begriffe pochen hört, hier die Frau, die nur das der Menſchen klopfen hört. Allerdings kommt bei beiden Ge⸗ ſchlechtern, ganz abgeſehen von ſtarken Grenzüberſchreitungen, ein böſer Abſtrich durch eine vierte Kategorie; bei Simmel die der Philo⸗ ſophieprofeſſoren, die nur das Herz der Literatur hören. Unter den Frauen würden ihnen die entſprechen, die der Überlieferung, der Kon⸗ vention folgen und damit auf ihrem ureigenſten Gebiet die Pro⸗ duktivität ihrer geiſtigen Mütterlichkeit erſticken. Wenn ſomit die Frau — ich betone das nochmals — als Motto über ihr ganzes Wirken das Wort Ruskins geſtellt hat: „Es gibt keinen größeren Reichtum als das Leben“, wenn wir ferner die ganz beſtimmt vorhandene Einheitlichkeit ihres Seins als Ausgangspunkt nehmen, ſo ſcheint es mir unmöglich, einer Folgerung für ihre Wirk⸗ ſamkeit im Gemeinſchaftsleben, für die Objektivation weiblichen Weſens ¹) Logos, Band 3, Heft ², Tübingen, J. C. B. Mohr. Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 264 in dieſem größeren Kreiſe auszuweichen, die ich nun zu kennzeichnen verſuchen muß, ſo ſchwierig das iſt, wo, wie bei uns wenigſtens, die Praxis noch kaum irgendwo zur Deckung der Theorie herangezogen werden kann. Ein Mißverſtändnis möchte ich da von vornherein ausſchließen. Es handelt ſich hier für mich keineswegs um die Frage: welche Berufe ſollen die Frauen ergreifen? Das hängt ſelbſtverſtändlich ebenſo wie beim Manne von ſubjektiver Neigung ab, und die wendet ſich keines⸗ wegs immer eindeutigen Frauenberufen zu. Haben die Geſchlechter doch nicht nur Sonderſphären, ſondern auch einen breiten gemein⸗ ſamen Boden. Die mir befreundete erſte deutſche Zahnärztin Frau Tiburtius hat mir oft geſagt: „Ich möchte mich doch nicht mit anderer Leute Kindern herumärgern“, während ich ihr meine Abneigung be⸗ kannte, in anderer Leute Mund herumzufahren. Im Grunde kann den Frauen aus jedem wirklichen Beruf Befriedigung quellen; in den unteren Berufen wohl nur in dem Maß, als ſie ſich noch im Umkreis lebendigen Lebens bewegen. Chamiſſos berühmte alte Waſchfrau iſt durchaus nicht das einzige Exemplar ihrer Art. Erſt da hört die Möglichkeit der Befriedigung durch den Beruf für die Frau auf, wo ſie — trotz Simmel — im Grunde auch für den Mann aufhört: wenn er nur ſeelenloſe Handgriffe und Teilarbeit bietet. Alſo nicht um dieſe Frage handelt es ſich, ſondern nur um das Problem: wie kann die Frau über das Haus hinaus in ihrer Wirk⸗ ſamkeit in Beruf und öffentlichem Leben eine objektive weibliche Kultur ſchaffen? Wenn wir die durchgängige Einheitlichkeit des weiblichen Seins zugeben müſſen, ſo iſt die Folgerung gegeben, daß aus dem Grunde, aus dem ihre erſte große Kulturtat, das Haus, erwuchs, auch die ob⸗ jektiven Werte erwachſen müſſen, die ſie dem Gemeinſchaftsleben zu geben hat. Und wenn es im Hauſe ihre geiſtige Mütterlichkeit, ihr Intereſſe am Ganzen des Lebens war, die ſie ſchöpferiſch werden ließ, ſo iſt das gleiche für das Berufs⸗ und Gemeinſchaftsleben zu erwarten, wenn ihr dafür Spielraum geboten wird, wenn ſie in die große Ge⸗ ſellſchaftsordnung noch einmal alle die Kräfte einführen darf, die den geiſtig⸗ſittlichen Untergrund der Familie gebildet haben: „die feine menſchliche Rückſicht auf den andern, gleichviel ob er geiſtig reich oder Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 265 arm iſt, die liebevolle Achtung vor dem Einzelleben überhaupt, die geiſtige Auffaſſung des ſexuellen Lebens und das immer gegenwärtige Bewußtſein, daß wir hier im Dienſt der Zukunft ſtehen und der kom⸗ menden Generation verantwortlich ſind.“ (Das Endziel der Frauen⸗ bewegung.) Dazu fehlt heute noch jede Vorbedingung. Die Vorausſetzung einer wirkungsvollen, die geſellſchaftlichen Einrichtungen wirklich um⸗ geſtaltenden Einwirkung der Frauen, ſo daß nach Naumanns For⸗ derung der Volksſtaat wohnlich wird, iſt, daß die Frauen dieſe ihre Arbeit ſelbſtverantwortlich geſtalten und leiten, nicht als „Gehilfin, die um ihn ſei“, iſt die Freiheit, wirklich darin ihren Geiſt zum Aus⸗ druck zu bringen, uneingeengt durch männliches Schema, männliches Spezialiſtentum, männliche Oberleitung. Nirgends gibt es dazu auch nur Anfänge. Sie zu ſchaffen, erfordert überall wieder jene zeit⸗ und kraftraubende Pionierarbeit, die an das Durchbrechen der erſten Boll⸗ werke gewandt werden mußte, jene Vorarbeit, die noch nicht im eigent⸗ lichen Sinne Frauenbewegung iſt und die dem Manne, was für Hin⸗ derniſſe er auch bei der Verwirklichung beſonderer Ideen finden mag, erſpart bleibt, weil eben die ganze Kultur männlich eingeſtellt iſt. Dieſe Freiheit der Geſtaltung iſt die Grundbedingung auch für die Schöpfung des Heims geweſen, nur daß es nicht bewußt gebildet wurde, ſondern allmählich als weſensgemäßer Ausdruck der weiblichen Sonderart entſtand. Zwar wird jede tüchtige Hausfrau verſichern: „Mein Mann wünſcht das ſo.“ Das ändert gar nichts, beweiſt nur unſere Auffaſſung. Denn das Haus ſoll keineswegs der Ausdruck des individuellen Willens der Hausfrau ſein — die deſpotiſche Haus⸗ frau iſt ein furchtbares Zerrbild —. ſondern ihr individuelles Ge⸗ präge tragen gerade in der Art, wie ſie die Wünſche aller Inſaſſen berückſichtigt und miteinander ausgleicht, wie ſie jedem Leben ſeine Ent⸗ faltung ſichert und nur abwehrt, was Schädigendes über ihre Schwelle dringen will. Das iſt Ausdruck ihrer Mütterlichkeit, und das iſt genau dasſelbe, was ſie im Volksſtaat zu leiſten hat, nur daß ſie hier als bewußte Bürgerin ſchaffen muß, was dereinſt intuitiv entſtand. In die ſozialen Inſtitutionen, die der Mann zum Ausbau und zur Korrektur ſeiner noch überall unzureichenden Geſellſchaftsordnungen ſchuf, ſoll die Frau die Seele hineintragen, die ſie bisher nur dem Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 266 Hauſe geben durfte. Es darf nicht überſehen werden, daß ſie infolge⸗ deſſen bei vielen Frauen ſo zuſammenſchrumpfte, ſo eng und kleinlich wurde, daß ſie über das Haus und ſeinen Inhalt nicht mehr hinaus⸗ ſahen, nicht ſahen, daß draußen die gleichen Aufgaben in größerem Rahmen auf ſie warteten. Die „gute Mutter“ war uns Deutſchen immer die, die jeden Augenblick und jeden Gedanken ihrer Familie gab; der Begriff muß ſich heute weiten, weil ſich mit dem Bürgertum die Verantwortlichkeit geweitet hat, die der Frau in der Entwicklung unſeres Volkes übertragen iſt. Machen wir uns nun an einer ganz rohen und unvollſtändigen Skizze klar, was die Frau zu leiſten hätte, um ihre Kulturtat, das Haus, auf große Verhältniſſe, auf den Staat zu übertragen. Ich be⸗ ſchränke mich dabei, meinem Thema entſprechend, auf ihre ſpezifiſchen Leiſtungen; vieles in bezug auf die allgemeinen Einrichtungen, vieles auch bei der Abwehr der furchtbaren Schäden unſerer Ziviliſation werden die Frauen nur im Verein mit einſichtigen Männern tun können. Da iſt zuerſt und vor allen Dingen das Mädchenſchulweſen. Be⸗ gründet vom Standpunkt des Mannes aus auf die äußere und innere Abhängigkeit der Frauen, unter ſeiner Leitung geblieben bis auf den heutigen Tag, ja von ihm heute entſchiedener als je beanſprucht, iſt es geeignet, der Kulturaufgabe der Frau den Weg zu verbauen, ſtatt ihn zu führen. Es iſt darüber von uns Frauen ſchon ſo viel geſagt und ge⸗ ſchrieben worden, daß ich mich im Zuſammenhang dieſer Ausführungen auf ein paar grundlegende Sätze beſchränken kann. Es iſt ganz klar und braucht nicht erſt unter Beweis geſtellt wer⸗ den, daß Mädchen wie Knaben nur durch einen Angehörigen des eigenen Geſchlechts für die beſonderen Aufgaben dieſes Geſchlechts ge⸗ weckt und geſchult werden können. Für die Mädchen aber gilt das doppelt, eben weil wir in einer rein männlichen Kultur ſtehen. Eine Frau an der Spitze einer Knabenſchule würde für die Durchführung der ſpezifiſch männlichen Erziehungsaufgaben ganz unſchädlich ſein, da die männliche Tradition in Geſtalt von Lehrern, Schülern, Vor⸗ geſetzten, Schema, Lehrplänen ihr wie ein Felſen gegenüberſteht. Ein Mann an der Spitze der Mädchenſchule iſt eben durch die hinter ihm ſtehenden Mächte männlicher Tradition, der heute auch die Lehre⸗ Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 267 rinnen noch zum großen Teil erliegen, imſtande, jede Entſtehung und Entfaltung originaler Frauenſchöpfungen zu verhindern, auch ohne jede Abſicht. Nur die Frau iſt ferner imſtande, in den Mädchen die beſondere weibliche Einſtellung zu den Lehrſtoffen hervorzurufen, die die beſondere Einſtellung der Frau zu der Geſamtheit der ſozialen Lebensordnungen vorbereiten ſoll. Nur ſie kann ihnen den Blick öffnen für die größte Umwälzung, die ſich in unſerer Politik vollziehen muß: jene andere Gewichtsverteilung, die das Leben höher wertet als die Dinge, die Menſchen höher als die Organiſationen; nur ſie kann das in der Frau ſchlummernde Gefühl für das Einheitliche, Zuſammen⸗ hängende wecken, das dem männlichen Spezialiſtentum gegenüber ſich heute nachdrücklicher als je geltend machen muß, nur ſie kann die oft notwendige Verteilung der Frauenkraft auf Familie, Beruf und öffentliches Leben richtig abwägen und auf einheitliche Grund⸗ lagen ſtellen. Wenige Worte — für etwas vollkommen Selbſtverſtändliches. Das Mädchenſchulweſen wird nicht eher ſeinen Zweck erfüllen, den Mädchen außer der allgemeinen Vorbereitung für das Leben auch die für ihre beſonderen Frauenaufgaben zu geben, bis die Frauen es ſo ſelbſtändig geſtalten, leiten, beaufſichtigen, wie die Männer das Knabenſchulweſen. Bei der Erziehung beider Geſchlechter ſollten dann beide Geſchlechter mitwirken, da es ja nicht nur die Sonderart zu wecken gilt; das ausſchlaggebende ſollte ſtets das eigene ſein. Das iſt aus den angegebenen Gründen für die Mädchen noch notwendiger als für die Knaben. Dann komme ich zu dem großen Gebiet, das man als „ſoziale Arbeit“ bezeichnet, das aber die ganze Verwaltungstätigkeit umfaßt, ſoweit ſie unmittelbar mit Menſchen zu tun hat. Vielleicht tritt hier die verhängnisvolle Einſeitigkeit, die rein männliche Prägung unſerer Ziviliſation am klarſten und zugleich am ſchädlichſten hervor: das Un⸗ perſönliche, das Überwiegen des Apparats, die Überorganiſation. In den erſten Formen, in denen ſich ein größeres Gemeinſchafts⸗ leben entfaltete, etwa in einer mittelalterlichen Stadt, beruhte es auf einem einfachen, lebendigen Ineinandergreifen von Selbſthilfe, Nach⸗ barhilfe und Gemeinſchaftshilfe. Die Menſchen waren noch keine Nummern; ſie fühlten und dachten ſich ſelbſt und andere noch nicht als Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 268 Nummern und Fälle, ſondern ſie waren perſönliche Menſchen mit per⸗ ſönlichen Schickſalen. Das Aktenwerk war verſchwindend im Ver⸗ hältnis zu dem, was wirklich geleiſtet wurde; das wichtigſte war nicht, daß etwas aufgeſchrieben und eingetragen wurde; ſondern daß etwas geſchah. Die Akten waren ein Notgerüſt für das Gedächtnis, nicht mehr. Für unſere heutigen Organiſationsformen gilt genau das Um⸗ gekehrte. Ich will als Beiſpiel den Organiſationsplan des Jugend⸗ amtes einer Großſtadt geben. Es werden folgende Beamte mit fol⸗ genden Funktionen benötigt — wenn die Aufzählung etwas lang⸗ weilig und weitläufig wirkt, ſo beleuchtet das gerade das Weſen der Sache. 1. Vorſtand des Jugendamtes. Die Tätigkeit umfaßt die Lei⸗ tung des Amtes, Kinderpflegeweſen, Verkehr mit den Aufſichtsdamen, Ver⸗ trauensmännern, Anſtaltsleitern und Vereinen im Intereſſe der Jugend⸗ fürſorge. Bearbeitung der Generalſachen, Perſonalſachen und Führung des Protokolls in den Sitzungen. 2. Stellvertretender Vorſt and. Stadtſekretär. Bearbeitung der der Abteilung für Vormundſchaftsweſen zugewieſenen Obliegenheiten. 3. Stadtſekretär. Zwangserziehung und Fürſorgeweſen. 4. Büroſekretär. Entgegennahme von Anträgen auf Zahlung von Pflegegeld, Unterbringung von Kindern in die Waiſenhäuſer, Säuglings⸗ heim, Solbäder, Idioten⸗, Krüppel⸗, Blinden⸗, Taube⸗ und Irrenanſtalten. Ferner Bearbeitung von Fällen nach Anordnung des Vorſtandes 5. Büroaſſiſtent. Bearbeitung der Akten nach übernahme der Für⸗ ſorge. Buchſtaben A—K. 6. Büroaſſiſtent. Wie bei 5. Buchſtabe I—2. 7. Büroaſſiſtent für die Abteilungen Mutter⸗, Säuglings⸗ und Kleinkinderfürſorge uſw. — Ferienwanderungen. 8. B üroaſſiſtent. Einziehung von Unterhaltsbeiträgen von den Alimentationspflichtigen und Führung der dazu notwendigen Bücher. 9. Büroaſſiſtent. Führung des Anweiſungsregiſters, Ausſtellung der Bedarfszettel für Heime, Ausſtellung von Scheinen für die Kleideraus⸗ rüſtung der Pfleglinge, ferner Ausſtellung der Rentenquittungen und Prü⸗ fung der Rechnungen, Materialverwaltung. 10. Büroaſſiſtent. Regiſtratur, ferner Bearbeitung von Akten nach Anordnung des Vorſtandes. 11. Weibliche Hilfe zur Leitung der der Abteilung für Säug⸗ lings⸗ und Kleinkinderfürſorge zugewieſenen Geſchäfte. 12. Weibliche Hilfe als beſoldete Aufſichtsdame zur Überwachung Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 269 von Pflegekindern in der Stadt und den Ortsgemeinden, ferner zur Feſt⸗ ſtellung in Zwangserziehungs⸗ und Fürſorgeſachen. 13. Zwei beſoldete Pflegerinnen zur Überwachung der gegen Ent⸗ gelt in fremde Pflege gegebenen Kinder unter 6 Jahren, ferner Überwachung weiblicher Dienſtboten, und Feſtſtellungen, die von dem Vorſtand aufgetragen werden. 14. Vier Schreibhilfen zur Bewältigung des Schreibwerks. 15. Bürodiener. Ferner ſind zwei geeignete männliche Kräfte notwendig, die für Ver⸗ bringung von Zwangszöglingen in die Anſtalten und ſonſtige Reiſen gegen Gewährung von Tagegeldern in Anſpruch genommen werden können. Das iſt überaus charakteriſtiſch: außer dem Leiter 14 reine Büroleute auf vier Perſönlichkeiten, die mit den Objekten dieſer ganzen Hilfeorganiſation wirklich zu tun haben. Alſo auf 18 Ange⸗ ſtellte, die Diätare noch ungerechnet, 4 Pflegende, d. h. zirka 222. 223 der Arbeit iſt alſo menſchlich⸗perſönliche Einwirkung; zirka 782 ſind Aktenführung, Eintragungen und ſonſtige äußere Geſchäfte. Woran liegt das? An einer unſinnigen Zentraliſation, an der Übertragung des Prinzips der Maſchine auf die Verwaltung von Menſchenſchickſalen. D. h. man legt ſich die Frage vor, wie man die Bedürfniſſe von Tauſenden von Menſchen durch einen ſicher, korrekt, lückenlos, überſichtlich funktionierenden Apparat „erfaßt“. Aber man irrt ſich eben, wenn man meint, daß mit dieſen Kartotheken, Jour⸗ nalen und Aktenſtücken nachher etwas ausgerichtet iſt. So gut wie wirkliche Nahrung eben nur aus der Erde kommt, aus lebendigem Wachstum, ſo gut kommt dem Menſchen wirkliche Hilfe, die ihn von innen heraus erfaßt und ſein ganzes Weſen bewegt, nur davon, daß ihm ein Menſch ſeine erlöſende Kraft ſchenkt und mitteilt. Dieſe behördlichen Hilfsapparate, die da als Wunderwerke der Verwaltungstechnik in Spezialiſierung und Zentraliſation aufgebaut ſind, verſagen ganz naturgemäß im Wichtigſten. Die Bevölkerung be⸗ trachtet ſie nicht anders wie etwa eine Straßenreinigungsmaſchine und nimmt ſie in Anſpruch als einen weiteren Apparat zur Erhöhung der Bequemlichkeit des Lebens, deſſen möglichſte Ausnutzung zum eigenen Beſten ſelbſtverſtändlich iſt. Dieſer Ausnutzungsſtandpunkt, über den man ſich nachher entrüſtet, iſt ganz natürlich einer Organi⸗ ſation gegenüber, als deren Weſen nicht lebendiger Gemeinſchaftsgeiſt, Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 270 wirkliche Hilfsgeſinnung, ſondern Journalnummer und Aktenzeichen erſcheint. Man fragt ſich ja oft, ob dieſe ganzen rieſenhaften Sicherungsapparate gegen jede menſchliche Lebensnot, die unſere Ge⸗ ſellſchaft aufgebaut hat, nicht mehr ſchaden als nützen. Weil ſie an die Stelle der Selbſthilfe treten, ohne die moraliſchen Kräfte zu be⸗ rühren, weil ſie den Menſchen vielfach die äußeren Folgen ihres mo⸗ raliſchen Verſagens abnehmen, ohne die inneren Heil⸗ und Hilfskräfte des Willens aufzurufen. Ich höre den Einwurf: das geht nicht anders. Wir haben nun einmal mit Maſſen zu tun und da hilft nichts als ſtraffe Organiſation. Ich ſage: es muß eben dieſe Arbeit von Grund auf anders aufge⸗ baut werden, und das ſollten die Frauen machen, — zum großen Teil auf eigenem, von der männlichen Welt „nicht entlehntem Baugrund“. Freilich — hier finden ſie wieder bergehohe Hinderniſſe. Ganz abgeſehen davon, daß ſie noch nirgends an der Stelle ſtehen, von der ſie das äußerlich könnten; der Stadtſekretär iſt ja ſogar noch vielfach ihr Vorgeſetzter. Das Schwierigere noch iſt die Starrheit, die blendende äußere Zweckmäßigkeit und Routine dieſes Syſtems ſelbſt. Seine Überwindung ſtellt Rieſen anforderungen. Nur Frauen, die beides haben: das ſtarke, unbeirrbare Gefühl für die lebendige Arbeit an Menſchen und organiſatoriſche Kraft, können hier Pio⸗ niere ſein. Und bis ſie ihr Werk getan haben, beſteht allerdings die Gefahr, daß viel Frauenkraft ſich in einem Apparat zerreibt, der ſie nicht zur Entfaltung kommen läßt. Oder, ſchlimmer noch, daß auch die Frau ſich durch dieſen Apparat imponieren läßt, mit Genugtuung an ihm herumhantiert und nicht ahnt, was an originaler Kraft dabei allmählich in ihr erſtickt wird. Zum Schluß noch ein Wort über die Rechtspflege. Simmel hat ſchon auf das vom männlichen abweichende Gerechtigkeitsgefühl der Frauen hingewieſen. Das äußert ſich aber nicht etwa nur in Fällen wie bei jener ſtarken Bäuerin im Jörn Uhl, die für ſich und ihr Kind vergebens Schutz gegen ihren verlumpten Säufer von Mann ſucht und dem Gerichtshof den Rücken dreht mit den Worten, das Recht im Vaterlande ſei ſo ſchwerfällig wie eine alte Kuh und ſo weiberfeindlich wie ein alter verbiſſener Junggeſell — obwohl auch damit ein ſehr wunder Punkt des einſeitigen Männerrechts berührt iſt. Sondern Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 271 uns iſt überhaupt die ganze männliche Art der Rechtſprechung weſens⸗ fremd. Sie vollzieht ſich heute in einer Art von mathematiſcher Glei⸗ chung: links die Verbrechen, etwa Einbruch in Konkurrenz oder „idealer Konkurrenz“ — oder wie ſonſt der juriſtiſche Jargon lautet — mit dieſen oder jenen anderen Verbrechen, rechts die Summanden der da⸗ für anzuſetzenden Strafen, wobei man zu der ſogenannten Einſatz⸗ ſtrafe noch die weiteren an und für ſich verwirkten Freiheitsſtrafen anſetzt, ſie in angemeſſener Weiſe reduziert, um dann durch Zuſammen⸗ rechnung die zu erkennende Geſamtſtrafe zu erhalten. Die Frau wird ſich nie einreden laſſen, daß das wirklich eine Recht ſprechung iſt. Ihr gilt auch auf dem Gebiet des Rechts der Schluß, den die Medizin für ihr Gebiet ſchon lange gezogen hat: es gibt keine Krankheiten, ſondern nur kranke Menſchen. Sie faßt das Ganze ins Auge, den Menſchen in des Lebens Drang, nicht den Einzelfall, der vom Geſetz aus dem lebendigen Zuſammenhang geriſſen und ſtrafgeſetzlich ſo und ſo bewertet wird. Es iſt natürlich heute unmöglich zu ſagen, wie ſich dieſes andere Gerechtigkeitsgefühl der Frauen allmählich den Aus⸗ druck ſchaffen wird, der für ein öffentliches Recht brauchbar iſt. Bis jetzt wird ihnen dieſes Gefühl für das Ganze und ſeine Zuſammenhänge, das zugleich Vorbedingung und Folge ihrer Fähigkeit zum Sichein⸗ fühlen in fremdes Seelenleben iſt, nicht als ein zur Ergänzung des männlichen Rechtsgefühls wertvolles Mehr, ſondern als Fehlbetrag angerechnet, als ein Grund mehr, ſie als Richter abzulehnen. Und vermutlich würde dieſes andere Empfinden dem übermächtigen männ⸗ lichen Rechtsgefühl gegenüber nie ſeinen Niederſchlag im öffentlichen Recht finden, wenn nicht ein verwandtes Gefühl auch in manchen Männern den Frauen zu Hilfe käme. So wird es vielleicht ſehr lang⸗ ſam zu einer Syntheſe des männlichen und weiblichen Rechtsgefühls im öffentlichen Recht und in ſeiner Handhabung kommen, zu einem wirklichen menſchlichen Recht. Dazu bedarf es für die Frau einer ausgiebigen und lange dauernden Möglichkeit, ihr Rechtsgefühl an der Praxis zu meſſen, zu korrigieren oder zu ſtärken. Je eher ihr ¹ dieſe Gelegenheit geboten wird, deſto beſſer für die Geſamtheit. Da⸗ nach iſt das Verfahren jener Frau zu beurteilen, die, mit beſonderem Stolz an der Spitze des Bundes gegen die Frauenemanzipation mit⸗ marſchierend, von Tür zu Tür Unterſchriften gegen die Beteiligung Die Frauenbewegung am Ziel oder Anfang? 272 der Frauen an der Rechtspflege ſammelt. Das iſt keine sancta, ſon⸗ dern eine ſehr ſimple simplicitas. Und es kennzeichnet die ganze Hilf⸗ loſigkeit und Unentwickeltheit unſeres heutigen Frauengeſchlechts, daß dieſes Einfangeverfahren ſeinen Zweck leider nicht verfehlt und den männlichen Reaktionären und Intereſſentengruppen auf dieſem Ge⸗ biet in die Hände arbeitet. Brauche ich nun noch eine ausdrückliche Antwort auf die Frage zu geben: Steht die Frauenbewegung am Ziel oder am Anfang? Wenn es verlangt wird, ſo lautet ſie ſo: Ich ſprach einmal einem Ingenieur meine Bewunderung über die großen Errungenſchaften auf dem Gebiet der Elektrizität aus. Er antwortete mir: „Wir kratzen nur erſt ein wenig an der Oberfläche herum.“ Genau das Gleiche gilt für die Frauenbewegung. Ihre eigentliche Durchführung bleibt dem kommenden Geſchlecht. Wir dürfen es darum beneiden. Denn wo wir als läſtige Eindringlinge gelten und Zoll für Zoll unſeren eigenen, angeſtammten Boden gegen Unver⸗ ſtand, Geringſchätzung und Brotneid erſt erkämpfen müſſen, werden ſie unbeſtritten auf eigenem Erbe ſtehen und aus reicher Hand ſpenden können. Uns heute Lebenden aber bleibt nur weiter der Weg der „geduldigen Taten“, des Wegebereitens für die, die da kommen und die Wandlung des Vaterlandes zum Mutterlande vollziehen. Wenn Dehmel in ſeinem ſchönen Gedicht ſagt: Völker, o dürften doch endlich Frauenhände euch lenken helfen, ſo hat er ſicher dabei nicht an das Frauenſtimmrecht gedacht, ſondern an jene Zeit, wo es den Frauen wirklich vergönnt ſein wird, als Mütter die Hände ſchützend über alles Leben zu breiten. Dieſe Zeit wird kommen.“) ¹) Als Ergänzung zu dieſen Ausführungen ſ. „Phaſen des weiblichen Kulturbewußtſeins“. Die innere Geſchichte der Frauenbewegung. Berlin 1925. F. A. Herbig Verlag. 273 Vor zehn Jahren. („Die Frau“, Auguſt 1924.) Daß zehn Jahre zugleich ſo lang und ſo kurz ſein können, ſo flüchtig und ſo unauslöſchlich eindringlich, ſo inhaltreich und doch in den Einzelheiten ſo ſchwer feſtzuhalten und zurückzurufen! Der 1. Auguſt 1914! Wie wenig Abſtand man noch zu dem Schickſal hat, das damals anhob, fühlt man erſt, indem man ſich darauf beſinnt, daß dies nur zehn Jahre her iſt. Es iſt wie heute und dann wieder wie ganz weit weg. Zurückgedrängt wie auf einen anderen Planeten iſt die Zeit vorher — eine Welt für ſich. Niemand empfindet das ſtärker, als wer mit dem Hauptteil ſeines Lebens dieſer Welt angehörte. Und was dann geſchehen iſt, — alle die Phaſen der Sorge und Hoffnung, der Anſpannung und des Aushaltens, des allmählichen Zweifelns. all das Auf und Ab bis zum Zuſammenbruch: es ſchiebt ſich im Rück⸗ blick zuſammen wie voreinander gelagerte Berge und Täler, und man kann den Weg nicht mehr verfolgen, den man gegangen iſt; weite Strecken ſind unſichtbar geworden. Aber feſter als die Ereigniſſe im einzelnen hält die Erinnerung die Gefühlserlebniſſe dieſer Jahre. Vor allem das Gefühl dieſer Tage, die ſich nun im Jahrzehnt jähren. Trotz allen Mißerfolgen, trotz allem, was ſeither über uns hingegangen iſt an zerſetzender und auf⸗ löſender Rechthaberei und Beſſerwiſſerei und an berechtigter nach⸗ träglicher Selbſtkritik — wir denken an dieſe Tage und unſere innere Haltung mit ganz reinem Gewiſſen: ohne Reue und ohne inneren Widerruf. Es iſt notwendig, dies gerade heute immer wieder zu be⸗ kennen: das Gefühl, von dem das deutſche Volk beim Kriegsausbruch beherrſcht war, war der Wille — nicht zur Eroberung, ſondern zur Verteidigung. Wenn die Schuld am Kriege als eine moraliſche, nicht als eine Schuld verkehrter Führung, wenn ſie als eine Schuld des deutſchen Volkes als ſolchen behauptet worden iſt, ſo iſt dieſe Be⸗ hauptung falſch. Dafür müſſen wir mit dem Bekenntnis zu dem Er⸗ lebnis des 1. Auguſt immer wieder Zeugnis ablegen. Die Größe der Stimmung ſelbſt war nur denkbar auf der Grundlage des Willens einer ehrenvollen Verteidigung, und ihr eigentlicher Ernſt lag in Lange, Kampfzeiten. II. 18 Vor zehn Jahren. 274 dem eingeſtandenen oder uneingeſtandenen Bewußtſein, daß ein ſchweres Schickſal ehrenvoll getragen werden mußte. Man ſollte in der Frage der Schuld am Kriege nicht nur die diplomatiſche Vorgeſchichte, man ſollte auch die Dokumente der Volksſtimmung geſchichtlich wieder aufleben laſſen, um ſich klar zu werden, daß abgeſehen von der immer unvermeidlichen vergröberten Stimmungsmache die Seele des deut⸗ ſchen Volkes nicht erfüllt war von der Genugtuung der endlich her⸗ beigeführten Stunde der „Tat“, ſondern von dem Willen, ein unbe⸗ greifliches politiſches Schickſal aus tiefſter Vaterlandsliebe zu tragen. War das nur Volksbetrug? Erfolg kluger ſeeliſcher Beeinfluſſung? In jenen erſten Tagen wäre es ganz unmöglich geweſen, Stimmungen durch künſtliche Mittel zu erzeugen, da brach aus unterſten Gründen des Volksbewußtſeins unwiderleglich Wahrhaftiges durch und zeugte für ſich ſelbſt. Und wer an dieſer Stimmung Teil gehabt hat, wird immer wieder die Erinnerung daran als ſtärkſten Gefühlsbeweis ge⸗ gen eine moraliſche Kriegsſchuld des deutſchen Volkes empfinden. Aber nicht nur dieſe Seite unſeres damaligen Erlebens beleuchtet die Erinnerung. Etwas anderes drängt ſich aus dem Hintergrunde der Gegenwart aus dieſer Zeit zwingend hervor: das Volkserlebnis, das uns damals zur Einheit verſchmolz und die inneren Gegenſätze auslöſchte. Je klarer wir uns darüber ſind, daß wir immer noch in jedem Sinne des Wortes nach außen und innen, wirtſchaftlich und ſeeliſch, politiſch und ſozial um unſere Exiſtenz ringen, um ſo ſchmerz⸗ licher empfinden wir, wie ſehr uns dieſe Kraft zur Einheit heute ver⸗ ſagt iſt. Ich blättere in den Heften der „Frau“, die damals die Er⸗ eigniſſe begleiteten, und finde in meinem Aufſatz „Die große Zeit und die Frauen“: „Das Größte dieſer Zeit iſt die Vereinheitlichung nach innen. Das Wort: „Es gibt keine Parteien mehr', iſt nicht nur eine Parole, ſondern als es ausgeſprochen wurde, ſchon Ausdruck einer Tatſache geweſen. Nicht der Überſchwang einer Stimmung hat dieſe Einheit geſchaffen, ſie iſt die Frucht einer ſchönen Reife unſeres Volkes, der Reife des Verſtehens, daß dem äußeren Feinde gegenüber der Ge⸗ genſatz der Parteien ſchwinden muß und ſchwinden darf, ohne daß wir unſeren Überzeugungen untreu werden. Wir wiſſen, daß nach dieſer Zeit unſere Ideale über den Ausbau unſeres Staatslebens wieder ihr eigenes Recht beanſpruchen werden. Heute aber ſind wir Vor zehn Jahren. 275 eins. Wir Frauen fühlen dieſe Einheit in einem doppelten Sinne. Als eine nationale und als eine ſoziale. Die erſte erfuhren wir über⸗ wältigend in den erſten Tagen. Die andere gilt es jetzt zu ſchaffen, und es wird vor allem unſere Aufgabe ſein, das zu tun. Denn groß und größer ſtieg in dieſen Tagen das gewaltige ſoziale Problem vor uns auf, das dieſer Krieg bedeutet. Der Wille unſeres ganzen Volkes, aller derer, die jetzt noch zu Hauſe ſind, einander zu helfen, wird die innere Wehrkraft ſein, von der Sieg und Niederlage genau ſo ſehr abhängt, wie von unſeren äußeren Erfolgen. Dieſen Willen ſollen wir ſchaffen helfen, dieſe Einſicht ſollen wir verbreiten.“ Iſt uns das gelungen? In dieſem Punkt kann unſer Gewiſſen nicht ganz ſo ruhig ſein. Man mag politiſch über den inneren Zu⸗ ſammenbruch denken wie man will — es dürfte für keinen ernſthaften und gewiſſenhaften Menſchen ein Zweifel darüber ſein, daß dieſer Zuſammenbruch zum Teil Schuld des Verſagens in dieſer ſozialen Aufgabe war, trotz allen Heimat⸗ und Hilfsdienſtes, trotz allen Hero⸗ ismus und allen Opfermutes. Daß es uns nicht gelang, das Ver⸗ trauen in die Volksgemeinſchaft bei denen unerſchütterlich zu machen, die unter dem Krieg am ſchwerſten zu leiden hatten — daß ſich in die moraliſche Phyſiognomie dieſer Jahre der Egoismus in ſo weithin erkennbaren, unverwiſchbaren Zügen eingegraben hat, das iſt ein Stück Schuld im Kriege. Wer die Machtverhältniſſe richtig und nüch⸗ tern einſchätzt, wird ſich nicht einbilden, daß größere moraliſche Kraft⸗ anſtrengung den Krieg hätte gewinnen können. Aber er wäre wür⸗ diger verloren worden, und wir hätten den Wiederaufbau unſeres Volks⸗ und Staatslebens ohne die furchtbare Verbitterung und den ſcheinbar unheilbaren Riß beginnen können, der ſich ſeit der Revo⸗ lution durch unſer Volk zieht. Iſt es zu ſpät, um das Verſäumte nachzuholen? Es iſt ſchon geſagt, daß wir immer noch um Sein oder Nichtſein ringen. Die Volksgemeinſchaft, Sehnſucht in allen Seelen und Schlagwort auf allen Lippen, bleibt immer noch Aufgabe. Aufgabe und grundlegende Bedingung für den Aufſtieg. Wenn wir einen Gedenktag aus dem 1. Auguſt 1924 machen, ſo geſchieht es zur Stärkung des Willens, wieder groß und kraftvoll zu werden, ein in einheitlicher Kultur blühendes Volk, das ſeinen Menſchen auf dem Boden der Heimat die 18* Weltanſchauung und höhere Bildung. 276 Möglichkeit gibt, ihre Kulturkraft zu entfalten und auszuwirken. Es geſchieht mit dem Zweck, uns zu all den Bedingungen zu bekennen, ſie zu wollen, von denen dieſer Aufſtieg abhängig iſt. Es geſchieht, um in Millionen den Entſchluß aufzuwecken, das Erlebnis des 1. Auguſt zu erneuern, nicht als Überſchwang einer gewaltigen Stunde, ſondern als Frucht eines zähen und reinen ſittlichen Willens. Weltanſchauung und höhere Bildung. („Die Frau“, Oktober 1924.) In den Etatsberatungen des preußiſchen Landtags iſt es diesmal zu einer Art Kulturkampf gekommen beim Etat der höheren Schule. Das iſt neu. Bisher pflegte ſich der Kampf um die Weltanſchaulich⸗ keit der Schule nur in der heute wieder ſo verhängnisvoll aktuellen Frage der konfeſſionellen Volksſchule abzuſpielen. Die Denkſchrift zur Reform der höheren Schulen hat die Frage nach dem geiſtigen Hinter⸗ grund der höheren Schule etwas deutlicher geſtellt und beantwortet als das bisher geſchehen iſt und damit allerdings auch das Problem, das hier liegt, ins Blickfeld gerückt. Sie hat, indem ſie mehr, als das bisher amtliche Lehrpläne zu tun pflegten, auf die inneren Zuſammen⸗ hänge des Unterrichts, auf die Bildungsideale der höheren Schule, eingegangen iſt, die Diskuſſion über dieſe Bildungsidee hervorgerufen und, indem ſie philoſophiſche Propädeutik als Fach ausdrücklich ein⸗ führt — und zwar als die Stelle der Zuſammenfaſſung des Wiſſens zur Idee — die Frage nach dem Gehalt dieſer Idee nicht nur geſtellt, ſondern auch andeutungsweiſe beantwortet: Der geiſtige Zuſammen⸗ hang der deutſchen Bildung beſteht in dem philoſophiſchen Idealismus der klaſſiſchen Zeit. Und ſo entſtand im Haushaltungsausſchuß des Landtags eine lebhafte Auseinanderſetzung über Kant und die Meta⸗ phyſik. Man muß ſich allerdings wundern, wie wenig man ſich bisher über die Weltanſchaulichkeit der höheren Schule den Kopf zerbrochen hat. Die höheren Schulen ſind grundſätzlich nicht konfeſſionell. Wo ſie Weltanſchauung und höhere Bildung. 