Fm 4706/21 NuVR1.553ad M HELENE STÖCKER VERKÜNDER UND VERWIRKLICHER VERLAG DER NEUEN GENERATION BERLIN-NIKOLASSEE Die Neue Generation Monatsschrift für Mutterschutz, Sexualreform und radikale Kriegsbekämpfung Herausgeberin Dr. phil. HELENE STÖCKER 24. Jahrgang, vierteljährlich RM. 2.- Diese Zeitschrift ist eine der kühnsten und unerschrockensten, die wir haben. Hallescher Generalanzeiger. Lest "Die Neue Generation": Da schreibt Helene Stöcker, eine der freisten Frauen unseres Zeitalters, aus tiefstem Herzen hervorquellende Artikel für die Weltanschauung der Gewaltlosigkeit Volksblatt für Anhalt. Ein Organ, in dem die Geschlechterbeziehungen mit radikalem Ernst erörtert werden. Rosa Mayreder. Jedes Heft dieser Zeitschrift zeigt, wie die Herausgeberin klug, groß- zügig mit umfassendem geist ihr Hauptproblem mit allen Fragen des Lebens, der Wissenschaft, der Politik verknüpft. Es entspricht vollkommen ihrer aktiven Einstellung zum leben und Politik, daß sie dieses Problem nicht nur biologisch, moralisch und juristisch behandelt, sondern es wirk- lich universal betrachtet. Der Sozialistische Arzt. Die Neue Generation ist eine der tapfersten und zugleich ideenreichsten Zeitschriften auf dem ganzen Gebiete der Sexualreform. Bertram Lloyd. Erotik und Altruismus Von Helene Stöcker. Brochiert RM. 1.- Helene Stöcker kämpft gegen die Unnatur und Verlogenheit des modernen Geschlechts- lebens. Sie steht in ihrem Freimut und ihrer stolzen Wahrhaftigkeit beinahe uner- reicht da. Die schaffende Frau. Fort mit der Abtreibungsstrafe! Von Dr. phil. Helene Stöcker, Dr. med. H. Stabel, Dr. jur. S. Weinberg Broschiert RM. 1.- Lest und verbreitet diese klare Schrift! Es ist dringend nötig, daß hier endlich Wandel geschafften wird! Das Material ist erschütternd überzeugend! Tao. Enquête über die Ehe- und Sexualberatungsstellen in Deutschland mit Berücksichtigung der Geburtenregelung Veranstaltet im Auftrage des Bundes für Mutterschutz und Sexualreform von Dr. Lotte Neisser-Schroeter, mit einem Vorwort von Dr. helene Stöcker Broschiert RM. 1.- Zu beziehen durch alle buchhandlungen und den Verlag der Neuen Generation, Berlin-Nikolassee HELENE STÖCKER Verkünder und Verwirklicher Beiträge zum Gewaltproblem nebst einem zum ersten Male in deutscher Sprache veröffentlichten Briefe Tolstois „Nicht um die Erfinder von neuem Lärm — um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt." Nietzsche Preußiſche Staatsbibliothek Berlin VRRLAG DER NEUEN GENERATION BRRLIN-NIKOLASSEE Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Copyright 1928 by Verlag der Neuen Generation, Berlin-Nikolassee. — Drurck: Pierersche klofbuchdruckerei Stephan Geibel K Co., Altenburg (Thür.) S 1928.8921 VORWORT In den nachfolgenden, ursprünglich in der „Neuen Genera- tion“ erschienenen Beiträgen versuche ich einige große Führer der Idee der Gewaltlosigkeit zu schildern. Besonders crfreulich ist mir, neben Domain Polland auf die in Europa noch so gut wie unbekannte Dersönlichkeit von William Llovd Garrison hinweisen zu können, der, wie aus dem hier zum ersten Male in deutscher Sprache vcröffentlichten Briefe Tolstois hervorgeht, sogar auf Tolstoi als Vorbild und Anresung gewirkt hat. Daneben scheint es mir Dflicht, die Hlalbheit, Unaufrichtig⸗ keit und darum Gefährlichkeit der „Briedensbestrebungen nachzuweisen, wie der Völkerbund, die Darlamenfe und zum Teil auch der internationale Sozialismus und Dazifismus sie betreiben, die Völker zur Selbsthilfe, zum Widerstand gegen den organisierfen Menschenmord aufzurufen. Endlich habe ich auf einises von dem hinzuweisen ver⸗ sucht, was ich an Verwirklichuns einer neuen, gerechteren Gesellschaftsordnung in Sowjefrußland gefunden habe. Die Darstellung müßfe, um dem dort Geschaffenen völlig gerecht 2u werden, noch nach unsezählfen Seiten ersänzt und er- weiterf werden, was im Dahmen der hier vorliegenden Schrift aber leider nicht möglich isf. Das große Droblem: die Verkündung des reinen Ideals und die Arbeif der Verwirklichung in völlige Übereinstim- mung zu bringen, scheint auch hier nicht gelöst. Ist es über- haupt lösbar?? Um so dringender ist es vielleicht, die Not- wendigkeit beider Arten von Aufgaben zu erkennen, die Leistungen beider: der Verkünder und der Verwirklicher dankbar und vorurteilslos zu würdigen. Wenn durch meine Darstellung denjenigen, die in erster Linie für die Verwirklichung kämpfen, auch die Bedeutung der Vorkämpfer und Verkünder wieder einmal zum Bewußt- sein käme, und wenn umgekehrt die Anhänger der reinen Idee auch die ungeheuren Schwierigkeiten der Verwirk- lichung bis ins Letzte sich nahe brächten, wenn so die gegen- seitige Toleranz, die Anerkennung der wechselseitigen Not- wendigkeit und Überlegenheit zunähme, dann wäre die Auf- gabe, die ich mir mit dieser Veröffentlichung gestellt habe, erfüllt. Helene Stöcker. INHALT Seite Siehe, ein Mensch! (Romain Rolland) . . . . . . . 5 William Lloyd Garrison. . . . . . 16 Was ich Garrison schulde. Von Leo Tolstoi . . . . . 23 Genf . . . . . . . . . . . . 28 25. Weltfriedenskongreß in Genf . . . . . . . . . 33 London — Amsterdam — Berlin.. 40 Rußland und der Weltfriede . . . 44 Weltabrüstung? . . . 50 Antikriegspakt und Giftgas . . . . 88 Ist der Kriegstrieb ausrottbar? . . . . 65 Zum vierten Male in Rußland . . . . . . . . . . 73 SIEIIE, EIN MENSCII! I. „Freie Gewissen, starke Charaktere, das tut heute der Welt am meisten nof.“ Was Pomain Polland bedeutet? Seine, ach, so vereinzelte Stimme — die Stimme eines Dredigers in der Wüste — klang sleich einem Engelsruf durch das Dröhnen der Kanonen, durch das Heulen und Tosen des klasses 1914,/1918. Inmitten des allgemeinen physischen, psychischen und moralischen Wahnsinns erweckfe er das Giefühl der Erlösung, der Befrei- ung, der unendlichen Dankbarkeit, als er es waste, über den Tobenden, „über dem Hlandgemenge“, scine Sphäre des Friedens, des Verständnisses, des geistigen Zusammenhaltens zu crrichten. So ist er Bührer, Symbol aller derer in Europa geworden, die noch an eine wahrhaft menschliche Kultur glauben, die diesem Geiste auch dann freu zu bleiben ent- schlossen sind, wenn sie sich vanz klar darüber sind, daß der Wes, den sie sehen, vielleicht erst in ſahrhunderten mensch- licher Entwicklung zu dem ersehnten und so notwendigen Ziele führt. Sicher haben wir seit Tolstoi, seit Mietzsche keine Der⸗ sönlichkeit in der europäischen Kulfur sehabt, die eine 8o tiefe kiinstlerisch-moralische Einwirkuns auf die Mitleben⸗ den auszuüben vermochte, wie Nomain Nolland. Der in einem Städtchen Burgunds geborene Sohn eines Motars, dessen väterliche Vorfahren Kämpfer des Konventes, Fanatiker der Devolution sind, hat von der mütterlichen Seite ſanscnisfen-Geist geerbf. Diese beiden wesentlichen Ele- mente einer tieferen Geistigkeit: der religiöse Sinn, die Hin- gebung an einen Glauben und zugleich das Freiheitsideal, der Kampf für eine geistige Erneuerung: sie bestimmen seinen Weg. Schon in der Kindheit senkt sich ihm auch die Liebe zur Musik, und zwar vor allem zur deutschen Musik, zu Mozart und Beethoven, ins Fierz; die Freude an Shakespeare be- reichert seine Dhantasie, während die Ecole Normale in Daris, wohin die Eltern um der Erziehung des Knaben willen übersiedeln, die Grundlase für seine weitere Bilduns lest. Schon der junge Student empfängt die stärksten Ein- drüicke durch die Liebe zu Tolsfoi. Aber wie er nun daran seht, sein eigenes Leben zu gestalten, da bricht mit der Ge- walt einer seelischen Revolution Tolstois Broschüire in seine künstlerischen Pläne hinein: „Was sollen wir tun?“, die 5 die Kunst aufs schärfste verurteilt. Nun wird ihm die furcht- bare Entscheidung zwischen Tolstoi und Beethoven zuse- mutef. In diesem ungeheuren Zwiespalt, der sein ganzes Ferz zu⸗ sammenkrampft, faßt er den Entschluß, an den unbekannten, verehrten Dichter und Führer zu schreiben. Er schildert Tol- stoi seine innere Not, vielleicht kaum hoffend, eine Antwort aus der weiten russischen Ferne zu crhalten. Aber Tolstoi hat die tiefe seelische Not dieses HIilferufes empfunden; er setzf sich hin, um einen Brief von 38 Seiten, eine vanze Ab⸗ handlung in französischer Sprache, an den jungen Unbekann- fen zu schreiben. Dieser Brief vom 14. Oktober 1887 ver- sucht, dem Unbekannfen seine Ideen über die Kunst zu ent- wickeln: dal nur die einen Wert habe, die Menschen ver- binde. Nicht Liebe zur Kunst, sondern Liebe zur Mensch- heif sei die Voraussetzung aller wahren Berufung. In der ausgezeichneten, feinfühligen Darstellung von Nomain Rollands Leben und Werk hat Stefan Zweig (Pütten und Loening, Frankfurt a. DI.) mit Rechf desast, diese Worte Tolstois scien lebensentscheidend für die Zukunft Romain Nollands geworden. Was den junsen Menschen noch mehr crschüttert hat als dic Lehre Tolstois, ist die Erfahrung der menschlichen Ililfs⸗ bereitschaff Tolstois. Dies wird Polland ein tiefes und schöpferisches Erlebnis. Auch in ihm ist von jener Stunde an der große Hielfer und der brüderliche Berater entstanden. So wie Tolstoi, ein Großer einer nun schon vergangenen Epoche, fruchtbar weiter wirkt in Domain Rollands harmoni⸗ scherem, weicherem Gcmüit, so hat auch eine starke Dersön- lichkeit deutscher Kultur früh die Möglichkeit gehabt, ihm tiefe Eindriicke deufschen Wesens zu vermitteln. In Nom, wo ihm der Hisforiker-Dreis für Nom auf zwei ſahre zu Studienzwecken zu leben vergönnte, lernte er Malvida von Meysenbus kennen, die berühmte Verfasserin der „Ne⸗ moiren einer Idealistin“, die viele ſahre hindurch dem leidenden und kämpfenden Nietzsche eine mütterliche Freun⸗ din war. Die 70 jährige Deutsche und der 23 jährige Pran⸗ zose finden sich in einer seistigen, bis zu ihrem Tode dauern- den Freundschaft. Bis zu ihrem Lebensende schreibf er ihr wöchentlich Briefe, die vielleicht die beste Biographie seiner Jusend enthalten. In einem Aufsatz über die „Ewise Anti- sone“ bekennt er, dal cs seine Mutter und Malvida sind, die ihm den tiefsten Eindruck dieses Antisone-Typus ver⸗ mittelf haben: der sich stets mutvoll sesen die leere Kon- vention, für die wahre Liebe erhebt. Er selbst hat so erlebt, dab dem, der die Gröbe ersehnt und die Gröde selbst zu 6 verwirklichen bestrebt ist, dazu die Großen aller Länder dienen müssen. Aus dem Zusammenströmen zweier Hlauptinteressen, Musik und Geschichte, erwachsen dann nach der Dückkehr in den Beruf seine Vorträge an der Sorbonne in Daris über Musikgeschichte, während daneben das dichterische Talent sich schon rest. Polland ist auch einer der Ersten, die für die UInschuld von Drevfuß — aus unbestechlichem Gerechtig- keitsgefühl — zu kämpfen sich verpflichfet halten. Darüber hinaus aber möchte er, im Gegensatz zu der Korruption, zur Banalität und Käuflichkeit, der durchschnittlichen Dresse und Literatur etwas Hiöheres schaffen. Seine Freunde und er geben die „Cahiers de la Quinzaine“ heraus. Kein Cen⸗ time wird zur Reklame verausgabt; kaum findet man bei einem Buchhändler ein kieft. Studenten, Literaten, Künstler, ein kleiner Kreis sind die Leser. Über ein ſahrzehnt lang läßt Romain Rolland seine Werke hier erscheinen, den ganzen „ſohann Christoph“, seinen Beethoven, Michelanselo, seine Dramen, ohne einen Branken Hionorar zu erhalten. (Im ein moralisches Beispiel zu geben, verzichteten diese Menschen ein ſahrzehnt lans heroisch auf alle Erörterunsen, auf Besprechungen und Verbreituns und Hionorar, bis end- lich, durch Pollands lanssam gewachsenen Ruhm, sich ein Verleger findet. Schon in der Wahl seines Stoffes — zehn ſahre vor Ausbruch des Weltkrieges — hat er in dem um⸗ fansreichsfen seiner Werke: ſohann Christoph, kühn seinen Glauben bekannt: in der Zeit eines auflodernden Nationalis- mus gewagt, einen Deutschen zum Hielden zu nehmen! Aber wenn ihm das Schicksal so ein ſahrzehnt der Einsamkeit gab zur Vollendung des Werkes, so kam dann der Erfolg — den er nicht gesucht hatte — dennoch gerade zeitig genug, um ihm mit dem Beginn des Weltkrieses seine welthistorische Aufgabe erfüllen zu helfen. Drofessor Seippel gibt 1912 die crste Biographie heraus; 1913 fällf ihm der Dreis der Aka- demie zu. Von da an war sein Name hell und leuchtend genug, um die Stimme der Einheit, die Stimme Europas über all seiner Zerrissenheit sein zu können: das Gewissen der Welt. II. Vielleicht versteht man „ſohann Christoph“ nur, wenn man daran denkt, wie der Schatten des verlorenen Krieges 1870/71 über Rollands ſugend liegt. Eine militärische und politische Niederlage ist heute auch moralisch nicht ungefährlich. Das galt nach 1870 für Brankreich, wie es nach 1918 für Deutsch- land gilt. Da gibt es zwei Auswege: der alte Weg heißt Re- 7 vanche, Wiedervergeltung, Rachc. Aber dieses Argument der rohen Gewalt war kein Arsument, das einem Geist wie Nomain Polland genügte. Die geistige und moralische IIöhe Romain Nollands ermilf, wer sich vorstellt, daß heute, nach der deutschen Niederlage, ein großer deutscher Dichter den Nut und die tiefe Einsicht aufbrächte, als flelden scines Werkes einen Ansehörisen des französischen Volkes in den Mittelpunkt zu stellen. Glücklicherweise hat auch Nietzsche — in jener Zeit nach dem Siege Deutschlands über Frank- reich — in seinen Schriften leidenschaftlich erklärt, daß Frankreich jetzt das Land sei, das geistige Überlegenheit ge- winne und in dem eben jetzt eine wahre Kultur aufzublühen beginne, dan die deutsche Kulfur unterzusehen drohe, wenn Deutschland sich an Macht, an Dolitik, an äußerem Erfolg allein zu berauschen scheine. So hat Polland die militärische Miederlase zu entwerten, sie in moralische Größe zu wandeln versucht. Der französische Cegenspieler des deutschen ſohann Christoph, Olivier, in dem wir so viel vom Wesen des Dichters zu finden glauben, sagf: „Die Niederlage verwandelt die Elite eines Volkes. Alles Reine und Starke stellt sie ab- seits, machf sie reiner und stärker.“ In dieser Elite, die Frankreich mit der Welt versöhnt, sicht Pomain Polland die zukünftige Aufgabe seiner Nation. Die dreißig ſahre seines Schaffens vor dem Krieg sind ein einziger Versuch, einen neuen Kries zu verhindern. So mußte der Ausbruch des Weltkriegs für Romain Polland die tiefste Erschütterung bedeuten. Darum ist es doppelf hoch zu werten, daßs ihm die Gewalf dieser Erschütterung nicht den klaren Sinn verwirrt haf — wie zahllosen anderen —, daß er es im Gesenteil vermocht hat, auch aus dieser Niederlage wiederum ein neues noch größeres Werk im seclischen Sinn zu schaf- fen: das Werk seines Wesens, seines Lebens. III. „Das Hlöchste, was der Mensch erreichen kann, ist ein heroischer Lebenslauf.