277 won Schülern gleicher Konfeſſion beſucht werden, haben ſie wohl ohne beſondere prinzipielle Überlegung je nach individueller Einſtellung der Lehrer mehr oder weniger auch außerhalb des Religionsunterrichts konfeſſionelle Färbung gehabt. Aber dies im Gleichgewicht gehalten durch ein gewiſſes Maß von Wiſſenſchaftlichkeit — d. h. von undog⸗ matiſcher Objektivität in der Behandlung weltanſchaulicher Fragen. Gleichzeitig aber iſt aus den Stoffen ſelbſt, die in der höheren Schule behandelt werden, beſonders im deutſchen Unterricht, ein geiſtiges Weltbild, ein Ideenzuſammenhang aufgebaut (wenn anders die Schule ihre Aufgabe erfüllt hat), das zwar nicht im ausdrücklichen Wi⸗ derſpruch mit dem Inhalt des Religionsunterrichtes ſtand, ſich viel⸗ mehr vielfach in der Tiefe mit ihm berührte, aber doch auf eigenem Grunde beruhte. Das Verhältnis dieſes Weltbildes zur konfeſſionellen Religion iſt vielfach dahingeſtellt geblieben. Will man an Stelle dieſes Schwebezuſtandes eine klarere Grund⸗ lage der höheren Schule ſchaffen, ſo ergeben ſich drei Möglichkeiten: 1. Die Konfeſſionaliſierung auch der höheren Schule, wie ſie das Zen⸗ trum verlangt. 2. Die vollkommene Objektivierung und Nelativierung der weltanſchaulichen Fragen. 3. Die Begründung der höheren Schule auf ihre eigenen Bildungsideen. Daß die Konfeſſionaliſierung der höheren Schulen abzulehnen iſt, verſteht ſich für mich von ſelbſt. Aber auch von Menſchen ſtärkerer konfeſſioneller Einſtellung iſt es bisher abgelehnt, die höhere Schule auf eine dogmatiſch⸗konfeſſionelle Grundlage zu ſtellen. Das wider⸗ ſpräche dem Charakter der höheren Bildung als ſolcher, die ja doch zu jener vorurteilsloſen wiſſenſchaftlichen Betrachtung erziehen ſoll, die für die Hochſchule ſelbſtverſtändlich und allgemein unbeſtritten iſt. Die Konfeſſionaliſierung der höheren Schule würde aber auch den Zwieſpalt zwiſchen der konfeſſionell begrenzten religiöſen Grundlage und dem übrigen Bildungsgut der Schule größer machen. Denn ſie würde be⸗ deuten, daß man die Antike oder Goethe sub specie des Lutherſchen oder eines anderen Katechismus werten lehren müßte. Das tut tat⸗ ſächlich keiner, auch der Orthodoxeſte nicht, und wenn es irgendwo geſchehen iſt, ſo hat man das ſtets als eine Banauſenhaftigkeit emp⸗ funden. Tut man das aber nicht, dann kommt man zu einer unwahr⸗ haftigen Kompromißlerei, oder man läßt die weltanſchaulichen Werte Weltanſchauung und höhere Bildung. 278 des Bildungsgutes außerhalb des Religionsunterrichtes bewußt un⸗ ausgenutzt. Man verzichtet darauf, Goethe oder Schiller auf ihre Ideenwelt hin anzuſchauen. Die andere Möglichkeit wäre, die höhere Schule ſchon ſo zu ge⸗ ſtalten, wie die Univerſität, d. h. Ideen, ethiſche Güter, Weltanſchau⸗ ungen nur objektiv zu behandeln, ohne jede innere Stellungnahme, ohne die Ableitung einer Verpflichtung aus ſolcher Betrachtung, rein als Betrachtungsweiſen der Welt und des Lebens. Es hat eine Phaſe in der Pädagogik der höheren Schule gegeben, wo man dieſe relati⸗ vierende Wiſſenſchaftlichkeit als ihre Haupttugend hinſtellte. So wenn der Hiſtorikerkongreß von 1893 es ablehnte, dem Geſchichtsunterricht irgend ein anderes Ziel als die Bildung des hiſtoriſchen Sinns zu ſetzen und ſchon die Bildung des ſtaatsbürgerlichen Pflichtgefühls als abwegige, den wiſſenſchaftlichen Charakter des Unterrichts beeinträch⸗ tigende Zielſetzung verwarf. Heute teilt wohl niemand dieſen Stand⸗ punkt, wonach die höhere Schule darauf verzichten ſoll, poſitiv er⸗ ziehend zu wirken, zur verantwortungsbewußten ethiſchen Stellung⸗ nahme zu führen. Nicht im verſtehenden Erfaſſen allein darf die Be⸗ ziehung des Schülers zum Kulturgut liegen. Das Verſtehen ver⸗ pflichtet. Viel zu ſehr hat die Wiſſenſchaftlichkeit der letzten Jahr⸗ zehnte Relativiſten gezüchtet, die das erſte, weſentlichſte Gebot eines wertvollen Lebens, ſich für Ideen einzuſetzen, ſeinem Wege ein geiſtig⸗ ſittliches Ziel zu beſtimmen, nicht mehr kennen und in all ſolchen Ziel⸗ ſetzungen nur intereſſante Verſuche ſehen, denen andere Möglichkeiten gegenüber ſtehen. Die Schule muß, wenn ſie auch nicht dogmatiſch binden und den eigenen geiſtigen Kampf ausſchließen darf, doch die Pflicht zur ſelbſtgewählten Bindung lebendig machen. Sie darf es nicht bei der bloßen wiſſenſchaftlichen Vermittlung von Ideen bewenden laſſen, ſie muß das Gefühl erwecken, daß man nicht wert iſt, ſich in der Anſchauung von Ideen zu erheben, wenn man ſie nicht zum Maßſtab von Leben und Tat macht. Dieſe Aufgabe entſpricht zugleich der natürlichen Einſtellung von jungen Menſchen in dieſem Alter. Sie ſind ſchon verbildet, wenn ſie zu blaſierter Objektivität dem Ideal gegenüber überhaupt fähig ſind. Dieſe Verbildung hat allerdings die Schule, im Bunde mit der ehrfurchtsloſen ſogenannten Fortſchritt⸗ lichkeit halbgebildeter Elternhäuſer, nicht ſelten herbeigeführt. Aber Weltanſchauung und höhere Bildung. 279 heute iſt ſie mit ihren Gefahren erkannt und das Verlangen nach Poſitivität iſt allgemein. Bleibt die dritte Möglichkeit: Die höhere Schule erbaut das ſitt⸗ liche Weltbild, das ſie gibt, aus dem Bildungsgut, das ſie vermittelt. Unſere deutſche Kultur beſitzt das unſchätzbare Gut einer geiſtesgeſchicht⸗ lichen Glaubensepoche, in der aus ihren religiöſen, ſittlichen, gedank⸗ lichen Werken eine vollkommene Syntheſe geſchaffen wurde, die Epoche Kants und Goethes. Bekenne ſich die Schule zu dieſer Syntheſe. Sie tut es, indem ſie ihre Bildung weſentlich auf die Werke dieſer Epoche gründet. Sie kann nicht anders. Aber ſie geſtehe ſich das ſelbſt auch ein. Kann ſie denn eine höhere Syntheſe ſchaffen? Es gibt nichts Wertvolles und Weſentliches vorher und nachher, das nicht irgendwie in dieſem geiſtigen Zuſammenhang unterzubringen wäre. Ehrfürchtig und frei zugleich, gibt ſie Religion und Erkenntnis, Kunſt und ſitt⸗ licher Tat ihre Welt. Wer einmal mit jungen Menſchen Schillers philoſophiſche Gedichte oder Goethes Gedankenlyrik geleſen hat, weiß, daß dies nicht nur eine Propädeutik der Philoſophie, ſondern auch eine Propädeutik der Religion iſt, daß ſie eben das ſchafft, was Schiller in den Briefen über die äſthetiſche Erziehung die „erfüllte Be⸗ ſtimmbarkeit“ nennt, die Aufgeſchloſſenheit und Bereitſchaft zur Ver⸗ geiſtigung des Lebens durch die Idee, zur Bindung des Lebens an das Ideal. Nicht nur eine Anleitung zum philoſophiſchen Denken, auch eine Befreiung des Gefühls zum religiöſen Erlebnis und des Willens zum ſittlichen Geſetz kann hier ihren Urſprung nehmen. In aller Weite und Freiheit, ohne dogmatiſch zu binden, aber auch ohne ſelbſt⸗ gewollte Bindung zu hemmen. Keine konfeſſionelle Ängſtlichkeit wird verhindern, daß in dieſer Welt immer wieder die umfaſſende Gemein⸗ ſamkeit deutſchen Geiſtes erlebt wird. So ſoll man dieſe Tatſache auch bekennen und die Folgerungen daraus ziehen. Und je aufrichtiger man die Beziehungen der Konfeſſionen zu dieſer weiteren geiſtigen Welt dann behandelt, je beſſer für die Reinheit und Kraft des reli⸗ giöſen Bewußtſeins und die Klarheit der Idealbildung. Jeder Verſuch, aus dem ſchon heute ausgewählten Bildungsgut der höheren Schule den geiſtigen Zuſammenhang herauszuheben, wird dieſe Welt des philoſophiſchen Idealismus hervortreten laſſen. Man kann gar nicht an ihr vorbei. Sie iſt die Syntheſe unſerer Kultur, Erſter Kampf um das Schankſtättengeſetz. 280 und wir könnten das innere Band unſerer deutſchen Einheit noch viel feſter ſchlingen, wenn wir ſo frei, gläubig und vertrauend wie jene Zeit die Bildung der deutſchen Jugend unter ihr unvergängliches Zeichen ſtellten. Der erſte Kampf um das Schankſtättengeſetz. („Die Frau“, März 1925.) Die Stellungnahme des deutſchen Reichstags zum Schankſtätten⸗ geſetz in ſeiner Sitzung vom 18. Februar wird man als ein ſehr viel⸗ ſagendes Zeugnis für die intereſſanten Zuſammenhänge von Politik und Kultur feſthalten müſſen. Es lag ein Antrag der Sozialdemokratie vor, die Regierung ſollte das Schankſtättengeſetz, über das hier mehrfach berichtet worden iſt, wieder einbringen. Die Zuſtimmung zu dieſem Antrag bedeutet ſelbſtverſtändlich noch nicht die Zuſtimmung zu dieſem Geſetz, ſondern nur die Forderung, daß es dem Reichstag zur Beratung wieder vor⸗ gelegt werden ſollte. Trotzdem entfeſſelt der Antrag einen Kampf, der den Reichstag in zwei Lager ſpaltet: Für und wider. Während die Sozialdemokratie natürlich einſtimmig für ihren Antrag eintrat, ging durch ſämtliche bürgerliche Parteien ein Riß, der im Zentrum und bei den Demokraten die Mehrheit auf der Seite des Antrags, die übrigen bürgerlichen Parteien aber faſt einmütig als Gegner des Antrags fand. Die Stellungnahme wurde kompliziert dadurch, daß ein Teil der Deutſchnationalen unter Führung des Erlanger Theologen D. Strath⸗ mann einen abgeſchwächten Antrag eingebracht hatte: die Regierung wolle ein Geſetz vorlegen, das den Schutz der Jugend vor dem Alkoho⸗ lismus und eine Reform des Konzeſſionsweſens vorſehe — „unter Ablehnung der Trockenlegung“. Dieſe Einſchaltung legt das Pflaſter auf die verwundbare Stelle der Volksvertretung; ſie ſollte den Angſt⸗ komplex beſchwören, der die Betrachtung der Frage bei den meiſten beherrſchte. Um das Ergebnis der Abſtimmung vorwegzunehmen: der erſte Antrag auf Wiedereinbringung des Geſetzes wurde mit 199 gegen Erſter Kampf um das Schankſtättengeſetz. 281 165 bei 16 Stimmenthaltungen abgelehnt. Der zweite Antrag wurde mit 305 gegen 53 Stimmen bei 6 Stimmenthaltungen an⸗ genommen. Iſt damit vom Standpunkt der Bekämpfung des Alkoholismus etwas gewonnen? Mir ſcheint, daß dieſer zweite Antrag ein ſehr bedauerliches Augenblickskompromiß iſt. Sowohl vom volkserziehlichen und pädagogiſchen Standpunkt wie im Hinblick auf die praktiſche geſetzgeberiſche Wirkſamkeit eine betrübliche Halbheit. Als ob der Alkoholismus allein bei der Jugend zu bekämpfen wäre!! Und iſt nicht gerade vom „erziehlichen“ Standpunkt aus dieſe Abſchiebung der ganzen Frage auf die Jugenderziehung ein ſehr heikles Unternehmen? Merkwürdige Erzieher, die der Jugend ſagen: wir laſſen uns keine Beſchränkungen unſerer Alkoholbedürfniſſe mehr auferlegen, aber ihr ſollt „geſchützt“ werden, bis — — ja, bis ihr Manns genug ſeid für den Genuß der gleichen Menſchenrechte. Welche Wirkung wird eine Jugenderziehung haben, die zugleich den Alkohol⸗ genuß als Palladium reifer Männlichkeit behauptet! Ob die Jugend ſich ſolcher etwas verlogenen Einwirkung entzieht, oder ob ſie dem Alkoholismus abſagt, auf alle Fälle wird ihr Urteil über dieſe Art Erziehung feſtſtehen. Der Antrag bewegt ſich, wie die ganze Debatte, auf der Linie des Ausgleichs zwiſchen Unausgleichbarem: einer ener⸗ giſchen Bekämpfung des Trinklaſters und der Schonung aller Produ⸗ zenten⸗, Handels⸗ und Konſumentenintereſſen. Und noch etwas iſt charakteriſtiſch! Die Sozialdemokratie hat das Schankſtättengeſetz gefordert. Man kann aus der Liſte der namentlichen Abſtimmungen ſehen, daß auch in den anderen Parteien im weſentlichen die Arbeiter und Arbeit⸗ nehmerführer für das Geſetz eingetreten ſind. Es ſind die breiten Maſſen der Bevölkerung ſelbſt, die hier den volkserziehlichen Geſichts⸗ punkt in den Vordergrund ſtellen, die Maſſen, denen man Materialis⸗ mus und Idealloſigkeit vorwirft! Mir ſcheint, daß das Bürgertum dieſer Forderung gegenüber eine etwas peinliche Rolle ſpielt. Er⸗ innern wir uns doch der tauſendfach verwendeten ſchönen Worte von der Erhaltung der Familienkultur, von Zucht und Sitte und Rein⸗ heit! Es gibt ſicher keine ſtärkere Gefahr für die Familienkultur als eine Kneipe in jedem zweiten Hauſe! Sieht es nicht ſo aus, als Erſter Kampf um das Schankſtättengeſetz. 282 ob die Volkslaſter, ſo lange ſie etwas einbringen, eher gefördert als bekämpft werden ſollen? Sieht es nicht ſo aus, als wenn niemand mehr zuzugreifen wagt, ſobald die „Intereſſenten“ auf der Bildfläche erſcheinen? Es iſt natürlich klar, daß der Alkoholverbrauch nicht zurückgehen kann, ohne daß Produktion und Vertrieb Einbußen haben. Die volkserziehliche Bekämpfung des Alkoholismus kann nicht zugleich die Intereſſenten fördern! Aber der Reichstag probiert es dennoch. Die Liſte der namentlichen Abſtimmung iſt beſchämend. Von den anweſenden Frauen haben 22 für den erſten Antrag — die Ein⸗ bringung des Schankſtättengeſetzes — geſtimmt, 5 haben ſich der Stimme enthalten und eine hat dagegen geſtimmt. Die 5 Stimm⸗ enthaltungen entfallen auf die Frauen der Deutſchnationalen Volks⸗ partei, der Deutſchen Volkspartei und der Bayriſchen Volkspartei, die eine Ablehnung auf die Deutſchnationale Volkspartei. Alle dieſe Frauen haben für den zweiten Antrag geſtimmt. Es heißt, daß die Zuſtimmung der Fraktionsmehrheiten zu dem zweiten Antrag nur zu erreichen geweſen wäre unter der Bedingung, daß die Frauen bei dem erſten Antrag Stimmenthaltung übten. Wenn es ſo iſt, dann wäre das ein ſehr fauler Handel, und es iſt ſehr ſchwer einzuſehen, warum die Frauen ſich darauf einlaſſen mußten! Um ſo weniger, als z. B. der ehrwürdige Geheimrat Kahl von der Deutſchen Volks⸗ partei trotz dieſes Handels für den erſten Antrag geſtimmt hat, alſo in dieſer Sache aufrechter ſtand als die Frauen. Andere ſonſt ſehr beredte Vertreter ſittlicher Volkserziehung im Reichstag waren dies⸗ mal nicht ſo entſchieden. Herr Lic. Mumm blieb der erſten Abſtim⸗ mung fern und tauchte erſt zur zweiten auf. Die Kommuniſten ſtimm⸗ ten für den erſten und gegen den zweiten Antrag. Gegen beide Anträge ſtimmten 32 Abgeordnete, die meiſten aus der „Wirtſchaftlichen Vereinigung“, vereinzelte aus allen bürger⸗ lichen Parteien, eingeſchloſſen die Demokraten. Eine kleine Variation bringen noch 6 Abgeordnete, die das erſtemal mit nein ſtimmten, das zweitemal ſich der Stimme enthielten, unter ihnen 3 Demokraten. Dieſe 38 Herren wünſchen ſich alſo anſcheinend nicht einmal für den Schutz der Jugend einzuſetzen, damit das Gewerbe und das Recht der Staatsbürger auf ihren Rauſch nicht beeinträchtigt werde. „Völker Erſter Kampf um das Schankſtättengeſetz. 283 Europas, wahrt eure heiligſten Güter!“ Es wäre ſehr zu wünſchen, daß die Frauen aller Parteien aus dieſer Standhaftigkeit die Kon⸗ ſequenzen bei den Wahlen zögen! Und nun die Debatte. Wenn es ſich — bei Gleichheit der Grund⸗ anſchauung — nur um die Frage der Zweckmäßigkeit des Ge⸗ meindebeſtimmungsrechts gehandelt hätte, ſo wäre die Heftigkeit der Debatte nicht zu verſtehen geweſen. Aber es war deutlich zu ſehen, daß um eine ganz andere Frage gekämpft wurde. Sie liegt ſehr klar, wenn man das Für und Wider aller verhüllenden Demagogie ent⸗ kleidet. Man will eben auf der einen Seite eine Einſchränkung und auf der anderen eine Ausbreitung des Alkoholverbrauchs. Produktion, Handel, Ausſchank wünſchen, daß ihr Gewerbe blühe und gedeihe, d. h. eben, daß die Bevölkerung viel und mehr Alkohol genießt. Und vom volkserziehlichen Standpunkt will man eine Einſchränkung, die nun einmal ohne das, was die Intereſſenten eine „Schädigung eines ehrſamen Gewerbes“ nennen, nicht möglich iſt. Darum wehren ſich die Intereſſenten mit Händen und Füßen gegen jede Maßnahme, die zur Einſchränkung führt. Weil das aber nicht gut ausſieht, ſo richtet man ſeine Waffen nicht gegen die Einſchränkung, ſondern gegen die „Trockenlegung“. Alle Redner, die gegen den erſten Antrag ſprachen, beſchäftigten ſich mit der „Trockenlegung“, trotzdem ſie gar nicht zur Debatte ſtand. Denn das Schankſtättengeſetz, das dem Reichstag früher zugegangen war, war gar kein Trockenlegungsgeſetz. Es ſah nur vor, daß mit einer Mehrheit, die größer ſein muß als die ver⸗ faſſungsändernde Mehrheit des Reichstags, eine Gemeinde die Auf⸗ hebung der Schankſtätten beſchließen kann — eine Beſtimmung, die ja üiberdies von ihren Gegnern in der Beratung des Geſetzes hätte um⸗ geſtaltet werden können. Aber es iſt natürlich ſehr viel billiger, gegen die Trockenlegung zu argumentieren als gegen die Einſchränkung. Jeder vernünftige, nationale und um die Volkswohlfahrt ernſthaft bemühte Menſch muß natürlich zugeben, daß drei Milliarden Gold⸗ mark, die wir für Alkohol jährlich in Deutſchland ausgeben, zu viel ſind, und daß es für ein armes Volk eine Schande iſt, 41mal ſo viel Nahrungsmittel in Alkohol zu verwandeln als die Quäker uns für Erſter Kampf um das Schankſtättengeſetz. 284 hungernde Kinder geſchenkt haben, und daß nicht jedes zweite Haus in den Großſtädten eine Likörſtube zu ſein braucht. Dieſes Zuviel ſoll das Geſetz treffen. Aber weil dagegen wirklich nichts einzuwenden iſt, tut man ſo, als wollte das Geſetz „trocken legen“ und kämpft mit dem Aufwand des Verzweifelnden gegen die Trockenlegung. Wenn man dieſe Herren hört, ſo iſt von einer Alkoholgefahr in Deutſchland überhaupt nicht die Rede. Im Gegenteil. Es handelt ſich um die Erhaltung der „Sitten unſerer Väter, die doch weiß Gott auch ihren Wein und ihr Bier getrunken und es doch herrlich weit gebracht haben.“ (So Herr Nolte von der Wirtſchaftlichen Vereinigung, die wegen vordringlichen Intereſſes an der Frage als kleinſte Fraktion zwei Redner in die gleiche Kerbe hauen ließ.) Und ſo wie Herr Nolte die Gefühle nationaler Pietät aufrief, verſtieg ſich Herr Strauß von der gleichen Partei, nachdem er zunächſt das Geſetz wegen des notwendigen „Schutzes des Mittelſtandes“ verworfen hatte, zu den Höhen eines religiös⸗philoſophiſchen Pronunziamentos, das einmal im Jahre 1912, in einer nicht ſehr glücklichen Stunde, die Evangeliſche Kirchenkonferenz zu dieſer Frage beſchloſſen hat und deſſen Theſe 4 lautet: „Die Enthaltſamkeit von dem Genuß beſtimmter Dinge an ſich iſt nicht ſittlich vollkommener als ihr dankbarer Genuß.“ Dieſer Satz gefiel natürlich dem Reichstag gut, und Herr Strauß unterſtrich ihn noch mit der Bemerkung, daß er nicht nur einen religiös⸗philoſo⸗ phiſchen Grundſatz von hoher ſittlicher Bedeutung darſtelle, „ſondern auch den Ausdruck ausgereifter Lebenskunſt und Lebensweisheit, welche die Höhen und Tiefen des menſchlichen Lebens kennt und dem Willen der Selbſtbeſtimmung des Einzelnen volle Freiheit läßt.“ Und ſo hatte denn die Wirtſchaftliche Vereinigung beſchloſſen, dem deutſchen Volke die Stätten, an denen man die „Tiefen des menſch⸗ lichen Lebens“ kennen zu lernen Gelegenheit hat, mit aller Energie erhalten zu helfen. Auch der Zuſammenhang von Alkoholismus und Kriminalität exiſtiert für die Gegner des Geſetzes gar nicht. Der Vertreter der Bayriſchen Volkspartei bemerkte ſogar, daß in Bayern der Alkohol⸗ verbrauch zurückgegangen aber die Kriminalität geſtiegen ſei, woraus die Folgerung zuläſſig ſei, daß „man ſchnell wieder dazu kommen müſſe, den Alkoholverbrauch zu heben. Erſter Kampf um das Schankſtättengeſetz. 285 Sehr oft iſt betont worden, daß jede Bekämpfung des Alkoholis⸗ mus durch Schankverbote nur Heuchelei züchte, gegen die man ſich vom Reinlichkeitsſtandpunkt wehre. Aber mehr Heuchelei als in dieſem Kampf für den Alkohol zu Tage trat, kann wirklich kaum die ſchärfſte Trockenlegung erzeugen. Zwei Argumente kehren immer wieder. Man möge doch durch das Gemeindebeſtimmungsrecht „keinen Hader in die Bevölkerung tragen,“ und man dürfe die „perſönliche Freiheit“ nicht vergewal⸗ tigen. Das erſte Argument iſt im Munde politiſcher Parteien beſonders überzeugend. Die fürchten ſich doch ſonſt nicht vor dem „Hader“. Und es iſt noch ſehr die Frage, ob der parteipolitiſche Hader immer ſo hoch ſteht, daß die Politiker das Recht hätten, vor der „Volksauf⸗ wühlung“ zu warnen, die „fanatiſche Propagandiſten der Antialkohol⸗ bewegung“ bei einer Gemeindeabſtimmung vornehmen würden. Der Liberalismus alter Art, der Liberalismus des laisser faire, feierte natürlich auch wieder Triumphe. Nur aus freier Selbſtbeſtim⸗ mung ſolle der Menſch über das Maß von Alkohol befinden, das er zu ſich nehmen wolle. Zumal das Votum anderer dürfe ihn darin nicht beſchränken. Ein merkwürdiges Wort in einem demokratiſchen Staat, wo die Stellung der Mehrheit über die größten menſchlichen Fragen entſcheidet: über Schule und Staat und nationales Schickſal!! Da ſoll nur gerade dieſes Recht auf die bequem erreichbare Schank⸗ ſtätte dem Individuum grundſätzlich erhalten bleiben? Dieſer Liberalismus iſt vieux jeu. Er hat ſich gegen jede ſoziale Tat in dem letzten halben Jahrhundert geſperrt im Namen der Frei⸗ heit. Und die wirkliche Freiheit iſt der Bevölkerung dabei durch kapi⸗ taliſtiſche Großmächte genau ſo gut genommen wie heute die Reklame⸗ entfaltung des Alkoholkapitals einen moraliſchen Zwang zum Schlech⸗ ten in großem Stil darſtellt. Können nicht auch die geſitteten Ele⸗ mente der Bevölkerung beanſpruchen, daß ſie nicht hilflos gezwungen ſind, ſich jeden Kneipenbetrieb in ihre Wohnhäuſer legen zu laſſen? Und hat nicht dieſer Anſpruch mehr moraliſches Recht als der andere, die Schankſtätten binnen höchſtens drei Minuten Zeitverluſt erreichen zu können? Die ungeeignete Schöffin. 286 Das Geſamtergebnis dieſer Sitzung iſt einigermaßen nieder⸗ ſchmetternd. Selbſt wenn die Regierung ſich entſchließt, dem Antrag Strath⸗ mann zu folgen — — daß in den Beratungen des Reichstags unter dieſen Auſpizien ein brauchbares Geſetz zuſtande kommt, dazu ſind die Ausſichten ſehr gering. Die ungeeignete Schöffin. („Die Frau“, Juni 1925.) Durch die Berliner Preſſe ging am 9. Mai der nachſtehende Bericht: „In einer Berufungsverhandlung vor der zweiten großen Straf⸗ kammer des Landgerichts I, Berlin, gegen einen Buchhändler wegen Herſtellung und Verbreitung unſittlicher Schriften und Bilder beantragte der Verteidiger, eine Schöffin, die in dem Gerichtshof war, durch einen männlichen Schöffen zu erſetzen. In einer ſchriftlichen Begründung des Antrages kommt der Verteidiger zu einer grundſätzlichen Ablehnung der Frau als Beiſitzerin in Prozeſſen wegen Vergehen gegen die Sittlichkeit, weil durch ihre Erziehung und Auffaſſung ſie eine einſeitig betonte Einſtellung zuungunſten des An⸗ geklagten haben müſſe. Außerdem liege in der Mitwirkung der Frau bei derartigen Prozeſſen eine Beſchränkung der Verteidigung, da allen Prozeßbeteiligten ein natürliches Schamgefühl verbieten würde, in Gegenwart einer Frau am Richtertiſch gewiſſe notwendig erſcheinende Fragen mit voller Klarheit zu ſtellen und zu erörtern. Nach längerer Beratung gab das Gericht dem Ablehnungs⸗ antrag ſtatt, und da ein Hilfsſchöffe nicht zur Stelle war, mußte die Verhandlung vertagt werden.“ Dieſer Bericht empfängt dadurch noch ſeine beſondere Beleuch⸗ tung, daß der „Tag“ dazu folgende Bemerkung macht: „Damit iſt endlich das verneinende Urteil über die Eignung der Frau zur Schöffin gefällt worden. Die ungeeignete Schöffin. 287 Man wird unter den hier angeführten Gründen den erſten und den zweiten geſondert betrachten müſſen, und man wird dem Herrn Verteidiger nicht Unrecht tun, wenn man das zweite Argument als Mittel zum Zweck, dem erſten Nachdruck zu geben, anſieht. Es iſt gewiß begreiflich, daß es bei Verhandlungen über Fragen, die im weiteſten Sinne des Wortes mit der „Unzucht“ zu tun haben, Männern wie Frauen, wie überhaupt geſitteten Menſchen, ſchwer werden kann, vor einander gewiſſe Dinge auszuſprechen. Aber iſt nicht die Frau als Zeugin, als Angeklagte oder Klägerin tauſendmal im Gerichtsſaal, und hat man je davon gehört, daß um ihrer An⸗ weſenheit willen gewiſſe Fragen nicht berührt, gewiſſe Dinge nicht ausgeſprochen wurden? Niemand kann der Frau die Berührung mit dieſen dunklen Untergründen der menſchlichen Gemeinheit erſparen. Und es iſt eine ſehr klägliche und ſehr durchſichtige Abfindung, wenn man mit der Rückſicht plötzlich da anfängt, — nicht wo dieſe Dinge geſchehen, ſondern wo der Kampf des Staates gegen ſie einſetzt. Und zwar zum Schutz der Unſittlichkeit. Das iſt ja in dem Antrag des Verteidigers mit geradezu zyniſcher Offenheit hervor⸗ getreten. Warum haben wir denn den weiblichen Schöffen erkämpft? Doch gerade deshalb, weil wir unſere „Auffaſſung und Erziehung“ als einen Faktor im ſittlichen Empfinden des Volkes, wie es im Laienrichtertum zum Ausdruck kommen ſoll, zur Geltung bringen wollen. Es iſt wirklich erſtaunlich, daß von der Auffaſſung der Frau geſagt wird, ſie ſei „einſeitig“, ohne daß die doch ſehr nahe⸗ liegende Konſequenz gezogen wird, daß doch vielleicht auch die männ⸗ liche Auffaſſung „einſeitig“ iſt. Naiver läßt ſich wohl kaum der An⸗ ſpruch erheben, daß der Mann der Menſch ſchlechthin iſt, — kraſſer als bei dieſem Beiſpiel kann er aber auch ſich ſelbſt nicht ad absurdum führen. Denn einer übleren Sache läßt ſich wohl der Anſpruch auf Alleingeltung der männlichen Auffaſſung kaum dienſtbar machen. Nun hat nach einem der Zeitungsberichte die Schöffin ſelber die folgende Erklärung abgegeben, als ſie, wie das Gerichtsverfaſſungs⸗ geſetz es anordnet, ſich zunächſt ſelbſt über das Ablehnungsgeſuch zu äußern hatte: „Ich halte das Ablehnungsgeſuch für begründet, fühle mich befangen und würde in meinem ſittlichen Die ungeeignete Schöffin. 288 Empfinden dadurch verletzt werden, daß dort unſittliche Dinge, wie ſie hier zur Verhandlung kommen, erörtert werden.“ Dieſe Erklärung zeigt ſie ſelbſt nicht gerade auf der Höhe ihrer Aufgabe. Solche Fälle unzulänglicher perſönlicher Geeignetheit, die bei Männern ja auch nicht ſelten ſind, werden bei der Neuheit des weiblichen Richtertums vorkommen. Ein Vorſitzender, der den Sinn der Mitwirkung der Frau verſtanden hätte, würde ihr geſagt haben, daß ja gerade die Stellungnahme ihres weiblichen Empfindens von ihr erwartet werde, ſtatt ſie unter der ſuggeſtiven Wirkung der Behauptung des Verteidigers, ihr geſundes Gefühl ſei „Befangen⸗ heit“, zu belaſſen. Wie liegt denn die Sache? Eine große Volksbewegung kämpft im Augenblick gegen die Überflutung unſeres Volkes mit dieſem „Schmutz in Wort und Bild“. Die Jugend hat bei dieſem Kampf ihren entſchiedenſten Willen eingeſetzt. (Auch ihre Meinung wird na⸗ türlich von den Intereſſenten als „einſeitig“ hingeſtellt werden. Hat doch ein Berliner Gericht vor einigen Jahren, ehe es weibliche Schöffen gab, in einer Klage eines „geſchädigten“ Schmierverlegers gegen den Reichsjugendring dem Verlage recht gegeben mit der Begründung: man könne heute nicht mehr ſagen, wie es der Reichsjugendring getan habe, daß die beanſtandeten Schriften das Schamgefühl verletzen, da das Schamgefühl bereits ſo abgeſtumpft ſei, daß es an dieſen Dingen keinen Anſtoß mehr nehme.) Im Reichstag und in den Landtagen ſind Forderungen auf Verſchärfung der Geſetzgebung zur Bekämpfung von Schmutz und Schund geſtellt. Auf die Rechtſprechung wird es ja aber doch entſcheidend ankommen, wenn das Geſetz Erfolg haben ſoll. Und das Landgericht in Berlin weiſt den Weg, wie man auch die ſchärfſten Geſetze durch die Rechtſprechung ſabotiert: man ſucht ſich die geeigneten Schöffen, die nicht ſo „einſeitig“ ſind, Schmutz als Schmutz zu bezeich⸗ nen. Man ſchreibt über den Gerichtsſaal, in dem ſolche Dinge ver⸗ handelt werden, ganz in dem gleichen Sinne, in dem auch ſonſt die Exkluſivität gewiſſer, für uns unbegreiflicher, nicht gerade reinlicher Genüſſe bezeichnet wird: „Nur für Herren“. Dann kann man ſicher ſein, daß die „Einſeitigkeit“ derer, die in dieſer Art Literatur eine Schande für das deutſche Volk ſehen, bei der Rechtſprechung ausge⸗ „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 289 ſchaltet wird, damit Gerichtshöfe entſtehen, die durch ihre „Erziehung und Auffaſſung“ nicht „eine einſeitig betonte Einſtellung zuungunſten“ von Schmutzverlegern haben. Damit im Gegenteil dieſes Gewerbe, für das anſcheinend bei nicht „einſeitigen“ Leuten immer noch ein lebhaftes Bedürfnis beſteht, ungeſtört weiter blühe und gedeihe! Die Frauen werden aus dieſem Vorgang noch beſſer begriffen haben, warum das Schöffenamt erkämpft worden iſt. Und ebenſo werden nun wohl alle Freunde der Reinlichkeit im öffentlichen Leben aus dieſem Vorgang ſehen, welche Hilfe ihnen die Frauen ſein können, und die entgegengeſetzte Folgerung daraus ziehen wie der „Tag“. „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ (Die Frau“, März 1926.) Der Ruſſe Nemilow hat unter dieſem Titel ein knapp gefaßtes Buch herausgegeben, das die beſondere Aufmerkſamkeit der Frauen verdient.“) Wir ſind — wohl mit Recht — etwas vorſichtig mit der Aufnahme von Nachrichten über die Ent⸗ wicklung der Dinge in Rußland. Ob tatſächlich dort bereits eine neue Geſchlechtsmoral im Aufſtieg begriffen iſt, ob die Frau dem Ruſſen Kamerad und völlig gleichberechtigtes Mitglied der Geſellſchaft iſt, oder ob, wie bei uns, ein erſter Aufſchwung eine Paragraphengleichberechtigung ſchuf, die ſchnell wieder abwärts gleitet, darüber mögen Zweifel beſtehen bleiben. Aber das vorliegende Buch iſt eine davon unabhängige Leiſtung. Wenn auch die biologiſchen Tatſachen, auf die ſich ſeine Ausführungen ſtützen, i. a. bekannt ſind, ſo wirft doch ihre Zuſammenſtellung mit den daraus gezogenen Fol⸗ gerungen in vieler Beziehung ein ſcharfes Licht auf den ganzen Kom⸗ plex, den wir unter dem Namen „Frauenfrage“ zuſammenzufaſſen ¹) „Die biologiſche Tragödie der Frau“. Von A. W. Nemilow, Pro⸗ feſſor an der Univerſität Leningrad. Deutſch von Alexandra Ramm und Dr. med. F. Boehnheim. Mit 14 Abbildungen. Oskar Engel Verlag, Berlin SW11 (Preis geb. 2.50 M.). Lange, Kampfzeiten. II. 19 „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 290 gewöhnt ſind, und die anerkennenswerte Objektivität des Verfaſſers ſorgt dafür, daß dieſe Frage einmal in ihrer ganzen Schwere und Unerbittlichkeit in das Bewußtſein tritt. Ich will zunächſt ſeinen Gedankengang kurz darlegen. Tragik gibt es nur im Leben des Menſchen; das des Tieres iſt frei von tragiſchen Kolliſionen. Sie beruhen auf dem Widerſpruch zwiſchen perſönlichen Abſichten und Intereſſen und den Bedingungen der Umwelt. Weit tiefer als die ſubjektiven, die Charakter⸗ tragödien, die den Einzelnen betreffen, tiefer auch als die ſozialen, die ganze Gruppen betreffen, greifen die biologiſchen, die in der Natur des Menſchen ſelbſt enthalten und hoffnungslos, weil unab⸗ änderlich ſind. Schon jede Anomalie, jede organiſche Schwäche oder vererbte Krankheitsdispoſition bringt eine unabwendbare Tragik mit ſich. Für dieſe Tragik, für die Kolliſion, die entſteht, wenn das Stre⸗ ben des Menſchen auf unüberwindliche Hinderniſſe in ſeiner eigenen Natur ſtößt, braucht der Verfaſſer die Bezeichnung: „biologiſche Tra⸗ gödie“. Sie will er in bezug auf das Frauenleben darſtellen; ſeine Ausführungen ſollen zugleich das Rohmaterial bilden, das neben vielem anderen die Baſis für eine neue Geſchlechtsethik bilden möge. Der tiefſte Sinn des menſchlichen Geſchlechtslebens iſt die Fort⸗ pflanzung der Raſſe. Nemilow macht ſich die Auffaſſung Schopen⸗ hauers in ſeinem Kapitel über die „Metaphyſik der Geſchlechtsliebe“ zu eigen, um die Tragik zu kennzeichnen, die darin liegt, daß der Menſch in die Falle, die die Natur ihm ſtellt, hineintappt, ohne zu erkennen, daß er eigentlich, indem er ſeine eigenen Zwecke, ſeinen eigenen Genuß zu fördern ſucht, nur ein betrogenes Opfer der Gattung iſt. Nur wenn man den Gattungszweck ins Auge faßt, meint Schopenhauer zuſammenfaſſend, „erſcheinen die Weitläufigkeiten, die endloſen Bemühungen und Klagen zur Erlangung des geliebten Ge⸗ genſtandes der Sache angemeſſen. Denn die künftige Generation, in ihrer ganzen individuellen Beſtimmtheit iſt es, die ſich mittelſt jenes Treibens und Mühens ins Daſein drängt.“ Immerhin iſt der Menſch ſoviel gewitzter als das Tier, daß es ſtarker phyſiologiſcher Illuſionen bedarf, um ihm zu verſchleiern, daß er im Grunde nur den Intereſſen der Gattung dient. — Die ungeheure Bedeutung der Prozeſſe des Geſchlechtslebens auch für die geiſtige Entwicklung des Menſchen hat „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 291 erſt die moderne Forſchung beleuchtet, indem ſie die Bedingtheit der höheren geiſtigen Prozeſſe durch chemiſche Erreger (Hormone) feſt⸗ geſtellt hat, die aus den Geſchlechtsdrüſen in den Blutkreislauf ge⸗ langen. Wo ſie fehlen, wie bei den Kaſtraten, iſt ſchöpferiſches geiſtiges Leben unmöglich; es erliſcht mit der Macht der Geſchlechtshormone. Beim Menſchen iſt nun in weit höherem Maße als bei irgend⸗ einem Tier die Belaſtung durch die Gattungsaufgabe ungleich ver⸗ teilt. Während der Mann „ſeine Rechnung mit der Natur mit der Begattung beglichen hat“ und von allem weiteren biologiſch ganz frei iſt, iſt die Frau, ganz abgeſehen davon, daß ſie auch durch die Vorbereitung ihres Körpers auf die Geſchlechtsaufgabe weit ſtärker belaſtet iſt, gezwungen, die ganze Sorge für die Frucht auf ſich zu nehmen. „Sie wird nicht nur, wie der Mann, das Opfer einer bio⸗ logiſchen Illuſion, indem ſie auf den „Köder', den ihr die Natur ſtellt, hineinfällt, ſondern ſie iſt gezwungen, dafür einen teuren Preis durch einen langwierigen und vielſeitigen Dienſt zum Nutzen des „Genius der Art' zu entrichten.“ Einen Dienſt, der eine völlige Umſtellung ihres Organismus erfordert, unter Umſtänden, „die nur als grauſam bezeichnet werden“ können, inſofern die Natur in ihrem Körper „eine unbarmherzige Diktatur der reifenden Frucht errichtet“ und den ganzen Körper auf den Schutz dieſes neuen lebendigen Stoffes kon⸗ zentriert. „Alles für den Keim, alles für den „Genius der Art', für die Mutter nur Schmerzen, Unbequemlichkeiten aller Art.“ Und dann kommt die Geburt, für die Nemilow ſtatt des oft gebrauchten Aus⸗ drucks eines „phyſiologiſchen Prozeſſes“ den Ausdruck „phyſiologiſche Kataſtrophe“ für richtig hält. Wir brauchen ſeine Beweisführung in dieſem Punkt kaum weiter zu verfolgen. Es iſt jeder Frau ohne weiteres klar, daß die biologiſche Tragik des Mannes, wenn überhaupt vorhanden, minimal iſt im Ver⸗ gleich zu der der Frau. Und darum, weil wir hier vor unabänderlichen Tatſachen ſtehen, hat — nach Nemilow — obwohl nirgends ſoviel für den Ausgleich der ſozialen Rechte der Frau geſchehen ſei als in Rußland — „die wirkliche Lage der Frau ſich auch nach der Revolution ſehr wenig geändert.“ Dabei kann es kaum tröſten, daß er die „Äqui⸗ potentialität“ des weiblichen Organismus mit dem männlichen, alſo ihre Gleichwertigkeit behauptet und durch an und für ſich ganz inter⸗ 19* „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 292 eſſante Unterſuchungen über die Möglichkeit der Umwandlung weib⸗ licher Organismen in männliche und umgekehrt belegt; dieſe Um⸗ wandlungen beruhen auf einer Verpflanzung der Geſchlechtsdrüſen, die doch eben nur ein intereſſantes Experiment ohne die Möglichkeit allgemeiner praktiſcher Folgerungen bedeutet. Die Ausführungen, die er über die Untrennbarkeit des Frauenlebens von der Entwicklung der Keimdrüſen macht, ſind vielmehr geeignet, die Unentrinnbarkeit der biologiſchen Tragödie zu betonen, ſo daß im Grunde nur das Mädchen vor dem Eintritt der Pubertät als unbelaſtet gelten kann. Denn auch die Belaſtung durch die periodiſche Ovulation ſcheint ihm ſo ſchwer, daß er dem Hippokrates in ſeiner Behauptung zuſtimmt, „daß das ganze Leben der Frau eine ununterbrochene, nie aufhörende Krankheit ſei.“ Dieſe Auffaſſung ſucht Nemilow durch die Darſtellung des wei⸗ teren Verlaufs des Geſchlechtslebens der Frau zu belegen. Geburt, Stillperiode — alles Akte von „phyſiologiſchem Altruismus“. Und nie wird ſie davon gelöſt, denn wie ſich zur Zeit der Schwangerſchaft alle Kräfte des Organismus auf die wachſende Frucht konzentriert hatten, „ſo ſtellt ſich jetzt die Mutter voll und ganz auf das Kind ein.“ Nicht auf die eigene Individualität konzentriert ſie ſich, ſondern auf ein biologiſch von ihr getrenntes Weſen. Die Folge iſt eine immer weitere Entfernung vom Manne: „Sie beginnen in zwei Sprachen zu ſprechen.“ In den „Wechſeljahren“ erreicht das alles ſeinen Höhe⸗ punkt. Sie bedeuten nicht nur Vergehen des Körpers, ſondern auch Vergehen der „Seele“. So trägt nach Nemilow das ganze Leben der Frau, von der Ge⸗ ſchlechtsreife bis zu ihrem Tode, den Stempel des Tragiſchen, für das ſie auch das, was etwa ihr Leben an dem Manne unbekannten Freu⸗ den bietet, nicht entſchädigen kann. Und „dieſe biologiſche Tragödie der Frau wird noch durch das ſoziale Moment verſchlimmert. Mann und Frau, das iſt dasſelbe wie ein Kurzſichtiger und ein Weitſichti⸗ ger! Auf demſelben Platze im Theater ſitzen, iſt für beide nur eine formale Gleichheit.“ Und im ſtaatlichen Leben, das ganz der männ⸗ lichen Hälfte der Menſchheit angepaßt iſt, entſpricht die Gleichberechti⸗ gung der Frau mit dem Manne nur der Erlaubnis für den Kurz⸗ ſichtigen, ſich mit dem Weitſichtigen auf eine Bank zu ſetzen. „Die biologiſche Tragödie der Frau, 293 Nun ſoll man zwar für die ſoziale Gleichſtellung der Frau kämpfen, aber man darf ihr keine übertriebene Bedeutung beimeſſen. Man muß weitergehen und ſolche Formen des Lebens ſuchen, die die „Tragödie des Geſchlechts“ lindern können. In konkrete Vorſchläge umgeſetzt, bedeutet das: man ſoll der Frau den Ausweg aus der Ge⸗ ſchlechtstragödie eröffnen, wozu nach der Überzeugung des Verfaſſers in nicht zu langer Zeit die Möglichkeit durch einen Eingriff in die innere Sekretion gegeben ſein wird, die eine zeitweiſe Steriliſation bewirkt. Mit dieſen Mitteln, die — nach Nemilow — zweifellos kommen und ob mit oder gegen den Willen des Staates weiteſte Ver⸗ breitung finden werden, wird es die Frau in der Hand haben, ſelbſt zu entſcheiden, ob ſie einem Kinde das Leben geben will oder nicht. Aber Nemilow ſchließt dieſe Ausführungen und damit das ganze Buch mit dem Satz: „Die Regierungen aller Länder wird es aber vor die verantwortliche Frage ſtellen, wie gegen den kataſtrophalen Geburtenrückgang in der ganzen ziviliſierten Welt kämpfen ... Dieſe kurze Charakteriſtik der Gedankengänge Nemilows wird genügen, um ihn als einen Vertreter einer Weltanſchauung zu zeigen, die ſoziale und kulturelle Fragen ausſchließlich auf biologiſch⸗natura⸗ liſtiſcher Grundlage betrachtet. Darüber hinaus ſpricht er wie der typiſche Frauenarzt, der die Frau vorwiegend dann ſieht, wenn ſie der Belaſtung durch ihre Gattungsaufgabe im beſonderen unterworfen iſt, und dieſen Eindruck verallgemeinert. Dabei muß geſagt werden, daß das Buch zweifellos von tiefſtem Mitgefühl für die „biologiſche Tragödie“ der Frau eingegeben iſt, und daß viele ſeiner Ausführungen ſehr lehrreich ſind. Auch und viel⸗ leicht beſonders für den Mann. Im übrigen aber wird es kaum eine geſunde und geſund empfindende Frau geben, die nicht gegen die Geſamtrichtung der Ausführungen wie gegen einzelne, noch beſonders zu kennzeichnende Anſichten entſchiedenen Widerſpruch erheben wird. Ich will bei den Außenwerken beginnen, um von dort allmählich nach innen zu graben. Nemilow meint, obwohl es nirgends in der Welt eine freiheit⸗ lichere Geſetzgebung in der Frauenfrage gebe als im heutigen Ruß⸗ „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 294 land, ſei es doch für niemand ein Geheimnis, daß die wirkliche Lage der Frau ſich auch nach der Revolution ſehr wenig geändert habe. Sollte das wirklich ſtimmen, trotzdem nach ſeinen Mitteilungen bis zu 2576 Frauen in den Sowjets ſitzen? Wenn das heißen ſoll, daß ſich die biologiſche Belaſtung nicht geändert habe, ſo iſt das ſelbſtverſtändlich. Aber wer nicht von dem einſeitig naturwiſſen⸗ ſchaftlichen Glauben ausgeht, daß die biologiſchen Tatſachen unbe⸗ dingt ausſchlaggebend auch für jede Kulturentwicklung ſind und blei⸗ ben, wer auch nur an ein gewiſſes Maß von geiſtiger Freiheit und Eigengeſetzlichkeit ihnen gegenüber glaubt, der wird den Tat⸗ ſachen anders gegenüberſtehen. Zunächſt wird es Nemilow ſo gehen wie jedem Mann als bloßem Zuſchauer: er kann unmöglich beurteilen, wie die Lage der Frau war, ehe die neue Zeit, die für ſie ſchon lange vor den europäiſchen Nevo⸗ lutionen und zwar infolge ihrer eigenen Anſtrengungen, begann, ihr die erſten Anfänge ſozialer Rechte gab und wie ſich ihre Lage — eine Hauptſache! — in ihrem eigenen Bewußtſein ſpiegelte. Auch hier gilt das erſchütternde Wort von Elizabeth Robins über all das, was im Bewußtſein der Frauen von Anfang der Kulturgeſchichte an begraben lag und nie an das Licht kommen wird. Wir kennen die Auffaſſung des Mannes über alles in der Welt, die Frau mit eingeſchloſſen. „Was die Frau über das alles dachte, hat keiner je ans Licht gebracht, wenn er auch noch ſo tief in ſtaubigen Archiven oder unter den Ruinen toter Städte wühlte.“ Und ſo wird — um bei einer Zeit zu bleiben, die noch in Sehweite liegt — auch niemals in das Licht der Geſchichte treten, was die Frauen etwa um die Mitte des letzten Jahrhunderts unter ihrer ſozialen Lage gelitten haben. Als eigene Erfahrung könnte es heute nur im Gedächtnis weniger ganz alter Frauen leben; ſchriftlich niedergelegt iſt es nirgends. Die ſich ausſprechen konnten, waren eben nicht die eigentlich Bedrückten, ſie erlagen nicht dem lähmenden Minderwertigkeitsgefühl, das der Maſſe den Mund ſchloß. Denn ſie gehörten nicht zu denen, die, verängſtigt und unſelbſtändig, jene Kunſtfigur, die als männliches Frauenideal Geltung in der Ge⸗ ſellſchaft hatte, (ataviſtiſche Erziehungsweisheit möchte ihm heute noch zur Wiedererſtehung verhelfen!) in ſich darzuſtellen ſuchten. Sie nahmen getroſt das Odium der „Männlichkeit“ auf ſich, um für ihre „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 295 Geſchlechtsgenoſſinnen die im öffentlichen Leben üblichen und einzig möglichen Formen auch als Spielraum für die Entfaltung der wirk⸗ lichen Frauennatur zu erobern. Und wenn ſie zunächſt zwiefach ge⸗ ächtet waren, ſo ſchüttelten ſie das unbekümmert ab. Aber wenn uns die inneren Vorgänge bei der Maſſe der Frauen nicht mehr erkennbar ſind, ſo belehrt uns doch ein Blick auf die äußere Entwicklung über die tiefgreifende Wirkung der ſozialen Wandlungen. Wo die Frau um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dem öffentlichen Leben gegenüber ſtand, ſtand ſie als Einzelne da, miß⸗ trauiſch beobachtet, gehetzt und verfolgt. Wenn man heute die Auf⸗ ſätze und Bücher durchlieſt, die gegen den erſten Beruf, in den die Frau ſich hineinwagte, gegen den Lehrerinnenſtand, von ſeiten der männlichen Kollegen losgelaſſen wurden, ſo erſchrickt man über die Fülle von Bosheit, Gehäſſigkeit, Verleumdung, über die unglaubliche Überhebung, die ſich darin breit macht. Wir erleben zwar zurzeit eine Wiederholung davon — die geſchichtliche Entwicklung geht in Spiralen, und wir ſcheinen ſoeben an einer Wendung angelangt, die mit der vor mehr als einem halben Jahrhundert korreſpondiert. Aber wie anders iſt die äußere Lage! Anſtelle der vereinzelten Kämpfe⸗ rinnen Organiſationen von Zehntauſenden, die Schulter an Schulter ſtehen, die die Möglichkeit haben, ihre Forderungen nachdrücklich geltend zu machen. Und wenn auch ſie über das Verſagen der — immer noch faſt rein männlichen — Behörden, ja ſogar über die Fahnenflucht der Frauen, beſonders der Mütter, zu klagen haben, ſo bedeutet doch das Bewußtſein der großen Gemeinſchaft, die Berufs⸗ freudigkeit, die ſie gibt, das Gefühl wachſender innerer Selbſtändig⸗ keit, eines immer bewußter werdenden weiblichen Kulturwillens, eine ſo gewaltige, mitreißende Kraft, daß gar nicht davon die Rede ſein kann, daß die Lage der Frauen ſich durch die Umgeſtaltungen einer neuen Zeit nicht verändert habe. Es hat ſich das Wichtigſte in ihnen entwickelt: der feſte Wille zur Umwandlung der männlichen Kultur⸗ welt in eine Welt beider Geſchlechter. Und daß dieſe Entwicklung weſentlich das eigene Werk der Frau war — ſollte das nicht ſchon die Theorie der unentrinnbaren „biologiſchen Tragödie“ zweifelhaft machen? Denn es iſt offenbar, daß dieſe Entwicklung nicht auf die äußeren „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 296 Veränderungen als auf ihre eigentliche Urſache zurückzuführen iſt, daß ſie nur durch ſie ermöglicht wurde, weil ſie zum erſtenmal den nö⸗ tigen äußeren Spielraum boten. Was die Entwicklung im Grunde be⸗ wirkt hat, das ſind die ſchöpferiſchen Kräfte der Frau, die ſie, dem Bo⸗ den entſprechend, in dem ſie wurzeln, vor allem den Berufen zuführen, in dem ihre mütterlichen, fürſorgeriſchen, erziehlichen Inſtinkte Nahrung finden, mag ſie im übrigen auch, wie es die heutigen Um⸗ ſtände ſo gut von ihr wie vom Manne fordern, im „feindlichen Leben“ ihr Recht auf jeden ehrlichen Broterwerb geltend machen. Um die Sprache Nemilows zu ſprechen: die weiblichen Hormone ſind genau ſo gut ſchöpferiſch befruchtend wie die männlichen, nur in weiblicher Richtung. Das iſt ja auch ſeine eigene Überzeugung, nur daß er, wie der Mann meiſtens, dabei über die Familie nicht hinausdenkt. Es iſt aber nicht wahr, daß ſich die ſchöpferiſchen Fähigkeiten der Frau auf das Haus beſchränken; nur daß ſie in der Mütterlichkeit ihren Quell haben, der ſie ſpeiſt und ohne den ſie verdorren, das iſt wahr! Das Feld, das ihrer Bearbeitung, der Umgeſtaltung durch ihre Schöpferkraft harrt, iſt rieſengroß; wir ſetzen den Pflug erſt eben an. Noch zeigt ſich dem fremden Beobachter kaum, wohin die Furchen führen ſollen. Wir ſelbſt aber ſind uns der Richtung ſicher, wir kennen auch das Saatkorn, das ſie bergen ſollen, und wir wiſſen, daß es einſtmals Frucht tragen wird tauſendfältig. Aber, ſagt Nemilow, für die Frau bedeuten die öffentlichen Rechte ſo wenig, wie es für den Kurzſichtigen etwas ausmacht, daß er neben dem Weitſichtigen auf der Bank Platz nehmen darf. Auf der Bank des Welttheaters. Ja — iſt da wirklich der Mann immer der Weitſichtige geweſen? Beiſpiele zur Bekräftigung dieſes Zweifels gibt es genug. Der Glaube an die Notwendigkeit und die ſittliche Bedeutung der Regle⸗ mentierung jener Einrichtung, die männliches Bedürfnis ſich ge⸗ ſchaffen hat: der ſtaatlich ſanktionierten Proſtitution, ſtand der Maſſe der Männer noch felſenfeſt, als 1875 Joſephine Butler den Kampf gegen die „ſtaatliche Regulierung des Laſters“ aufnahm. Erſt heute, nach einem halben Jahrhundert, iſt begründete Ausſicht, daß die männlichen Ärzte und Geſetzgeber, die mit zaudernden, immer wieder zurückweichenden Schritten folgten, ſich mit genügendem Nachdruck für „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 297 die Abſchaffung einſetzen. Wer war nun hier der Weitſichtige und wer der Kurzſichtige? Heute ſteht es feſt, daß die Gleichberechtigung der Frau, ihre Zulaſſung zu allen Bildungs⸗ und Berufsmöglichkeiten, eine Notwen⸗ digkeit für die Höherentwicklung der Welt überhaupt bedeutet. Mary Wollſtonecraft aber war es, die Jean Jacques' Theorie, die dem Manne die Frau als Puppe erhalten wollte, umſtieß und alles das verlangte, was nach einem Jahrhundert des Spottes und Verſagens nun endlich gewährt wird. Ich frage wieder: wer war hier der Weit⸗ ſichtige und wer der Kurzſichtige? Wenn ſich dieſe Frage ſchon in bezug auf die Vergangenheit leicht vervielfältigen ließe, ſo wird ſie in Zukunft ſicherlich noch weit öfter geſtellt werden können, denn die Forderungen, die die jetzt mit offe⸗ neren Augen in die Welt ſehenden Frauen auf den lange vernach⸗ läſſigten oder rein bürokratiſch verwalteten Gebieten der Wohlfahrts⸗ pflege, der Fürſorge, Teilgebieten der Erziehung uſw. uſw. zu ſtellen haben, werden reichlich Gelegenheit zu dem Nachweis geben, daß ihr Auge ſchon jetzt, durch ihr mütterliches Gefühl in ſeinem Blick ge⸗ lenkt, Schäden und Beſſerungsmöglichkeiten ſieht, die dem anders eingeſtellten Blick des Mannes erſt indirekt aufgehen. Und ſo wäre die Schlußfolgerung: das Gebiet der Frau mag weniger umfangreich ſein als das Gebiet des für alles Sachliche und Wirtſchaftliche, für die ganze äußere Geſtaltung der Welt ſo weſent⸗ lich intereſſierten Mannes, aber es iſt wahrlich in ſeiner Einſtellung auf den Menſchen und auf alles das, was zu ſeiner äußeren und inneren Erhöhung und Erwärmung beiträgt, nicht weniger wichtig, und es kann nur durch die ſchöpferiſche Tätigkeit der Frau in der ihr gemäßen Richtung zur Entfaltung gebracht werden. Und ſo ſitzt ſie nicht ein für allemal als Kurzſichtige neben dem weitſichtigen Manne. Vielleicht iſt es überhaupt ein falſches Bild von dem Sinn der Gleichberechtigung, daß die Frauen nun in denſelben Reihen des Welttheaters ſitzen dürfen. Sie ſollen gar nicht in denſelben Aufgaben konkurrieren, ſondern die ihnen gemäßen übernehmen oder bei gleichen Aufgaben ſie in dem ihnen gemäßen Sinne löſen. „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 298 Aber für Nemilow würde auch unter der Bedingung ſinngemäßer kultureller Arbeitsteilung die Bedeutung der „biologiſchen Tragödie“ fortbeſtehen, weil ſie für die einzelne Frau unüberwindlich iſt. Und hier iſt für uns das zweite große Fragezeichen zu ſetzen. Nach Nemilow bringen die periodiſchen Vorgänge im Körper der Frau ſo ſtarke Störungen hervor, daß man den Eindruck hat, als ver⸗ meide er eigentlich nur aus Höflichkeit oder Großmut den Ausdruck „Unzurechnungsfähigkeit“. „Die Kondukteurin einer Trambahn reißt ein falſches Billett ab, verwirrt ſich beim Rechnen, obwohl ſie ſonſt ihrer Sache ganz ſicher iſt. Die Führerin eines Wagens fährt in dieſen Tagen langſamer und wird beim Kreuzen von Straßen verwirrt. Die Schreibmaſchiniſtin vertippt ſich und arbeitet langſamer als ſonſt. Und ſoviel ſie ſich auch zuſammennimmt, ſie läßt Buchſtaben aus und macht falſche Worttrennungen. Die Zahnärztin findet den geſuchten Bohrer nicht. Die Bohrmaſchine geht ſchlecht und ſteht irgendwie un⸗ bequem“ uſw. uſw. Ja, iſt dem ſo, — und trotz der Betonung, daß abſichtlich etwas outrierte Fälle angeführt ſeien, (warum eigentlich?) ſcheint nach der von Nemilow noch zitierten mediziniſchen Literatur eine große Anzahl von Ärzten der Meinung zu ſein, daß die Zu⸗ rechnungsfähigkeit einer weiblichen Perſon während der Periode eine ſtark beſchränkte ſei — ſo verſtehe ich nicht, warum das Strafgeſetz, das die willkürlich herbeigeführten, meiſtens auf das Konto des Mannes kommenden Rauſchzuſtände als ſtrafmildernd betrachtet, nicht längſt einen entſprechenden Paragraphen zugunſten der biologiſch, alſo ſchuldlos! unzurechnungsfähigen Frauen einführt! Wenn die Gründe dafür jetzt noch nicht ausreichend ſein ſollten, ſo werden ſie ſich ſicher in wünſchenswerteſter Zahl einſtellen, ſobald der Paragraph in Kraft tritt, dafür werden gewitzte Frauen ſchon ſorgen. Wiſſen doch ſchon die Schulmädel ihren Profit daraus zu ziehen, wenn — wie das vorgekommen iſt — ein auf dieſes biologiſche Moment eingeſtellter Lehrer ihre Schnitzer oder ihre Ungezogenheit damit entſchuldigt; der Lehrerin kommen ſie mit ſolchen Praktiken nicht. Die Tatſachen ſind nun dieſe. Zweifellos gibt es labile weibliche Perſonen, die verhältnismäßig ſchwer unter dieſen Vorgängen leiden und ſtarke Hemmungen dadurch erfahren. Sie ſind Ausnahmen. Es gibt ferner ſolche, die Unbequemlichkeiten und Schmerzen dabei zu „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 299 ertragen haben, neben ſolchen, die kaum eine Hemmung dadurch er⸗ fahren. Für die große Mehrzahl gilt: daß es eine Sache der Er⸗ ziehung und der Selbſtdiſziplin iſt, wie weit dieſe Vorgänge Herr⸗ über ſie werden oder von ihnen beherrſcht werden. Ich kenne Häuſer, in denen mit beſtem Erfolg die Parole ausgegeben wird, daß dieſe Zuſtände überhaupt niemandem bemerkbar werden dürfen. Vielleicht entwickelt ſich mit daran die größere Fähigkeit der Frau im Erleiden von Unbequemlichkeiten und Schmerzen, die Goethe mit ſo herzer⸗ guickender Ehrlichkeit zugibt: „Zwanzig Männer verbunden ertrü⸗ gen nicht dieſe Beſchwerde.“ Von dieſer Selbſtdiſziplin lieſt man bei Nemilow nichts, es liegt ja auch nicht innerhalb ſeiner Aufgabe. Aber jede vernünftige Ärztin, die aus eigener Erfahrung ſprechen kann, beſtärkt uns in der Überzeugung, daß dieſer phyſiologiſche Vorgang weder Kataſtrophe, noch Tragödie, noch Krankheit iſt, und daß ſich ſeine Unbequemlichkeiten bei angemeſſener Hygiene in den meiſten Fällen auf ein Minimum reduzieren laſſen, das man bei einiger Selbſtbeherrſchung ignorieren kann. Jede vernünftige Ärztin betont, daß die Menſtruation keine Krankheit, ſondern ein normaler phyſio⸗ logiſcher Vorgang ſei und warnt davor, die jungen Mädchen daran zu gewöhnen, ſich in dieſer Zeit für krank zu halten. Vor allem aber beweiſen ſo viele berufstätige Frauen in Stadt und Land, die ohne Störung ihrer Geſundheit jahrein jahraus ihrer Arbeit nachgehen, die Unhaltbarkeit der Auffaſſung, als ob dieſer phyſiologiſche Vor⸗ gang ſchon zur „biologiſchen Tragödie“ der Frau gehöre. Etwas ganz anderes iſt es freilich um die von der Natur der Frau auferlegte ungeheure Belaſtung im Dienſte des neuen Lebens. Wenn auch hier vieles auf Rechnung unſerer von natürlichen Ver⸗ hältniſſen ſo weit entfernten Ziviliſation zu ſetzen iſt, ſo iſt doch dieſe Ziviliſation und ſind damit auch ihre Folgen unentrinnbar gegeben. Und es berührt wohltuend, bei einem Manne und Arzt eine ſo unum⸗ wundene Anerkennung der Mutterſchaftsleiſtung und der Selbſtent⸗ äußerung zu finden, die ſie verlangt. Aber die andere Seite der Mutterſchaft bleibt unerörtert, da ihm die richtige Einſchätzung dafür fehlen muß. Jede Ärztin kann die uralte Weisheit der Bibel beſtätigen, daß auf die ſchwerſte Stunde der Frau ihre glücklichſte folgt, und jede Mutter, daß der Augen⸗ „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 300 blick, wo ſie ihr Kind im Arme hält, den Höhepunkt ihres Lebens bedeutet. Und auch die ganze ſchwere Vorbereitungszeit empfindet die Frau unter Verhältniſſen, die überhaupt für die Hingabe an den Mutterberuf Naum laſſen, in den meiſten Fällen nicht als Laſt und Tragödie; ſie durchlebt ſie trotz aller Beſchwerden getragen von dem Gefühl des Stolzes und der Freude der Mutterſchaft, und der „Keim“ iſt ihr ſo wenig ein fremdes Lebeweſen wie nachher das von ihr ge⸗ löſte Kind — es iſt und bleibt ihr eigen Fleiſch und Blut, deſſen Glück und Gedeihen ihr mehr bedeutet als das perſönliche. Es iſt unter den Männern wohl nur dem Dichter gegeben, das divinatoriſch zu ſchauen, wie etwa Nomain Rolland in „L'äme enchantée“. Jede Frau aber verſteht es inſtinktiv, aus der eigenen tiefſten Anlage heraus, die ſie, wenn ſie nicht ſelbſt Mutter iſt, überall mütterliche Betätigung ſuchen läßt. Es muß doch einmal offen geſagt werden: Nicht die Mutterſchaft als ſolche, ſo ſchwer ihre Belaſtung iſt, bedeutet unter normalen Ver⸗ hältniſſen die biologiſche Tragödie im Leben der Frau. Was aber wirklich dazu werden kann und in ungezählten Fällen dazu wird, das iſt die nie nachlaſſende ſexuelle Begierde des Mannes, die der Mutterſchaft keine Zeit gönnt, die beſonders in den ungeiſtigeren und den degenerierten Schichten den — nur zu oft alkoholiſierten — Mann die „eheliche Pflicht“ gleich nach vollendeter bis wieder an die äußerſte Grenze der neuen Mutterſchaft erzwingen läßt. Man braucht nur die Erfahrungen aus den Sprechſtunden der Ärztinnen zu hören, um zu wiſſen, daß hier Menſchenopfer fallen unerhört, daß hier ein oft lange verſchwiegenes körperliches und ſeeliſches Martyrium er⸗ litten wird, dem nur die Verzweiflung endlich Worte gibt. Und dieſe Verzweiflung treibt dann die gemarterte Frau ſo weit, daß ſie in Konflikt mit dem Strafgeſetz gerät. Nicht etwa erſt in unſeren Ta⸗ gen. Wer ſich durch das Material durcharbeitet, das Profeſſor Dr. Lewin in ſeinem Werk über die Fruchtabtreibung (Berlin, Georg Stilke) zuſammengeſtellt hat, der weiß erſt, was von Anbeginn der Geſchichte bis auf den heutigen Tag ungezählte Millionen von Frauen gelitten haben müſſen, um wieder und wieder, und oft in den grauen⸗ hafteſten Formen, zu der im Grunde für ſie widernatürlichen Ver⸗ nichtung keimenden Lebens zu kommen, auch — und beſonders! — „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 301 innerhalb der Ehe. Man verſteht ſehr wohl die Barmherzigkeit, die der Frau dieſen Konflikt, in dem ſie ſchuldlos ſchuldig wird, durch Strafloſigkeit löſen helfen möchte. Aber ganz abgeſehen von der Ge⸗ wiſſensirrung, die das im Gefolge hätte, unterliegt es leider gar keinem Zweifel, daß alles, was die Verantwortungsloſigkeit des Mannes im Geſchlechtsverkehr erhöht, die Rückſichtsloſigkeit haltloſer Männer — von guten und gewiſſenhaften Ehen iſt hier überhaupt nicht die Rede — bis zur Brutalität ſteigern würde. Dahin gehört die völlige Strafloſigkeit der Abtreibung (die Notwendigkeit ſtarker Strafmilderungen liegt auf der Hand), wie erſt recht die von Nemilow für die Zukunft in Ausſicht geſtellte zeitweiſe Steriliſierung der Frau, hinter die überdies Ärzte und Biologen wohl noch ein paar große Fragezeichen ſetzen werden. Die ganze Furchtbarkeit dieſer ſexuellen Mißhandlung der Frau und der unfreiwilligen Mutterſchaft wird uns da klar, wo es ſich um ungewöhnlich hochſtehende, feinfühlige Frauen handelt. Man darf nicht etwa glauben, daß die immer ins Feld geführte Fruchtbarkeit früherer Generationen eine beſondere ſexuelle Robuſtheit der Frauen vorausſetzt: ſie war erzwungen. Charlotte von Stein hat in den erſten neun Ehejahren ſieben Kinder geboren, von denen vier bald wieder ſtarben. „Mir war dies Geſchäft“, ſchreibt ſie, „auf eine ſchwere Art auferlegt. Von Tränen ermüdet, ſchlief ich ein und ſchleppte mich beim Erwachen wieder einen Tag, und ſchwer lag der Gedanke auf mir, warum die Natur ihr halbes Geſchlecht zu dieſer Pein beſtimmt habe . .“ „Charlottens Mutter hatte elf Kinder ge⸗ habt, von denen nur fünf am Leben geblieben waren, ihre Schwä⸗ gerin, Frau von Schardt, hatte ſechs totgeborene Kinder gehabt und entſetzlich an ſchweren Schwangerſchaften gelitten. Wie unabänderliche Naturerſcheinungen, wie Gewitter und Hagelſchlag nahmen die Frauen dieſe Plagen hin, und die Ehemänner, in naiver Selbſtherr⸗ lichkeit, verfielen nicht darauf, ihre Gattinnen vor ſolchem nerven⸗ zerrüttenden Erleben einigermaßen zu bewahren.“¹) So ſtand es zweifellos in unzähligen Fällen mit der „Gebärfreudigkeit“ der frühe⸗ ¹) Lena Voß: „Goethes unſterbliche Freundin“. Leipzig, Klinkhardt u. Biermann. „Die biologiſche Tragödie der Frau. 302 ren Generationen, die der jetzigen immer wieder vorgehalten wird. Der Schrei, den Helene Böhlau der faſt zu Tode gehetzten unehelichen Mutter in den Mund legt: „Wir, die wir die Menſchheit gebären, ſind Sklaven. Das iſt eine entſetzliche Sache, daß die Menſchen von Sklaven ſtammen, von Haustieren“ — dieſer Schrei iſt in der Seele ungezählter Ehefrauen durch Jahrtauſende hindurch erſtickt worden, bis die Auflehnung der Frau gegen ihre Verſklavung überhaupt ihr auch auf dieſem Gebiet den Mut der Ausſprache gegeben hat. Soll nun dieſe Tragödie, die ſich von Anbeginn der Welt bis auf den heutigen Tag bei der ſteigenden Verfeinerung der Frau nur immer mehr verſchärft hat, in Ewigkeit fortdauern? Oder was ſoll dagegen geſchehen? Für alle großen Menſchheitsfragen, ſeien ſie ſcheinbar noch ſo materieller Natur, gibt es eine endgültige Löſung nur aus der Vernunft, aus dem Metaphyſiſchen heraus. Nach dem Ausgang des Weltkrieges iſt es wohl jedem, der einer ſolchen Belehrung überhaupt geiſtig zugänglich iſt, klar, daß es einen „Krieg, um den Krieg zu enden“, nicht gibt, daß jede Gewalt nur weiter Gewalt erzeugt, die ſich freilich diesmal im Maskengewande eines „Friedens“ verbirgt. Und der ſcheinbar unausrottbare Vergewaltigungsinſtinkt des Mannes wird ſich ſchließlich einmal unter die Notwendigkeiten der Ver⸗ nunft beugen müſſen. Und wie dieſer allmächtige Inſtinkt, ſo wird auch der noch mächtigere ſexuelle Trieb — nicht durch neue Möglich⸗ keiten des ungeſtraften Sichauslebens e rhöht, ſondern durch ſeeliſche Mächte beſchränkt werden müſſen. Dieſe Forderung klingt heute vielen als reine, weltfremde Utopie. Und beſonders zur Skepſis geneigt ſind diejenigen, die in der Betrach⸗ tung der Frage von den angeblichen biologiſchen Tatſachen ausgehen. Es darf aber doch darauf hingewieſen werden, daß in der Diſzipli⸗ nierung des Geſchlechtstriebes die primitiven Völker viel weiter gin⸗ gen — wie immer wieder die Forſcher beſtätigt finden — als die ſo⸗ genannten Kulturvölker. Es liegt auf der Hand, daß die Ausſchwei⸗ fung des Geſchlechtstriebes in unſerer Gegenwart mit dem Natur⸗ gewollten überhaupt nichts mehr zu tun hat. Die Situation wird zweifellos ganz richtig gekennzeichnet in dem längſt nicht genug ge⸗ kannten Buch von Marie Luiſe Enckendorff: „Realität und „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 303 Geſetzlichkeit im Geſchlechtsleben“, (Duncker u. Humblot) in dem es heißt (S. 27): „Die Menſchen müſſen intenſiver geſchlechtlich geworden ſein als die Macht, die wir Natur nennen, ſie wollte und brauchte. Der Geſchlechtstrieb“ ſcheint eine Geißel der Menſchheit geworden zu ſein. Wunderlich nähme ſich wohl in einem Kulturſtaat die Forderung aus, daß während eines Krieges, vielleicht eines jahrelangen, Krieger wie zu Hauſe bleibende völlig abſtinent leben. Sie würde als die unmögliche gelten — der Primitive erfüllt ſie als ſelbſtverſtändliche. Solche Vergleiche, die ungezählten Hundert⸗ tauſende von Proſtituierten, welche die Welt trägt, der ganze geſchlechtlich ſinnliche Aſpekt des Lebens der Großſtadt, der Vergnügungen der Großſtadt, die breite Rolle, welche das Geſchlechtliche überall ſpielt, laſſen die Menſchen ſexuell überreizt, überſteigert — manchmal möchte man ſagen: laſſen die Menſchen geſchlechtlich toll geworden erſcheinen. Und daß unſer geſchlecht⸗ liches Leben durchwachſen iſt mit einem Element, das nicht aus der großen Urne ſchaffender Weltkräfte fließt, dokumentiert ſich auch darin, daß die geſchlechtliche Getriebenheit ſich am herrſchſüchtigſten, am unwiderſtehlichſten niederläßt auf die unkräftigen, nervöſen, widerſtandsloſer geratenen Men⸗ ſchen, auf die, welche überhaupt von Genüſſen, von dem, was die Welt ihnen zubringt, abhängiger ſind — auf die zur Propagation Ungeeignetſten; und daß geſchlechtlicher Genuß das letzte Hilfsmittel des Genießens iſt für ſolche, denen das Leben alle anderen Genüſſe verſagt.