“ Dieses Wort Schopenhauers ist für Friedrich Mietzsche ein Lcitworf deworden, wie es das Leit- wort für Romain Rollands Leben dewesen ist. Es würde wohl einmal locken, diese Dersönlichkeiten, beide von höchster moralischer Glut erfüllt, beide stark durch die Musik be- einflußt, die ihnen einen Teil ihres innersfen Lebens be- deutet, beide Historiker und Dhilologen von Haus aus, beide Freunde der Idealistin Malvida von Meysenbug, beide mit einem starken religiösen Einschlas aus ererbtem Drofe- stantismus, auch sonst in ihrer Wesenheit und ihrem Wirken 8 miteinander zu vergleichen. Das ist im Pahmen dieser kurzen Betrachtung freilich nichf möglich. Wohl aber sei hier daran crinnert, daf bereits dem deutschen proßen „Immoralisten“ die Erkenntnis gekommen war, dal die Macht nichf in der Gewalt der Waffen, sondern in der Macht der Seele liege. Drei ſahrzehnte, ehe Nomain Polland sich zu diesen Ge- danken in schwerster Drüfungszeif bekannte, hat Friedrich Mietzsche bereits die eigene freiwillige Entwaffnung cines Volkes als den wahren Hleroismus und als das einzige Mitte! zum wirklichen Frieden zwischen den Völkern erklärt. IImmittelbar nach Tolstois Tode hat Dolland unternommen, sein Leben und Werk darzustellen. Tolstoi und Polland. beide Künstler, beide Moralisten, Kämpfer für eine höhere Ordnuns zwischen den Denschen, für einen tieferen Begriff menschlicher Kultur. Sie sind verwandt im Streben, den- noch — unendlich verschieden im Wesen durch die Dasse, durch die andere Epoche, durch unendlich verschiedene Um- welt. Es ist erschütternd, bei Romain Rolland noch einmal zu erfahren, wie Tolstoi erst als Vierundfünfzisjähriger im Jahre 1882 bei ciner Volkszählung in Moskau, an der er mit- wirkfe, das soziale Elend wirklich kennen lernfe. Mit der Leidenschaft seines klerzens sah er die Verbrechen und Lügen der Zivilisation: er meint, das Janze Übel komme daher, dan die sosenannfen zivilisierten Leufe, denen die Gelehrten und Küinstler zur Seite stehen, eine privilesierte Kaste sind, wie die Driester, und diese Kaste habe alle Fehler einer jeden Kaste. Aber was in Tolstoi auch noch bitter empfundene Dis- harmonie, ein peinvoller Gegensatz zwischen Leben und Lehre geblieben ist, ist in Pollands Leben zu einer künstleri- schen Einheit geworden. Wenn man sich aus der Fülle von Bollands Werken bis 1914 auch nur den „ſohann Christoph“ und die Tolstoibio⸗ graphie vergegenwärtigf, dann besreift man panz, wie prä⸗ destinierf er zu seiner Froßen moralischen Wirkuns war, die er dann von Beginn des Krieses an auf unsere im moralischen Sinne so trostlose Zeit ausgeübt hat. Der — aus einer frasisch zerbrochenen Ehe — in die Einsamkeit Versfoßene war beim Ausbruch des Krieges in der Schweiz. Vom ersten Iase an hat er versucht, die Ehre Frankreichs in einem Sinne zu verfreten und zu retten, wie es seiner Überzeusuns entsprach. ſener große, nun so lange schon aus dem Vaterland Ver- bannte ist nun über den Beoriff einer bestimmten Nation hinausgewachsen; er gehört mit seinem ganzen Wesen und Wirken der Denschheit an. 9 IV. Als der Massenwahnsinn ausgebrochen war, ist er mit der ihm eigenen Vornehmheit der Gesinnung anderthalb ſahre täglich sechs bis acht Stunden zum Ililfsdienst in das Rote Kreuz gegangsen und hat Briefe registriert, Briefe geschrieben, eine scheinbar geringfügige Kleinarbeit getan. Dieser beschei- denen Arbeit gegenüber — ohne irgendeine offizielle führende Stelluns im Roten Kreuz, nur um Irost zu schaffen, Qualen zu lindern — wirkt cs beschämend, sich der Haß- sedichte zu erinnern, die eine Reihe sroßer Dichter — auch deutscher Dichfer — in derselben Zeit herausgehen ließen, noch dazu meist ohne ihre Aufrufe, sich schlachten zu lassen und andere zu schlachten, durch die eigene Tat zu erhärten. Als Romain Rolland der Mobelpreis zuficl, behielt er keinen Franken für sich, sondern gab ihn ganz hin zur Linderung des europäischen Elends. Das ist es, was wir brauchen: diese Einheit von politischer Überzeusung und Leben, die Einheit von Dolitik und Moral. Immer ist in Pollands Herzen das Wort seiner ſusend leben⸗ dis geblieben: „IInsere erste Dflicht ist, gron zu sein und die Größe auf Erden zu verteidisen.“ UInd wie er während des Krieges das tröstliche, wundervolle Beispiel des Lebens gab — es ist mir eine der feuersten Erinnerungen, daß es mir vergönnt war, ihn im Tlerbst 1917 in seinem stillen Zu⸗ fluchtsort Villeneuve am Genfer See persönlich kennen zu Iernen, unscre Gesinnungsgemeinschaft über dem Getümme! des Krieges zu erleben —, so hat er von dem Augenblick an, wo die Grenzen sich wieder öffneten, um so restloser alles daran gesetzt, einer Wiederholung solchen Grauens für die Zukunft der Menschheit entgegenzuarbeiten. Er war einer der ganz Wenisen, der das Recht hatte, in jenem geistisen Kampf mit Barbusse, jenem nicht minderen tapferen Kriessgegner, den Einwand zu erheben, daß vielleicht der russische Kommunismus sich in der Wahl seiner Mittel ver- griffen habe: „Militarismus, ITerror, grobe Vergewaltigungen erachte ich nicht als sanktionierf, weil sie Düstzeug der kom⸗ munistischen Diktatur und nicht der Dlutokratie sind. Zu meinem Bedauern mun ich hören, dan Sie Gewalt nur als ein „Detail', und zwar als ein „vorübergehendes Detail' erachten. Ich glaube, daß eine derartige Formel von jedem beliebigen Minister einer bürgerlichen Resieruns aussenutzt werden könnte. Mehr als je zuvor besfreite ich, daß die Erreichung eines Zieles die Mlittel hierzu rechtfertige. Die Mlittel haben eine noch größere Wichtigkeit für den wahren Forfschritt als das Ziel selbst. Selten wird das Ziel erreicht, es ändert nur 10 die äußeren Beziechungen zwischen den Menschen. Die Mitte! aber beeinflussen den menschlichen Verstand, je nachdem sie sich in Gerechtigkeit oder Gewalf auswirken. Ich bewun⸗ dere Ihren Mut, Ihren Eifer, Ihre edle Ergebenheit. Unser beider Aktionen bekämpfen einander nicht. Sie er- gänzen einander gegenseitig. Wir werden von derselben Fluf der Revolution, besser gesagt, der Gesinnungserneue- rung Setragen durch das ewige Werden. Erachten wir uns als die Geisfesleuchten, die von Zeit zu Zeit erstehen und die Ketten der Vergansenheit brechen wollen, welche den Aufsties des Menschen zu hindern versuchen. Nur daßs ich sie nicht ersetzen will durch neue und noch schwerere Kettfen. Mit Ihnen und allen anderen Revolutionären bin ich degen die Tyrannci der Vergangenheit, mit den Bedrückfen von Morgen bin ich gegen T'yranneien, die der Morgen bringen mag. Unter allen Umständen: Gegen alle Ivrannen! V. Nach dem Kriege ist Romain Dolland nicht untätig ge⸗ blieben. Mit seinem „Clerambaulf“ (Verlas von Pütten E Loening, Frankfurf a. M., 1922), „der Geschichte eines freien Gewissens im Kriege“, hat er es unternommen, das fypische Erlebnis jener Minderheit während des Krieces dar⸗ zustellen, die cs versucht haf, sich der Verherrlichung des Hlasses und der Menschenschlächterei enfgegenzustellen. Clcrambaulf ist ein crschütterndes Beispiel, wie völlis gleich- artig die psychologische Entwicklung des Kampfes des Ein- zelnen gegen die fanatisierte und verhetzfe Gesamtheit in allen Ländern sich vollzogen hat. Die schwache und gewissen- lose Unterwerfung unter den Mechanismus des Staatslebens ist nicht „ein Dienst an der Gemeinschaft“, wie es den Den⸗ schen fälschlich dargestellf wird. Im Gegenteil: der Einzelne hilft nur in Wahrheit, die Gesamtheit zu erniedrigen und zu knechten. Clerambault, dieser einfache Mann, dessen Leben uns hier als ein Beispiel geseben wird, wächst unter un- zähligen Enttäuschungen und Anwandlungen cigener Schwäche dann doch endgültig über sich hinaus zu einem furchtlosen Kämpfer für die Erkenntnis seines Gewissens, bis er dann am Ende, ganz wie die Friedens- und Freiheitskämpfer in anderen Ländern, den verwegenen Mut, sich der Torheit, der Kurzsichtigkeit des Hlasses entpegenzustellen, mit dem Tode durch die Kugel eines französischen Nationalisten bezahlen muß. Romain Rollands „Clerambault“ gipfelt in der wunder- vollen tiefen Erkenntnis, die man als das Evangelium jedes Kämpfers für die Gewaltlosigkeit bezeichnen kann: 11 „Nicht durch Zufall ist ſesus gekreuzigt worden. Der Mann des Evangeliums ist der radikalste Devolutionär von allen; denn er ist die unerreichbare Quelle, aus der durch den Spalt der harfen Erde die Revolutionen aufspringen. Er isf das ewige Drinzip der Nichtunferwerfung des Geistes unter den Cäsar, wer immer es auch sei, der ewisen Auf⸗ lehnung gegen die ungerechte Gewalt. So erklärt sich der Haß der Staatsknechte oder hörig gemachten Völker gegen den demarterfen Christus, der auf sie niederschaut und schweigt, und gegen seine ſünger, gegen uns, die ewigen Dienstverweiserer, the conscientious objectors wider alle Tvrannei, mögen sie nun jene von morden oder jene von heufe sein, degen uns, die Verkünder dessen, der größer ist als wir, der der Welt das Wort des Ileils bringt, dessen, den sie ins Grab gelegt, der, den sie zu Tode martern werden bis ans Ende der Welf und der doch immer wieder auferstehen wird, der freie Geist, unser Herr und Gott.“ Auch in anderen seiner jüngst erschienenen Dichtungen, zum Beispiel der ergreifenden Erzählung „Deter und Lutz“ (Kurt Wolff Verlag, München, 1921), die vom 30. ſanuar 1918 bis zum Karfreitas desselben ſahres spielt, einem Idyll, — der Kriegsfurie zum Trotz, ſugendglück und Liebe unter dem Zeichen des Todesengels —, zeigt Romain Rolland wieder seine ganze Kunst und zusleich wieder ebenso seine vor⸗ bildliche Haltung. Er brinst uns die Brutalität und flärte des krieserischen Geschehens zum Bewußfsein ohne ein Wort des Vorwurfs segen den Feind. Er länf die Ülberlesen⸗ heit seines Standpunkfes spüren in der bitteren Ironie Zegen den „Kreuzzug der demokratischen Staaten zur Befreiung aller Völker“ und „zur Ausroftung des Krieges“. Er wundert sich nicht mehr, „wenn ein vierjähriges Schlachten im Namen so menschenfreundlicher Ziele die Menschen nichf eines besseren belehrt hat“, und er ist weise genug, um längst ge- lernf zu haben, daß die Menschen so blind sind, dal sie sich nicht einmal von den — Tatsachen widerlegen lassen. Auch der beiden jüngst erschienenen Bände „Die ver⸗ zauberte Seele“ (Kurt Wolff Verlag, München, 1924/25), 1. „Annette und Sylvia“, 2. „Sommer“, deren weibliche Hauptgestalf ein Gegenstück zum „ſohann Christoph“ zu werden scheint, wollen wir uns noch einmal dankbar erinnern (siehe „Die Neue Generation“, kleft 10/11, 1924, Seite 265). Auch sie bezeusen scine innere Freiheit gegenüber den Sus⸗ gestionen der Massen — mögen sie nun das nationale oder das individuelle Leben betreffen. Sie lassen uns jedenfalls das Gefühl tiefer innerer Gemeinschaft mit dem Dichter aufs neue tröstlich-freudis empfinden. In der Erkenntnis der Not- 12 wendigkeit der inneren Entwicklung, der sexuellen Be- freiung der Frau ist er ebenso kühn und vorurteilslos, wie tief und verantwortungsbewuft. VI. Zum ſahrestag der Verurteilung Gandhis, am 18. Dlärz 1922, isf dann das Werk Pollands erschienen, in dem er „den wiedererstandenen Indern, dem Volke, das den Zciten Trotz biefet“, scine Darstellung des indischen Dessias, des Kämp⸗ fers, Gandhi, widmet („Mahatma Gandhi“, Dotapfel-Verlag, Zürich, 1923). Ilier war es Nomain Polland vergönnt, eine Dersönlichkeit von seinem Geist in voller politischer Aktivität zu schildern, die in jahrzehntelanser Arbeit bewiesen hat, daßs unser Glaube an die psychologische Wirkuns der Gewalt- losigkeit, der neuen geistigeren Methode des Kampfes, nicht nur eine Utopic, sondern Wirklichkeit ist. Diese ungeheuer bedeufsame ethische Devolution pehf, was besonders inter⸗ essant ist, sogar von einem nationalistischen Befreiungs- kampfe aus: vom Kampf für die Gleichberechtiguns der Inder in Südafrika 1893/1914, und in Indien — besonders seit dem Ende des Welfkrieges. Niemand vielleicht war berufener, die unseheure Droblematik dieser neuen „Waffe“ im Kampf segen die bestehende brutale Gewalt zu erkennen und auf- zuzeigen, niemand berufener aber auch, den zweifellosen mnoralischen Erfolg zu konstatieren, den dieser Kampf Gandhis nichf nur Indien und seiner Sache, sondern der Sache einer wahren Kultivieruns der Menschheit überhaupf se- bracht haf. Man muß in Romain Pollands schönem tiefem Werk die spannenden, psychologisch und kulfurell werfvollen Einzelheiten dieses beispiellosen moralischen Ringens nach- lescn, um die Bedeutung dieser Ereignisse für unsere Kultur voll zu würdigen. Es gibt wenig Bücher, wenig Darstellungen, die so scelisch erhebend, so trostreich zu wirken vermögen, wie diescs Werk. Auch wenn man Gandhis Welfanschauuns nichf rest- los bejaht, auch wenn man nicht optimistisch diesen Kampf heute schon als unzweifelhaft gewonnen ansicht, sondern auf schmerzliche Rückschläge bei der allgemeinen Roheit und UIn⸗ kulfur der Menschen defaßt ist, so ist doch keine Frage, dan durch die Gandhi-Bewegung die Verachtung Indiens in der Welt und vor allem in England zum sroßen Teil zu schwinden begonnen haf. Man beginnt die Unvollkommenheit der Gewaltanwendung zu erkennen, die ehedem die letzte Zuflucht der Macht gewesen ist. Vielleicht seit den Tasen des Sokrates, den Tagen Christi hat es kein Beispiel einer Verurteilung, eincs Froßen moralischen Führers gegeben, wie 13 es die Verurfeiluns Gandhis durch die englischen Richfer war, als er im ſahre 1922 zu sechs ſahren Gefängnis verurteilt wurde. Es war eine der ersten Hlandlunsen der Arbeiter- regierung Englands, unter Ramsay Mac Donald, daſ man Gandhi befreit hat, der im Gefängnis schwer erkrankt war. Wenn es jetzt heißt, der große Bührer habe sich von der Dolitik vorläufig zurückgezogen, weil während seiner Ab- wesenheit im Gefängnis die alten Gewalfanhänger die Ober- hand über seine Richtung in der indischen Dartei dewannen, so bedeutef das, vom Standpunkt der menschlichen Entwick⸗ lung angeschen, kein Ende. Rolland hat recht, wenn er sast: „Gandhi ist mehr als eine Verkündigung; er hat sein Volk, das Beste seines Volkes in sich verkörpert. Wir armen, vom Weltkrieg und seinen Folgen entmutigfen. zerfleischten Europäer wollen freudig empfangen, was der Geist Asiens: der Geist Buddhas, ſesajas, Christi, Gandhis oder Tagores, der Welt an ethischen Werten zu schenken haf. Wir schulden Romain Nolland tiefe Dankbarkeit, dal er mit dem Bild Gandhis, das er schuf, wie durch sein eigenes Wesen, jene alte Weisheit aller geistigen Führer zu verwirklichen bemüht war: „Es wird der Tas kommen, wo der gütige Diensch, der ohne jede Waffe einherkommt, beweist, daß es die Sanft- mütigen sind, denen das Erdreich gehört. VII. Die Nenschen vergessen schnell. Die meisfen unter uns haben vielleicht auch schon vergessen, welche Kraff der Scele, welche Energie des Geistes in den ſahren, als es darauf an⸗ kam, dazu gehörte, jene fapfere und besonnene Stellung ein- zunehmen, wie Romain Rolland es fat. Aber die Mot der Verlassenheit und der Einsamkeit jener ſahre, die ihm die alten Freunde nahm, hat ihm überreich die „neuen Freunde“ segeben, nach denen ein anderer Froßen Moralisf und Denker, Friedrich Nietzsche, in so leidenschaftlicher Sehnsuchf ver⸗ gebens gerufen haf. Das schöne Buch der „Freunde Nomain Rollands“ (das der Gandhi-Verlag Nofapfel, Zürich heraus- brachte) zeigt nichf so sehr an den vielen berühmten Mamen, die sich beeilen, ihm zu danken, — als auch gerade in den Worten der noch IInbekannteren, der ſusend aller Länder und aller Erdteile —, daß hier ein arbeitsreiches, zu- rüick gezogenes, immer dem Größten zusewandtes Leben nichf vergebens gelebt worden ist. Er hat Hlundertenund Tausenden in der tiefsten moralischen Not ein Beispiel gegeben, war ihnen Trost und Hioffnung, so daß er von sich sagen darf. 14 was sein Breugnon von sich sagt: „Dies ist mein schönstes Werk: die Seelen, die ich gestaltet habe. Romain Rolland ist nichts weniger als ein phantastischer Idealisf. Er hat cine sehr tiefe, sehr klare, das heißf manch- mal bittere Menschenkenntnis, und doch hat sie ihn — und das isf das Wundervolle und Beglückende an seiner Der⸗ sönlichkeit, — nicht verbittert. Er gehört nicht zu jenen ober⸗ flächlichen, seichten Rationalisten, die schon glauben, daß cine Sache geändert ist, wenn man ihr einen schöneren Namen ge⸗ geben hat, wie es die sogenannten Völkerbundpazifisten tun. die nichts gegen das Menschenmorden einzuwenden haben, wenn es als „militärische Sanktion des Völkerbundes“, anstatt mit dem alfen