“ Es gibt dieſer zweifellos vorhandenen Entartung gegenüber zwei Wege, von denen der eine mir allerdings nur als „Ausweg“ erſcheint. Der Ausweg beſteht darin, durch techniſche Mittel die Aus⸗ ſchweifung des Geſchlechtstriebes wirkungslos zu machen: Prävention, Steriliſation uſw. Leider ſteht es heute ſo um die Menſchheit, daß ohne die Mit wirkung dieſer Mittel die ſexuelle Frage unlösbar er⸗ ſcheint. Daß ſie den Weg zur Löſung bedeuten, werden ſelbſt die zyniſchſten Materialiſten nicht zu behaupten wagen. Die grundſätzliche Freigabe der „ſexuellen Bedürfniſſe“, die keine gegebene, ſondern eine nach dem Maße der ihnen gemachten Zugeſtändniſſe ſehr vari⸗ able Größe ſind, auf der einen, und ein künſtliches Syſtem der Folgen⸗ verhütung auf der anderen Seite — — daß das weder eine natürliche, noch eine ſittliche Löſung iſt, iſt wohl einleuchtend. Sie wird auch am Raſſeverfall nicht vorbeiführen. Der andere Weg iſt der zur Beherrſchung und Einordnung des Geſchlechtslebens in das Ganze eines ſeeliſch⸗geiſtig beſtimmten Le⸗ „Die biologiſche Tragödie der Frau. 304 bens. Dazu ſind gewiſſe Vorausſetzungen nötig. Eine der gröbſten nenne ich zuerſt: die Entalkoholiſierung. Es darf als eine Kultur⸗ ſchande bezeichnet werden, daß unſere „Volksvertreter“, trotzdem ſie wiſſen, daß von den 802 geſchlechtskranker Männer, auf die wir es glücklich gebracht haben, 452 ſich ihre Krankheit im Nauſch geholt haben, ſich mit einer Energie, die man ihnen bei geeigneteren Ge⸗ legenheiten wünſchen möchte, gegen das Gemeindebeſtimmungsrecht wehren, d. h. nicht etwa die „Trockenlegung“, ſondern nur das Recht der Gemeinden, Maß und Art ihres Trinkkonſums ſelbſt zu beſtimmen. — Und dahin gehört ferner die Erfüllung der Forderung, die Gertrud Bäumer ſo formuliert hat: „Wenn die Frauen ſich aus dem Bewußt⸗ ſein der Heiligkeit des Lebens für die Aufrechterhaltung der Straf⸗ barkeit ſeiner Vernichtung im Mutterleibe einſetzen, ſo haben ſie das Recht zu ſolchem indirekten Richteramt über Tauſende von Geſchlechts⸗ genoſſinnen nur dann, wenn ſie zugleich mit ganz anderer Energie für geſunde Lebensbedingungen der geborenen Kinder kämpfen.“²) Eine Forderung, die mit gewichtigſtem Nachdruck und im weiteſten Nahmen auch von Profeſſor Lewin dem Staat gegenüber geſtellt wird. Aber da liegt noch nicht der Schwerpunkt. Den müſſen wir tiefer ſuchen. Er liegt in der Forderung, daß Sitte und Geſetz der Frau, die alle Laſten zu tragen hat, auch die Macht und das Recht über das Maß des Geſchlechtsverkehrs in der Ehe zuſprechen. Dabei bin ich mir bewußt, daß es ſich hier in weit höherem Maße um eine Frage der Geſittung als um eine des Rechts handelt. Die Frau, die ſich in der Ehe brutaliſieren läßt, unter⸗ wirft ſich zum Teil dem phyſiſchen oder ſonſt materiellen Zwang, zum Teil der Furcht, ihr Mann möchte ihr ſonſt die „eheliche Treue“ nicht wahren (was gerade die Brutaliſierte meiſt mit allen Opfern doch nicht vermeidet). Das „Recht“ bedeutet da wenig und wird wenig ändern. Aber die allgemeine vulgäre Anſchauung, daß in der Ehe ſozuſagen alles erlaubt ſei, hat ihren Boden in Hörigkeitsbegriffen, von denen das Recht immer noch beherrſcht iſt. Nur ihre grundſätz⸗ liche Umgeſtaltung im Sinne der wirklichen Achtung vor der Mutter, ²) Septemberheft der „Frau“ 1925. Im Novemberheft findet ſich die Stellungnahme des Bundes deutſcher Frauenvereine zu § 218. „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 305 der heute die eheliche Geſittung vielfach Hohn ſpricht, kann überhaupt zu einer Rettung der Ehe führen. Ich höre die ſpöttiſche Skepſis, die meine Forderung hervorruft. Und doch iſt ſie die einzige, deren Erfüllung Erfolg haben, die die Gebärfreudigkeit der Frau heben kann. Nur die Auf⸗ hebung der unfreiwilligen Mutterſchaft kann die freiwillige Mutterſchaft erhöhen. Was ich verlange, iſt ſchon heute in jeder feinſinnigen Ehe Regel, und auch für die Geſetzgebung, ja für dieſe erſt recht, gilt es, daß es der Geiſt iſt, der ſich den Körper baut. Dieſer Geiſt hat einmal den famoſen Paragraphen des preußiſchen Landrechts diktiert, der dem Manne das Recht gab, ſeiner Frau die Ausdehnung der Stillperiode vorzuſchreiben; er hat auch das Gebot diktiert: La recherche de la paternité est interdite. Der Patri⸗ archalismus dieſer Geſetze hat nicht zur Feſtigung der Ehe geführt, er hat die Geſetzloſigkeit des Trieblebens, die unſere Kultur beherrſcht, geſtützt und befördert. Ein ſittliches Matriarchat — mindeſtens als ungeſchriebene Ordnung — wäre allein imſtande, die ſexuellen Sitten zur „Natur“ zurückzuführen und der ſeeliſchen Kultur zu unterwerfen. Auf was es dabei ankommt, ſagt Schiller in ſeiner Darſtellung des Erziehungsziels der Menſchheit: „Die Begierde erweitert und erhebt ſich zur Liebe ... der niedrige Vorteil über den Sinn wird verſchmäht, um über den Willen einen edleren Sieg zu erkämpfen ... die Luſt kann er rauben, aber die Liebe muß eine Gabe ſein ... Jetzt wird die Schwäche heilig und die nicht gebändigte Stärke entehrt, das Unrecht der Natur wird durch die Großmut ritterlicher Sitten verbeſſert.“ „Freiheit zu geben durch Freiheit“, das iſt der Grundſatz des Reiches, dem Schiller die Zukunft verheißt, aber Freiheit auf Grund der Bän⸗ digung der bloßen Naturtriebe durch die Vernunft. Wer darüber zyniſch denkt, mag es zu verantworten verſuchen. Er wird nichts daran ändern, daß Aufgang und Untergang der Raſſe doch davon abhängt, ob dieſes Ziel verehrt oder mißachtet wird. Gewiß, dieſes Reich der Herrſchaft des Geiſtes liegt in der Zu⸗ kunft. Der Wegweiſer dahin muß aber ſchon jetzt aufgerichtet werden. Und die Arbeit für ſeine Umſetzung in „Realität und Wahrheit“ muß ſchon heute beginnen. Den Frauen wird ein weſentlicher Anteil daran zufallen. Nicht den Modepuppen, die um die Wette mit den Männern Lange, Kampfzeiten. II. 20 „Die biologiſche Tragödie der Frau.“ 306 Zigaretten paffen und ſich amüſieren, ſondern den Frauen der ernſten Arbeit und den Müttern, die ſich ihrer Würde und Verantwortung voll bewußt ſind. Sie alle ſind dazu berufen, von der durch Ideale zu faſſenden Jugend an bis zu den Alten, die zwar nach Nemilow keine „Seele“ mehr haben, ſich aber manchmal doch noch als ganz brauchbar erweiſen. Ihnen allen gilt, was Elizabeth Robins in ihren Way⸗ Stations ſagt: „Wir ſehen deutlich, daß die Frauen, Schulter an Schulter ar⸗ beitend, wie wir nie zuvor gearbeitet haben, die Grundlagen zu einer Macht legen, die den Lauf der Geſchichte ändern wird ... Ich ſelbſt kann mir kein glorreicheres menſchliches Schickſal denken, als eine Frau zu ſein, die zu dieſer Zeit lebt — eine Frau, die fähig iſt, tätigen Anteil an dieſem großen Werk zu nehmen. Es wird immer genug für die Frauen zu tun geben, aber niemals wieder, das darf man wohl an⸗ nehmen, wird der Frau das Los fallen, ſich ſo unentbehrlich zu ſehen.“ Am Wege. Kleine pädagogiſche Erlebniſſe. 309 Schulkindertorheiten. („Die Frau“, 1897.) „Haſt du eine „Bummelage“?“ Mit dieſer Frage wurde ich als Sechsjährige bei meinem Eintritt in die unterſte Klaſſe der höheren Mädchenſchule empfangen. Es iſt ſchon etwas lange her, aber deutlich erinnere ich mich noch des tiefen Gefühls von Beſchämung, das mich überkam, da ich gar nicht wußte, was eine „Bummelage“ war. Und die zwiſchen Staunen und Mißachtung wechſelnden Mienen der mich umſtehenden kleinen „höheren Töchter“ waren nicht eben geeignet, mein Selbſtgefühl zu heben. Um ſo mehr ſchwoll das aller Beſitze⸗ rinnen von „Bummelagen“, die ſolche mit hurtiger Hand aus dem Kleiderausſchnitt hervorholten und mir entgegenſtreckten. Es waren kleine Spielereien aus Achat — bei minder Bevorzugten aus Stahl gearbeitet; Anker, Kreuz und Herz bildeten als „Glaube, Liebe, Hoff⸗ nung“ den unentbehrlichen Stamm; Hämmerchen, Sternchen, Wür⸗ felchen uſw. geſellten ſich dazu; das Ganze wurde durch einen Ring oder eine Schnur zuſammengehalten und an einem Bande um den Hals getragen, in der Schule aber meiſt vor Späheraugen in den Kleider⸗ ausſchnitt verſenkt. Je ſchwerer das Ganze herunter„bummelte“, — manche beſaßen förmliche Bündel — um ſo höher die Geltung der kleinen Beſitzerin in den Augen der Genoſſinnen. Ich aber habe da⸗ mals, inmitten all der Beſitzenden, zum erſtenmal tief empfunden, was es heißt, ein Proletarier zu ſein. Zwar, vorgehalten hat die Empfindung nicht; dazu habe ich zeitlebens zu wenig Gefühl für „Bummelagen“ gehabt. Überdies wurde die Bummelagen⸗Rage ſehr bald durch eine andere, minder ſchwer zu befriedigende, aber bedeutend aufregendere Leidenſchaft ab⸗ gelöſt: die für „Knallgummi“. Sie ergriff die ganze Stadt zugleich, das heißt, was für uns die ganze Stadt bedeutete: die weibliche und männliche Schuljugend, während die Bummelagen⸗Epoche ſelbſt⸗ verſtändlich nur in der Mädchenſchule zu verzeichnen war. Die Na⸗ turgeſchichte dieſes Knallgummi iſt mir entſchwunden. Es war wohl eine beſondere Art von Gummi elaſtikum, das aber erſt durch — Kauen und nachfolgendes eifriges Kneten mit den Fingern für unſere Schulkindertorheiten. 310 Zwecke brauchbar gemacht wurde. Nach dieſer Prozedur wurde es ganz dünn gereckt, zuſammengebogen und mit den Rändern feſtge⸗ drückt. Die in die ſo entſtandene Taſche eingezwängte Luft bildete bei weiterem Preſſen eine Blaſe, die ſie endlich mit hörbarem Knall ſprengte, und dieſer Knalleffekt war das Reſultat, um das man alle vorhergehende Mühe und Sorge willig auf ſich nahm. Reiz hatte die Sache natürlich nur in der Schule. Schon die Ge⸗ fahr, beim Kauen ertappt zu werden, war nicht ohne Anziehungs⸗ kraft. Wenn aber gar mitten in einer langweiligen Rechen⸗ oder Handarbeitsſtunde der ominöſe Knall ertönte und unfehlbar die Frage hervorrief: „Wer hat hier Knallgummi?“ der dann die handgreifliche Unterſuchung folgte, ſo fühlten wir die ganze Spannung und das an⸗ genehme Gruſeln wie bei den heimlich geleſenen Temmeſchen Krimi⸗ nalnovellen. Die Heldin einer ſolchen Affäre trug in unſeren Augen eine Art Nimbus, beſonders, wenn es ihr gelang zu entwiſchen. Dieſe Epiſoden und einige nachfolgende „Ragen“ fielen mir wieder ein, als ich jüngſt eine Anzahl Schulmädchen auf dem Nach⸗ hauſeweg eine Drogenhandlung förmlich ſtürmen und den in abwei⸗ ſender Haltung hinter dem Ladentiſch ſtehenden „jungen Mann“ um „Liebigbilder“ angehen ſah. Nachdem die kleine Schar ſich enttäuſcht verzogen hatte, bat ich um Aufſchluß und erfuhr, daß die kleinen, den Liebigſchen Fleiſchpräparaten von der Firma als Gratiszugabe beigelegten Reklamebildchen ſeit geraumer Zeit einen leidenſchaftlich begehrten Sammel⸗, Tauſch⸗ und Handelsartikel bei der Schuljugend bilden. Die Sache erſchien mir im erſten Augenblick in demſelben komiſchen Licht wie meine eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet. Je mehr ich ihr aber nachforſchte, um ſo bedenklicher erſchien mir ihr Charakter. Ein Gang zu einem „Groſſiſten“ in dem Artikel — es ſind in Berlin bereits Spezialhandlungen und förmliche Liebigbilder⸗Börſen entſtanden, wohin die Sammler ihre Kärtchen zum Verkauf oder Um⸗ tauſch bringen — brachte eine Fülle lehrreichen Materials. Eine Mutter mit zwei kaufluſtigen Kindern, Knabe und Mädchen, war eben anweſend, denen der Händler, geſchickt die Kaufluſt anſpornend, zwei dicke Bände mit eingeklebten Liebigbildern vorfingerte. Auf jeder Seite befand ſich eine „Serie“ von je ſechs Bildern in Karten⸗ Schulkindertorheiten. 311 größe, die ein zuſammenhängendes Ganzes bildeten, zum Teil hübſch ausgeführte Sächelchen, Darſtellungen aus der Glocke, aus Opern, aus Märchen, von der Berliner Ausſtellung uſw. Aus der Unterhaltung der Kinder erſah ich, daß eine große Anzahl dieſer Bilder bereits in ihrem Beſitz waren. Es lockte nicht etwa die beſondere Schönheit dieſer oder jener Bilder, ſondern lediglich die mit dem Preiſe zu⸗ ſammenhängende Schwierigkeit, ſie zu erlangen. Die leidenſchaftlichſte Begier wurde nach ſolchen geäußert, die ſich etwa im Beſitz befreun⸗ deter Kinder befanden oder auch von dieſen lebhaft begehrt wurden; eine Begierde, die ſofort der augenſcheinlich völlig orientierten Mutter geäußert und von dieſer geteilt und — befriedigt wurde. Im Beſitz einer viele Mark repräſentierenden Menge von Bildern zog die kleine Geſellſchaft ab, nur mit dem Gedanken beſchäftigt, was „die andern“ dazu ſagen würden. Ich ließ mich nun von dem Händler über die Preiſe dieſer kleinen buntbedruckten Kärtchen unterrichten. Eine große Anzahl von Serien war für Preiſe von je 50 Pf. bis 1 Mark zu erſtehen; für Schulkinder auch ſchon ein Vermögen. Eine nicht geringe Anzahl aber ſtand im Preiſe von 2, 4, 6, 8, 10, 20, ja 25 Mark. — Die Höhe des Preiſes ſteht natürlich in erſter Linie im Zuſammenhang mit der Schwierig⸗ keit, die älteren Bilder, die ſeinerzeit ſelbſtverſtändlich wenig beachtet und in den ſeltenſten Fällen aufgehoben wurden, jetzt noch zu be⸗ kommen. Der landläufige Marktpreis für eine beſtimmte Serie, Szenen aus dem Leben der Königin Viktoria von England dar⸗ ſtellend, ſtelle ſich, ſo wurde ich belehrt, auf 60—80 Mark! Sechzig bis achtzig Mark für ſechs buntbedruckte Reklameblättchen! Der Beſitz der vollſtändigen, alle Serien umfaſſenden Sammlung würde ſich auf 4000 Mark ſtellen, belehrte mich weiter der Händler. Seither habe ich meine Erfahrungen weſentlich erweitert. Ich habe eine törichte Tante einem Buchbinder zehn Mark bieten hören, wenn er ihr — ich weiß nicht, ob die Tannhäuſer⸗ oder die Lohengrin⸗ Serie — für ihr Nichtchen verſchaffen wolle, die keinen anderen Wunſch mehr kenne. Ich ſah ein kleines Mädchen 5 Mark, die ſie ihrer Mutter durch ſtandhaftes Betteln abgepreßt hatte, für ſechs ſolcher Blättchen hingeben, die an ſich vielleicht einen Wert von 20 bis 30 Pfennig repräſentieren. Ich habe „Liebigbilder⸗Albums“ ge⸗ Schulkindertorheiten. 312 ſehen, die bis zum Preiſe von 25 Mark von einer findigen Induſtrie hergeſtellt werden ſollen; ich habe geſehen, wie dieſe Bildermanie taumelartig ganze Schulklaſſen ergriffen hat und von den höhe⸗ ren ſchon in die Gemeindeſchulen gedrungen iſt; ich habe auch ver⸗ ſchiedene ſonſt verſtändige kleine Mädchen nach dem Grunde dieſer Manie gefragt — ſie haben mir keinen anderen anzugeben gewußt als: „Die andern tun es auch alle.“ Man ſoll nicht mit Kanonen nach Spatzen ſchießen und Schul⸗ kindertorheiten nicht vom Standpunkt des Pedanten behandeln. Aber dieſe Torheit erſcheint doch mehr als bedenklich — ſie iſt überdies nicht nur eine Torheit der Kinder, ſondern eine Torheit der Großen. In wie hohem Grade, das zeigt eine dieſer Tage die Zeitungen durch⸗ laufende Notiz, wonach ein „Liebigbilder⸗Intereſſenten⸗Verein“ ge⸗ gründet worden iſt. Wenn nun Erwachſene Toren ſein wollen, ſo iſt das ſchließlich ihre eigene Sache. Was aber die Kinder betrifft, ſo trifft hier einmal „Demokrit der Jüngere“ (Leipzig, Fiſcher, 1893) den Nagel auf den Kopf, was ihm durchaus nicht immer paſſiert: „So gut es ſein mag, die Phantaſie und die freie Zeit der Kinder in ge⸗ wiſſe Kanäle abzuleiten, ſo wenig taugt es, hierfür eine Strecke zu wählen, wo ein ſtarkes Gefälle vorhanden iſt und das Spiel leicht zur brauſenden Leidenſchaft wird. Kinder dürfen keine andren Steckenpferde bekommen, wenn ſie den eigentlichen ſchon ent⸗ wachſen ſind. Derartiges ſollte ihnen ebenſo wie geiſtige Ge⸗ tränke ſo lange wie möglich fern bleiben. Zwiſchen beiden beſteht überhaupt eine bedenkliche Ähnlichkeit, eine gleichartige Ten⸗ denz, die auszurotten die erſte Aufgabe einer verbeſſerten Lebensan⸗ ſchauung wird ſein müſſen. Es iſt ein verzweifelter Peſſimismus, der uns veranlaßt, uns ſelbſt mit eitlem Tändelzeug über das Daſein fortzutäuſchen. Das Leben als leeren Balg zu betrachten, den wir mit Kleie oder Häckſel ausfüllen, ſteht nur um einen Grad tiefer als die Doktrin, es einzig für ein Jammertal zu halten.“ Wir ſtehen im Zeitalter der Fexe. Bergfexe, Sportfexe, Waſſer⸗ fexe, Wollfexe beherrſchen die Situation. Unter den Sammelfexen ſind jedenfalls die Liebigbilder⸗Fexe eine der merkwürdigſten Spiel⸗ arten. Aber die durch Weiterzüchtung entſtehenden Variationen über⸗ treffen ſie noch in der Fähigkeit, den „Balg des Lebens mit Häckſel Schulkindertorheiten. 313 und Kleie zu füllen“: ſie ſammeln bereits die bunten Bildchen der Schokoladen⸗, Bonbons⸗ und Garnfabrikanten; ja, das Neueſte ſind Sammlungen von Pferdebahnbilletts! Vielleicht iſt das auch für die Liebigbilder⸗Jünger der Schritt vom Erhabenen zum Lächerlichen, der ihnen die Augen öffnet. Gehen wir der Sache auf den Grund, ſo ſtellt ſie ſich ſo: wer ſeinen Schwerpunkt nicht in ſich hat, ſucht ihn außer ſich. Wer nicht; durch ſeine geiſtige Perſönlichkeit imponieren kann, will es durch etwas tun, was er beſitzt. Menſchen dieſer Art iſt nicht zu helfen. Eltern aber, die ihre Kinder bei einer ſo geiſt⸗ und ſinnloſen Manie unter⸗ ſtützen, bedenken wohl kaum, daß ſie künſtlich ſolche Menſchen heran⸗ züchten. Gerade die Teilnahme der Erwachſenen macht dieſen Sport ſo viel bedenklicher als die bald vorübergehenden, von den Erwachſe⸗ nen höchſtens belächelten, niemals geteilten Schulkindertorheiten un⸗ ſerer Jugendzeit. Man blieb ſich damals der Nichtigkeit dieſer Dinge und des Abſtandes gegen die ernſte Welt der Erwachſenen doch dunkel bewußt. Hier aber iſt dieſer Abſtand aufgehoben. Hier lehren die Großen die Kleinen, Geld für imaginäre Werte fortzugeben. Es iſt natürlich krankhaft, bei jedem Genuß, den man ſich gönnt, an das Stück Brot zu denken, das man einem Armen ſtatt deſſen reichen könnte; wenn man ſich aber die Summen vorſtellt, die hier ſo ſinnlos verſchleudert werden, ſo kann man doch nicht umhin, der zahlreichen Schulkinder zu gedenken, die jahraus, jahrein treppauf, treppab laufen mit Frühſtück oder Zeitungen, und von denen manch eines durch das Geld, das von ihresgleichen, von anderen Schulkindern und ihren Eltern ſo weggeworfen wird, aus ſeinem Elend erlöſt werden könnte. Der Tatendrang der Kinder kann faſt ebenſo leicht auf empor⸗ ſteigende wie auf abſchüſſige Bahn gelenkt werden; ſollte ſich da nicht ſtatt dieſer Fexerei, die Reich und Arm ſelbſt in der Kinderwelt ein⸗ mal wieder gründlich trennt und den Neid großzieht, etwas finden laſſen, das ſie verbindet? — — 314 „Kinderfräulein“. Eine Ketzerei aus der Sommerfriſche. („Die Frau“, 1904.) An der Napoleonſchanze in Norderney war es, an einem der brütenden Tage dieſes Sommers, in denen man gern den Schatten der vom Nordweſt für Lebenszeit gebeugten niedrigen Bäume auf⸗ ſuchte. Auf der Bank rechts von der meinen las ein Kanonier aus der Militärkuranſtalt einen Kolportageroman; zur Linken disputier⸗ ten ein paar Hamburgerinnen über philanthropiſche Vereine. Oben auf der Schanze ſaßen zwei „Fräulein“ mit den ihnen anvertrauten Kindern, je drei an der Zahl. Es waren augenſcheinlich beruflich ge⸗ ſchulte, ganz intelligente und ſehr betriebſame Mädchen, die in weiſer pädagogiſcher Abwechſlung das Leben ihrer Zöglinge verſchönten. Dem ſyſtematiſch geleiteten Herunterkollern der Kleinen von der Schanze folgte gerade im rechten Augenblick, als es auszuarten drohte, ein friedlicher Ringelreihen, in dem das Vöglein, das geflogen kam, korrekterweiſe „von der Mutter“ einen Gruß brachte — zwei der Würmlein, die ſich eben zu einem ſelbſtändigen Abſtecher in das Un⸗ terholz angeſchickt hatten, wurden am Schlafittchen wieder herangeholt. Dann wurde erzählt, dann eine Papiermühle im Winde gedreht, dann wurden die Kleinſten — unter Abſingung eines paſſenden Textes — in den Sportwagen eingeſammelt, und es ging auf den Heimweg, hübſch in zwei Reihen geordnet, unter Abſingung eines Liedchens, das offenbar den Zahlenkreis von Eins bis Dreißig einzuprägen beſtimmt war. „Achtundzwanzig, neunundzwanzig“, ſchallte es noch herüber, zwiſchen etwas ſchwammig anmutenden Textfragmenten. — Dann trat ein wohltätiger Waffenſtillſtand ein. — Sicher haben „Papa und Mama“ beim Empfang ihrer „artigen“ Kinder wenig geahnt, daß wieder einmal ein erfolgreiches Stückchen Erſtickungsmord an der Individualität der Kleinen vollbracht, daß eine weitere Doſis Naſt⸗ loſigkeit und Äußerlichkeit den ſchon ſo vielfach belaſteten kleinen Kul⸗ turmenſchchen mit freudig geübter Syſtematik und Überzeugungstreue beigebracht worden war. „Kinderfräulein“. 315 Kontraſte rufen einander hervor, lernen wir in der Pſychologie. Darum ſtand wohl vor meiner Erinnerung der kleine Inſulanerjunge, der geſtern, noch im Flügelkleide, vor ſeiner Mutter Tür ſpielte. Im Arm hielt er eine mit Waſſer gefüllte Seltersflaſche, die er mit ſolcher Innigkeit anblickte und ans Herz drückte, daß man wohl begierig ſein durfte, was für einen koſtbaren Schatz ſie ſeiner Phantaſie bedeutete. Der tragiſche Moment, den die Dichter immer dem Kulminations⸗ punkt des Glücks möglichſt naherücken, blieb nicht aus — die Flaſche entfiel ihm und zerbrach auf den Steinplatten. An den Trümmern ſeines Glücks verſank er in eine Betrachtung, die in einem halb pfiffi⸗ gen, halb wehmütigen „'twei moakt“ ihren redneriſchen Ausdruck fand. Offenbar war er gewohnt, mit ſich allein fertig zu werden und die Folgen ſeiner Handlungen mit philoſophiſcher Ruhe auf ſich zu neh⸗ men, denn meine Frage: „Junge, wat ſeggt Mutter nu?“ machte ihm nicht den geringſten Eindruck. Weiterhin hatte ich Peitſchenknall gehört und ein ganz kunſt⸗ gerechtes „Prrr. .“ Ein kleiner Knirps ſtand vorn auf der Hausbank, einen Bindfaden in der Hand, der mit beiden Enden an der Quer⸗ lehne feſtgebunden war; er zog ihn mit aller Gewalt an ſich, da die Pferde offenbar nicht ſtehen wollten. So konnten die drei Inſaſſinnen ſeiner Kutſche, die er wohl als Kurgäſte befördert hatte, in Gemüts⸗ ruhe ausſteigen. Und jene andere Gruppe vier⸗ bis fünfjähriger Inſulanerjungen mit der etwa ſechsjährigen weiblichen Aufſicht ſtand mir wieder vor Augen, wie ſie den Weg entlang tollte, ſich hinter einem Baum ver⸗ ſteckend, faſt unſinnig vor Lachen, wenn die kleine Wärterin ſie nicht ſofort fand. Als der Jüngſte fiel und einen kleinen Brüllverſuch machte, wurde ihm von der Sechsjährigen eine mütterliche Züchti⸗ gung appliziert, auf eine Stelle freilich, deren dauerhaftes Flicken⸗ gewirr jeder Berührungsempfindung ſpottete. Aber die ſymboliſche Handlung reichte zur Herſtellung des ſeeliſchen Gleichgewichts aus, und fröhlich ſtob die kleine ſelbſtändige Schar weiter. Und weiter zurück glitt mein Auge in die eigene Kinderſtube. Auf dem „Tritt“ am Fenſter ſitzt Theda, das oſtfrieſiſche Mädchen alten Schlages, Dutzende von zerriſſenen Kinderſtrümpfen im großen Flickkorb vor ſich. Auf einen leitenden Einfluß macht ſie keinerlei „Kinderfräulein“. 316 Anſpruch; höchſtens fühlt ſie ſich als berufene Kritikerin, wenn unſere Bauern aus der Spielzeugſchachtel ihre Schweine in gar zu unwahr⸗ ſcheinlichem Plattdeutſch an die Stadtfrauen verhandeln. Manchmal ſitzt auch die alte Flickſchneiderin da und hebt dann und wann die Hände zu den mißhandelten Ohren: „Kinners un Minſchen, man nich ſo dull!“ Sie ahnt ja nicht, daß ſoeben Unkas die Cora befreit, oder Chingachgook ſeinen Sterbegeſang anſtimmt, oder die auf den Blumen⸗ töpfen jagenden ſelbſtgefertigten Indianer einen Jaguar geſtellt ha⸗ ben, oder daß gar der Kampf um Troja tobt. Den freilich verlegen wir lieber noch in den Stall auf den großen Torfhaufen, der ſo vor⸗ zügliche Wurfgeſchoſſe liefert. Ja, dieſer Torfſtall mit ſeinem myſti⸗ ſchen Rembrandtlicht, bei dem man doch, oben auf dem Balken ſitzend, ſo vorzüglich leſen konnte! Und die Waſchküche, in der man Dohlen und junge Hunde, Igel und Kaninchen barg; die in eine alle Nachbarskinder entzückende Räuberhöhle verwandelt wurde, wenn man nur den Waſchtrog umkehrte und ihn durch einen darauf nieder⸗ gelegten Hundeſchädel als den Schwuraltar kennzeichnete, der unſerer Phantaſie als notwendiges Ausſtattungsſtück jeder richtigen Näuber⸗ höhle galt. Alle die Winkel und Ecken, in denen man Heinzelmänn⸗ chen vermutete und in denen es ſich ſo köſtlich erzählen und träumen ließ. Alle — — Aber da läutete die Mittagsglocke. Zur Rechten und zur Linken verſchwanden Kolportagehefte und philanthropiſche Vereine, und auch meine Gedanken folgten der zeitgemäßen Ablenkung. Aber die Moral der Geſchichte!? Die Durcharbeitung, das Syſtem, die Reformvorſchläge, das Endreſultat!? Ich werde mich hüten, dergleichen zu bringen und alle Zünftigkeit gegen mich zu empören. Was ich geben wollte, war nichts als eine Ketzerei aus der Sommerfriſche. Gedenkblätter. 319 Margarethe von Bülow. (Geſtorben 1884. „Die Frau“, Dezember 1919.) Der Name Margarethe von Bülow iſt heute ſo gut wie verklungen. Das iſt kein Urteil über ſie und ihre Bedeutung, ſondern ein Urteil über unſer Leſepublikum. Nicht über die große Menge, die Leihbibliothekfutter ſeichteſter Art ihrer ganzen Veranlagung nach ſuchen muß, aber über unſere Gebildeten. Vor allem über die Frauen. Denn ſie konnten und mußten Fühlung dafür haben, daß hier einer ihres Geſchlechts die ganze Fülle dichteriſcher Geſtaltungskraft gegeben war, die inſtinktſicher nur zuzugreifen braucht, um lebendige Menſchen hinzuſtellen; Menſchen, mit der Seele geſehen, nicht Romanhelden. Margarethe von Bülow iſt nicht einmal 24 Jahre alt geworden. Sie ertrank bei der Rettung eines Knaben unter der Eisdecke des Rummelsburger Sees am 2. Januar 1884. Kurz vorher hatte ich mit ihr auf dem Anhalter Bahnhof an dem Zuge geſtanden, der ihre Schweſter Frieda nach Italien führte. Sie ſprach mit der begeiſterten Lebendigkeit, mit der ſie alles im Leben ergriff, von ihrem Schlittſchuhſport und meinte auf meine ſcherzhafte Warnung lachend: „Wenn ich mal ein paar Tage lang nicht zu Ihnen komme, ſo denken Sie nur, ich ſei ertrunken.“ Lachend — und doch war der Schauer des Todes über ihr. In einer kleinen Novelle, „Zwiſchen zwei und drei“, die ſie wenige Mo⸗ nate vor ihrem Ende ſchrieb, rührt er uns an. Eine ſeltſame Be⸗ gegnung mit einem alle Vorübergehenden weit überragenden, wie aus leeren Augenhöhlen unheimlich ſtarrenden Mann, die wir beide an verſchiedenen Tagen zwiſchen zwei und drei in der urnüchternen Leipziger Straße gehabt hatten, geſtaltete ſich ihr zu einer Phantaſie, in der der Tod ſelbſt geſpenſtiſch ragend in Fleiſch und Blut durch die Straßen ſchreitet. „Schön iſt's gewiß, die Ecken auskehren, aber ſchöner doch, in dem reichen Haushalt mit verſchwenderiſcher Hand wühlen, ſolch eine prächtige Blüte zerpflücken, ehe die Schönheit in Dienſt ging, die Kraft im Keim zerbrechen und das Bild untergehen ſehen, das noch wie im Nebel ſeine großen Linien in der Zukunft barg. . . . Ihr mitleidigen Seelen, ihr wißt's nicht mehr, ihr wollt's nicht mehr, und doch iſt die Luſt der Natur Vernichtung. Margarethe von Bülow. 320 Wie ſchmerzlich klangen dieſe Worte in mir nach, als ich ſie nach jenem Abſchied auf dem Anhalter Bahnhof im Sarge wiederſah — die guten, klugen Augen geſchloſſen, das Antlitz herber Marmor, vom lockigen, reichen Braunhaar umrahmt. . . . Die Luſt der Natur iſt Vernichtung. Zwei ziemlich umfangreiche Bände bieten heute zum zweitenmal das Lebenswerk von Margarethe von Bülow dar: „Aus der Chronik derer von Riffelshauſen“ und „Novellen einer Frühvollendeten“.“) Nicht ihr ganzes Lebenswerk. Es fehlen einzelne ihrer Novellen, die doch charakteriſtiſch für ſie ſind (ich rechne dazu die myſtiſchen „Tages⸗ geſpenſter“), und es fehlt vor allem das bedeutendſte ihrer Werke: der „Jonas Briccius“. Er folgt hoffentlich nach; Margarethe von Bülow iſt ohne ihn nicht abgeſchloſſen. Es wäre müßig, prophezeien zu wollen, wie das Bild ſich voll⸗ endet hätte, „das noch wie im Nebel ſeine großen Linien in der Zu⸗ kunft barg“. Wer ſie gekannt hat, erwartete Großes von ihr. Die Art, wie ſie das Leben belagerte, bis ſie es erfaßt hatte: ſchauend, ahnend ſich einfühlend, ſchaffend, intellektuell; der Heißhunger, mit dem ſie am liebſten wie Fauſt das Wiſſen aller Fakultäten in ſich aufgenommen hätte, um dadurch zum eigentlichen Kern alles Seins vorzudringen; die glühende Begeiſterung und glückliche jugendliche Einſeitigkeit, mit der ſie zunächſt jede geiſtige Bewegung ergriff, die ihr aufwärts zu führen ſchien, um bald die Kritik daran zu üben, die ihr durchdringender Verſtand forderte, — das alles, dieſes ſtarke geiſtige Bedürfen und Können iſt als Rohſtoff in ihren Werken nicht erkennbar, die rein künſtleriſchen Linien folgen. Aber es zeigt das heiße Verlangen nach Vollendung des eigenen Weſens, die hohen Anſprüche an das geiſtige Selbſt, die Gewiſſenhaftigkeit des Wahr⸗ heitsſuchers, die ſchließlich auch das Rückgrat höchſter künſtleriſcher Leiſtung ſind. Das früheſte ihrer Werke iſt die „Chronik derer von Riffels⸗ hauſen“. Wenn viele Züge darin dem eigenen Leben entnommen ¹) „Aus der Chronik derer von Riffelshauſen“. Erzählung von Mar⸗ garethe von Bülow. „Novellen einer Frühvollendeten.“ Ausgewähltes von Margarethe von Bülow. Beide Bände mit Einleitungen von Adolf Bar⸗ tels. Leipzig, A. Voigtländers Verlag. Margarethe von Bülow. 321 ſind — das Gut der Riffelshauſen iſt eigentlich Ingersleben, das thüringiſche Gut der mütterlichen Familie von Münchhauſen, das den früh vaterlos gewordenen Geſchwiſtern Bülow zur Heimat wurde und wo ſie in dem Bruder ihrer Mutter einen liebevollen Freund und Vormund fanden — ſo iſt doch die künſtleriſche Frühreife erſtaunlich, mit der die damals Achtzehnjährige Familie und Freunde zu objek⸗ tivieren vermochte. Aber die Darſtellung geht weit über das Ko⸗ pieren hinaus; für vieles, ſo für die Geſtalt des Hofmarſchalls, iſt nur ein von Alter und Umgebung unabhängiges intuitives Schaffen Erklärung; Fritz Mauthner bemerkt mit Recht: „So hatte bisher nur George Eliot den armen Männern ins Herz geſchaut.“ Daneben iſt das ihrem Alter und Stand ſo fremde Verſtändnis der „kleinen Leute“, das ſpätere Erzählungen noch mehr hervortreten laſſen, ſchon hier deutlich erkennbar. In ihren Novellen²) überraſcht immer wieder dieſe Fähigkeit der Einfühlung in ganz fremde Perſönlichkeiten und Situationen. Um nur eine für alle zu nehmen: wo iſt das junge Mädchen, die das leiden⸗ ſchaftliche Leben der ungariſchen Pußten, das Milieu der Offiziere einer kleinen Garniſon auch nur äußerlich mit ſolcher müheloſen Technik zu zeichnen vermöchte, ganz abgeſehen von der überzeugenden Sicherheit, mit der ſie die Charaktere umreißt. Noch ein anderer Zug tritt hier bezeichnend hervor: die feinfühlige Keuſchheit, die es ab⸗ lehnt, durch ſexuelle Kleinmalerei billige Effekte zu erzielen. Der ſichere künſtleriſche Inſtinkt, der ſich immer bewußt bleibt, daß es Dinge gibt, die man nicht ausſpricht, hat Margarethe von Bülow niemals verlaſſen. So wenig ſie ſelbſt durch nur ſinnliche Motive gereizt wurde, ſo wenig hatte ſie das Bedürfnis, ſie als Reizmittel zu verwenden. Ihr war auch in der Liebe das geiſtige Moment das entſcheidende. Und ihre Helden finden, auch von glühender Leiden⸗ ſchaft durchpulſt, etwas in ſich vom kategoriſchen Imperativ, der das „Sichausleben“ unmöglich macht, der Kraft gibt, den eigenen Willen zu zwingen und zu entſagen oder zu verbluten. Nicht jenen kühlen, ²) Der Band umfaßt: Der Oberleutnant Percy; Gebunden; Herr im Hauſe; Die Frau; Cyperacea; Ein rechtlicher Mann; Tagebuch Werner Afaras; Tragik im Alltagsrock; Die Glücksuhr von Wölfis (Märchen). Lange, Kampfgeiten. II. 21 Margarethe von Bülow. 322 begrifflichen, „ethiſchen“ Imperativ: „Gut, böſe, recht und unrecht — — Begriffe! Begriffe! — Ja, wenn's nicht auch Gefühle wären!“ Und innerſter Wille: „Vor ſeinen Augen verſank die wilde Natur, die ihn zum Bekenntnis ſeiner Ohnmacht zwingen wollte — er ſetzte ſeinen Fuß darauf, er war frei. Hier iſt einer, der nicht anbetet.“ Ihre Novellen ſind zumeiſt Studien, aber Qualitätsarbeit. Nichts iſt hergebracht, weder Menſchen noch Ereigniſſe. Für alles hat ſie ihr eigenes Auge, ihr eigenes Maß, auch wenn Sprache oder Welt⸗ anſchauung hier und da noch an Turgenjew anklingen. Wenn die Riffelshauſen mehr das Typiſche bringen, ſo gehen die Novellen der Einzelerſcheinung nach, die aus dem allgemeinen Nahmen heraus⸗ fällt; aber ob ſie in Werner Afara die heranſchleichende Geiſteskrank⸗ heit ſchildert, ob ſie den Zickzackwegen ſeltſamer Liebesverwirrungen nachgeht, ob ſie in „Herbſt“ einer problematiſchen Natur in die Seele leuchtet oder in „Tragik im Alltagsrock“ ein ſcheinbar geringfügiges Erlebnis zur Charakterſtudie vertieft — überall das gleiche zwingende Bedürfnis, Menſchen im Innerſten zu erfaſſen, ihr Erleben auf die letzte ſeeliſche Formel zu bringen; überall derſelbe künſtleriſche Ernſt. der nie aus dem Handgelenk arbeitet. So ſind auch ihre Naturſchil⸗ derungen nie banal. Und nie intellektuell. „Er dachte nicht,“ heißt es von Winand Nordlan, der in den winterlichen Kiefernwald hin⸗ ausſchaut, „denn er war ein muſikaliſcher Menſch, und das, was er ſah, ſchien ihm viel zu eigentümlich und groß, um es zu bedenken.“ Den Abſchluß deſſen, was wir von Margarethe von Bülow be⸗ ſitzen, bildet Jonas Briccius. Ein junger Geiſtlicher, der durch ſchwere Lebensirrungen hindurch vom eifernden Selbſtgerechten, der beſſern will, zum einfachen „Liebet euch untereinander“ ſich durchringt. Einer jener Menſchen, die der nüchterne Betrachter mit der Zenſur „Ver⸗ rückt“ abtut. Eine Dorfkokette mit böſer Vergangenheit erſcheint ihm trotz des ſtarken Widerſtrebens, das ſie ihm perſönlich einflößt, als die unſterbliche Seele, die er retten muß. „Er mußte ſich bequemen, an das faule Waſſer zu treten, vor dem er zurückſchrak, und er fühlte es mit einer undeutlichen Angſt vor ſich ſelbſt, daß es für ihn kein Zurück gab, wo er ſich einer Pflicht bewußt worden war.“ So heiratet er ſie, trotzdem er das Bild einer anderen im Herzen trägt, ſich und ihr zu unſäglichem Elend. Wenn ihn zuerſt ſein geiſtiger Margarethe von Bülow. 323 Stolz, „das Bewußtſein des Opfers, das er ſeinem Gott bringen wollte“, aufrecht hält, ſo zerbricht dieſer allmählich durch ſein ver⸗ fehltes Leben, und erſt nach tiefſter Erniedrigung bringt ihn eine faſt mechaniſch ausgeführte Liebeshandlung — er nimmt einer armen Frau einen ſchweren Korb ab und trägt ihn ihr durch die Stadt — zu der Erkenntnis: „Helfen ſollen wir uns, einer dem andern, nicht beſſern. Das iſt's, das iſt's, ich habe es endlich gefunden.“ Auf der Grundlage dieſer Erkenntnis geſtaltet ſich dann der Schluß, dem die Jugend der Verfaſſerin auch äußerlich eine günſtige Wendung gönnt. Aber die ganze Durchführung dieſer intimen Charakterzeichnung zeigt eine reife Menſchenkenntnis, eine Sicherheit der Entwicklungslinie, nach deren äußeren Quellen man ſich vergebens fragt, die das Ge⸗ heimnis inneren Schauens ſind. Auf meinem Bücherbrett ſteht ein abgegriffenes Bändchen, ein Geſchenk der Schweſtern Bülow: Marc Aurels Meditationen. Sie waren eine Art Freimaurerzeichen des engſten Kreiſes. Und ſie waren ihm mehr als bloße Lektüre. „Wie klein iſt dieſer ganze Lebens⸗ raum, und unter wieviel Mühen, mit wie ſchlechter Geſellſchaft, in wie zerbrechlichem Körper wird er zurückgelegt! Es iſt nicht der Rede wert. Hinter dir eine Ewigkeit und vor dir eine Ewigkeit: dazwiſchen — was für ein Unterſchied, ob du drei Tage oder drei Jahrhunderte zu leben haſt?“ „. .. Aber ſo lange du lebſt, ſo lange es in deiner Macht ſteht — ſei gut! Was wir damals laſen — in den drei Tagen, die ſie zu leben hatte, hat ſie es wahr gemacht. Und ſie hat keine Stunde davon ver⸗ loren. Ein Gutſein ohne Sentimentalität und ohne Reflexion, von ſelbſtverſtändlicher Tapferkeit. Dasſelbe Muß, das ſie antrieb, das Höchſte von ſich zu verlangen und aus ſich herauszugeſtalten, hat ſie in den Tod getrieben, in den Tod für ein wildfremdes Kind. Das „Tat twam aſi“ der alten Inder — der Lebensnerv des Chriſten⸗ tums. 21* 324 Jeannette Schwerin. Gedächtnisrede, gehalten am 14. Okt. 1899 im Feſtſaal des Berliner Rathauſes. Wenn wir einen Wahrſpruch ſuchen wollten für das Leben der Frau, die wir ſo ſchmerzlich betrauern, ſo dürften es vielleicht jene weiſen Worte ſein: „Richte dich nicht ein, als ſollteſt du Hunderte alt werden. Denn wie nahe vielleicht iſt dein Ende! Aber ſo lange du lebſt, ſo lange es in deiner Macht ſteht — ſei gut! Dieſe Worte hat Jeannette Schwerin in ihrem Leben verwirk⸗ lichen wollen, und dieſe Worte hat ſie verwirklicht. Es ſind faſt drei Jahrzehnte verfloſſen, ſeit ich ſie zuerſt ihre Lebensphiloſophie entwickeln hörte. Im Angeſicht ſchneebedeckter Berge war es, am Fuße des hohen Watzmann, wo wir als junge, noch weltfremde Men⸗ ſchen unſere Anſichten tauſchten. Ihre Lebensphiloſophie wurzelte im Unſichtbaren und gipfelte darin. Und auch ſpäter, als ſie mit ſo ſchar⸗ fem Blick und richtigem Urteil die Wirklichkeit erfaſſen lernte, iſt ihr doch die Welt ſittlicher Werte eine höhere und ſicherere Realität ge⸗ weſen als die Welt des Phyſikers, die Welt der fünf Sinne. Und in dieſer Welt ſittlicher Werte fühlte ſie den großen Zuſammenhang, der die religiöſe Weltanſchauung bedingt. Wir haben uns damals auch — wie junge Menſchen gern mit den Rätſeln des Todes ſpielen, wenn ſie Fülle des Lebens atmen — den letzten Augenblick unſeres Da⸗ ſeins ausgemalt. „Harmoniſch ausklingen mit vollem Bewußtſein,“ das war ihr Wunſch. Das Schickſal hat ihn ihr nicht erfüllt, aber ſie ſelbſt hat es getan. Dem Geſchick zum Trotz, das den freien Geiſt durch die Wucht grauſamer Leiden beugen wollte, ſind ihre letzten Jahre ein harmoniſches Ausklingen geweſen. Denn raſtlos hat ſie gewirkt, Gutes gewirkt, ſo lange ſie atmete; erfüllt das Wort: ſo lange du lebſt, ſo lange es in deiner Macht ſteht, ſei gut. So hat ſie die höchſte Harmonie erreicht: ihr Wille und ihr Gewiſſen war eins. Gut ſein aber hieß ihr tätig ſein im Dienſte der Menſchheit. Von der Weltflucht eines Bruder Bonafides wußte ihr Weſen nichts. Eine glückliche Konſtellation ließ ſie das Feld der Wirkſamkeit finden, für Jeannette Schwerik. 325 das ſie beſonders veranlagt war und das heute ſeiner vornehmſten Kraft unter den Frauen entbehrt. Der Name Abarbanell, den Jeannette Schwerin als Mädchen trug, hat einen volltönenden Klang in dieſer Stadt. Wo es galt, gemeinnützige Beſtrebungen zu fördern, ſtand er obenan. Mit dem Bewußtſein der Verpflichtung, für andere zu leben, wuchs das junge Mädchen heran. Dasſelbe Bewußtſein begleitete ſie in und durch eine glückliche Ehe. Und ihre eigene ſtark entwickelte Individualität, ihre ſteigende Überzeugung von dem Zuſammenhang der Entwicklung und Hebung der geiſtigen Perſönlichkeit mit ſittlicher Kultur ließ ſie die Löſung dieſer Verpflichtung ſehr bald auf dem Wege ſuchen, der für ſie charakteriſtiſch geblieben iſt: ſie ſuchte anderen zu helfen, ſich ſelbſt ein menſchenwürdiges Daſein zu ſchaffen. Sich ſelbſt ein ſolches zu ſchaffen. Daß die Protektionswohltätigkeit, die eben deshalb nur Kranken und Schwachen gelten dürfte, die Fähigkeit dazu eher mindert als mehrt, blieb ihr, die nach ihrem eigenen Ausdruck aus der täglich geübten Armenpflege immer troſtloſer herauskam, nicht verborgen. So ſuchte ſie denn auch die Armenpflege aus der Reihe der bloßen Wohltätigkeits beſtrebungen auf das Niveau der Wohl⸗ fahrts beſtrebungen hinaufzuheben, denen ſie ſich je länger je mehr zuwandte, der Beſtrebungen insbeſondere, die auf Erhöhung des Werts der Einzelperſönlichkeit und eben dadurch des Gemeinwohls gerichtet ſind. Und hierzu wußte ſie die Kräfte aller nutzbar zu machen; den Schwachen und Überlaſteten wußte ſie das Vertrauen zur Selbſthilfe zu erhöhen, den Müßigen das Gewiſſen zu ſchärfen für ſoziale Verpflichtungen. Das war die Stärke dieſer ſeltenen Natur, daß es für ſie nur Menſchen gab; ſie war ebenſo weit entfernt von jener den Arbeiter mit Recht empörenden Herablaſſung, die den höheren Bildungsgrad markieren ſoll und doch nur den Tiefſtand der Bildung anzeigt, als von der Modetorheit, die nur in der Hebung der handarbeitenden Klaſſen das Heil ſieht und das übrige Bürger⸗ tum als unheilbar krank und vermorſcht hinſtellt. Sie wußte für alle das rechte Wort, ſie bewegte ſich unter allen mit der gleichen Sicher⸗ heit, weil ſie eben allen als Menſch, mit dem regen Intereſſe des Mitmenſchen gegenübertrat, weil ſie allen, wenn ſie auch mit ge⸗ Jeannette Schwerin. 326 ſchichtlichen Faktoren zu rechnen verſtand, das gleiche unverbrüchliche Recht an ein edles menſchliches Daſein zugeſtand. Es war ihre innerſte Überzeugung, daß es ein weſentlicher Teil der Miſſion der Frauen ſei, ein ſolches Daſein einem möglichſt um⸗ faſſenden Kreiſe ſichern zu helfen. Das Mißverhältnis zwiſchen dieſer Überzeugung und der Möglichkeit, ſie in die Tat umzuſetzen, öffnete ihr Auge für die Notwendigkeit, der Frau die vollen Bürgerrechte. den vollen Einfluß auf die Geſtaltung des Gemeindelebens und der Geſetze zu ſichern. Das war es, was ſie, verhältnismäßig ſpät, in die Frauenbewegung trieb. Das Mißbehagen an ſo manchem Auswuchs⸗ des Vereinslebens, an der Kraftverſchwendung auch, die die Hand⸗ habung ſeines äußeren Apparats mit ſich bringt, hatte ſie bis dahin fern gehalten. Von dem Augenblick an, wo die Notwendigkeit dieſes Apparats ſich ihr aufdrängte, hat ſie ihn ihren Zwecken energiſch dienſtbar zu machen gewußt. Denn wo ſie auch wirkte im Vereins⸗ leben, immer hat ſie die Aufmerkſamkeit auf den Punkt zu lenken ge⸗ wußt, der ihr am meiſten am Herzen lag: ſittliche Hebung der „wohl⸗ ſituierten“ Frauen durch ſoziale Arbeit, Hebung der wirtſchaftlich Schwachen durch Einrichtungen, die ihnen Schutz der Perſon, Erhöhung des Selbſtvertrauens, Anteil an den Kulturgütern ſicherten. Wenn ſie auch viel zu klar dachte, um ſich der Selbſttäuſchung hinzugeben, daß die ſoziale Frage durch Frauenvereine gelöſt werden könnte, wenn ſie auch wußte, daß durch dieſe vorläufig nur ein beſcheidenes Maß an Neform erreichbar ſei, ſo ſetzte ſie doch alle Energie und unermüd⸗ liche poſitive Arbeit daran, um wenigſtens dieſes zu verwirklichen. Und daß etwas, was ihr beſonders am Herzen lag, der Schutz der Arbeiterinnen durch weibliche Fabrikinſpektion, ſich der Verwirklichung nähert, daß die Einſtellung der Frau in die kommunale Arbeit mehr und mehr von der öffentlichen Meinung auch dieſer Stadt gefordert wird, iſt in der Hauptſache ihr Verdienſt, wie denn auch die glückliche Durchführung der Hauspflege des Berliner Frauenvereins, die ſo mancher gedrückten Exiſtenz das bißchen Lebensmut erhält und erhöht, ihrer Energie und nie ruhenden Tätigkeit in erſter Linie zu dan⸗ ken iſt. Aber ich darf der Verſuchung nicht nachgeben, in eine Schilde⸗ rung der Tätigkeit einzutreten, die ſie innerhalb der Vereine geübt Jeannette Schwerin. 327 hat, deren Mitglieder heute um ſie trauern. Die Zeit würde nicht reichen und der Rahmen ſelbſt eines längeren Vortrages viel zu eng ſein, um nur annähernd zur Darſtellung zu bringen, was ſie uns geweſen iſt. Nur die Grundprinzipien, die ſie innerhalb der Frauen⸗ bewegung feſtgehalten wiſſen wollte und in den Vereinen vertrat, können hier angedeutet werden; als ein teures Vermächtnis einer reichbegabten Frau, bei der edelſtes Wollen, hohe Intelligenz und praktiſches Geſchick zuſammentrafen, dürfen ſie Anſpruch auf dauernde Bedeutung für uns erheben. Für Jeannette Schwerin war der feſte Grund der Frauenbewe⸗ gung, war der einzige ſchlagende Beweis für Berechtigung und Befähigung der Frau zu umfaſſenderem Wirken, zu vollen Rechten, die Arbeit für das Gemeinwohl. Ihr an hiſtoriſchen und natio⸗ nalökonomiſchen Studien geſchulter Geiſt erfaßte zu klar die geſchicht⸗ lichen Entwicklungsmöglichkeiten, um an die dauernde Wirkung einer nicht durch ſoziale Arbeit geſtützten Programmache, einer einſeitig propagandiſtiſchen Tätigkeit zu glauben. Die bloße Fanfare, ſo not⸗ wendig ſie ihr hin und wieder als Mittel erſchien, bedeutete ihr über⸗ dies, als eine Art von Lebensberuf aufgefaßt, eine ſchwere ſittliche Gefahr; je länger ſie in der Frauenbewegung ſtand, um ſo klarer erkannte ſie die zerſetzende Wirkung der bloßen Agitation gerade auf die Frauennatur. Aber es handelte ſich da bei ihr nicht nur um eine intellektuelle Überzeugung. Es war ein Grundbedürfnis ihrer tief ſittlichen Natur, das, was ſie verlangte, auch zu verdienen, die Pflicht vor das formelle Recht zu ſetzen. So hatte ſie das ſchöne Vorrecht, dem Geſetz ihres innerſten Seins zu folgen, wenn ſie vor allem Ausübung ſozialer Arbeit verlangte, wo immer Frauen in die Bewegung ein⸗ traten. Wie richtig ſie dabei die Verhältniſſe zu beurteilen verſtand, wie ſie gerade das Arbeitsgebiet herauszufinden wußte, das zur Zeit Erfolg verſprach, wie ihr praktiſches Geſchick zur Organiſation dabei zur Geltung kam, wie ſie bei jedem die ihm eigentümlichen Gaben herauszufinden und zur Verwendung zu bringen verſtand, wie die Macht ihrer Perſönlichkeit zur äußerſten Leiſtung zwang, das wiſſen wir alle — ihre jungen Schülerinnen, die begeiſtert an ihr hingen, wie die gereiften Frauen, die mit ihr arbeiteten. Für ihre Bedeutung auf ſozialem Gebiet will ich heute nur einen klaſſiſchen Zeugen an⸗ Jeannette Schwerin. 328 führen: Lady Dilke. Sie ſchreibt mir vor wenig Tagen: „Ich würde Ihnen ſehr verbunden ſein, wenn Sie bei der Gedächtnisfeier für Frau Schwerin einige Worte in meinem Namen ſprechen wollten. Während einer langen Unterhaltung, die ich mit ihr in London über die Arbeiterfrage hatte, ſoweit ſie ſich auf die Frau und die Familie bezieht, machte mir ihr eingehendes Verſtändnis der ganzen Sachlage, ſowie die ſeltene Aufrichtigkeit und Kraft ihres Charakters einen tiefen Eindruck. Ich werde es als ein beſonderes Vorrecht anſehen, wenn ich mich Ihnen anſchließen darf in dem tiefſten Bedauern über den Verluſt, den wir durch ihren Tod erlitten haben.“ Wenn wir dem Grund ihrer tiefgehenden Wirkſamkeit und zu⸗ gleich dem Grund des Zaubers nachgehen, den ſie auf alle übte, die Frauenbewegung und Vereinsleben mit ihr in Berührung brachten, weit über dieſe Stadt hinaus, der ſelbſt politiſch oder konfeſſionell eng abgegrenzte Kreiſe berührte, ſo finden wir ihn darin, daß ſie in der Frauenbewegung ganz das war, was ſie als Menſch im engen Kreiſe der Ihren war: voll Güte und Gerechtigkeit, von feinem Verſtändnis für das, was andere wünſchten, was andere drückte; ohne Eitelkeit und Selbſtſucht, ohne Poſe und Phraſe. Und daß ſie ſo ganz Frau blieb, jedem weiblichen Bohemetum, jedem kindiſchen äußerlichen Markieren einer inneren Entwicklung abgeneigt. Dafür war ihr Wollen zu ernſt, ihre Geiſtesbildung zu tief. Das alles haben wir empfunden, wenn wir ihren im Grunde ſo einfachen, aber von der Wärme lebendiger Mitempfindung eingegebenen und unter dem unbewußten Einfluß künſtleriſcher Begabung ſich geſtal⸗ tenden Reden lauſchten, wenn wir uns willig durch ſie gewinnen ließen für Gedanken, die immer gut, durchdacht und nur von ſach⸗ lichem Intereſſe eingegeben waren. Dabei gehörte ſie nicht, um einen Ausdruck von Arthur Bonus zu gebrauchen, zu „den traurigen Leu⸗ ten“, die ſich durch nichts imponieren laſſen; auch ſie ging dabei den Weg, den er andeutet: „Ein reines Gemüt pflegt nicht ſo ſchnell an Heuchelei zu denken. Und ein ungeſchultes Gemüt pflegt damit an⸗ zufangen, daß es ſich von Inſtitutionen imponieren läßt. Aber ein reines Gemüt mit der Schulung des Lebens pflegt die Heuchelei zu durchſchauen und die Anſprüche gering zu achten, um ſich imponieren Jeannette Schwerin. 329 zu laſſen nur noch durch die Wirklichkeiten. Die Wirklichkeiten ſind die Perſonen.“ Dieſen Weg iſt ſie gegangen. Vor keiner Inſtitution hat ihr Denken Halt gemacht, wenn ſie noch ſo grau vor Alter war, keine hat ihr imponiert, aber Güte und Größe der Perſönlichkeit imponierte ihr. Da war ſie gefangen. Den ſchönſten Ausdruck fand die warme, pietätvolle Liebe, die ſie ſolchen Perſönlichkeiten entgegenbrachte, in ihren Beziehungen zu der Vorſitzenden des Bundes deutſcher Frauen⸗ vereine, Auguſte Schmidt. Ich muß es mir verſagen, des Näheren einzugehen auf das, was ſie dem nächſten Kreiſe war, der ſie umgab, dem Kreis ihrer Familie, ihrer Freunde, was das engere Zuſammenleben mit ihr, was eine intime Unterhaltung bedeutete, die die feinſten geiſtigen Beziehun⸗ gen, das Unausſprechliche ſtreifte: die ſchwerſten Wunden berührt man nicht, wenn man die Heilung nicht bringen kann. Aber dieſem enge⸗ ren Kreiſe wie dem weiten bleibt ein Troſt: was ein großer und guter Menſch getan, das bleibt für alle Zeit. Auch in der unſichtbaren Welt, die hinter der Sinnenwelt ſteht, gibt es ein Geſetz von der Erhal⸗ tung der Kraft; und wenn wir der ehernen Wahrheit, daß das, was im Sein beharren will, in Nichts zerfallen muß, uns beugen müſſen, ſo iſt nicht minder wahr, daß das Ewige ſich fortregt, ſich geſtaltet und verwandelt. Wir, die wir mit ihr gelebt haben, ſind beſſer ge⸗ worden durch ſie; dem Geſchlecht, das jetzt heranwächſt, hat ſie das Grundgeſetz ihres eigenen Lebens feſt einzuprägen geſucht, und ſo wollen wir mit ihr weiterleben, indem wir verſuchen, in ihrem Geiſte ihr Werk zu fördern. Nur ſo kann das ſonſt unerträgliche Gefühl, daß ſie nicht mehr iſt, gemildert, nur ſo das Wort erfüllt werden: . . . . . keine Zeit und keine Macht zerſtückelt Geprägte Form, die lebend ſich entwickelt. 330 Henriette Schrader. („Die Frau“, Okt. 1899.) Erſt vor wenigen Monaten haben wir an einem Grabe geſtan⸗ den, das für die Frauenbewegung viel umſchloß; noch brennt die Wunde im erſten unerträglichen Schmerz, als ein neues Scheiden uns an die Notwendigkeit mahnt, auf die ewige Tragkraft der Ideen zu vertrauen, wenn ihre Träger dem Menſchengeſchick verfallen. Als Träger der Ideen hat Jeannette Schwerin und Hen⸗ riette Schrader ein ſehr verſchiedenes Geſchick getroffen. Dort ſank die Hand vom Pfluge, als ſie ihn zu den erſten tiefen Furchen in hartem Erdreich gezwungen, als noch niemand mit ſicherer Hand ihn weiterführen konnte, hier iſt das ſchöne Los gegeben worden, ein Lebenswerk vollendet zu hinterlaſſen. Das Lebenswerk von Henriette Schrader iſt unſern Leſern nicht fremd. Wir haben in ausführlichen Aufſätzen das Wirken und Trei⸗ ben im Peſtalozzi⸗Fröbel⸗Haus, das dieſes Lebenswerk umſchloß, zur Darſtellung gebracht, ſo daß uns heute nur bleibt, die ergänzenden perſönlichen Züge hinzuzufügen, ohne die ein volles Verſtändnis einer Lebensleiſtung ſo ſchwer zu erreichen iſt. Henriette Schraders Lebenswerk kann wieder die Wahrheit be⸗ ſtätigen: eines ganz wollen, darin liegt das Geheimnis des Er⸗ folgs. Von dem Augenblick an, da man das junge, nach lebenswerten Intereſſen und Betätigung ihrer reichen Anlagen verlangende Mäd⸗ chen zu ihrem Großonkel Friedrich Fröbel ſchickte, bis wenige Stunden vor ihrem Tode hat der gleiche Gedanke ihrem Leben die Richtung gegeben. In einem Brief an die ſeit Jahren ihr innig ver⸗ bündene Frau Marie Loeper⸗Houſſelle hat ſie der Grund⸗ lidee ihres Lebens noch kurz vor ihrem Scheiden Ausdruck gegeben. Sie wollte die Ideen Fröbels ſo verwirklichen, wie es ihrer Mei⸗ nung nach nur der Frau möglich iſt. „Fröbel hat in echt männlicher Genialität die Entwicklungsgeſetze der menſchlichen Natur erfaßt und begriffen, aber es gehört die ganze Hingabe und natürliche Begabung des wahrhaft weiblichen Weſens dazu, denſelben die rechte und faß⸗ bare Geſtaltung zu geben. Dies iſt nun die Aufgabe der Frauen, Henriette Schrader. 331 welche ſich zu Fröbels Lehre bekennen.“ Aber die Durchführung dieſer Aufgabe erfordert ein lebendiges Durchdringen der Fröbelſchen Ge⸗ danken; die übliche Kindergartenſchablone wird ihnen nicht gerecht. Was hier vernachläſſigt wird: die Individualiſierung, erſcheint Hen⸗ riette Schrader als notwendige Vorbedingung einer fruchtbringenden Erziehung: „Darum ſind mir Kindergärten mit großer Klaſſen⸗ und Maſſenerziehung ein Greuel, ebenſo wie die ewig ſchwelgenden Kin⸗ dergärtnerinnen, die den Kleinen alles beibringen wollen und ihnen in der Tat das Schönſte rauben, was der Kindheit eigen ſein ſollte: ſelbſt ſeinen Weg zu finden, ſeine eigenen Entdeckungen zu machen und die Seele durch eigene Phantaſiegebilde zu entwickeln und zu be⸗ reichern. Aber jetzt iſt die Belehrungswut mehr denn je über die Menſchen gekommen, und man kennt kaum noch die Keuſchheit der Erzieherin den Kleinen gegenüber.“ Dem Kindergarten, der ihre Vorausſetzungen erfüllt, mißt ſie eine große Bedeutung ſelbſt für ſolche Kinder bei, denen ein ſchönes Familienleben nicht verſagt iſt: „In der Familie iſt das Kind als Glied derſelben der Mittelpunkt aller Sorge und Aufmerkſamkeit, wenn auch leider oft in recht verkehrter Weiſe; im Kindergarten iſt dies nicht der Fall. Wird das Kind in der Familie, wie es ſein ſollte, zur Selbſthilfe und Hilfeleiſtung für andere angeleitet, ſo kann der perſönliche Egoismus überwunden werden, aber es liegt die Gefahr vor, daß er ſich zum Familienegoismus entwickelt. Im Kindergarten wird derſelben vorgebeugt, d. h. wenn eine ſolche Anſtalt in rechter Weiſe geführt wird, wenn dieſelbe auf den Grundzügen des Familien⸗ lebens ruht, aber deſſen Einſeitigkeiten vermeidet. Der Kindergarten muß deshalb ſo organiſiert ſein, daß er eine Hauswirtſchaft in ſich ſchließt, wie dies im Peſtalozzi⸗Fröbel⸗Hauſe der Fall iſt. Dort hat ſich in ſanfter, der zarten Kindesnatur entſprechender Weiſe das enge Familienleben ſchon zu einem Gemeindeleben erweitert, an deſſen Wohlſein und Gedeihen das Kind ſeinen Kräften gemäß mitarbeitet.“ Als eine weſentliche Seite erſcheint ihr dabei die hauswirtſchaft⸗ liche Tätigkeit. Wie ſie ſelbſt nie die leitende Fürſorge für ihren Haushalt aus der Hand gab und trotz der großen, jährlich wachſenden Berufsarbeit für die Pflege einer edlen Häuslichkeit und wahrhaft erfriſchenden Geſelligkeit Zeit und Kraft behielt, ſo hielt ſie die haus⸗ Henriette Schrader. 332 wirtſchaftliche Ausbildung auch für jede Frau, einerlei wie ſich ihr Leben künftig geſtalten möchte, für notwendig, und wenn rechtzeitig und richtig in das Erziehungsſyſtem eingefügt, auch für durchaus vereinbar mit hoher wiſſenſchaftlicher Ausbildung. Bei ihrer feſten Überzeugung von der Kraft der genetiſchen Methode war es ſelbſt⸗ verſtändlich, daß ſie den Sinn für häusliche Tätigkeit und Familien⸗ leben ſchon im Kinde zu einer herrſchenden Stellung zu bringen ſuchte. „Man muß etwas ſein, um etwas zu machen“ — hinter einem Programm muß eine Perſönlichkeit ſtehen, wenn es durchgeführt wer⸗ den ſoll. Henriette Schrader war eine Perſönlichkeit. Wer auf ſein eigenes Geſchlecht, unter Ausſchluß alſo der ſonſt nur zu leicht mit⸗ wirkenden Nebenmotive, ſtarke Wirkungen hervorbringt, hat damit immer einen beſonderen Beweis ſeiner Überzeugungskraft gegeben. Und eben das hat Henriette Schrader verſtanden. Nicht nur junge, leicht in Begeiſterung zu verſetzende Mädchen, ſondern einen Kreis älterer Frauen und Mütter hat ſie zur Durchführung ihrer Ideen um ſich zu verſammeln gewußt. Was dieſe feſſelte, fortriß, was ſie zu willigen Helferinnen machte, war vor allem der hohe Idealismus einer Natur, die ſelbſt ganz der Idee lebt, für die ſie gewinnen wollte. Eine warme Religioſität, eine vornehme Geſinnung, ein lau⸗ terer Charakter, das waren die Momente, die als bleibende Züge auch denen im Gedächtnis ſtanden, die mit ihrer eigentlichen Berufs⸗ tätigkeit keine engere Fühlung hatien. Die Stunden eines geſelligen Verkehrs mit edlem geiſtigen Gepräge, wie ſie ihr Haus bot, werden vielen der zahlreichen Beſucher aus aller Herren Ländern, die ſich dort trafen, unvergeßlich bleiben. Eine „Frauenrechtlerin“ im engeren Sinne des Wortes war Hen⸗ riette Schrader nicht; bei entſchiedener Überzeugung davon, daß den Frauen zur Durchführung ihrer ſpeziellen Kulturaufgabe die vollen bürgerlichen Rechte in letzter Inſtanz werden müßten, entſprach es doch ihrer Eigenart, mehr daran mitzuarbeiten, ſie zur Erfüllung dieſer Aufgabe reif zu machen. Sie unterſtützte daher auf das lebhafteſte alle Beſtrebungen, die Bildung der Frauen zu erhöhen; in ihrem Hauſe wurde die Petition um beſſere Ausbildung und vermehrte An⸗ ſtellung von Lehrerinnen und die Begleitſchrift geplant, die im Herbſt 1887 die Gemüter in eine ſo lebhafte Erregung verſetzte. Henriette Schrader. 333 Durch dieſe lebhafte Teilnahme an allen Beſtrebungen, die der Erlangung von Rechten auf dem Wege der Erfüllung von Pflichten vorzuarbeiten ſuchen, durch ihre eigene ausgedehnte Wirkſamkeit auf erziehlichem Gebiet, vor allem aber durch die Bedeutung ihrer Per⸗ ſönlichkeit iſt Henriette Schrader zu einer bedeutſamen Stellung auch in der Frauenbewegung gelangt. In ihrer eigenen Häuslichkeit, ihrer Berufstätigkeit, in dem ganzen Kreiſe, dem ſie angehörte, hatte ſie das erreicht, was auch nur das Ziel der Frauenbewegung im großen ſein kann: die volle Möglichkeit der Geltendmachung ihrer beſten Eigenart, die Möglichkeit, ſie in Realitäten umzuſetzen und ſo dau⸗ ernde Wirkung auf Mit⸗ und Nachwelt zu üben. Die ganze Art aber, wie ſie ſich gab und wie ſie wirkte, war ein lebendiges Zeugnis für die Wahrheit, für die ſie auch in der Theorie mit aller Lebhaftigkeit ihres Naturells eintrat: daß die Frau eine Sonderart hat und durch dieſe, nicht durch Nachahmung des Mannes wirkt — wobei denn freilich niemand entfernter als ſie von der bequemen Auffaſſung ſein konnte, daß eine falſche Nachahmung des Mannes ſchon in der Er⸗ füllung des Schleiermacherſchen zehnten Gebots liege: „Laßt euch gelüſten nach der Männer Bildung, Kunſt, Weisheit und Ehre.“ Noch in dem oben erwähnten Brief an Frau Loeper erklärt ſie aus⸗ drücklich, die Frau müſſe volle Freiheit haben, ſich auf jedem Lebens⸗ gebiet zu betätigen, „denn der Mann hat keinerlei Recht, den Frauen irgend etwas vorzuſchreiben, aber,“ fährt ſie fort, „ſie ſelbſt werden mit Hilfe der modernen Wiſſenſchaft auch mehr und mehr das Gebiet entdecken und beleben, auf dem ſich ihre eigenſte Natur zu einer jetzt kaum geahnten Schönheit und Würde entfalten kann.“ Das iſt in gedrängter Form das Programm der ganzen Frauen⸗ bewegung, und die deutſchen Frauen werden der ein warmes An⸗ denken bewahren, die es in ihrer Weiſe ſo zu verkörpern verſtanden hat wie Henriette Schrader. 334 Kaiſerin Friedrich. („Die Frau“, Sept. 1901.) Zum zweiten Mal hat ſich die Gruft in Potsdam geöffnet, zum zweiten Mal der letzte Akt eines Schickſals ſich abgeſpielt, wie es herber nicht gedacht werden kann. Aber wie verſchieden der Schlußakt hier und dort. Dort ein Sterben angeſichts einer ganzen Nation, die in ſchweigender Beklemmung den täglichen Nachrichten über den Todeskampf eines von Millionen über alles geliebten Herrſchers lauſchte — hier ein einſames Dahinſiechen im ſtillen Friedrichshof, in gewollter Abgeſchiedenheit: „Ich will nicht, daß die Welt mein Un⸗ glück erfahre.