ehrlichen Worte „Krieg“ bezeichnet wird. Rolland ist sich auch der tragischen Hilflosigkeit bewußt, den anderen Menschen wirklich zu helfen. Er weil, daß viel⸗ leicht noch ſahrhunderte vergehen, bis jenes Licht, das heute schon in einzelnen Herzen leuchtet, zum Licht für die ganze Menschheit geworden ist. Es liegt ihm auch jener intellek⸗ tuelle Dinkel fern, der die Erkenntnisse nur für einen Kreis Auserwählter gesichert haben möchte. Romain Pollands Der⸗ sönlichkeif kann vielleicht zum Schlul nicht treffender charak- terisiert werden, als er selbst Tolstoi einmal dargestellt hat: „Ich lese in den meisten Arbeiten über ihn, daß seine Dhilosophie und sein Glaube nicht originell seien. Es ist wahr: die Schönheit dieser Gedanken ist zu ewis, als daß sie jemals als Modeneuheit erscheinen könnten . .. Andere heben ihren utopistischen Charakfer hervor. Auch das ist wahr: sie sind utopistisch wie das Evangelium. Ein Drophet ist ein Itopist; er lebt schon hienieden das ewige Leben. UInd daß diese Erscheinung uns vergönnt war, dal wir in unserer Mitte den letzten der Dropheten sehen durften, daßs der größte unserer Dichter von diesem Glorienschein umgeben ist, — das ist, wie mir scheint, eine originelle Tatsache und von größerer Bedeutung für die Welt als eine Religion mehr oder eine neue Dhilosophie. Blind sind die, die das Wunder dieser großen Seele nicht sehen, dieser Verkörperung der Bruderliebe in einem haßerfüllten Volk und Jahrhundert. 15 WILLIAM LLOYD GARRISON. Ein amerikanischer Kämpfer für Gewaltlosigkeit. I. Über meine Eindrücke in dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ habe ich bis heute nur wenig zum Ausdruck bringen können. Aber die äußeren klindernisse, deren es zahllose gab, sind nicht, darüber mul man sich klar sein, der tiefste und letzte Grund. Zu tief hatfe mich die Beobachtung erschütterf, in wie hohem Grade Nordamerika — jenes Land der „Demokratie“, jenes Land, das mit seinem Nach⸗ barstaate Kanada ohne militärische, bewachte Grenze seit hundert ſahren keinen Kries geführt hatte, jenes Land, an dessen Grenze den Neukommenden die Sfatue der Freiheit Früßt — durch den Krieg und nach dem Kriege dem Gcist des Imperialismus, des Militarismus unterlegen ist, den es doch ausgezogen war, zu bekämpfen. Die Bitterkeit dieser Erfahrung, die tiefe Skepsis, die sie in bezus auf eine wahrhaftige, dauernde Befrieduns der Welf überhaupt erregen mußfe, — dies alles hat zu schwer auf mir gelesen, um mir zu sestatten, schon Janz un⸗ befansen mein Urteil, meine Beobachtunsen lauf werden zu lassen. So macht es mich doppelt froh, zunächst einmal den Blick auf cine Gestalt, auf eine Bewesung lenken zu dürfen, deren segensreiches Wirken auch heute noch spürbar ist. In demselben II. S.A., das dem Kriegstaumel so hilflos erlas wie kaum eines der europäischen Länder, in denen der Krieg selbst fobfe, gab es auch Gruppen von aufrechten Menschen: Absolutisten, Kriegsdienstgegner, schon in der zweiten und dritten Generation Erben jener hohen Lehre, für die in unseren Tagen Mahatma Ghandi in Afrika und Indien und Nomain Rolland in Europa zeugen. Für den neuen Kontinent hat William Llovd Garrison dieselbe seistis-sittliche Lcistung vollbracht. Sein Enkel Oswald Garrison Villard und Fannv Garrison Villard, seine Tochter, sehören beide zu den gütigsten, vornehmsfen und kulti- viertesten Dersönlichkeiten, die die Vereinigten Staaten drüben kennen. Oswald Garrison Villard hat während des Krieges in seiner „Nation“ und in anderen Zeitunsen dem Wahnsinn Irotz zu bieten versucht. Er hat auch den Mlut be- sessen, bei Nevolutionsausbruch ohne Daß — segen das Ver- bot der Regierung — Deutschland aufzusuchen, um mit eise- nen Augen das Land der „Hunnen“ zu studieren. Im München Kurt Eisners begegnete ich ihm — zwei Tage vor Eisners Ermordung — in einem Vortrag, den ich dort hielt und in dem das uns alle Erschütterndste die Bekenntnisse zurück- 16 gekehrter Soldafen waren: erfüllt von Abscheu über die ihnen aufgezwungene Dflicht zur Zerstörung von Menschen. und Werten. Auch am Tage von Eisners Ermordung beges- nefen wir uns wieder, fanden uns zusammen in der tiefen Erschütterung über diese mörderische Methode der Gegen- revolution, die alles Erhoffte, Neue, Werdende im Keim zu vernichten drohte. Und wenige ſahre darauf hat es die mehr als 80 jährige Mutter, Fannv Garrison Villard, nicht de⸗ scheut, noch den Weg über das Wasser zu nehmen, das nun einmal die Kontinente so unerbittlich trennt — wie sehr, das empfindet man erst panz, wenn man drüben ist —, um auch hier für die Lehre von der Gewaltlosiskeit zu werben und zu wirken, die sie als Evangelium ihres Vaters ererbt hat, um auch hier das Licht dieser Bofschaff in das zerrissene und sich selbsf zerfleischende Europa zu brinsen. In dem kalten, gehetzten Leben in Nem Vork silt darum den Stunden, die ich in dem schönen kleim von Fanny Garrison Villard, oder mit Oswald Garrison Villard und der Redaktion der „Nation“ zubringen durfte — neben wenigen anderen — meine wärmste und dankbarste Erinnerung. Ich bin diesen Stunden um so dankbarer, als sie mir zugleich neben dem Gefühl ensster Gesinnungsgemeinschaft die Kenntnis des Kämpfers William Llovd Garrison und seiner Lehre der Gewaltlosiskeit vermittelf haben. Sie haben mir ermöglicht, den Vorkämpfer der Sklavenbefreiuns, den Vorkämpfer der Frauenbefreiung, zugleich auch als den großen Vorkämpfer der Gewaltlosigkeit zu erkennen. Oswald Garrison Villard gab mir freundlicherweise die Er⸗ laubnis, cinen Tolstoi-Brief — der den tiefen Eindruck spieselt, den Tolstoi durch Garrisons Lehre empfangen hat — in deutscher Übersetzung wiederzugeben. Der Briet Tolstois ist bisher im Deutschen noch nicht bekannt und hat in dieser Zeit, in der sich der Gedanke der Gewaltlosigkeit aufs neue — und in Europa vielleicht überhaupt zum ersten⸗ mal in der Öffentlichkeit — Bahn zu brechen sucht, sicher- lich das allergrößte Interesse. Über die Dersönlichkeit dessen, dem Tolsfoi hier mit so lebhafter Dankbarkeit aus- spricht, was er ihm schuldet, gibt eine Schrift Auskunft, die vor kurzem ihm zu Ehren in Nem Vork erschienen ist, wie auch die Dersönlichkeiten seiner Kinder und Enkel, neben den Erinnerungen einer großen Nation, für ihn zeugen. II. Als ein echter Gcisteserbe ſener englischen Ouäker, die nach Amerika das wertvollste Element angelsächsischen Wesens getragen haben, hat Garrison versucht, die Unter- 17 drückten — vor allem die Neger — zu befreien, zu betreien ohne blutisen Aufstand. Ghandi und Garrison sind gleich in den Methoden, mit denen sie ein unterdrücktes Volk, eine unterdrückte Rasse oder ein unterdrücktes Geschlecht be- freien wollen. Aber es ist immerhin bemerkenswerf, daß Garrison für ein unterdrücktes Volk, eine verfemte Rasse kämpfte, der er selbst nicht ansehörte. Als er nach England pilgerte, um dort Bundesgenossen für seinen Kreuzzus zu finden, empfingen ihn die Gesinnungsfreunde im höchsten Er- staunen darüber, daß er selbst ein Weißer war. Sie hatten geglaubt, nur ein Schwarzer selbst könne so hingebend für die Befreiuns der Schwarzen eintreten. Seinem leiden- schaftlichen Appell an die Gerechtiskeit und die Brüder- lichkeit ist es frasischerweise nicht selunsen, jenen Konflikt um die Sklavenbefreiung zwischen den Nord- und Südstaaten ohne Blutvergießen zu lösen. Man ist auch über ihn hin- weggeschritten. Aber er hat selbst in seinem Leben unaufhör- lich Beweise des höchsten Mutes geben können, in denen er für seine Lebensanschauung zeusen durfte. Mehr als einmal hat er sich — nach den Zeugnissen der Mit- und Nachleben- den — in direkter Lebensgefahr befunden: inmitten fausen- der besinnungslos erregter Menschen, bereit, ihn zu teeren und zu federn, die ihn an einem Strick hinter sich her durch die Straßen schleiften. Sein Leben war in allerhöchster Ge⸗ fahr. Selbsf Gesinnungsfreunde wurden durch dieses Er- lebnis in ihrem Drinzip der „Nichtwiedervergeltung“ er- schüttert. Sie meinten, es miisse doch möglich sein, in 80 direkter Lebensgefahr sich auch mit Gewalt zu verteidisen. Garrison selbst aber meinte: „Von welchem Wert und von welchem Mutzen sind denn die Grundsätze des Friedens und der Friedensliebe, wenn wir sie in der Stunde der Gefahr und des Leidens verleusnen? Wünschtest du wirklich, einer jener rasenden und blutdürstigen Menschen zu werden, welche nach meinem Leben frachtefen? Wollen wir Schlag mit Schlag erwidern und Schwert gegen Schwerf schlagen lassen? Gott behüte uns davor! Ich möchte lieber unter- gehen, als meine Hland gegen jcmanden, auch in Selbstver- teidigung, erheben, und ich möchte auch keinen meiner Freunde zu meinem Schutz zur Gewalt greifen lassen. Wenn mein Leben genommen werden sollte, — die Sache der Be- freiung würde nicht darunter leiden. Wer so in der Stunde der höchsten Gefahr und Drütuns seiner Überzeugung freu geblieben ist, der hat wohl das Recht, gehört zu werden. Es isf sehr reizvoll zu lesen, wie Tochter und Enkel und andere Biographen das Wesen dieses Mannes schildern. Als. 18 eines Menschen voll sröBter kleiterkeit, Güte und Selbst⸗ losiskeit, der kein anderes Ziel kannte, als seiner Sache zu dienen. Der zusleich in seinem Hlause eine Zuflucht für alle in jener Zeit verfolgten und angefeindeten Kämpfer für die Sklavenbefreiung bot und in jedem Augenblick — bei den nur bescheiden vorhandenen Mitteln — seiner Frau freulich half, die dadurch so vermehrten Lasten der Häuslichkeit zu tragen. Daß seiner rührenden Liebe zu seinen Kindern auch die tiefe Anhänglichkeit und innige Verehrung seiner Kinder entsprach, ist danach nicht erstaunlich. ſa, er blieb seinem Drinzip der Freiheit des Gewissens in so hohem Grade freu, daß, als sein ältester Sohn, — der einzige, der die Lehre scines Vaters sich nicht völlig bis ins Letzte zu eigen semacht hatte — im Bürgerkries dann doch slaubte, das Schwert er⸗ greifen zu müssen, um gegen die die Befreiung verweigern- den Südsfaafen zu ziehen, der Vater keinen Augenblick daran dachte, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Trotz des Schmerzes, den ihm diese Hlaltuns besreiflicherweise be⸗ reitefe. Er besriff auch noch in diesem tragischen Falle, dal die Breiheif der Überzeugung, des Gewissens das edelste aller Güter ist, dan die höchste Dflicht für jeden darin be⸗ steht, nach seiner Überzeugung zu handeln. Ein Anhänger sagte einmal zu Garrison angesichts der leidenschaftlichen IIinsebung, die er der Sache widmete: „Mein lieber Freund, mäligen Sie doch Ihre Entrüstung und bleiben Sie ruhiser. Warum sind Sie so voll slühenden Eifers?“ „Ich habe es nötig, antwortete Garrison, „8o feurig zu scin, denn ich habe lauter Eisberge um mich, die ge- schmolzen werden müssen. Aus dem Kampfe Garrisons haben für uns heute manche Erlebnissc ein besonderes Interesse. Er war es, der im jahre 1838 auf einem FriedenskonsreB in Bosfon eine „Dekla⸗ ration,“ eine Drinzipienerklärung vorlegte, die man an⸗ nahm, und die manchen Ideen nahekommf, die heute end- lich innerhalb des internationalen Dazifismus als tiefste Not- wendigkeit erkannt und verkündet werden. In dieser Dekla- ration heift es: „Unser Vaterland ist die Welt; alle Menschen sind unsere Landsleute. Wir lieben das Land unserer Geburt nur in derselben Art, wie wir alle anderen Länder lieben. Die Inter⸗ essen, die Rechte, die Frciheit der amerikanischen Bürger sind uns nicht teurer, als diejenigen der Zanzen menschlichen Basse. Daher gestatten wir keinem Appell an den Datriotismus, irgend- eine nationale Kränkung oder Beleidisunß zu rächen. Der Pürst des Friedens, unter dessen unbeflecktem Banner wir kämpfen. 19 ist nicht dekommen zu zersfören, sondern zu retten, sogar die ärdsten sciner Peinde. Wir sind der Meinung, daß, wenn eine Nation kein Recht hat, sich degen auswärtige Feinde zu verteidigen, auch kein Individuum das Recht in seinem eisenen Fall besitzt. Der einzelne kann nicht von gröberer Bedeutung sein als die Gesamtheit. Wenn man Leben nehmen darf, um seine Rechte zu erhalfen, zu erlanden, zu ver- teidigen, muß man natürlich dieselbe Freiheit den Gemeinschaften, den Staaten oder Nationen geben. Wenn der einzelne einen Dolch oder eine Distole sebrauchen darf, so dürfen sie Kanonen, Bom⸗ ben, Land- und Seestreitkräfte gebrauchen. Wir geben unser Zeugnis ab nicht nur gegen alle Kriege — seicn es Angriffs- oder Verteidigungskriege — sondern auch gegen alle Vorbereitungen zum Kriede, gegen alle Seeschiffe, seöen alle Arsenale, gegen alle Befestisungen, gegen alle Miliz-Systeme, gegen das stehende Heer, gegen alle militärischen lauptleute und Soldaten, gegen alle Denkmäler, die einen Sieg über einen ge- fallenen Feind feiern, deden alle Trophäen, die man in Schlachten gewonnen, Zegen alle Feiern zu Ehren militärischer Heldentaten, gegen alle Einrichtungen für die Verteidigungen eines Landes durch Gewalt oder Waffen, seoen jedes Regierungsedikt, das von seinen Bürsern Militärdienst verlangt. Denn wir betrachten es als ein IInrecht, Waffen zu halfen oder militärische Einrichtungen zu schaffen. Die Geschichte der Menschheit ist voll von solchen Beweisen. daß die physische Gewalf nicht zur moralischen Erneuerung ge⸗ cignet ist, dal die schlechten Eigenschaften der Menschen nur durch Liebe aussemerzt werden können, daf das Böse von der Erde nur durch das Gute entfernt werden kann. Daß es keine Sicherheit gibt, sich auf Waffen oder fleischliche Mlachf zu ver⸗ lassen; daß aber die größte Sicherheit darin beruht, sanftmütig, gütig, versöhnlich und reich an Barmherziskeit zu sein. Das es „die Sanftmütigen sind, welche das Erdreich besitzen werden“;, denn die Gewalttätigen, die zum Schwert grcifen, sind bestimmt, auch durch das Schwert umzukommen. Daher ist es eine Maß- nahme einer desunden Dolitik der Sicheruns des Eisentums, des Lebens und der Freiheit, der öffentlichen Ruhe und der persön- lichen Wohlfahrt, wenn wir das Drinzip der Gewaltlosiskeit an- nehmen, indem wir darauf vertrauen, daß es für alle möslichen Folsen eine allmächtige Kraft in sich birgt und am Ende über jede zerstörende Gewalt friumphieren wird. Aber während wir der Lehre der Gewaltlosigkeit, der Nicht- wiedervergeltung anhängen, erstreben wir in einem moralischen und Seistigen Sinne von höchster Aktivität zu sein, kühn zu reden und zu handeln. Die Ungerechtigkeit an jedem Orte zu bekämpfen, und 20 unsere Grundsätze allen vorhandenen bürgerlichen, politischen, gesetzlichen und kirchlichen Institutionen zugrunde zu legen. Wir wollen uns bemühen, die gemeinsame Arbeit aller Men- schen zu sichern, welchen Namen sie auch traden, welcher Sekte sie angehören mögen. Der friumphierende Fortschrift der Sache der Sklavenbefrciung in unserem Land — durch die Mitwirkung wohl- wollender und freiwilliger Vereinigungen — ermutigt uns, unsere eisenen Anstrensungen für den Fortschritt einer noch prößeren Sache in Anwendung zu brinsen: wir wollen alles tun, um zu dem allgemeinen Weltfrieden zu gelangen. Es wird unsere Hlaupt- aufgabe sein, Wege und Mittel aufzuzeisen, um einen radikalen UImschwung in den Anschauungen und Gefühlen der Gesellschaft hervorzubringen, damit sie das Verbrechen des Kriedes und der feindlichen Bchandlund der Gedner erkennen. Indem wir dicses Froße Werk beginnen, sind wir uns klar dar- über, daß wir in seiner Verfolsung dazu berufen sein mögen, unsere Aufrichtiskeit zu bezeusen. Wir mögen Beleidisungen, der Wut, dem Leiden, ja dem Tod selbst entgegengehen. Wir sehen voraus, daß uns MiBverständnis, Mißdeutung und Verleumduns begegnen werden. Aber wir glauben fest an den sicheren, end- gültigen Sieg der Grundsätze, die in dieser Erklärung zum Aus- druck gelangt sind. Wie furchtbar auch die Gegnerschaft, die sich degen uns erheben mag, sein wird; wir bezeugen feierlich unseren Glauben, daß diese Grundsätze göttlichen Ursprung haben. Und wir geben hierdurch unsere UInterschriften zu dieser Erklärung, die wir zum alldemeinen Wohl der Vernunft und dem Gewissen der Menschheit unterbreiten, ohne Furcht für uns selbst, was uns hierdurch zustoßen mag. Dieses Bekenntnis verdient es wohl, zur Kenntnis aller derer zu kommen, die heute in einem ähnlichen Kampt stehen. Wenn Lloyd Garrison das Manifest von Bilthoven lesen könnte, daß die „Internationale der Kriegsdienstdegner Ostern 1921 sich gab, so würde er schen, dal dies Geist von seinem Geist ist, und daß der Same, den er einmal ausgesät hat, auch noch ein ſahrhundert später fausendfältige Prucht trägt.