“ Mit der Kaiſerin Friedrich iſt einer der freieſten und vornehmſten Geiſter dahingegangen, ein Bewußtſein erloſchen, das imſtande war, Dinge und Verhältniſſe von der durch die augenblickliche Konvention bedingten Form zu ſondern. Ihr Denken war im edelſten Sinne frei, d. h. lediglich an die Geſetze gebunden, die die eigene hohe Begabung und die mit ungewöhnlicher Empfänglichkeit aufgenommenen Über⸗ lieferungen einer alten Kultur ihrem geiſtigen Leben beſtimmten. Nur unter gleichen Bedingungen konnte ſie ſich auch eine geiſtige und ſoziale Entwicklung der Menſchheit denken. „Die Kultur iſt eine Blume, die nur in der Freiheit gedeiht,“ dies Wort aus ihrem Munde war eine einfache Formulierung ſelbſterworbener Erfahrung. Daß ein ſolcher Geiſt mehr als einmal den Stachel der Alltags⸗ weisheit, des Majoritätendünkels fühlen mußte, war unvermeidlich. Selbſt als ſie noch die zukünftige Königin war, mit der man zu rech⸗ nen hatte, blieb das nicht aus. Eine Frau mit ſelbſtändigen poli⸗ tiſchen Anſichten, die Nächſte dem Thron, in der Bismarckſchen Aera! Die Prinzeß Royal von England, die ein weitblickender Vater ſchon als halbes Kind mit in das Parlament genommen hatte, um ſich nachher von ihr die Dispoſitionen der gehörten Reden geben zu laſſen und ihr politiſches Urteil allmählich zu bilden, am preußiſchen Hof! Was dann die neunundneunzig Tage ihr brachten, was die be⸗ kannte Zeitungshetze damals an ihr geſündigt hat, hat ſich ihr un⸗ auslöſchlich eingegraben, ohne ihren ſtarken Geiſt brechen zu können. Kaiſerin Friedrich. 335 Ein vornehmer Geiſt iſt ſie geweſen, und mit vornehmen Geiſtern liebte ſie es, ſtille Zwieſprache zu halten. Weder Salonphiloſophie noch oberflächliche Romanliteratur, die den „Gebildeten“ ſo bequeme Geſprächsgegenſtände liefern, hatten ihr etwas zu ſagen. Sie liebte Geiſter, mit denen ſie zu ringen hatte, die nicht geleſen, ſondern ſtu⸗ diert ſein wollten, die ihr inneres Selbſt mit aufzubauen imſtande waren. Aber es iſt völlig unmöglich, auch nur andeutungsweiſe hier die Grenzen beſtimmen zu wollen, innerhalb deren dies überreiche Geiſtes⸗ leben ſich bewegte, unmöglich, auch nur ſkizzierend den Gang eines Lebens verfolgen zu wollen, das, in ſeinem äußeren Verlauf jedem bekannt, in ſeiner reichen inneren Ausgeſtaltung ſo viele ungehobene Schätze birgt, die noch der Wünſchelrute eines feinſinnigen Inter⸗ preten harren. Uns ſteht ſie in erſter Linie als Frau nahe, und der erſte Artikel unſeres Blattes aus der Feder von Georg von Bunſen hat ihr gegolten. Er hat die Tatſachen gruppiert, die äußerlich von ihrem Anteil an Frauenarbeit und Frauenbildung in Deutſchland zeugen. Mir bleibt der Verſuch, zu zeigen, welcher Geiſt dieſen äuße⸗ ren Zeugniſſen ihre Geſtalt gab, wie es tatſächlich um ihre innere Stellung zur Frauenbewegung ſtand, über die ſo manche Tageszeitun⸗ gen, die eine „Beſchäftigung“ mit der Frauenfrage ſchon an ſich für ein leichtes Brandmal halten, ſo viel Unverſtandenes und Mißver⸗ ſtändliches beibringen. Ihre Auffaſſung der Frauenbewegung wurde, wie das ja auch kaum anders ſein kann, in ihrem Grundzug durch ihre eigene geiſtige Entwicklung beſtimmt. Durch ihre wiſſenſchaftlichen Studien und durch die ihr ſo reichlich gebotene Möglichkeit, tiefere Einblicke in ſoziale Fragen und ihre weitverzweigten Zuſammenhänge zu gewinnen, ſo⸗ wie durch ihren praktiſchen Blick würde ſie ſich imſtande gefühlt haben, wenn das Schickſal ihr die äußeren Möglichkeiten gegeben hätte, im Kulturleben diejenigen Kräfte beſtimmend zur Geltung zu bringen, die nur der Frau eigen ſind. Und ſo konnte ſie ſich auch eine kulturelle Wirkſamkeit der Frauen im großen nur durch allſeitig gebildete Per⸗ ſönlichkeiten denken. Die Vorbedingungen dazu zu ſchaffen, das ſchien ihr die nächſte Aufgabe der Frauenbewegung; an dieſem Punkte würde ſie ſelbſt eingeſetzt haben, wenn Kaiſer Friedrich, der hier ganz Kaiſerin Friedrich. 336 eines Sinnes mit ihr war, eine längere Herrſchaft beſchieden geweſen wäre. Als nach ſeinem Tode der Kaiſerin der Wunſch ausgeſprochen wurde, der Trauer um ihn irgendeinen bleibenden Ausdruck zu ge⸗ ben, da äußerte ſie in ſeinem wie in ihrem Sinne: „Wie wäre es, wenn man einige ſeiner Ideen verſuchte zur Ausführung zu bringen? 3. B. das Inſtitut für die Erziehung der Frauen — die Klinik für Halskrankheiten — die Arbeiterwohnungen um Berlin — das Peſta⸗ lozzi⸗Fröbel⸗Haus?“ — — — Ein Inſtitut für die Erziehung der Frauen — das war der Ge⸗ danke, der ſie ſelbſt jahrelang beſchäftigte und zu dem ſie Pläne ent⸗ warf und entwerfen ließ. Sie dachte es ſich als einen Komplex von Anſtalten, in denen die Gelegenheit zu jener allſeitigen Ausbildung der weiblichen Perſönlichkeit geboten werden ſollte, mit der für ſie die Löſung der Frauenfrage vor allem verbunden war. Nicht als ob alle alles lernen ſollten, Wiſſenſchaft und Kunſt, praktiſche Hausfüh⸗ rung und Kindergärtnerei, Krankenpflege und ſoziale Hilfstätigkeit, aber das räumliche Nebeneinander ſollte jeder die Möglichkeit des Einblicks in die Sphären gewähren, die in ihrer Totalität die geſamte Kulturarbeit der Frau umfaßten, ſollte die gebildete Frau vor der ihr ſo oft anhaftenden hausfraulichen oder gelehrten Einſeitigkeit in gleicher Weiſe bewahren. Man mag über die Zweckmäßigkeit und Ausführbarkeit dieſes Planes denken wie man will, für ſie war er charakteriſtiſch. In ihm glaubte ſie die Möglichkeit gefunden zu haben, zur Verwirklichung ihres Frauenideals — eines geſunden Ideals. Sie iſt nicht dazu gekommen, dieſen Gedanken auf ſeine Durchführbarkeit hin prüfen zu können. In einzelnen Schöpfungen ſah ſie einen Teil ihrer Ideen ſich verwirklichen. Wer ſie verwirklichen half, wer auf gleichem geiſtigen Boden mit ihr ſtand, dem gab ſie nicht „hohe Protektion“, ſondern die lebendig wirkende Anregung geiſtiger Mitarbeit. Ihre Beziehun⸗ gen zu Henriette Schrader, Hedwig Heyl, Ulrike Henſchke, zu den Vorſteherinnen der unter ihrem Schutz ſtehenden Anſtalten, zu allen, die arbeitend ihre Ideen verkörpern halfen, ruhten auf einer Gemeinſamkeit der kulturellen Intereſſen, die ihren ſchönen, rein menſchlichen Ausdruck in den Stunden fand, da ſie den Kreis Kaiſerin Friedrich. 337 dieſer Frauen zu gegenſeitigem Gedankenaustauſch um ſich ver⸗ ſammelte. Eine hohe geiſtige Kultur, praktiſches ſoziales Verſtändnis und die hausfrauliche Dispoſitionsfähigkeit und Tüchtigkeit, die vor dem Beherrſchtwerden durch hausfrauliche Sorgen bewahrt, das war ihr die vor allem notwendige geiſtige Grundlage, durch die ihr die Ge⸗ ſundheit der wirtſchaftlichen und rechtlichen Entwicklung der Frauen⸗ bewegung am beſten geſichert erſchien. Von dieſen Prämiſſen aus⸗ gehend, hat ſie die Konſequenzen der Frauenbewegung: den Einfluß der Frauen auch im öffentlichen Leben zur Geltung zu bringen, zu Ende gedacht. Denn daß auch bei uns dort Frauenſorge und Frauen⸗ einfluß not tue, mußte der praktiſche Blick der Tochter Englands ſchnell genug erkennen. Aber ihre hiſtoriſche Bildung war zu tiefgründig, um ſie nicht die Gefahr des Dilettantismus, der notwendige Stufen überſpringen will, deutlich erkennen zu laſſen. Und obwohl ſie die Notwendigkeit einer vernünftigen Propaganda nicht verkannte — ſie hat ſelbſt einem Frauentag des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins beigewohnt — ſo war ihr doch jede auf Augenblickserfolge gerichtete Reklame, jedes Vorwegnehmen letzter Ziele um der demonſtrativen Wirkung auf unreife Maſſen willen, als eine unwürdige Charlatanerie erſchienen. Solche Richtung lehnte ſie durchaus ab. So war ihr Eintreten für die Frauenbewegung voll ſicheren, vor⸗ nehmen Vertrauens auf die unfehlbar wirkende Macht der kulturellen Kräfte der Frau, die ſie helfen wollte zu befreien. Als Kaiſer Friedrichs Gemahlin — wußten die Zeitungen zu ſagen — wird ſie in die Weltgeſchichte eingehen. Der Weltgeſchichte, die aus Fürſtengalerien mit Schlachtenbildern im Hintergrunde be⸗ ſteht, wird ſie nichts bedeuten. In die Kulturgeſchichte aber wird ſie eingehen als ſelbſtändige Perſönlichkeit, als die erſte Fürſtin, die ihren vollen Einfluß für die Frauenbewegung einſetzte, zu einer Zeit, in der die Acht weiter Kreiſe noch ſchwer auf ihr laſtete. Ein Aufſatz aus dem Jahre 1914, den ich im Anſchluß an ein über die Kaiſerin erſchienenes Buch ſchrieb, gibt zu der Charakteriſtik Lange, Kampfzeiten. II. 22 Kaiſerin Friedrich. 338 dieſer viel umſtrittenen Perſönlichkeit noch einige Ergänzungen, die ich hier anfüge. Die wirkliche Geſchichte der Kaiſerin Friedrich wird nie geſchrie⸗ ben werden. Ich meine damit die Darſtellung ihres innerſten Weſens, ihrer geiſtigen und ſeeliſchen Rückwirkung auf äußeres und inneres Erleben, der tiefſten Beweggründe ihres Handelns. Sie würde bei der Vielſeitigkeit und Beweglichkeit ihres Geiſtes, der Mannigfaltigkeit ihrer inneren und äußeren Beziehungen zu allem, was Bedeutung in der geiſtigen Welt gewann, vielleicht nur durch die Zuſammen⸗ arbeit mehrerer möglich geweſen ſein. Und die dazu den weſentlichſten Teil beitragen konnten, die in die überreiche Fülle und die unermeß⸗ liche Tragik dieſes Lebens tiefer hineinſehen durften als mancher, der das Tagesleben teilte, ſind faſt alle tot. Und über ihre tiefere und echtere Kenntnis dieſer groß angelegten Natur macht die banale Auffaſſung ſich breit, die in der Kaiſerin Friedrich im weſentlichen die deutſch⸗fremde Engländerin ſah, die politiſche Intrigantin, zu der die ſchmachvolle Hetze der 99 Tage ſie machen wollte, die kühle Rech⸗ nerin, die in Kaiſer Friedrichs Leidenszeit für ſich noch Machtgelüſte durchſetzte. ... Wer dieſe große Frau wirklich gekannt hat, weiß, daß hier einer der erſchütternden Fälle vorliegt, in denen die Geſchichte einen Juſtizmord begangen hat und das Wiederaufnahmeverfahren nur mehr der Toten gegenüber möglich iſt. Eine Fülle großer Ereigniſſe, teils unmittelbar — erduldet mehr als erlebt — teils, und das war vielleicht das Schwerere, aus der Ferne in der Seele des geliebten Mannes miterlebt, ſo ſteht dieſes Daſein vor uns mit ſeinen unerhörten Anforderungen an Selbſtbeſchei⸗ dung, an Verzicht auf die Verwirklichung in tiefſter Seele gehegter Lieblingsgedanken und Pläne, die vor allem der Hebung und Kultur⸗ arbeit der Frauen dienen ſollten. Ein Verzicht, der einer ſo innerlich ſtolzen, unter ſteter geiſtiger Selbſtkontrolle lebenden und ſich ihrer Wirkensmöglichkeiten notwendig ſo bewußten Fürſtin weit ſchwerer fallen mußte als ſo manchen Dutzendfürſtinnen, die die hergebrachte Standesrolle auch auf dem Gebiet der öffentlichen Wirkſamkeit — die ihnen immer noch im Gewande der „Wohltätigkeit“ am ſympathiſchſten erſcheint — mehr oder weniger repräſentativ durchführen. Durch⸗ Kaiſerin Friedrich. 339 führen, ohne von den Problemen wirklich gepackt zu ſein, die ſie zu der innerlich eigentlich zermürbenden Arbeit der Palliativbehandlung verurteilen. Die Kaiſerin war eine zu ſelbſtändige Natur, um an dieſer Nolle Gefallen zu finden. Sie war in der Schule ihres Vaters ſchon früh an das Durchdenken von Fragen gewöhnt worden, die auf dem Kontinent, dem alten, überhaupt den Frauen noch ſorgfältig ferngehalten wurden. Sie erzählte gern — und ihre Augen ſtrahlten dabei —. wie Prinz Albert bis ins einzelnſte ihre geiſtige Entwick⸗ lung überwacht habe, wie er ſie Geſchichtsüberſichten habe anfertigen und die Dispoſition von Parlamentsreden habe ausziehen laſſen, um ſie ſo an Exaktheit der Auffaſſung und Wiedergabe zu gewöhnen. „Das hat mir unendlich viel für meine Lektüre genützt,“ meinte ſie; „ich bin in die Gewohnheit hineingekommen, mir Rechenſchaft von dem Aufbau einer Rede, eines Buches zu geben und Gründe und Gegen⸗ gründe gegeneinander abzuwägen.“ In der Tat war ihre Fähigkeit in dieſer Hinſicht erſtaunlich; war man ſchon überraſcht durch ihre Kenntniſſe auf Gebieten, denen man ſelbſt ein eingehendes Studium hatte widmen können, durch das geſpannte Intereſſe, mit dem ſie alle Neuerſcheinungen verfolgte, ſo noch mehr durch die Schärfe der Auf⸗ faſſung, die produktive Kritik, die Sicherheit, mit der ſie las, mit der ſie das Geleſene ihrem geiſtigen Beſitzſtand eingliederte. Und eben dieſe Gewöhnung an eigenes Denken, dieſe produktive Kritik ließ ſie mit ſcharfem Blick erkennen, wo der wunde Punkt in der Stellung der deutſchen Frau lag: die Vernachläſſigung ihrer Bil⸗ dung. Sie dachte dabei nicht in erſter Linie an die Berufsfrau, ſo ſehr ſie auch den Anfängen der Berufsbildung, wie ſie ſchon zu ihrer Kron⸗ prinzeſſinnenzeit im Letteverein ſich Bahn brachen, ihr tatkräftiges Intereſſe zuwandte, ſo lebhaft ſie der Begründung der Realkurſe für Frauen zu Berlin und des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenvereins zuſtimmte. Es darf betont werden, daß ſie aus eigener, freier Ent⸗ ſchließung der Eröffnung der noch mit ſcheuem Seitenblick mißtrauiſch beobachteten, keineswegs „hoffähigen“ Realkurſe beiwohnte, obwohl ſie damals (1889) ſchon das reſignierte, ſo ſchmerzlich klingende Wort ſprechen mußte: „Ich habe keinen Einfluß mehr!“ Und es darf betont werden, daß ſie dieſelbe Treue und zuverläſſige Stellungnahme dem Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenverein bezeugte, deſſen Ziele ihr 22* Kaiſerin Friedrich. 340 in allen Einzelheiten bekannt waren, daß ſie — eine einzigartige Auszeichnung — ihm zu ſeiner Begründung in Friedrichroda am Pfingſttag 1890 ein Begrüßungstelegramm ſandte, in dem ſie ſich zu ſeinen Beſtrebungen öffentlich bekannte. Und gerade dieſe Treue und ſelbſtändige, von jeder Tradition unabhängige Stellungnahme war es, die uns ſo dauernd und mit ſolcher Verehrung und Liebe an ſie feſſelte. Aber was ſie noch tiefer beſchäftigte, als die berufliche Ausbil⸗ dung der Frau, war die Bildung der deutſchen Hausfrau und Mutter. Sie war ſelbſt zu wenig „Bildungsmenſch“ im flachen Sinne des Wortes, um unter „Bildung“ die reſonanzfähige Salonkultur zu ver⸗ ſtehen, zu der die deutſchen Mädchenſchulpläne nach dem Weimarer Programm die Frau bei uns noch verurteilten. Sie wollte etwas Ganzes, mit der innerſten Seele Ergriffenes, der wirklichen, nicht der von männlichen Pädagogen abgeſtempelten Eigenart der Frau Entſprechendes, und darum wollte ſie Gelegenheit bieten, alle Seiten auszubauen, die in Betracht kommen und den individuellen Bega⸗ bungen und Neigungen dienen konnten. Ihr Plan war — wie oben ſchon erwähnt — eine Geſamtbildungsſtätte für die Frau, wo alles ineinandergreifen und aufeinander wirken ſollte. Ein Plan, gegen den Bedenken ſicherlich erhoben werden konnten, und der ſich auch in der Ausführung wohl ſelbſt korrigiert hätte. Bei ihrem eminent prak⸗ tiſchen Talent und ihrer Achtung vor Tatſachen würde die Kaiſerin zu ſolchen Korrekturen unter der Kontrolle an der Wirklichkeit ſicherlich ſelbſt die Hand geboten haben. So konnte das Problem nur wieder und wieder erwogen und dem Papier anvertraut werden, ſchon in der Zeit, in der ſie ſich auf die große, verantwortungsvolle Aufgabe vorzu⸗ bereiten hatte, die ſie niemals erfüllen ſollte. Die Einzelpläne über⸗ ließ ſie Fachkundigen; es iſt uns ſpäter eine wehmütig heitere Rück⸗ erinnerung geweſen, daß Frau Henriette Schrader, Frau Hedwig Heyl und ich einmal in eine ſehr lebhafte Debatte ge⸗ rieten, weil ich dagegen Einſpruch erhob, daß meine Gymnaſiaſtinnen in spe aus Frau Heyls Haushaltungsſchule in spe geſpeiſt würden. Heute ſteht Frau Heyls Haushaltungsſchule als ſtolzer Bau auf feſtem Grunde, und meine Gymnaſiaſtinnen ſind in alle Welt zerſtreut als freudig ſchaffende Berufsfrauen oder Hausfrauen und Mütter. Die Kaiſerin Friedrich. 341 das alles in ihren Anfängen ſah und in ſelbſtloſer Freude in ſeiner Entwicklung verfolgte, der das Schickſal eine ſo weſentliche Rolle in der Förderung der deutſchen Frauenbildung aufgeſpart zu haben ſchien, hat nie das langerſehnte und ſorgfältig vorbereitete Glück erleben dürfen, in freier Geſtaltung zu verſuchen, ob ſich ihre eigenſten Ideen in der ihr eigentümlichen Form verwirklichen ließen. Das ſind noch ein paar Züge perſönlicher Erinnerung zu dem Bilde der Kaiſerin Friedrich. Wer ihr naheſtand, hat mehr mit ihr erleben dürfen als die Diskuſſion ſolcher äußeren Angelegenheiten. Man kann die Unterhaltungen mit Fürſtinnen in der Regel jedem Reporter ohne Furcht vor Indiskretionen mit allen Einzelheiten in die Feder diktieren; bei ihr konnte man das nicht. Staatsgeheimniſſe waren dabei nicht im Spiel; aber die ruhige, rein menſchliche Offen⸗ heit, mit der ſie in ſolchen Stunden rückhaltlos ihre Gedanken zu allem, was die Zeit bewegte, ausſprach, mußte bei einem Menſchen von ſo ſeltener Urteilsfähigkeit, ſo ſcharf eingeſtelltem kritiſchen Blick Ausſprüche von ſo individueller, meiſt von der Tagesmeinung weit abweichender Prägung ſchaffen, daß eben dadurch ſchon die Vertrau⸗ ensſtellung gegeben war, die nach außen hin Grenzen zog. Die ſchnö⸗ den Verunglimpfungen und Mißdeutungen, die ſie getroffen haben — ich brauche nur den Namen Guſtav Freytag zu nennen — ſind wohl zumeiſt auf den Mißbrauch ſolcher in dem rückhaltloſen Vertrauen einer edlen Natur getanen Äußerungen zurückzuführen. Vieles davon iſt auf immer eingeſargt; manches lebt noch in der Seele derer, die ſolches Vertrauen erfahren durften, als köſtlicher Beſitz. Die Stunde, die mir perſönlich den erſchütterndſten Einblick in dieſe große, tiefe und reiche Menſchenſeele gab, war bald nach Kaiſer Friedrichs Tode, wo alles an ihr Zerriſſenheit, unſägliches rein menſchliches Leid war; das, was — um es ſo auszudrücken — weltlich lebendig geblieben, war nur Trauer um geſcheiterte, wenigſtens auf lange hinausgeſcho⸗ bene Kulturpläne. Denn ſo echt fürſtlich war dieſe Natur, daß ſelbſt in dieſer Stunde erſchütternder Leiden der Blick ſich auf die großen Aufgaben einſtellte, die nun unerfüllt bleiben mußten. Ich war eben aus England zurückgekehrt, wo ich im Auftrage der Kaiſerin und von ihrer Fürſorge geleitet, verſchiedene Frauenbildungsſtätten beſucht und ſtu⸗ diert hatte. Nie werde ich den Augenblick vergeſſen, wo der Anblick Auguſte Schmidt. 342 einer, die ſie in noch nicht ganz ausſichtsloſen Tagen mit ihrer Miſſion betraut hatte, den ganzen Schmerz ihrer Hoffnungsloſigkeit auslöſte und ſie mir beide Hände entgegenſtreckte, mit den unter ſtürzenden Tränen hervorbrechenden Worten: „So müſſen wir uns wiederſehen! Mit dieſer Erinnerung will ich Abſchied nehmen. Auguſte Schmidt. („Die Frau“, Juli 1902.) Die dichtende Phantaſie der Völker ſchafft in ihren größten Epochen lichtumfloſſene Geſtalten mit ſtrahlenden Jünglingsaugen, denen alle Herzen entgegenfliegen, die mit Siegerſchritt über die Erde wandeln. Aber in dem bangen Bewußtſein, daß Lichtnaturen der Erde nicht angehören dürfen, daß die Schatten ſie haſſen, ſie über⸗ fluten müſſen, rettet die Dichtung ſie hinüber durch einen frühen Tod. Und ewig jung leuchten uns ihre Augen aus Sage und Lied ent⸗ gegen. Die wir heute betrauern, iſt eine ſolche Lichtnatur, eine Sieges⸗ natur geweſen. Aber diesmal gab das Leben mehr als die Dichtung: Auguſte Schmidt hat bis an die Grenze des Greiſenalters in innerer Jugend und ſonniger Heiterkeit dahinſchreiten dürfen, von Jahr zu Jahr mehr geliebt und verehrt und bei ihrem Scheiden von Tauſenden auf das ſchmerzlichſte beweint. Man hat ſich früher wohl gegen einen Heroenkultus in der Ge⸗ ſchichtsauffaſſung wehren müſſen. Heute ſind die entgegengeſetzten Theorien in die Mode gekommen über die treibenden Kräfte, die den geiſtigen und ſittlichen Fortſchritt der Menſchheit bewirken. Nur in der Maſſe ſollen ſie liegen. Dieſe Geſchichtsauffaſſung iſt in ihrem Extrem ebenſo unwahr, wie der reine Individualismus. Jede große Perſönlichkeit, die ſcheidend eine unausfüllbare Lücke läßt, liefert den Gegenbeweis. Die Einzelnen ſind es, die in der Maſſe die latente Kraft erſt auslöſen, ihr die Richtung geben, ſie in gemeinſame Arbeit umſetzen und zu Erfolgen führen. Für dieſe Führer gilt ein Gebot, Auguſte Schmidt. 343 das die Maſſe als ſolche niemals erfüllen kann: das völlige Aufgeben des eigenen Ich, das Aufgehen in der Sache. Eine ſolche Führerin iſt Auguſte Schmidt geweſen. Den Leſerinnen der „Frau“ ſind ihre Züge vertraut. Ein paar kurze Daten über ihren Lebensgang mögen dem Verſuch voranſtehen, uns ihre Perſönlichkeit beim Scheiden noch einmal ganz zu vergegen⸗ wärtigen. Auguſte Schmidt iſt als Kind einer Offiziersfamilie am 3. Auguſt 1833 geboren. Im Kreiſe der Ihren wurde ihr eine glückliche Jugend zuteil, wenn auch die Unruhen des Jahres 1848, die ihre damals in Poſen weilende Familie in unmittelbarer Nähe mit erlebte, mancher⸗ lei ernſte, tiefgehende Eindrücke brachten, die ſie wohl zum Teil in ihrem Buch „Aus ſchwerer Zeit“ wiedergegeben hat. Sie hat es oft ihrem Vater gedankt, daß er, ganz ohne Standesvorurteile, ihr den dringenden Wunſch, Lehrerin zu werden, nicht verſagte. In dem ſelbſtgewählten Beruf hat ſie dann auch volles Genügen gefunden. Sie war zuerſt als Erzieherin tätig, dann in Rybnik (Oberſchleſien) an einer Schule, darauf in Breslau an der ſtädtiſchen Maria⸗Magda⸗ lenen⸗Schule. Hier gründete ſie ſich auch den erſten ſelbſtändigen Wir⸗ kungskreis durch Übernahme einer Privatſchule. In Leipzig fand ſie endlich ihre dauernde Stätte, als Lehrerin, dann als Leiterin der von Steyberſchen höheren Mädchenſchule, an der ſie 1887 das Jubiläum ihrer 25 jährigen Tätigkeit feierte. Welche Stellung ſie in der deut⸗ ſchen Lehrerinnenwelt einnahm, das zeigte ſich am klarſten, als ſie im Jahre 1890 die konſtituierende Verſammlung des von ihr mit⸗ begründeten Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenvereins leitete. Und der Geiſt, in dem ſie ihren Beruf erfaßte, deckt ſich ſo völlig mit den im Verein noch heute lebendigen Traditionen, daß die Worte, die ſie damals an die Lehrerinnen richtete, hier ihre Stelle finden mögen: „Ich aber ſtehe hier als die älteſte unter denen, welche den Nuf an alle Kolleginnen der deutſchen Lande verſendet haben. Nach einer vierzigjährigen ununterbrochenen Tätigkeit als Lehrerin bin ich bereit, Zeugnis abzulegen für das tiefe Genügen, welches unſer Geſchlecht in dem Lehrberuf zu finden vermag; freilich nur, wenn wir dies Ge⸗ nügen da ſuchen, wo es zu finden iſt: im Verkehr mit den Kindern, in der unbedingten Hingabe an unſere erziehliche Tätigkeit, aber Auguſte Schmidt. 344 auch in dem raſtloſen Streben nach immer höherer geiſtiger Entwick⸗ lung, nach immer reinerer ſittlicher Erkenntnis. Wer ſich mechaniſch in dem angegebenen Kreiſe dreht, wird bald nicht nur die Freudig⸗ keit, ſondern auch die Fähigkeit verlieren. Der Lehrende iſt ein Ge⸗ bender; darum müſſen wir ſorgen, daß wir zu geben haben, daß wir unſern ſeeliſchen Beſitzſtand mehren.“ Als ſie dieſe Worte ſprach, wirkte Auguſte Schmidt ſchon ſeit einem Vierteljahrhundert als eine „Gebende“ in einem weiteren Kreiſe, einem Kreiſe, den ſie ebenſo mit dem Geiſt dieſer Worte zu durchdringen vermocht hat. Seit der 1865 erfolgten Gründung des Allgemeinen deutſchen Frauenvereins ſtand ſie als ſeine zweite Vorſitzende im Kampf um die geiſtige, ſittliche, ſoziale Befreiung der Frau. Es iſt hier nicht möglich, von den einzelnen Phaſen dieſes Kampfes, von den Hemmniſſen und den Siegen eingehend zu berichten, nicht möglich, im einzelnen zu zeigen, wo ihr Wort, ihre Arbeit eingegriffen und Erfolge gezeitigt hat. Dieſe ganze große Epoche der deutſchen Frauen⸗ bewegung, der ſie mit Luiſe Otto⸗Peters das einzigartige Ge⸗ präge gab, hat ihre Darſtellung im Handbuch der Frauenbewegung gefunden. Daß ſie leſend noch einmal wieder durchleben konnte, was ſie mitgeſchaffen und geſtaltet hatte, war Auguſte Schmidt eine große Freude, der ſie brieflich wie in den „Neuen Bahnen“ wiederholt war⸗ men Ausdruck gegeben hat. „In ihrer Zeichnung“ — ſo ſagt ſie von der Verfaſſerin der Geſchichte der deutſchen Frauenbewegung (Gertrud Bäumer) — „iſt kein einziger falſcher Strich, in ihre treffſichere Dar⸗ ſtellung verirrt ſich kein unrichtiger Gedankengang. Ich darf dieſes Urteil ausſprechen, denn es handelt ſich um einen wichtigen Teil meines eigenen Lebens und Strebens. Und wie ſchwer es gerade iſt, die uneingeſchränkte Billigung derjenigen zu gewinnen, die als Mit⸗ lebende und Mitſtrebende ſich an einer bedeutſamen Bewegung be⸗ teiligt haben — das wiſſen wir alle.“ So darf ich wohl für das Tatſachenmaterial auf jene von ihr ſelbſt noch beglaubigte Darſtellung verweiſen. Mir bleibt, was jene Darſtellung der Lebenden gegenüber nicht tun konnte: ſoweit ich es vermag, den Zügen ihrer Perſönlichkeit nachzugehen, die ihre ſo ganz eigenartige Stellung in der deutſchen Frauenbewegung beſtimmt haben. Auguſte Schmidt. 345 Es iſt, ſchwer, ſie im einzelnen zu faſſen; man kann nicht eine Moſaik herſtellen wollen, wo der Eindruck einer Ganzheit, einer Per⸗ ſönlichkeit, auf die das viel mißhandelte Wort „harmoniſch“ einmal wirklich paßte, ſo durchaus der beherrſchende iſt. Und im Grunde iſt auch gerade damit das Geheimnis ihres Wir⸗ kens ſchon bezeichnet. Man hat wohl in erſter Linie auf ihre ganz ungewöhnliche Rednergabe, die ſie ſtets im rechten Augenblick das rechte, warme, zu Herzen gehende Wort finden ließ, den Zauber zu⸗ rückführen wollen, den ſie auf große Verſammlungen ihrem Ideen⸗ gange bis dahin völlig fremder Menſchen auszuüben wußte. Und in der Tat mögen viele ſich gefangen gefühlt haben von der Art, wie ſie ſcheinbar fremde, neue Ideen dem Gedankenkreis ihrer Hörer einzu⸗ gliedern vermochte, wie ſie den „hochfliegenden Idealismus“, den Fernſtehende verſpotteten, als Triebkraft in das reale Leben einzu⸗ führen wußte. Aber dieſe Wirkung hätte ſchnell verfliegen müſſen, wenn nur die Rede ſie erzeugt hätte. Sie ging aus von der Per⸗ ſönlichkeit. Wie oft iſt mir ſelbſt als Hörerin die Erinnerung durch den Sinn gezogen: „Nun glühte ſeine Wange rot und röter Von jener Jugend, die uns nie entfliegt, Von jenem Mut, der, früher oder ſpäter, Den Widerſtand der ſtumpfen Welt beſiegt.“ Und wenn es je einen Menſchen gab, hinter dem das Gemeine weſen⸗ los lag, ſo iſt ſie es geweſen. Dieſe Empfindung, daß der ganze Menſch im Dienſt einer großen Idee ſtand, daß kein Gedanke an die Inſzenierung der eigenen Perſon, an den äußeren Erfolg dies reine Bewußtſein jemals trübte, hat Auguſte Schmidt alle Herzen gewonnen. Sie ſelbſt kannte keinen Haß als gegen Lüge und Strebertum, und nur Lüge und Strebertum ſtanden ihr feindlich gegenüber. Sonſt haben ſie alle, alle geliebt. Und nur der Poſe, der Mache, der kalten Berechnung gegenüber ver⸗ ſagten ihre Waffen, weil ſie ſich auf fremdem Boden fühlte. Ein kaltes Auge nahm ihr die beſte Kraft; am warmen, verſtändnisvollen Blick entzündete ſich ihre ſtets frei dahinfließende Rede, und ihre edelſte Kraft rief ſchlummernde Kräfte wach. Auch ihre „Methode“ in der Frauenbewegung war ein Aus⸗ Auguſte Schmidt. 346 fluß ihrer Perſönlichkeit. Sie ſelbſt verkörperte in ſich die durch Stu⸗ dium und tiefe Einblicke in das reale Leben durchgebildete Frau, die eben dieſe Durchbildung zu einem ruhigen Bewußtſein des eigenen Könnens und der eigenen Würde geführt hatte, und die von dieſem feſten Grunde aus die Forderung erheben durfte, die gebundene Kraft der Frau zu löſen und ſie in ihre vollen Rechte als Menſch und Bür⸗ gerin einzuſetzen. Dieſen Gedanken hat ſie voll zu Ende gedacht. Ihr wie Luiſe Otto war das aktive und paſſive Wahlrecht der Frau eine ſelbſtverſtändliche Konſequenz des Gedankens der Gleichwertigkeit bei⸗ der Geſchlechter. Aber ſie beſaß wie Luiſe Otto zu viel hiſtoriſchen Sinn, um durch verfrühte Verſuche ſpätere Entwicklungsreſultate zu gefährden. Ihre Methode leitete ſie aus den eigenſten Erfahrungen ab: die Arbeit, die Berufsarbeit, wie die Arbeit an der eigenen geiſtigen und ſittlichen Erziehung war ihr der Ausgangspunkt für die Heranbildung der Perſönlichkeit, ohne die ſie ſich einen erfolgreichen Kampf um die Bürgerrechte der Frau nicht denken konnte. Und es iſt wunderbar, wie ſie mitzuſchreiten verſtand, als im Laufe der mo⸗ dernen Entwicklung dieſe „Stellung der Frau zur Arbeit der Menſch⸗ heit“ immer konkretere Geſtalt gewann. Hatte ſie in einer ihrer erſten Programmreden im Jahre 1868 aus der „großen Errungen⸗ ſchaft des Jahrhunderts: der perſönlichen Geltung des perſönlichen Werts“ noch ganz im Schillerſchen Sinne für die Frau „das Recht einer ſittlichen Lebensbeſtimmung“ abgeleitet, hatte ſie den praktiſchen Ausdruck dieſes Rechts zunächſt in der freien Berufswahl geſucht, ſo verſtand ſie doch auch, ihre Forderung den neuen Geſichtspunkten der wirtſchaftlichen Entwicklung, des ſozialpolitiſchen Denkens anzupaſſen, die neuen Aufgaben, die die Zeit in raſcher Folge entrollte, dem alten Programm einzufügen. Denn das Prinzip dieſes Programms blieb immer das gleiche: alle Rechte, die für die Frau erſtrebt und errun⸗ gen werden, können nur dann ihr und der Kultur zum Segen ge⸗ reichen, wenn ſie imſtande iſt, ſie zur Entfaltung ihrer Eigenart zu verwerten, ſie im Bewußtſein ihrer vollen ſittlichen Verantwortlich⸗ keit für die Allgemeinheit zu gebrauchen. Ob in dem großen Werdegang der Menſchheit dies oder jenes äußere Recht etwas früher oder ſpäter erreicht wurde, erſchien ihr weit weniger wichtig als die Frage, ob dieſes Recht innerlich gefeſtigte Auguſte Schmidt. 347 Perſönlichkeiten vorfände, und ihr erſtes und wärmſtes Intereſſe hat daher immer den Bildungsfragen gegolten. Und wenn es ihr auch zuweilen eine ſchmerzliche Enttäuſchung bereitete, zu ſehen, daß die neuen Bildungsgelegenheiten nicht immer die vollwertigen Perſönlich⸗ keiten erzogen, auf die ſie gehofft hatte, ſo machte ſie das an der end⸗ gültigen Wirkung tieferer geiſtiger Kultur nicht irre. Bei dieſer Weltanſchauung mußte ihr jede Reklame, jede Mache weltenfern liegen. In dieſer Beziehung iſt ſie nie ein „moderner Menſch“ geworden. Auch wo ſie die Notwendigkeit einſah, durch äußer⸗ liche Mittel dem inneren Wirken zu Hilfe zu kommen, war ſie zur Ausführung ſo wohltuend ungeeignet. So ungeeignet wie zu ge⸗ ſchickten Inſzenierungen, zum berechneten Anbringen von Pointen, zu vorausbedachten redneriſchen Effekten. Sie gab immer ſich, wie ſie war. Und weil ſie eine große Natur war, gab ſie ſich immer groß, immer ſorglos und voll Vertrauen auf eine gleich große Auffaſſung. Nicht alle, die aus ſicherer Höhe die Welt überſchauen, die das Kleine klein und das Große groß ſehen, haben die in dieſer Lebens⸗ ſtimmung wurzelnde glückliche Gabe, den Humor. Gerade dieſer Hu⸗ mor aber und die gottbegnadete Sorgloſigkeit, mit der Auguſte Schmidt dem äußeren Leben, ſeinen materiellen Bedürfniſſen und Sorgen gegenüberſtand, machten ſie zu dem glücklichen Menſchen, dem der ſonnigſte Optimismus aus den Augen ſtrahlte, und vor dem keine trübe Stimmung, keine Entmutigung ſtand hielt. Wie im Ernſt, ſo wußte auch im Scherz ihre Rede zu zünden und hinzureißen. Wer erinnerte ſich nicht der Feſtreden und Toaſte, in denen ein im Moment geborener Einfall zum Ausgangspunkt wurde für eine Fülle von launigen, niemals verletzenden, immer fein treffenden Anſpielungen und Beziehungen, die um ſo hinreißender wirkten, als keinerlei geiſt⸗ reiche Effekthaſcherei ihre freie Natürlichkeit trübte. Aber wer Auguſte Schmidt nur aus Verſammlungen kannte, hat doch nur einen Teil ihres reichen Weſens erfaſſen können. Die ſeltene Miſchung einer freien, weiten und vornehmen Lebenserfaſſung und der humorvollen Freude am Kleinen und Kleinſten fand ihren ſchönſten Ausdruck erſt im engen Familien⸗ und Freundeskreis. Das harmoniſche Zuſammenleben mit den gleichgeſinnten Schweſtern, der warme, herzliche Verkehr mit den zahlreichen Freunden, die faſt jeder Lina Morgenſtern. 