¹) Denen, die heute im Kampf stehen, ist es übrigens nicht verwunderlich zu hören, daß die „Neue Friedens-Oroani- sation“ von 1838 mit der schärfsten Feindscligkeit sogar von der religiösen Dresse jener Tage empfangen wurde, ja, dal ¹) Garrison hat auch, wie ich soeben einer Schrift von Geors von Gizycki entnehme: William Lloyd Garrison; Berlin 1890; Verlas von A. Asher 8 Co. — der einzigen, die in deutscher Sprache über ihn erschienen ist — selbst als junger Mensch den Militär- dienst verweigert. 21 speziell die amerikanische Friedensgesellschaft und die New⸗ vorker Friedensgesellschaft sich dabei hervortaten! Es ist auch nicht ohne Interesse, das Folgende zu hören. Als viel später einmal — nach dem Sieg der Sklavenbefreier — ein Dreisausschreiben um die beste Büste Garrisons, des erst Se- ächteten, am Ende aber verherrlichten Vorkämpfers der Sklavenbefreiung stattfand, und dieser Dreis dann einer Frau zufiel, da wurde ihr, als sich herausstellte, daß sic eine Frau war, das Recht, die Büste herzustellen, wieder genommen! So wird es begreiflich, daß dieser Kämpfer gesen alle Be⸗ drückung schon aus solchen Erfahrungen heraus auch zum Vorkämpfer der Fraucnbeweguns wurde. In den Zeit⸗ schriften „Ihe Liberator“ und „Ihe Non-resistant“ hat er für seine Ideen gekämpft. Wenn ihn während des Bürger- krieges 1863—1866 manche Drobleme bewegten und ihm manche Pragen gestellt wurden, so fühlen wir uns heute otf in ähnlichen Konflikten. Lloyd Garrison hat sich immer aut den Standpunkt gestellt, daß man das Recht und das Un⸗ recht des Krieges einfach an seinen Früchten erkenne, und daß die Erlösuns und Befreiung der Welt davon ab⸗ hinge, wie man diese Drobleme zu lösen versuche. Niemals aber könnten Nenschen Früchte von den Dornen oder Feigen von den Disteln pflücken. Wenn wir jetzt mit dem Dank Tolstois an Garrison schließen, so wollen wir uns zusleich daran erinnern, daß in der Tat vielleicht der menschliche Fortschritt nicht in dem äußeren Sinne erreichbar ist, wie wir es hoffen und wünschen möchten. Vielleicht leben wir immer in allen Zeitaltern, zu gleicher Zeit: vielleicht haben wir immer Menschen der rohe- sten Unkultur und Dersönlichkeiten der höchsten, köstlich- sfen, tiefsfen scelischen Kulfur unter uns. Vielleicht wird es für abschbare Zeit innerhalb der menschlichen Nasse 80 bleiben: daß die Mehrheit noch jenen Stufen der so be- kämpfenswerten moralischen UInkulfur angehörf, die aber durchaus nicht mit den besitzlosen Schichten identisch ist. UInd daß wir schon froh sein müssen, wenn aus dem Grauen, der tiefen Nacht dieser blinden, blöden zerstörerischen In- stinkte immer wieder Dersönlichkeiten aufsteigen, die das Licht des Drometheus zu den Menschen brinsen. Immer wieder reicht eine Hland die Fackel des Lichtes und der Kulfur den Nachkommenden. Ein solches Licht höherer menschlicher Kulfur ist auch von William Lloyd Gar⸗ rison ausgegangen. Eine tröstliche Erinnerung auch in- sofern, als wir heute in allen Ländern Träger dieser höchsten Ideen wissen und damit die Gewißheit empfangen haben: das höchste sittliche Gut: einc verfeinerte seelische Kultur, und 22 der Wille, sie in der Welt zum Siege zu führen, ist frotz aller Gcfahren und Hemmungen allen menschlichen Rassen und Mationen eigen. WAS ICH GARRISON SCHULDE. (Ein Brief an V. Tschertkoff.) Von L.eo Tolstoi 1). Ich danke Ihnen sehr für die Biographie von Garrison 2). Beim Durchlesen durchlebte ich nochmals den Frühling meines Erwachens zum wahren Leben. Während ich Garri⸗ sons Reden und Aufsätze las, erinnerfe ich mich lebhaft an das Hlochsefühl vor zwanzig ſahren, als ich fand, daß das Gesetz der Gewaltlosiskeit — zu dem ich unvermeidlich ge⸗ führt wurde durch die Erkenntnis der christlichen Lehre in ihrer wahren Bedeutuns und die Offenbarung des großen hohen Ideals des christlichen Lebens — ebenso alt war wie die Grundsätze, die Garrison nicht nur erkannte und proklamierte (über Ballou hörte ich später), sondern die auch von ihm bei Begründung seiner praktischen Tätigkeit füir die Befreiung der Sklaven aufgestellf wurden. Meine Freude war damals vermischt mit Bestürzung dar⸗ üiber, daſ es möglich war, diese Froße vor einem halben Jahrhundert von Garrison verbreitete Wahrheit so fotzu⸗ schweigen, daß ich sie jetzt als etwas gänzlich Neues vor- zubringen hatte. Meine Bestürzung wurde namentlich erhöht durch den UImsfand, daß nicht nur Gegner des Fortschritts, sondern auch die äußersf fortschrittlich Gesinnfen beinahe völlig gleichgültig diesem Satz gegenüberstanden oder sich jetzt der Verkündung dessen widersetzten, was die Grundlage jeden wahren Fortschritts ist. Aber mit der Zeit wurde es mir klar und klarer, daß die allgemeine Gleichgültigkeit und der Widersfand damals und heute — vorzüglich unter den Dolitikern — gegen diesen Grundsatz der Gewaltlosigkeit symptomatisch für die große Bedeutuns desselben sind. „Das Motto auf unserem Banner“, so schrieb Garrison inmitten seines Wirkens, „war von Anbeginn unseres morali- schen Kampfes „nser Vaterland ist die Welt; alle 1) Mit Erlaubnis von Oswald Garrison Villard aus: „William Lloyd Garrison on Non-Resistance“, Nem Vork 1924. Übersetzt von E. Lappe. 2) Eine kurze Biographie von William Lloyd Garrison, von V. Ischertkoff und F. Holah, London Ihe Eree Age Pred 1904. 23 Menschen sind unsere Landsleute“. Wir glauben, daß dies unsere einzige Grabinschrift sein wird. Ein anderes von uns gewähltes Motto ist: „Allsemeine Befreiung.“ Bis heute haben wir deren Anwendung auf diejenigen be- schränkt, die in diesem Lande von südlichen Arbeitsvögten als verkäufliche Ware, Hab und Gut und Werkzeug der Land- und Hauswirfschaft gehalten wurden. Von nun an werden wir sie in weifesfem Umfanse anwenden, und zwar auf die Befreiung unserer Janzen Dasse von der Herrschaft des Menschen, von der inneren Knechtschaft, von der Iierr- schaft brutaler Gewalf, von der Knechtschaft der Sinden, und sie unter die Herrschaft Gottes brinsen, die Herrschaft des Selbstgefühls, die HIerrschaft des Gesetzes der Liebe .. Garrison als ein Mann, der von der christlichen Lehre beseistert war und mit dem tätigen Widerspruch gegen Skla⸗ verei begonnen hatte, besriff sehr bald, daß das Rechf der Sklaverei nicht in der zufällig eine Zeitlans dauernden Inbesitznahme einiger Millionen Neper durch die Südländer bestand, sondern in der alten und allgemeinen Anerkennung, entgegen der christlichen Lehre, des Zwangsrechts auf Seiten bestimmter Dersonen über bestimmte Dersonen. Ein Vor⸗ wand zur Anerkennung dieses Rechts bestand stets darin, daß die Menschen es für möglich hielfen, das Böse durch brutale Gewalt auszuroften oder zu vermindern, d. h. also durch das Böse. Nachdem er einmal diesen Irus- schluß erkannf hatte, hielt Garrison der Sklaverei weder das Leiden der Sklaven, noch die