348 Tag dem gaſtfreien Schmidtſchen Hauſe in Leipzig zuführte, ſchufen eine reine Atmoſphäre friedlichen Behagens und ausgeglichener, ge⸗ hobener Lebensſtimmung, in der jeder freier atmete, der ſich aus dem Getriebe des Maſchinenzeitalters auch nur auf Stunden oder Tage hineinretten durfte. Den Anforderungen moderner Charakterſchilderung würde es nun entſprechen, wenn ich neben das Licht die Schatten ſetzen wollte, die jede volle Menſchennatur zeigt. Aber ich ſuche vergebens die Schatten zu fixieren, die dem Bilde Relief geben ſollen. Wie ſie in verklärter Schönheit im Sarge lag, ſo erſcheinen uns Rückſchauenden die ver⸗ ſchwindend leichten Schattentöne nur als das Korrelat allzugroßer Güte und Nachſicht eines vertrauenden, großen Herzens, dem das Rechnen mit kleinen Eigenſchaften bei anderen fern lag. Und ſo wird ſie in unſerem Herzen leben, eine Lichtnatur, eine ſieghafte Geſtalt, ein großes Herz, das unendlich viel Liebe gab und unendlich viel Liebe geerntet hat, wie im Leben, ſo im Tode. Genau zwei Jahre nach dem Tage, an dem Auguſte Schmidt der vor⸗ angegangenen großen Freundin Luiſe Otto die Gedächtnisrede zur Enthüllung ihres Denkmals halten durfte, am 10. Juni (1902), iſt ſie ſanft eingeſchlafen, und eine treue Freundeshand hatte ihr ſchon ſeit Jahren die letzte Stätte an der Seite ihrer Mitkämpferin gewahrt. Neben Luiſe Otto iſt ſie auf dem Johannisfriedhof in Leipzig gebettet. Ein ſonniger Himmel hat ihr noch zuletzt geleuchtet, Hunderte von Kränzen haben ihre Bahre geſchmückt, und ein Blumenregen fiel auf den Sarg herab. Lina Morgenſtern. (Gartenlaube, 1910.) Es gibt Gedanken, Einrichtungen, Anſtalten, die den Nuhm ihres Begründers auf eine ganz beſondere Weiſe überleben: durch die Schnelligkeit, mit der ſie ſich einbürgern. Sie werden den Men⸗ ſchen ſo raſch vertraut, ſo ſelbſtverſtändlich und unbeſtreitbar, daß es einer beſonderen Anſtrengung bedarf, ſie ſich als etwas Neues, Er⸗ kämpftes, als Ergebnis eines wahrhaft ſchöpferiſchen Willens vorzu⸗ Lina Morgenſtern. 349 ſtellen. Eine ſolche Einrichtung iſt die Volksküche ſeit Jahren, faſt kann man ſagen: ſeit Jahrzehnten. Ihr Daſein erſcheint ſo unerläß⸗ lich, der ihr zugrunde liegende ſoziale Gedanke ſo einfach — jeder Arbeiter der Großſtadt rechnet mit ihr, jede kommunale oder korpo⸗ rative Wohlfahrtspflege ſieht in ihr eine notwendige Aufgabe, ein Mittel, gewiſſen Mißſtänden zu ſteuern. So iſt die Volksküche unver⸗ hältnismäßig ſchnell in das letzte Stadium des Weges eingetreten, den neue Gedanken zurückzulegen haben: das Stadium, in dem jeder meint, es ſei nichts weiter daran, und jeder vernünftige Menſch würde das gleiche gedacht haben. Wenn dieſer Siegeslauf ihres Gedankens der Begründerin der Volksküche, Lina Morgenſtern, auch das ſeltene Glück eines unerwartet raſchen Gelingens tapfer verteidigter Pläne gewährte, ſo hat er anderſeits aber doch auch die Kraft und den Mut der Initiative, die einſt zu dem Werk gehörte, etwas verdunkelt. Am 16. Dezember 1909 iſt Lina Morgenſtern in Berlin im 80. Lebensjahr geſtorben. Ein Rückblick auf ihr Lebenswerk wird ſie vor allem als Begründerin der Volksküche ins Licht ſetzen müſſen. Es iſt charakteriſtiſch für die weibliche Leiſtung in Wohlfahrts⸗ pflege, ſozialer Fürſorge und Hilfstätigkeit, daß ſie meiſt an einen einzelnen konkreten Notſtand anknüpft. Während die philanthropiſche Arbeit des Mannes vielfach Ausführung eines theoretiſchen Gedankens iſt, tritt die Frau faſt immer unter dem Eindruck einer akuten Not auf das Feld der ſozialen Liebestätigkeit. So iſt der Gedanke der Volksküche nicht etwa aus der volkswirtſchaftlichen Einſicht in die wirtſchaftlichen Vorteile des Großeinkaufs und der Maſſenherſtellung entſtanden, auch nicht eigentlich aus der ſozialpolitiſchen Überlegung, daß bei der zunehmenden Erwerbsarbeit der Frau der Familien⸗ haushalt ſeine Aufgabe nicht mehr erfüllen könne. Der erſte Anlaß war vielmehr ein akuter Notſtand: die Teurung des Kriegsjahres 1866. Die Sorge, was bei den in die Höhe ſchnellenden Lebensmittel⸗ preiſen und der verminderten Arbeitsgelegenheit aus den Tauſenden von Familien werden ſollte, die in der Großſtadt von der Hand in den Mund leben, brachte Lina Morgenſtern auf den Plan von Volks⸗ ſpeiſungen. Der Gedanke der Verbilligung durch Großeinkauf und Maſſenherſtellung trat hier in den Dienſt einer praktiſchen philanthro⸗ piſchen Aufgabe. Männer, die damals an der Spitze der politiſchen Lina Morgenſtern. 350 und ſozialen Bewegung des Bürgertums ſtanden, Lette, Virchow und andere, wurden für die Sache gewonnen. Ein Aufruf an „die Mit⸗ bürger Berlins“ brachte ein kleines Gründungskapital zuſammen, und am 9. Juli 1866 wurde die erſte Volksküche eröffnet. Etwas Neues in mannigfacher Hinſicht: eine Wohlfahrtseinrichtung, die doch auf der geſunden Grundlage der Selbſterhaltung ruhte, die keinen anderen Vor⸗ teil gewährte, als den Mitgenuß an den Erſparniſſen des Großbetriebs. Eine Wohlfahrtseinrichtung zugleich, die den mitwirkenden Frauen eine Schule ſozialer Erkenntnis werden mußte. Und das war vielleicht nicht minder wichtig. Die Frauen, die hier bei der Verteilung der Speiſen mitwirkten, gewannen Einblicke in die Lage breiter Volks⸗ ſchichten, wie ſie ihnen die Wohltätigkeit nicht vermitteln konnte. Denn die „Armenbeſuche“ brachten doch immer nur mit Einzelfällen in Beziehung und in der ein richtiges Kennenlernen und Urteilen ſehr erſchwerenden Rolle der „Wohltäterin“. In der Volksküche weht eine ganz andere Luft. Viele Frauen Berlins verdanken der Mitarbeit bei der Speiſenverteilung das Erwachen eines über das bloße Mit⸗ leid hinauswachſenden ſozialen Intereſſes. Die Entwicklung der Induſtrie, die mit jedem Jahr neue Scharen von Frauen auf den Arbeitsmarkt zog, gab der Volksküche bald auch noch eine neue Bedeutung. Sie tritt an die Stelle des Familientiſches — für den Mann, für die Frau, ja ſchließlich für das Kind. In dieſer Rolle hat ſie auch ihre ſchärfſten theoretiſchen Anfechtungen erfahren. Man hat ihr vorgeworfen, daß ſie an der Zerſetzung der Familie arbeite, die Bequemlichkeit und hauswirtſchaftliche Unkenntnis der Frauen befördere, für den Mann die Übergangsſtation zum Wirts⸗ hausleben bilde. Heute wird niemand dieſe Einwände im Ernſt er⸗ heben. Selbſt wer die Volksküche als ein notwendiges Übel einſchätzt, wird den Ton auf das Wort „notwendig“ legen und zugeben, daß als „Übel“ nicht eigentlich ſie, ſondern die wirtſchaftlichen Zuſtände bezeichnet werden müſſen, die ſie ſicher nicht befördern, ſondern deren Folgen für die Volksernährung ſie lindern will. Die erſte große Probe auf ihre Leiſtungsfähigkeit hatten die Volksküchen wieder in einem Kriegsjahr zu beſtehen. Auf ihre Orga⸗ niſation und ihre Einrichtungen geſtützt, konnte Lina Morgenſtern im Jahre 1870⸗71 die großen Truppenſpeiſungen auf den Berliner Lina Morgenſtern. 351 Bahnhöfen leiten, die als eine der bedeutſamſten weiblichen Hilfs⸗ aktionen des Krieges noch in aller Gedächtnis ſind. Monate hin⸗ durch hat dieſe Arbeit Frau Morgenſtern und ihre Helferinnen voll in Anſpruch genommen. Vielleicht war nicht das nächtliche Kampieren auf den Erbſenſäcken der Vorratsräume oder in den Güterwaggons das eigentlich Bewundernswerte dieſer Tätigkeit, ſondern mehr noch die organiſatoriſche Leiſtung, die hinter der praktiſchen Hilfe ſtand. Hier eigentlich empfing die Volksküche den Stempel einer patriotiſchen Tat, der ihr durch das Protektorat der Kaiſerin Auguſta und ſpäter der Kaiſerin Auguſte Viktoria beſtätigt wurde. Es iſt faſt ſelbſtverſtändlich, daß eine Frau, die in dieſer Weiſe ſelbſtändig und zur Durchführung eigener Gedanken in das öffentliche Leben eingriff, auch der Entwicklung ihres eigenen Geſchlechtes nicht fernſtehen konnte, ja, daß ſie ihre Mitarbeit an allgemeinen Auf⸗ gaben in dem Bewußtſein leiſtete, damit einer neuen Auffaſſung von der Bedeutung der Frau im Volksleben zur Geltung zu verhelfen. Die innere Zugehörigkeit zum Liberalismus und zur bürgerlichen Demokratie fügte der praktiſchen Tätigkeit die theoretiſche Grundlage hinzu; der Erkenntnis, daß die Frau im modernen ſozialen Leben auch außerhäusliche, auch bürgerliche Pflichten zu erfüllen habe, ge⸗ ſellte ſich die ethiſche Überzeugung, daß aufſtrebenden, arbeitswilligen Kräften keine künſtlichen Hemmungen entgegengeſtellt werden dürften, und ſo wurde Lina Morgenſtern eine Anhängerin der Frauenbewegung, ihres vollen Programms und ihrer letzten Ziele. Auch hier wies ſie ihre Veranlagung in erſter Linie auf praktiſche Leiſtungen. In dem, was ſie literariſch für die Frauenbewegung ge⸗ tan hat, kann ihre Bedeutung nicht geſucht werden, wie es über⸗ haupt kein Abzug an ihrer Perſönlichkeit iſt, zuzugeſtehen, daß ihre ſchriftſtelleriſche Arbeit nicht den eigentlichen Ausdruck ihrer Bega⸗ bung darſtellt. Sie lag vielmehr in der Energie, mit der ſie ſich den naheliegenden Aufgaben, den erſten tatſächlichen Notwendigkeiten der Bewegung zuwandte. Die Organiſation der Hausfrauen, die haus⸗ wirtſchaftliche Erziehung ſchulentlaſſener Mädchen, die Kindergarten⸗ bewegung mit dem neuen Gedanken einer Durchgeiſtigung der häus⸗ lichen Erziehung, einer Durchbildung der Frau für den Mutterberuf waren ihre Arbeitsfelder. Dabei hat ſie aber ſtets für den ganzen Lina Morgenſtern. 352 großen Horizont der Frauenbewegung Blickweite gehabt und ſich keiner neu auftauchenden Aufgabe entzogen. Sie zeigte ſich als regſamer Gegenwartsmenſch und betätigte zugleich den humanitären Idealismus, der der Grundcharakter ihrer Lebensanſchauung war, wenn ſie den internationalen Beziehungen ein beſonders lebhaftes Intereſſe entgegenbrachte. Der Internationale Frauenkongreß von 1896 — eine für Deutſchland etwas verfrühte Unternehmung übrigens — ſtand unter ihrer Leitung. Lina Morgen⸗ ſtern iſt dadurch, aber doch wohl mehr noch als Trägerin der Volks⸗ küchenbewegung, auch im Auslande populär geworden. Ihr Name gehört zu dem wenigen, was man vor der Gründung und zunehmenden Feſtigung des Frauenweltbundes im Auslande von der deutſchen Frauenbewegung wußte. Ebenſo ſtark aber verband ſie mit dem Aus⸗ lande die Teilnahme an den Beſtrebungen der Friedensgeſellſchaft. Der Weltfriede als Ziel einer wachſenden Durchdringung aller ſo⸗ zialen und nationalen Verhältniſſe und Beziehungen mit Humanität und Gerechtigkeit, das war dieſer in der Gedankenwelt der liberalen Weltanſchauung, der ethiſchen Kultur und eines überkonfeſſionellen Moralismus wurzelnden Frau ein letztes Ideal. Iſt es ein utopiſches — nun, ſo hat ſie wenigſtens über dem Streben danach die Augenblicks⸗ forderung nicht hintangeſtellt. In dieſer Verbindung praktiſcher Fähigkeiten, die ſie neue Wege ſozialen Tuns zu gehen inſtand ſetzten, mit einer konſequent demokra⸗ tiſchen Auffaſſung von den Rechten und Pflichten der Frau in Staat und Gemeinde, iſt Lina Morgenſtern ein Typus der erſten Generation der deutſchen Frauenbewegung. Wir ſind ſtolz auf dieſe Generation. Iſt doch das Wirken aller jener Frauen, die zu ihr gehörten, ein Wirken, bei dem das Wort hinter der Tat zurücktrat, uns heute das beſte Zeugnis für den geſunden Urſprung unſrer Bewegung. Dieſe Frauen, die tapfer und tatkräftig, einfach und unbeengt durch all die ſchwierigen Prinzipienfragen, die uns heute in der Auffaſſung der Frauenfrage bedrängen, eine klar erkannte neue Miſſion der Frau im Geſamtleben aufnahmen, zeigen uns, daß die Frauenbewegung den geſundeſten Inſtinkten eines Volkslebens entſpringt: dem Ge⸗ meinſinn, dem Glauben an die Zukunft und dem horror vacui — der Angſt vor brachliegender Kraft und einem leeren Leben. 353 Helene Adelmann. („Die Frau“, Mai 1915.) Im zweiten Jahrgang dieſer Zeitſchrift haben wir unter dem Titel: „Das deutſche „Daheim' in London und ſeine Begründerin“ eine kurze Skizze des Lebenswerks von Helene Adelmann gebracht. Heute iſt ihr Leben und ihr Lebenswerk abgeſchloſſen: am Karfreitag, dem 2. April (1915) iſt ſie fern von der ſelbſtgegründeten Heimat, der Zufluchtsſtätte einer ganzen Generation deutſcher Erzieherinnen, in Dresden geſtorben. Auf dem geliebten deutſchen Boden weilte ſie als Flüchtige; mit ganzem Herzen bei jedem deutſchen Sieg, mußte ſie doch um das Schickſal der Schöpfung bangen, der ſeit 40 Jahren jeder Gedanke, jeder Atemzug gehört hatte. Eine nach der anderen geht dahin von den Frauen, die in den. letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts den Kampf um die Ausrüſtung der deutſchen Frau aufnahmen für die neuen Aufgaben, die die Zeit ihr ſtellte, ihn aufnahmen mit einer jungen, lebensvollen Begeiſterung und der ſchönen Illuſion, daß Vernunft und Wahrheit in heißem Anſturm über uralte Vorurteile ſiegen müßten. In dieſem Kampf bin ich Helene Adelmann zuerſt begegnet. Als im Jahre 1887 „Die höhere Mädchenſchule und ihre Beſtimmung“ als Begleitſchrift zu einer Petition an das Preußiſche Abgeordnetenhaus und das preu⸗ ßiſche Kultusminiſterium um beſſere Bildungsgelegenheiten für die Frauen hinausging, als ſie forderte, daß die Frau in die ihr ge⸗ bührende erſte Stelle bei der Mädchenbildung eingeſetzt werde, als die Überzeugung ſo mancher Kollegin durch den Entrüſtungsſturm geknickt wurde, der durch die von Männern beherrſchte deutſche Mädchenſchule zog, da war ſie es, die der ihr perſönlich ganz unbekannten Ver⸗ faſſerin ihre volle Zuſtimmung ausſprechen ließ. Und dieſe Überein⸗ ſtimmung der Überzeugungen hat dem perſönlichen Freundſchaftsbund, den die erſte Tagung der deutſchen Lehrerinnen in Friedrichroda ſchloß, ſeinen nie verſagenden Grund gegeben. Die Stimmung jener unvergeßlichen Frühlingstage der deutſchen Lehrerinnenſchaft hat über der Entwicklung der gemeinſamen Arbeit gelegen und ſie zur edelſten Freude gemacht. Lange, Kampfgetten. II. 23 Helene Adelmann. 354 Helene Adelmann hatte zu jener Zeit ihr eigentliches Lebens⸗ werk ſchon getan. Kaum mag ihr bei dem Kindheitsidyll in der Pfalz — ich möchte jede Mutter auf ihr Büchlein „Aus meiner Kinderzeit“ (Berlin, L. Oehmigkes Verlag) hinweiſen — der Gedanke aufge⸗ ſtiegen ſein, daß ſie einmal über dem Kanal einen ſtürmiſchen Kampf für die deutſche Frau durchfechten würde. 23 jährig kam ſie nach Eng⸗ land, nachdem ſie unter inneren und äußeren Kämpfen den Lehre⸗ rinnenberuf für ſich durchgeſetzt hatte. Die trüben Erfahrungen, die ſie und andere durch das ſchändliche Treiben der Stellenvermittlungs⸗ agenten machen mußten, denen die ſchlechten, immer wieder neu zu be⸗ ſetzenden Stellen die beſten Einnahmequellen bedeuteten, führten unter ihrer Leitung zur Begründung eines feſten Bundes der deut⸗ ſchen Erzieherinnen zu gegenſeitigem Schutz bei Stellenloſigkeit. So entſtand am 15. November 1876 der Verein deutſcher Lehrerinnen und Erzieherinnen in England, der bald, nachdem er ein ſchönes Heim er⸗ worben hatte, die feſte Burg für alle deutſchen Lehrerinnen im Lande bildete. Was hinter dieſen wenigen Daten an Arbeit ſteckt, weiß jeder, der einmal ähnliche Unternehmungen ins Leben rief — das Mehr an Ringen und Sorgen im fremden Lande kam hinzu. Ich gebe einige Mitteilungen wieder, die wir einer Mitarbeiterin aus jener Jeit verdanken, da ſie wie nichts ſonſt geeignet ſind, in jene längſt verſunkene Zeit hineinzuleuchten. „Die eigentliche Triebfeder in all dieſem Wirken, die Feuerader, die dem ganzen Organismus Leben und Wärme verlieh, der Knotenpunkt, in dem ſich ſeine weithin ver⸗ ſponnenen Fäden vereinigten, war Helene Adelmann, die auch jetzt noch ihres Erzieherinnenberufs treulich wartete und nur ihr freie Zeit den Arbeiten für den Verein zu widmen imſtande war. Und wie arbeitete ſie in den ihr bleibenden freien Stunden des Tages! Das Haus ihrer Prinzipalin iſt nur drei Minuten vom Daheim ent⸗ fernt. Um fünf Uhr abends, wenn ihre Pflichten beendet ſind, eilt ſie hinüber ins Vereinsbureau — mit ſicherer, beſtimmter Hand rafft ſie die Geſchäftsfäden auf, die ſie am vergangenen Abend niederlegen mußte, hört bis ins kleinſte Detail die Ereigniſſe des Tages an und ſetzt ſich dann an die eigene Arbeit, die Buchführung. Ihr klarer Kopf, ihr eminentes Konzentrationsvermögen helfen ihr, in kurzer Stunde Helene Adelmamnt. 355 dieſelbe Arbeit zu bewältigen, zu der eine andere die doppelte und dreifache Zeit gebrauchen würde. Kein unordentlicher Hausbewohner, kein ſaumſeliger oder untreuer Dienſtbote iſt vor ihr ſicher — immer fällt das ſcharfe Auge gerade auf das, was ſich gern verbergen möchte, aber immer geht von dem ſtrahlenden Blick auch Liebe, Wohlwollen und Ermutigung für alle ſie Umgebenden aus.. Im Jahre 1883 iſt Helene Adelmann dann ganz ins Daheim über⸗ geſiedelt. Denn obwohl dieſes in Magdalene Gaudian eine tüchtige, ihm ganz angehörende Kraft gewonnen hatte, nahmen die Geſchäfte des Vereins jetzt ſo ſchnell zu, daß auch ſie die Arbeit nicht mehr allein bewältigen konnte. So bauten denn die beiden Vor⸗ ſteherinnen die Stätte aus, in die ſo manche junge Erzieherin im Laufe der Jahre zagend eintrat, ob ihr Wiſſen und Können die Probe beſtehen würde, die der Verein verlangte, die Stätte, die ihr dann zur lieben, immer wieder aufgeſuchten Heimat wurde, und die beſon⸗ ders um die Weihnachtszeit unter ſtrahlendem Tannenbaum ein Klein⸗Deutſchland im fremden Lande darſtellte. Bis an die Wende des Jahrhunderts gingen die Dinge nun ihren ſtetigen, gewohnten Gang. Für Helene Adelmann hatten ſich die Ge⸗ ſchäfte noch erweitert: ſie ſtellte ihre Erfahrungen und ihre Arbeit auf dem Gebiet der Stellenvermittlung dem Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenverein zur Verfügung, um, wie ſie meinte, „den Stern⸗ guckern für den Brotkorb zu ſorgen“. Alljährlich verband ſie mit ihrer Heimatreiſe ein paar Arbeitsſitzungen mit den Kolleginnen in der Stellenvermittlung; auf keiner Generalverſammlung des deutſchen Vereins, dem der Verein in England gleich nach Friedrichroda bei⸗ getreten war, fehlte ſie mit ihrem ſonnigen, anſteckenden Optimismus, der ihr ſo viele Herzen gewann. Dann veränderte ſich ſo manches im Vaterlande und drüben. In dem Alter, in dem man ſonſt zu ruhen pflegt nach getaner Arbeit, galt es noch einmal umzudenken und umzuſchaffen. Die früher ſo unzureichenden Bildungsverhältniſſe in England erfuhren eine allmähliche Wandlung. Schon ſeit Anfang der ſiebziger Jahre hatten ſich die Türen der engliſchen Univerſitäten den Frauen geöffnet. Eine private Geſellſchaft, bei der Max Müller, der Oxforder Profeſſor, eine der treibenden Kräfte war, hatte kligh schools für Mädchen in immer ſteigender Zahl begründet, in denen 23* Helene Adelmann. 356 dieſe dasſelbe Wiſſen wie die Knaben erwerben konnten. Mehr und mehr ward es Sitte, die Mädchen dieſe Schulen beſuchen zu laſſen. Wo man Erzieherinnen ſuchte, verlangte man wenigſtens die gleichen Kenntniſſe, die die kligh schools übermittelten. Wo aber war die deutſche Erzieherin, die aus der Heimat die von der Mädchenbildung ausgeſchloſſenen Fächer Mathematik und Latein mitgebracht hätte? So ſah man ſich plötzlich vor Verhältniſſen, die vielleicht für den Ver⸗ ein verhängnisvoll geworden wären, wenn nicht endlich die Wand⸗ lungen im vaterländiſchen Frauenbildungsweſen, die ſo lange er⸗ ſehnt und erwartet worden waren, ihre Verwirlichung wenigſtens be⸗ gonnen hätten. Für die deutſche Lehrerin wurde ein kleiner Teil der Hoffnungen erfüllt, mit denen man 1890 an die Gründung des Allgemeinen Deut⸗ ſchen Lehrerinnenvereins gegangen war. In höherem Maße als bis⸗ her verwertete man ihre Arbeit an deutſchen Schulen. Beſonders wurde ſie für fremde Sprachen geſucht. Daraus ergab ſich die Not⸗ wendigkeit, die für den Unterricht auf Mittel⸗ und Oberſtufe uner⸗ läßlichen Studien im fremden Lande ſelbſt zu betreiben. Die Gelegen⸗ heit dazu war in England gerade für Lehrerinnen nicht in der er⸗ forderlichen Weiſe zu finden. Da richtete der deutſche Lehrerinnen⸗ verein in ſeinem Heim in London mit tüchtigen Lehrkräften unter der Leitung von Frl. Maria Horn ſeine Kurſe ein, die nun in anderer Weiſe als früher ein Mittelpunkt für alle die wurden, die nicht ihre Lebensarbeit in England ſuchten, ſondern hier nur die Vor⸗ bereitung für die Lebensarbeit daheim finden wollten. Bis der Krieg hereinbrach, hat die eifrige Schar der Kurſiſtinnen das Londoner Heim bevölkert — wird eine neue Generation ihnen folgen? Die ſich dieſe bange Frage in den letzten Monaten oft geſtellt hat, wird die Antwort nicht mehr vernehmen. Es wird Sache ihrer Freunde und Vereinsgenoſſinnen ſein, zu verſuchen, ob die alten Fäden ſich aufs neue knüpfen laſſen. Aber ob in der altvertrauten Form oder einer neuen, in irgendwelcher Weiſe muß und wird es ge⸗ lingen, dem Gedächtnis von Helene Adelmann Zukunft zu ſichern. Der Hebung und erhöhten Bildung der deutſchen Lehrerin hat ihre ganze Arbeit gegolten: ihr auch in der Fremde die Schätzung zu er⸗ ringen, die nur dem gediegenen Wiſſen und Können zuteil wird, und Helene Adelmann. 357 ihr wiederum für das Vaterland die Ausrüſtung zu geben, die es ihr ermöglicht, eine wirkliche Vermittlerin fremden Lebens und fremder Sprache zu ſein. Darin liegen Fingerzeige genug, um ihr Werk fort⸗ zuſetzen und ſo „dem Augenblick Dauer zu verleihen“. Mit der „Frau“, das ſei hier noch dankbar erwähnt, hat ſie ein beſonders enges Band verknüpft. Sie hat zu ihren Mitbegrün⸗ derinnen gehört. Sie war ſich voll der Aufgabe bewußt, die ſie zu löſen hatte, und hat mit eindringendem Verſtändnis die Wandlungen verfolgt, die ein Blatt wie das unſere in einem Vierteljahrhundert durchzumachen hatte, wenn es bei dieſer Löſung nicht verſagen ſollte. Unermüdlich hat ſie für ſeine Verbreitung gewirkt; auch „Die Frau“ war eines der Bänder, die den deutſchen Verein in England feſt mit dem Mutterlande verknüpften. Das Geheimnis ihres Erfolgs lag bei Helene Adelmann klar auf der Hand: es beſtand, wenn man auch ihrer ſeltenen Organiſations⸗ fähigkeit und Energie einen großen Anteil daran zuſprechen muß, doch in erſter Linie in ihrer völligen Selbſtloſigkeit. Ich habe keinen Menſchen gekannt, der ſo ganz in ſeinem Werk aufging. „Der Ver⸗ ein“ war ihr Stichwort; was ſie nie für ſich ſelbſt getan hätte, Bitt⸗ gänge und Dankſchreiben und die Erfüllung läſtiger Formalitäten, alles wurde ihr leicht, wenn es ſich um den Verein handelte, oder auch nur um ein einzelnes Mitglied, dem zu helfen die eigene, allzeit offene Hand nicht ausreichte. Kein Nebenintereſſe, keine Liebhaberei lenkte ſie jemals ab. Es kam ihr dabei zu Hilfe, daß ſie eine unkom⸗ plizierte Natur war. Was ſie tat und ſagte, war einfach, von abſo⸗ luter Echtheit und Zuverläſſigkeit. Als wir einmal in ihrer Gegen⸗ wart im Jargon der ehemaligen Hegelſchüler die einfachſten Gegen⸗ ſtände und Vorgänge metaphyſiſch umſchrieben, meinte ſie lachend: „Ich merke ſchon, ihr nennt das Kind Philippinchen, ich nenne es Binchen.“ Sie nannte das Kind immer Binchen. Kein Vereins⸗ mitglied hat ſich je über einen Mangel an Deutlichkeit bei einer Rückſprache mit ihr zu beklagen gehabt, keine aber auch über einen Mangel an Tatwillen und Tatkraft, wenn es galt, ſie aus irgend⸗ welcher Fährlichkeit zu löſen, auch wenn ſie ſelbſtverſchuldet war. Kaiſerin Auguſte Viktoria. 358 Und dieſe Echtheit und Zuverläſſigkeit hatte auch ihr Deutſchtum. Pfälzerin von Geburt, iſt ſie ein Kind der ſchönen Pfalz geblieben mit unverfälſchten Heimatlauten, trotzdem ſie faſt ein halbes Jahr⸗ hundert auf engliſchem Boden lebte. Wenn ſie noch in den letzten Tagen, ehe der ſchnelle, ſanfte Tod ſie hinwegnahm, den ſie ſich immer gewünſcht hatte, davon ſprach, ſie träume immer von London, ſo war es gerade der Gedanke an das deutſche Heim, das ſie dort er⸗ richtet und ſo wohnlich und freundlich geſtaltet hatte, der Gedanke an die Zukunft der Deutſchen drüben, der ihre Seele erfüllte. Mit beſon⸗ derem Stolz und der ihr eigenen hausmütterlichen Würde hatte ſie nacheinander zwei deutſche Kaiſerinnen dort begrüßt und ihnen alle die Einrichtungen gezeigt, die ſie für deutſche Landeskinder geſchaffen, — Tauſende dieſer Landeskinder waren hindurchgeſchritten durch die Häuſer in Wyndham⸗Place — kein Wunder, daß die Gedanken und Träume der 73 jährigen bis zum Ende ihres Lebens um dieſe Schwelle ſpielten. Ein guter Menſch iſt dahingegangen. Für ihre Freunde zu früh; für ſie ſelbſt war es recht ſo. Wiederanknüpfen, was ſo gewalt⸗ ſam zerriß, wäre gleichbedeutend geweſen mit Enttäuſchungen und Sorgen, die Jüngere leichter tragen. Dank und Liebe folgen ihr nach; ſie gehörte zu den Menſchen, die es uns leichter machen, den Gedan⸗ ken an eine ſteigende Entwicklung zum Guten feſtzuhalten. Kaiſerin Auguſte Viktoria. („Die Frau“, Mai 1921.) Ob man grundſätzlich Monarchiſt oder Republikaner iſt, berührt die Gefühle kaum, die der Tod und die Heimkehr der Kaiſerin in ihr Potsdam in den Vordergrund drängt. Wenigſtens nicht bei den Frauen. Für uns ſteht im Vordergrunde das ſchwere Mitgefühl mit einer Frau, deren Los in Glück und Tragik ein Frauen ſchickſal war, und niemals vielleicht hat uns das Wort der Iphigenie ſo auf den Lippen Kaiſerin Auguſte Viktoria. 359 gelegen: „Der Frauen Schickſal iſt beklagenswert.“ Wir fühlen bei dieſem Tode tief die Gemeinſamkeit des nationalen Geſchicks. Wir fühlen die Gemeinſamkeit des Frauenloſes — des Loſes, mit leiden zu müſſen, ohne mit ſchaffen zu können, das von anderen verantwor⸗ tete Schickſal mit anderen zu tragen. Dieſes Leben in anderen — „das ſchwere, ſchwere Doppelleben des Weibes“, wie einmal Helene Böhlau geſagt hat, verdoppelt Glück, verdoppelt Leid. Aus dieſem Gefühl heraus würden wir auch dann ein Wort des Gedenkens zu dem Tode der Deutſchen Kaiſerin ſprechen, wenn ihre Perſönlichkeit uns ferner geſtanden hätte. Wir würden es ſprechen aus dem Bedürfnis heraus, uns jetzt, im tiefſten Dunkel unſeres Schick⸗ ſals, vor der ganzen feindſeligen Welt, angeſichts einer widerwär⸗ tigen Verleugnung der Vergangenheit durch eigene Volksgenoſſen, zu bekennen zur Zuſammengehörigkeit mit einer Tragik, die unſere Tra⸗ gik iſt. Wir würden es ſprechen, weil uns in dieſem Augenblick das Schickſalhafte in unſer aller Leben, dem nationalen und dem perſön⸗ lichen, ſtärker bewegt als das Bedürfnis zu wägender Kritik einer ſo oder ſo gearteten geſchichtlichen Bedeutung. Aber die Kaiſerin hat den deutſchen Frauen auch mehr bedeutet als nur die Trägerin einer Würde. Sie hat ihr Leben in den Dienſt ihrer Verantwortung geſtellt: als Frau und als Fürſtin. Sie hat dies reſtlos und rein getan. Sie hat es getan mit einem warmen und gütigen Herzen, und in einer Anſpruchsloſigkeit und Einfachheit der Form, die der Ausdruck eines innerlich vornehmen Menſchen war. Sie wurzelte mit ihren Anſchauungen in einer Welt, die wir, die Frauenbewegung, umzugeſtalten ſtrebten. Dieſes Streben hat ſie nicht geteilt. Wie weit ſie es innerlich ablehnte, wie weit äußere Gründe ihre Stellung beſtimmten, können wir nicht ſagen. Einmal hat ſie in einer Angelegenheit der Frauenbewegung die Initiative ergriffen. Das war 1906 bei der Einberufung der Konferenz für die preußiſche Mädchenſchulreform. Vielleicht hat ſie, die über die Vor⸗ bereitung der Konferenz dauernd unterrichtet war, auch Einfluß auf gewiſſe Grundgedanken gehabt. Sicher hat ſie der Forderung, die Mädchenerziehung vorzugsweiſe in die Hände der Frauen zu legen, durchaus und unbeſchränkt zugeſtimmt. Sie hat auch ſonſt — z. B. gelegentlich der Ausſtellung „Die Frau in Haus und Beruf“ von Marie Hecht. 360 1912 — der Frauenfrage ihre Teilnahme entgegengebracht. Wir ver⸗ ſtehen, indem wir die Bedingtheit ihrer Stellung hiſtoriſch erfaſſen, warum dieſe Teilnahme nicht den ſozialen Horizont umfaſſen konnte, in dem dieſe Probleme tatſächlich ſtanden. Die deutſche Frauenbewegung iſt ſich dieſer Diſtanz zu ihr ſtets bewußt geweſen. Sie hat — nach der bekannten Königsberger Kaiſer⸗ rede über die Frauenfrage noch beſſer! — gewußt, daß ihre Arbeit die Gunſt der Landesmutter nicht beſchirmen konnte. Aber das hin⸗ dert uns nicht an der Würdigung einer Frau, die auf ihren Wegen ihrer Aufgabe treu war. Auch die zu Bürgerinnen berufenen Frauen, die zum Teil der Idee, der die Kaiſerin diente, ihre politiſche Arbeit entgegenſetzten, die nicht anders können, als ſtaatliche For⸗ men wägen und werten, beugen ſich vor der Reinheit des Wollens und der Tragik des Schickſals. Und in verſchiedenen politiſchen Lagern fühlen ſie angeſichts dieſes Schickſals das Band, das ſie als Frauen, das ſie als Deutſche verbindet. Marie Hecht. („Die Frau“, Februar 1922.) Es gibt Menſchen, die ſo ganz den Stempel ihrer Zeit tragen, oder, richtiger ausgedrückt, die ſo entſchieden zu denen gehören, die ihrer Zeit den Stempel geben, daß man ſie ſich in eine andere Zeit überhaupt nicht hineindenken kann. Zu ihnen hat Frau Marie Hecht gehört, die, 81 jährig, am 27. Dezember (1921) in Königsberg geſtorben iſt, nicht „alt und lebensſatt“, ſondern jugendlich gläubig einem neuen Aufſtieg des deutſchen Volkes, als von Gott gewollt, wenn die Zeit erfüllt ſein wird, entgegenſehend. Der jungen Generation iſt ihre Geſtalt verſunken, wie ihr jene ganze Zeit verſunken iſt. Die Zeit des gläubigen Idealismus in der Frauenbewegung, die für dieſe etwa dasſelbe bedeutete wie das Jahr 1848 dem Träumer des deutſchen Einheitsgedankens, der Ver⸗ brüderung aller Stände und Völker. Aber wer die Kraft dieſes Marie Hecht. 361 Idealismus, wenn auch vielleicht in andere Richtung weiſend, einmal ſelbſt innerlich erfahren hat, kann nicht über ihn lächeln. Der neue Pharao muß Joſeph kennen, von dem einmal eine ſegnende und be⸗ fruchtende Kraft ausging über ſein Land. Bei der Begründung des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnen⸗ vereins in Friedrichroda im Jahre 1890 haben ſich unſere Wege zum erſtenmal gekreuzt. Marie Hecht hatte damals ſchon ein paar Lebens⸗ etappen hinter ſich. Als Tochter eines nicht nur von ihr, ſondern weit über ihre Heimatſtadt Tilſit hinaus verehrten Vaters, des Superintendenten Behr, hatte ſie ein reicheres Jungmädchendaſein als Tauſende; als Frau eines das Leben nicht leicht nehmenden Mannes hatte ſie Glück, Reichtum und Ernſt der Ehe kennen ge⸗ lernt. Nach achtjähriger kinderloſer Ehe zurückgeblieben, war ihr feſter Entſchluß, nicht nutzlos in behaglich⸗beſchaulichem Kleinſtadt⸗ leben dahinzudämmern. Sie ergriff den Lehrberuf, zu dem ſie tief⸗ innere Berufung fühlte und in dem ſie reiche Erfolge gehabt hat. Aber wie ſie überall die heimatliche Enge überwand, ſo trieb es ſie auch hinaus, kennen zu lernen, was ein weiterer Kreis, was vor allem die Organiſation den Lehrerinnen bot. Mit nicht geringen Erwartungen nahm ſie 1886 an der Generalverſammlung des Vereins für das höhere Mädchenſchulweſen in Berlin teil, um, tief enttäuſcht von der völlig paſſiven Rolle, die die Lehrerinnen dort ſpielten, mit der feſten Überzeugung von der Notwendigkeit einer weiblichen Son⸗ derorganiſation in ihre Vaterſtadt zurückzukehren. Noch im Herbſt des gleichen Jahres begründete ſie den Tilſiter Lehrerinnenverein, den ſie lange Jahre hindurch ſelbſt geleitet hat und in dem ſie ihren Überzeugungen eine treue Gefolgſchaft ſchuf. So war ſie eine der Frauen, ohne die der Ruf, den Auguſte Schmidt, Marie Loeper⸗Houſſelle und ich im Jahre 1890 zum Zu⸗ ſammenſchluß der Lehrerinnen hinausſchickten, keinen Widerhall ge⸗ funden hätte. Es war ihr ſelbſtverſtändlich, zu kommen und zu den 85 zu gehören, die ſich in den Pfingſttagen in Friedrichroda um das neue Banner ſcharten, ſelbſtverſtändlich auch, kräftig mit Hand an⸗ zulegen. Sie hat mich ſpäter wohl daran erinnert, daß ich ſie, die mir ganz Fremde, herangeholt hätte, als es galt, perſönlich beim Zu⸗ rechtrücken von Tiſchen und Bänken im Verſammlungsſaal mit zu⸗ Marie Hecht. 362 zugreifen; es war ihr ſymboliſch geworden für den Verein und unſere gemeinſame Arbeit. Ich erinnere mich auch noch lebhaft des Ein⸗ drucks, den mir die große, ſchlanke, von innerer Lebendigkeit ganz erfüllte Frau in der Debatte über die Schulbibel machte; ſie trat dabei für ihre Überzeugung mit einem Ernſt und einer aus tief re⸗ ligiöſem Grunde ſchöpfenden Wahrhaftigkeit ein, die mich auf Lebens⸗ zeit ihr gewonnen haben. Häufig haben uns dann die Verſammlungen zuſammengeführt. Nicht nur im Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenverein, zu deſſen treueſten Arbeiterinnen ſie zählte; ſie gehörte auch zum Vorſtand des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins, dem ſie in Tilſit gleich⸗ falls eine Ortsgruppe begründet hatte. So bin auch ich dorthin ge⸗ kommen, „zu den Eisbären“, wie wir ſcherzend meinten. Es war ſehr warm bei den Eisbären. Und wieder und wieder empfand man, wieviel von der Initiative, Wärme und Tatkraft, die das Ver⸗ einsleben der Stadt durchſtrömten, von dieſem einen Menſchen aus⸗ ging, dieſem Menſchen, „der in jedem Augenblick ſeine ganze Perſön⸗ lichkeit für das, was er will, mit jugendlicher Wärme und Friſche einzuſetzen vermag, dem es deshalb in beſonderem Maße gegeben iſt, Stimmung zu ſchaffen, Begeiſterung zu wecken, Kräfte zu gewinnen. Ein Menſch aber zugleich, dem eine freie, reife Betrachtung der Welt und der Menſchen die Fähigkeit gibt, fremde Anſchauungen anzu⸗ erkennen und zu ſchonen, hinter dem Gegenſätzlichen das Gemein⸗ ſame zu finden, deſſen warmes perſönliches Empfinden den einzelnen zu ſuchen und zu gewinnen vermag.“¹) So war ſie damals und ſo iſt ſie bis zum Ende ihres Lebens geblieben. Ich habe kaum je einen Menſchen gekannt, der dem eigenen Weſen in höherem Maße die Treue gehalten hätte. Wir haben gern Gelegenheit geſucht, vor oder nach einer Tagung einen Tag oder zwei miteinander zu verbringen. Sie konnte eine Reiſe, eine ſchöne Wanderung ſo aus voller Seele genießen. Ihre große perſönliche Anſpruchsloſigkeit, ihre Beweglichkeit und ihr guter Humor ließen ſie kleine Reiſeunbequemlichkeiten leicht nehmen. In der Erinnerung weiß man ja auch erſt, wie leicht ſie tatſächlich waren, ¹) Helene Lange: „Auf vorgeſchobenem Poſten“. „Die Frau“, Achter Jahrgang, Juli 1901. Helene von Forſter. 363 wie märchenhaft ſchön und ſorglos es ſich damals reiſen ließ. So haben wir einmal das Schwarzatal durchwandert, vom Chryſopras bis Schwarzburg und zurück, die Rückfahrkarte dritter Klaſſe nach Saal⸗ feld ſchon ganz ſolide und ſparſam in der Taſche. Da überholte uns kurz vor Blankenburg ein hübſcher leerer kleiner Wagen; ein ſchneller Blick der Verſtändigung, und wir ſaßen darin und fuhren durch die wunderbare Herbſtlandſchaft nach Saalfeld, am Denkmal Louis Fer⸗ dinands zu innerer und äußerer Umſchau eine Weile ausſteigend. Die Rückfahrkarte blieb uns ein freundliches Erinnerungszeichen. Was kaum noch geſagt zu werden braucht und doch noch als Fa⸗ zit geſagt werden ſoll: ſie war ein guter Menſch. Ganz unaufdring⸗ lich und ohne alles Moraliſieren. Denn auch ihr Chriſtentum, der Grundſtock ihres ganzen Weſens, war unaufdringlich und undogma⸗ tiſch, war ihr ſelbſt einfach Lebensluft, ſo notwendig wie dieſe und ſo ſelbſtverſtändlich wie ſie. Es gehörte zu ihr wie ihre ausgeprägte oſtpreußiſche Eigenart: als das Element, in das ihr Tun getaucht war und von dem es geprägt wurde. Und es war, wie die ſtarke und echte Verwurzelung im Heimatboden, die Quelle, die ihrem Leben ſeine beſonderen Energien gab. Helene von Forſter. („Die Frau“, April 1923.) Nicht eine aus der erſten Generation der deutſchen Frauenbe⸗ wegung, aber doch eine Pionierin im eigentlichſten Sinne des Wortes iſt mit Frau Helene von Forſter in Nürnberg dahingegangen. Wenig über 60 Jahre alt, iſt ſie an einem ſchweren Leiden in dieſen Tagen geſtorben. Mit ihr iſt eines jener beſonders lebendigen Leben er⸗ loſchen, die gar nicht anders können, als über ihren engſten Kreis hinaus wieder Leben ſchaffen und entzünden. Sie war eine dieſer auf die Tat geſtellten weiblichen Naturen, die mit unerſchöpflicher Friſche, einem bezwingenden Optimismus und einer unermüdlichen Spannkraft die Probleme da anfaßte, wo ſie handelnd bewältigt werden konnten. Helene von Forſter. 364 In unmittelbarſter Fühlung mit der erſten Generation der Frauenbewegung im Kreiſe des Allgemeinen Deutſchen Frauenver⸗ eins iſt Helene von Forſter vor Jahrzehnten die Begründerin der Frauenbewegung in Nürnberg geworden. Sie gab dieſer Frauen⸗ bewegung Leben vor allem in ſozialen Schöpfungen und Einrichtun⸗ gen, die dazu dienten, das Schickſal der Mütter in den breiten Volks⸗ ſchichten zu erleichtern und die Bildung der Mädchen für neue Be⸗ rufe zu ermöglichen. Ein Mütterheim, ein blühender Hauspflege⸗ verein, eine Anzahl von Fachbildungseinrichtungen für Frauen ver⸗ dankten ihrer Initiative das Leben und wurden durch unendliche ideelle und materielle Schwierigkeiten hindurch von ihr mit unbe⸗ ſieglicher Elaſtizität geführt. Und im Zuſammenhang mit dieſer Ar⸗ beit verſtand ſie es, auch das innere Leben, den eigentlichen Sinn der Frauenbewegung, begreiflich zu machen und ihre Einrichtungen mit dieſem Geiſt zu durchdringen. Aus alter Nürnberger Familie mit beſter patriziſcher Tradition brachte ſie das Erbe einer großen bür⸗ gerlichen Vergangenheit mit für die Prägung des Begriffs der Staatsbürgerin im neuen Sinne des Wortes. Es war ſelbſtverſtändlich, daß ſie, als das Wahlrecht den Frauen gegeben wurde, als Mitglied in die Gemeindevertretung einrückte, der ſie ſchon vorher in mannig⸗ faltigſter Weiſe gedient hatte. Innerhalb der deutſchen Frauenbewegung iſt Helene von Forſter durch ihre Herzensfriſche, ihr hinreißendes ſüddeutſches Temperament, ihre kräftige und feine künſtleriſche Begabung eine der beliebteſten Führerinnen und Mitarbeiterinnen geweſen. Jeder, der der größeren Arbeitsgemeinſchaft der Frauenbewegung angehörte, kannte ſie nicht nur in der ſachlichen Arbeit, ſondern auch als fröhliches Glied ge⸗ ſelliger Gemeinſchaft, die ſie durch ihre ganz eigenartige Begabung zu Hans⸗Sachs⸗Improviſationen immer wieder für uns alle über⸗ raſchend und hinreißend zu beleben wußte. Sie war zugleich Gattin und Familienmutter im vorbildlichſten und innerlichſten Sinne des Wortes, die Mitarbeiterin ihres Mannes in ſeiner Praxis als Augenarzt, die Leiterin ſeiner Privatklinik und in dieſer ganzen Arbeit ſeine Geſinnungsgenoſſin in einer vorbild⸗ lichen ſelbſtloſen und ſozialen Auffaſſung des Berufs — einer Auf⸗ faſſung, die in einer Zeit ſtändig wachſenden Materialismus als etwas ganz Einzigartiges daſteht. Antonie Traun. 365 Es liegt eine Tragik über den Schöpfungen der freien gemein⸗ nützigen Tätigkeit, die, einſt blühend, in dieſen letzten Jahren zugrunde gehen oder durch ſtädtiſche Einrichtungen erſetzt oder in ſolche umge⸗ wandelt werden mußten. Es könnte dabei ſcheinen, als ob die Arbeit aller derer, die dies ins Leben riefen und jahrelang aufbauten, ſchließ⸗ lich doch ganz vergeblich geweſen und nichts davon übrig geblieben wäre. Auch den Einrichtungen, die Helene von Forſter geſchaffen hat, iſt dieſes Schickſal nicht erſpart geweſen. Und doch wird niemand ſagen wollen, daß ſie vergeblich gewirkt hat. Denn ob auch die Form, in der neuer Geiſt ſich verkörpert, wieder zerfallen und ſich wandeln mag, alles, was einmal ſchöpferiſch war, bleibt doch der Entwick⸗ lungskette des Ganzen eingefügt nicht als ein totes, ſondern als ein lebendig fortwirkendes Glied. Und ſo iſt dieſe Kraft in dem ganzen Zauber ihrer beſonderen Eigenart aus dem Leben ihrer Stadt und aus der Entwicklung der deutſchen Frauenbewegung nicht fortzu⸗ denken und nicht zu tilgen. Ihr Andenken braucht nicht künſtlich feſt⸗ gehalten zu werden von Pietät und Achtung. Es iſt lebendig durch ſich ſelbſt, durch das Leben, das es umſchließt und das von ihm aus⸗ gegangen iſt. Antonie Traun. („Die Frau“, Januar 1925.) „Ich widme dieſes Buch, das von dem Glauben an die deutſche Mutter und Bürgerin durchdrungen iſt, Frau Antonie Traun in Hamburg.“ So ſteht auf dem erſten Blatt eines Buches, das während des Krieges von einer Frau einer jüngeren Generation geſchrieben wurde: „Weit hinter den Schützengräben“ von Gertrud Bäumer. Und da⸗ durch werden in der Tat die beiden Pole und in ihrem Miteinander zugleich die beſondere Vorbildlichkeit des Lebens von Antonie Traun bezeichnet, der am 6. Dezember (1924), ihrem 74. Geburtstag, die Hamburger Frauenvereine eine würdige und ergreifende Totenfeier bereitet haben. Antonie Traun. 366 Ich habe verſucht, vor vier Jahren in einem Aufſatz zu ihrem ſiebzigſten Geburtstag, die beiden Seiten ihrer Lebenstätigkeit zu be⸗ ſchreiben, („Ein Bildnis.“ „Die Frau“, Dezember 1920.) und will dies nicht mit anderen Worten wiederholen. Man kann ja im Grunde eine Charakteriſtik, wenn ſie überhaupt zutreffend war, nur einmal geben. Aber bei der Rückſchau über ein vollkommen abgeſchloſſenes Leben heben ſich doch noch wieder andere Linien heraus, die, vielleicht vor allem für eine junge und jüngſte Generation, zu betonen wertvoll ſein mag. Immer noch führt in Hamburg eine leichte, aber deutlich ſichtbare Spur von der Generation, der Frau Traun angehörte, zu dem Jahr 1848 zurück, der „Hochſchule für Frauen“, die eine Pflanzſtätte einer in idealiſtiſchem und politiſch⸗ſozialem Geiſt erhöhten Frauenkultur ſein ſollte. Die Ortsgruppe Hamburg des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins war durch mancherlei perſönliche Tradition mit Emilie Wüſtenfeld, Malwida von Meyſenbug und den führenden Männern der Hochſchule verbunden. Frau Traun hing durch die Familie ihres Mannes, insbeſondere durch deſſen Mutter, mit dieſer Zeit zuſammen. Von hier aus wirkten auf ein neues Geſchlecht, bewußt und unbe⸗ wußt, die alten Impulſe eines verantwortungsbewußten, ausge⸗ ſprochen ſozialen Liberalismus. Sie ſprengten Egoismus und Selbſt⸗ zufriedenheit, die im wirtſchaftlichen Aufſtieg des wilhelmintſchen Zeitalters nur zu leicht die führende Schicht einkapſelten. Frau Trauns Schwager, Senator Traun, war der Begründer der Hamburger Volks⸗ heime — einer Schöpfung, die aus der Einſicht in die Gefahr des Zer⸗ falls unſeres Volkes in Arbeiterſchaft und Bürgertum nach dem Vor⸗ bild der Toynbee⸗Hall in London entſtand. Sie hat jahrelang hier praktiſch mit vorbildlicher Treue mitgearbeitet. Der gleiche verantwortungsbewußte Liberalismus führte Frau Traun in die Frauenbewegung. Ihr erſtes Arbeitsgebiet waren die „ſozialen Hilfsgruppen“, wie ſie in abgekürzter Form genannt wur⸗ den — ein ſozialer Erziehungsverſuch an den Frauen und Töchtern der Oberſchicht, die durch Mitarbeit an ſozialen Einrichtungen jeder Art geſellſchaftliches und ſtaatsbürgerliches Verantwortungsbewußt⸗ ſein gewinnen und lernen ſollten, ein nicht voll ausgefülltes Leben Antonie Traun. 367 wertvoller zu geſtalten. Die Verbindung der beiden Ziele: ſoziale Pflicht und perſönliche Entwicklung — perſönliche Entwicklung durch ſoziale Pflichterfüllung war der Grundgedanke dieſes Werkes. Von ihm aus weiteten ſich die Ziele zur Frauenbewegung im umfaſſendſten Sinne durch die Mitarbeit im Allgemeinen Deutſchen Frauenverein und im Verband norddeutſcher Frauenvereine. Es iſt nicht leicht, aus einem in den alten — z. T. zeitgebundenen, z. T. aber auch ewigen Formen des Frauen⸗ und Familienlebens, noch dazu in der durch Tradition beſonders ſtark beſtimmten Oberſchicht einer Hanſaſtadt dieſen Weg zu gehen. Schwer, vielleicht noch nicht einmal ſo ſehr durch den Widerſpruch nach außen, wie durch die innere Auseinanderſetzung. Für Menſchen, die loſe und flach im eigenen Boden wurzeln, iſt es leicht, ſich Neuem hinzugeben. Ganz anders für ſolche, die aus perſönlichem Weſen und Tradition mit ihren Lebensordnungen feſt verwachſen ſind und Überzeugungen bis zum Letzten ernſt nehmen. Wenn Frau Traun zur Frauenbewegung kam, ſo war ihr innerer Weg dazu der eines ganzen und aufrichtigen Menſchen, der ſich für gewonnene Einſicht und neu geſteckte Lebens⸗ ziele, dann aber auch bis zum Äußerſten, einſetzte. Mit unerſchütter⸗ lichem Mut, mit vorbildlicher Tatkraft und mit der menſchlich⸗mütter⸗ lichen Wärme, der es gelingt, die perſönliche Verbundenheit der Mitarbeiter zu ſchaffen, die ein aus Geſinnungsgemeinſchaft erwach⸗ ſenes Werk braucht. So hat ſie dem Allgemeinen Deutſchen Frauenverein gedient — in vorbildlicher „kaufmänniſcher“ Exaktheit der Kleinarbeit und in ſtets großzügiger Hilfsbereitſchaft. Sie brachte in dieſe Arbeit den richtigen hanſeatiſchen Geiſt, exakt in Einzelheiten, aber zugleich voll ſicheren Gefühls für den richtigen Stil einer Sache und gegen alle ſpießbürgerliche Kleinkrämerei. Sie war eine der wenigen Frauen, die als Mäcene ſozialer Arbeit wirklich einen großen Zug haben, indem ſie ſich nicht nur für längſt Anerkanntes, allgemein Gebilligtes, ſondern für das umkämpfte Neue einſetzen. Der Weg des Allgemeinen Deutſchen Frauenvereins zur Kon⸗ zentration auf die Gemeindearbeit entſprach durchaus ihrem auf das Konkrete, Praktiſche und Naheliegende gerichteten Sinn. Im Zu⸗ ſammenhang mit dieſer Wendung gründete ſie zur Zuſammenfaſſung Antonie Traun. 368 der Frauen in ſozialen Ehrenämtern den Verband für Armenpflege, Waiſenpflege und Vormundſchaft. Ihr letztes organiſatoriſches Werk war die Gründung des Bundes der Hamburger Hausfrauen, der z. I. ſchon aus Kriegsbedürfnis ent⸗ ſtand und kriegswirtſchaftliche Aufgaben jeder Art in weitem Umfange übernahm. Und damit iſt das Schickſal berührt, das die Kraft deutſcher Frauen in höchſtem Maße herausforderte, ſie in ihrer Miſſion im tiefſten Sinne beſtärkte und die Gemeinſchaft feſter denn je ſchloß: der Weltkrieg. Sie hat ihn mit tiefſter Leidenſchaft erlebt: als⸗ Mutter, die um Söhne und Enkel bangte und trauerte, als Bür⸗ gerin einer Stadt, die Deutſchlands Weltgeltung in beſonderm Maße verkörperte, als Frau, die in unermüdlicher praktiſcher Sorge ins Weite hinein und im engen Kreiſe den Kampf gegen Hunger und Entbehrungen mitkämpfte. Sie iſt in dieſem Kämpfen und Tragen nicht wie viele andere ſchließlich ſtumpfer geworden. Wer dieſe Jahre mit ihr erlebt hat, weiß, daß ſich die Saiten ihrer Seele immer ſtraffer ſpannten, und daß, während nach außen ihre Kraft unerſchöpft und unzerbrochen erſchien, ſie ſich im Kern verbrauchte durch das doch im letzten Grunde unheilbare Leiden der Mütter an der Herr⸗ ſchaft der Zerſtörung. Und die Erinnerung an dieſe letzten Jahre rückt mir neben dem Werk und der gemeinſamen Sache das Perſönliche in den Vorder⸗ grund: die Freundin, mit der Jahrzehnte der Arbeit und ſchließlich noch einige Jahre des Zuſammenlebens in der gleichen Stadt mich verbinden. Zuſammen alt werden, — immer noch im gemeinſamen Dienſt an einer mit friſcher Kraft begonnene Aufgabe — das mag. wohl feſt aneinanderbinden. Unabſehbar viele Stunden reichen und von immer gleicher Wärme erfüllten Zuſammenſeins im Gedanken⸗ austauſch, gemeinſamer Arbeit oder gemeinſamer Freude an ſchönem Eindrücken ſind meiner Erinnerung lebendig — und aus ihnen quillt das Gefühl des tiefen Dankes für eine Freundſchaft, die immer, in frohen und ſchweren Zeiten, ein gleich koſtbares und reich machendes Geſchenk war. 369 Helene Sumper. („Die Frau“, Juli 1926.) Am 10. Juni iſt Helene Sumper, die Begründerin und langjährige Vorſitzende des bayeriſchen Lehrerinnenvereins, geſtorben. Ihre Perſönlichkeit hatte Bedeutung weit über die blauweißen Grenz⸗ pfähle hinaus. Meine erſten Eindrücke von Helene Sumper fallen mit einem der größten und folgenſchwerſten Tage für die deutſchen Lehrerinnen zuſammen: mit dem Tage der Gründung des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenvereins zu Pfingſten 1890 in dem damals noch ziemlich weltabgeſchiedenen und ganz waldverſchatteten Friedrichroda. Der kleinen Zahl von Lehrerinnen, die dem Ruf dorthin gefolgt waren, durch Dialekt, Schulzugehörigkeit, Weltanſchauung und Kon⸗ feſſion, Herkommen und Erziehung eigenartig geſtempelt, war doch eines gemeinſam, ein damals Seltenes: die feſte Überzeugung von der beſonderen Aufgabe der Frau auch im Leben der Völker, und von der Aufgabe der Lehrerin, unter ihrem ausſchlaggebenden Ein⸗ fluß die Mädchen für ihren mütterlichen Beruf nicht nur in der Fa⸗ milie ſondern auch im Volksleben vorzubereiten. Das heutige Frauengeſchlecht, im vollen Beſitz ſeiner bürgerlichen Rechte und aller Berufsmöglichkeiten, kann ſich keinen Begriff mehr da⸗ von machen, was es damals hieß, ſich zu ſolchen Überzeugungen zu be⸗ kennen und ſie zu betätigen. Zu einer Zeit, in der viele akademiſch gebildete Lehrer die Oberklaſſen höherer Mädchenſchulen ausſchließ⸗ lich für ihre Domäne erklärten; in der hochgeachtete Vertreter der Volksſchule der Frau die phyſiſche und pſychiſche Eignung auch für die Volksſchule abſprachen; wo man dafür aber die Frau als „das harmoniſche Kunſtwerk“ gelten ließ und ihr ein Recht (!) zugeſtand, „den öffentlichen Intereſſen fremd, nur der ſchönen Betätigung ihrer Perſönlichkeit zu leben,“ wenn ſie auch nicht geſchaffen ſei, „Schranken zu durchbrechen, welche die Geſellſchaft ihr geſetzt hat“. Und als die Kunde von dem beabſichtigten Zuſammenſchluß der Lehrerinnen ſich verbreitete, da war es kein Geringerer als der auch bei den deutſchen Lehrern hochangeſehene Dr. Dittes aus Wien, der auf dem 8. deutſchen Lange, Kampfzeiten. II. 24 Helene Sumper. 370 Lehrertag in Berlin die mit ſchallendem Gelächter quittierten Worte ſprach: „Und ſelbſt die Lehrerinnen müſſen ſchon eigene Vereine und Zeitſchriften bilden.“ Und das, obwohl ihm durch die Verſammlung ſelbſt der Beweis erbracht werden mußte, daß die Lehrerin, wenn ſie das nicht tat, auch nicht die entfernteſte Möglichkeit hatte, mit ihren Wünſchen auch nur gehört, geſchweige denn verſtanden zu werden. Unter den Frauen, die geiſtige Selbſtändigkeit und bewußte weibliche Art mit ihren Runen gezeichnet hatten, zog die hohe Geſtalt von Helene Sumper und ihre herzliche ſüddeutſche Art von vornherein die Aufmerkſamkeit in Friedrichroda auf ſich. Vom Tage ſeiner Be⸗ gründung an arbeitete ſie unermüdlich für den Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenverein. Daß er ſie bald in ſeinen Vorſtand zog und ihr wiederholt einen Hauptvortrag auf ſeinen Verſammlungen zuwies, iſt nur ein äußerliches Kennzeichen für die Beliebtheit, deren ſich die immer arbeits⸗ und zukunftsfreudige Kollegin, die ſich daneben ihren Frohſinn und Humor niemals rauben ließ, bei allen Mitgliedern des Vereins erfreute. Den ſtärkſten Eindruck von ihrer Lehrerperſön⸗ lichkeit gab uns ein Vortrag, den ſie 1893 auf unſerer zweiten Gene⸗ ralverſammlung in Blankenburg a. Harz über das Thema: „Der naturkundliche Unterricht nach Lebensgemeinſchaften“ hielt. Es war nicht ihre Vertrautheit mit der Unterrichtstechnik der damals noch neuen Methode des Naturgeſchichtsunterrichts, die an die Stelle der ſyſtematiſchen Anordnung das Naturleben ſelbſt ſetzte, nicht das, was ſie uns poſitiv bot, ſondern die Einſicht in die Art, in der ſie ihre ganze Perſönlichkeit in den Dienſt der Kinder ſtellte, in ihre Ein⸗ fühlung, ihr Mitleben mit der Natur, was uns in ihren Bann zwang. Ihre Schilderung, wie ſie 12 jährige Mädchen im Schulgarten, im Nadelwald, im Bauernhof, in der winterlichen Stube, in der Ge⸗ birgslandſchaft die Lebensgemeinſchaften erkennen und ſich ihnen einordnen lehrte, zeigte die geniale, in ihrem Beruf aufgehende Lehrerin. Das ganze Lebenswerk von Helene Sumper hat Bayern gegolten. Durch alles, was dort Weſentlichſtes auf dem Gebiet des Mädchen⸗ ſchulweſens geſchah, zieht ſich wie der rote Faden, der auf engliſchen Schiffen die Taue als öffentliches Eigentum kennzeichnet, ihr Name, ihre Tätigkeit. Aber vieles von dem, was Helene Sumper für Bayern Dr. Franziska Tiburtius. 371 getan hat, iſt auch den übrigen Mitgliedern des großen Ver⸗ bandes zugute gekommen: es haben der Meiſterin der Fortbildungs⸗ ſchule viele junge Lehrerinnen zu Füßen geſeſſen, die vom Norden aus nach München gepilgert waren. Und was ihr vor allem zu danken iſt: ſie hat als treue Bayerin ſtets den Zuſammenhang mit dem Reich beſonders ſtark empfunden und gepflegt, ſo ſtark, daß ihr eine Entwicklung ſchmerzlich ſein mußte, die auf eine Lockerung dieſes Zu⸗ ſammenhanges hindeutete. Sie empfand dieſen Zuſammenhang um ſo ſtärker, als ſie, was bei einer ſo ausgeprägten Frauenperſönlichkeit kaum betont zu werden braucht, ganz im Dienſt der Frauenbewegung ſtand und ſich immer bewußt blieb, daß dieſe nur zum Ziel gelangen kann, wenn die Frauen über alles Trennende hinaus einig und feſt zuſammenhalten. Man ſoll um ein Leben, das die bibliſche Zeit gewährt und über⸗ dauert hat, nicht um ſeiner ſelbſt willen trauern. Die Liebe wird ſeine ſinnliche Gegenwart ſchmerzlich vermiſſen, und das tun viele dieſem liebenswerten Menſchen gegenüber. Aber ihm ſelbſt iſt Erfüllung ge⸗ worden ohne Ermattung, ohne den unvermeidlichen Abſtieg. Und ſo bleibt uns Helene Sumpers Geſtalt als vollendetes Menſchenſchickſal: im Erleben, Lieben und Schaffen. So wird auch unſer Verband ſie in warmem Gedenken bewahren. Dr. Franziska Tiburtius. („Die Frau“, Juni 1927.) „Und nun ſchaue ich in das ſpäte Abendrot und ſehe ruhigen Herzens der friedvollen Nacht entgegen. Mein Leben iſt köſtlich ge⸗ weſen, denn es iſt Mühe und Arbeit geweſen.“ Mit dieſen Worten ſchließt Franziska Tiburtius ihre Lebens⸗ erinnerungen ab. Und in dieſe friedvolle Nacht iſt ſie nun eingegan⸗ gen, leicht hinübergeglitten, wie ein Kind, das einſchläft. Und nach dem Wort des alten Weiſen dürfen wir ſie nun glücklich preiſen. Sie hat in der Tat ein reiches Leben gehabt. Und wenn ſie 24* Dr. Franziska Tiburtius. 372 meint: „Jedes Leben, das nicht ganz flach verplätſchert, führt unter der Oberfläche noch vieles mit, das eigenſtes Eigentum des Menſchen bleibt, Freude und Schmerz“ — ſo kann ſie doch fortfahren: „beides ſind Schätze, die man nicht miſſen und auch nicht anrühren möchte,“ und wir wiſſen, daß das, was mit ihrem innerſten Ich an intimem Leben verwebt war, auch von dieſem innerſten Ich beherrſcht wurde und ſomit auch einen Teil ihres Reichtums bedeutet hat. Der „Frau“ iſt Franziska Tiburtius kein Fremdling; ſie hat mehrfach ihr Lebenswerk dargeſtellt, hat zu großen Lebensabſchnitten ihrer gedacht, aus ihrer Feder wiederholt Erinnerungen „aus den Jugendtagen des Frauenſtudiums“ bringen dürfen und zuletzt noch ihre Erinnerungen einer Achtzigjährigen ihrem Leſerkreis warm ans Herz gelegt. So bedarf es hier nicht des üblichen „Nekrologs“ mit repetierenden Daten — die kürzlich erſchienene zweite Auflage ihrer Erinnerungen zeigt ja auch, daß die deutſchen Frauen die Gelegen⸗ heit, aus der erſten Quelle zu ſchöpfen, ſich nicht haben entgehen laſſen. Aber ein Wort perſönlicher Erinnerung an ein gemeinſames Wirken, das nicht direkt mit ihrer Lebensarbeit zu tun hatte, möchte ich hier noch einmal wiederholen. Denn wer wüßte noch etwas davon, was im Jahre 1889 geſchah — wer von der jungen Generation könnte es noch für etwas Beſonderes halten, daß damals die „Realkurſe für Frauen“ ins Leben traten, die ein erſter Verſuch ſein ſollten, den Frauen eine über die Mädchenſchule hinaus führende Bildung zu ſichern? (S. I. Band, S. 59.) An dieſem erſten Verſuch hat Franziska Tiburtius einen nicht etwa repräſentativen, ſondern ſehr aktiven Anteil genommen. Ich ſehe uns noch eifrig die Lehrpläne überlegen, Proſpekte entwerfen, ſchweren Herzens vieles ſtreichen, wofür die Zeit noch immer nicht reif ſchien. Tatſächlich war ſie noch nicht einmal reif für das, was uns wagbar und tragbar zu ſein ſchien; am Schluß des zweiten Jahres mußten wir die Nationalökonomie, für deren Anfänge wir ein genügendes Intereſſe vorausſetzen zu können gemeint hatten, wieder ſtreichen. Aber das waren kleine Enttäuſchungen, im ganzen ging die Sache doch vorwärts. Und was für mich ſo wertvoll dabei war, das waren die mancherlei Erfahrungen, die Dr. Tiburtius aus ihrer Schweizer Studienzeit mitbrachte, und die Kulturgeduld, die mein Tempera⸗ Dr. Franziska Tiburtius. 373 ment nicht immer aufbringen konnte. Als ich dann im Jahre 1893 wagen durfte, die Realkurſe mit unbeſtimmten Zielen in Gymnaſial⸗ kurſe mit dem ganz beſtimmten Ziel der Vorbereitung für die deutſche Reifeprüfung umzuwandeln, — unter Spott und Hohn ſelbſtverſtänd⸗ lich — da wußte ich genau, was ich meiner geduldig aufbauenden Gefährtin aus den erſten Probejahren ſchuldig geworden war. Und mit dem regſten Intereſſe hat ſie dann die weitere glückliche Ent⸗ wicklung der Kurſe verfolgt, die die männliche Welt nach wenigen Jahren mit der Tatſache überraſchen durften, daß Frauen in der Tat imſtande ſind, das nur für männliche Köpfe als bezwingbar geltende Abitur abzulegen. (S. “Unſere erſten Abiturientinnen“. Band I, S. 169.) Dieſe gemeinſame Arbeit und die Stärkung, die es für mich wieder und wieder bedeutet hat, in dem gemeinſamen Heim von Frau Henriette und Dr. Franziska Tiburtius heiteren und ermutigenden Gedankenaustauſch über die uns gleichmäßig beſchäftigenden geiſtigen Intereſſen der erwachenden Frauenwelt zu pflegen, ſtehen mir ſo leb⸗ haft in dankbarer Erinnerung, daß ich hier ein letztes Zeugnis dar⸗ über ablegen muß. So weit unſere Berufskreiſe auseinanderlagen, ſo wenig Zeit für „geſelligen“ Verkehr jede von uns bei ſtetig wach⸗ ſender Arbeit zur Verfügung hatte, ſo ſtand doch jede Begegnung unter dem Zeichen warmer freundſchaftlicher Geſinnung. Und aus dieſer heraus ſei der Altersgenoſſin, mit der ſo viele gemeinſame Er⸗ innerungen, gleicher geiſtiger Nährboden, gleiche Weltanſchauungs⸗ züge mich verbunden haben, dies letzte herzliche Gedenkwort ge⸗ ſprochen. Kroll's Buchdruckerei, Berlin S 14, Sebaſtianſtraße 76. Von derſelben Verfaſſerin ſind erſchienen: Lebenserinnerungen von velene Lange Ganzleinenband 5,5o Iark Verlagsbuchhandlung F. A. Herbig, Berlin T 35 Studien über Frauen von Gertrud Bäumer 3. vermehrte Auflage Gebunden 4,— Mark Inhalt: Heloiſe — Caroline — Frau von Humboldt — Zwiſchen zwei Kulkuren — Luiſe von Frangois — Ika Freudenberg — Helene Lange. „Jugend will auch in der Lektüre Drang, Erlebnis, Abenkeuer, äußeres, lebhaftes Geſchehen; das reifere Alter vertieft ſich mit erhöhtem Genuß in biographiſche Werke, die vor allem innere Geſchehniſſe beleuchken und verſtändlich machen. Ganz beſonders aber dann, wenn es von ſo federgewandter Hand, mik ſo ein⸗ fühlender Seele, mit ſo ſcharf und klar erfaſſendem Geiſt geſchieht wie in den ſieben Frauenſtudien von Gertrud Bäumer. Mit jenem gütigen, feinen Verſtändnis für alle Seelen⸗ regungen, daß die großzügige Frau verrät, zeigt uns die Verfaſſerin ihre Frauentypen. „Studien über Frauen“ ſei allen Frauen herzlich zur Lek⸗ türe empfohlen. Verlagsbuchhandlung F. A. Herbig, Berlin W 35 Die ſeeliſche Kriſis von Gertrud Bäumer 3. Auflage Preis im Ganzleinenband 6,— Mark I. Die ſchwankenden Fundamente: Meduſa — Die Zwietracht — Die „Intellektuellen“ — Die „Organiſation“ — Geiſtige Revolution — Die große Frage — Geburk und Tod — Die Kriſis der Kirche — Schickſalsſtunde des Proteſtankismus. II. Die ringenden Kräfte: Perſeus — Der Oſten und der europäiſche Geiſt (Doſtojewski und Dante) — Prome⸗ thidenſchickſal — Der Intellektualismus — Aufbau und Gemeinſchaft — Die Führerfrage — Kraft und Schwäche der Jugendbewegung — Jugend und Politik — Zur Formung des deutſchen Menſchen — Kriſis der Frauenbewegung — Geiſt und Geſchlecht — Weibliche Jugendbewegung — Der ewige Fluch — Athene des Myron. III. Unvergängliches: Der Brunnen des Lebens und die Gemeinſchaft des Lebendigen — Ausgießung des Geiſtes — Wiedergeburt — Größe und Grenzen des Chriſtenkums — Das „Ewige Leben“ — Das Leben und die Ratur (ein Verſuch) — Ein Geſang vom Leben (Hölderlins Empedokles) — Freiheik — Der Schoß des Lebens — Führerin Ratur — Lebendige Schöne — Mittlerer Ienſch — Die Schuld — Das UInreine — Tod und Auferſtehung der Völker — Geſchichtliche Schöpfung. Verlagsbuchhandlung F. A. Herbig, Berlin W 35 5 45 K S B B N12<120846810010 G,24.9.64 ZFB:2 Entsä 2017