Grausamkeit der Sklavenhalter entgegen, noch die soziale Gleichheit der Menschen, sondern das ewige christliche Gesetz des Verzichtes, dem Bösen durch Gewalt zu entgegnen. Garrison versfand das, was die Port- geschrittensten unter den Bekämpfern der Sklaverei nicht versfanden: daf das einzige unwiderlegliche Arsument gesen Sklaverei darin besteht, das Recht irgendeines Menschen, die Freiheit eines anderen cinzuschränken, unter welcher Be- dingung auch immer, zu bestreiten. Die Bekämpfer der Sklaverei bemühfen sich zu beweisen. daß die Sklaverei ungesetzlich sei, unvorfeilhaft, grausam; daßs sie die Menschen herabwürdige usw.; die Verteidiger der Sklaverei ihrerseits bewiesen das UInzeitgemäße und die Gefahr der Befreiuns und die bösen Resulfate, die daraus folgen würden. Weder der eine noch der andere konnte seinen Gegner überzeugen. Garrison hingegen, der begriff, daß die Sklaverei der Neger nur cin besonderes Moment allsemeiner Zwangsherrschaft war, stellfe ein allgemeines Drinzip auf, mit dem nicht übereinzustimmen unmöslich war, — das Drinzip, daß unter keinem Vorwande irgendein 24 Miensch das Recht hat, zu herrschen, d. h. Zwangsherrschaft auszuüben über seine Mitmenschen. Garrison bestand nicht so sehr auf dem Recht der Neser, frei zu sein, als er das Recht irsendeines Menschen bestritt, mit Gewalt über einen anderen Menschen in irgendeiner Weise zu herrschen. Um die Sklaverei zu bekämpfen, stellte er das Drinzip des Kampfes gegen alles Böse der Welt auf. Dieses Drinzip war unwiderleglich; aber es beeinflußfe und stürzte alle Begründungen der bestehenden sozialen Ordnung. Daher waren diejenigen, welche ihre Dosition in der bestehenden Gesellschaftsordnung schätzten, erschrocken über seine Anküindigung und mehr noch über seine prak- tische Anwendung. Sie bemühten sich, es zu ignorieren, ihm zu entgehen; sie hofften, ihren Zweck zu erreichen, ohne die Erklärung des Drinzips der Nichtwiedervergeltung gegenüber dem durch Gewalt verursachten Bösen und seine Anwenduns auf das Leben, welche, wie sie glaubten, jede organische Ordnuns des menschlichen Lebens zersfören würde. Die Polge dieser Furcht, das Unrecht der Zwangsherrschaft an- zuerkennen, war jener Bruderkrieg, welcher äußerlich die Frage der Sklaverei löste, in das Leben des amerikanischen Volkes jedoch das neue — vielleicht noch größere — Übel jener Korruption frug, das jeden Krieg begleitet. Inzwischen blieb der eisentliche Inhalt der Frase un⸗ gelöst, und dasselbe Droblem, nur in einer neuen Form, steht jetzt vor dem Volk der Vereinisten Staaten. Früher lautete die Brase, wie die Neger zu befreien seien von der Gewalf der Sklavenhalter. ſetzt lautet die Frage, wie die Neger zu befreien scicn von der Gewalf aller Weißen, und die Weilen von der Gewalf aller Schwarzen. Die Lösung dieses Droblems in einer neuen Form wird sicher nicht möglich sein durch Iynchen der Neger, noch durch irgendwelche geschickte und liberale Maßnahmen der amerikanischen Dolitiker, sondern nur durch die Anwen⸗ dung desselben Drinzips auf das Leben, welches vor einem halben ſahrhundert von Garrison aufsestellf wurde. Kürzlich las ich in einer der fortschrittlichsten Zeitschriften die Meinung eines debildeten und intelligenten Mannes mit vollkommener Zuversicht in ihre Richtiskeit, dan meine An⸗ erkennuns des Drinzips der Gewaltlosigkeit gegen das durch Gewalt erzeuste Übel eine beklasenswerte und nahezu ko⸗ mische Täuschung sei, dic man mit Pücksicht auf mein hohes Alter und gewisse Verdienste nur mit nachsichtigem Schwei- Cen übersehen könne. Genau derselben Hlaltuns in dieser Frase beseonete ich in meiner UInterhaltung mit dem bemerkenswert intelligenten 25 und fortschrittlich gesinnten Amerikaner Bryan. Auch er, mif der augenscheinlichen Absichf des freundlichen und höf- lichen Hinweises auf meine Täuschung, fraste mich, wie ich denn mein sonderbares Drinzip des Nichtwiderstrebens gegen die Gewalt erkläre. Wie gewöhnlich brachte er cin Argument vor, welches jedem unwiderleglich scheint: von dem Wegelaßerer, der ein Kind fötef oder vergewaltigt. Ich sagte ihm, daßs ich die Nichtwiedervergeltung segen das durch Gewalt verursachte Böse vertrefe, weil, nachdem ich 75 ſahre gelebt habe, ich nie, außer in Diskussionen, jcnem phantastischen Wegelagerer begegnet bin, der vor mneinen Ausen ein Kind föten oder vergewaltigen wollfe. Aber daß ich dauernd nicht einen, sondern Millionen von Päubern Gewalt anwenden sah und noch immer sehe degen Kinder, Frauen, Männer, alfe Leute und alle Arbeiter im Mamen des anerkannten Rechts der Gewalt über ihre Neben- menschen. Als ich das saste, ließ er mir keine Zeit zu voll- enden, lachte und gab zu, daß mein Argument vollkommen zutreffend sei. Niemand hat den phantastischen Wegelagerer gesehen; aber die Welt — unter Gewalt stöhnend — liest vor jeder- manns Augen. Aber niemand sicht oder will sehen, daf der Kampf, der den Menschen wirklich von der Gewalt zu be⸗ freien vermag, nicht der Kampf mit dem phantastischen Wegelagerer ist, sondern mit jenen wirklichen Wegelagerern, welche Gewalt über die Menschen ausüben. Michtwiedervergeltung gegenüber dem durch Gewalt erzeusten Bösen bedeutet in der Tat nur, dal das desen⸗ seitige Verhältnis vernünftiger Wesen nicht in der Anwen- dung von Gewalf bestehen sollfe (die man nur mit Be- zus auf niedrigere, der Vernunft beraubte Orsa⸗ nismen zulassen kann), sondern in vernünftiger Über- zeusung; und daß infolgedessen als Ersatz für Zwang für diese vernünftige Überzeugung alle diejenigen kämpfen sollten, welche die Wohlfahrt der Menschheit fördern wollen. Es ist unbestreitbar, daß im Laufe des letzten ſahr⸗ hunderts 14 Millionen Menschen getötet, und daß überdies die Arbeit und das Leben von Millionen Menschen in der Vorbereitung für nutzlose Kriege verwendet wurden. Daß das panze Land in den kländen derſenisen ist, die nicht ar⸗ beiten, und daf die Drodukte menschlicher Arbeit von den⸗ jenigen verschlungen werden, die selbst nicht tätig sind. Das alle Betrügereien, welche in der Welt regieren, nur bestehen, weil Gewalf erlaubt ist zur UInterdrückung dessen, was einigen nicht paßf, und daß man sich daher bemühen sollte, an die Stelle der Gewalt Überredung zu setzen. Damit dies 26 möslich werde, ist es erforderlich, zunächsf selbst auf das Recht der Vergewaltigung zu verzichten. Es klingt merkwürdig, daf die Fortgeschrittensten unscrer Kreise es als „gefährlich“ betrachten, das Recht der Gewalt zurückzuweisen und sich zu bemühen, an seine Stelle Über- reduns zu setzen. Diese Denschen, die es für unmöslich halten, einen Wegelagerer durch Überreduns dahin zu brin⸗ sen, ein Kind nicht zu föten, halfen es auch für unmöglich, die arbeitende Bevölkerung dahin zu bringen, nicht das Land und das Erzeugnis ihrer Arbeit denjenigen forfzunehmen, die nicht arbeiten, und daher halten diese cs ihrerseits für erforderlich, die Arbeiter zu vergewaltigen. Es ist zwar fraurig zu sasen, aber hieraus folst, dan die einzige Erklärung für die Verständnislosiskeit gegenüber der Bedeutuns des Drinzips der Gewaltlosiskeit desenüber dem durch Gewalt erzeusten Übel darin besteht, daß die mensch- lichen Lebensbedingungen so verzerrt sind, daßs diejenigen, die das Drinzip der Gewaltlosigkeit prüfen, sich in dem Glauben befinden, daſ seine Anwenduns auf das Leben: der Ersatz des Zwanges durch die Überredung, jede Möglichkeit sozialer Ordnuns und jener Annehmlichkeiten des Lebens zerstören würde, deren sie sich erfreuen. Aber die Anderung braucht nicht gefürchtet zu werden; das Drinzip der Gewaltlosigkeit ist kein Drinzip des Zwanss, sondern der Eintracht und Liebe; daher kann es den Men⸗ schen nicht aufgezwungen werden. Das Drinzip der Gewalt- losigkeit — die Überredung als Ersatz für brutale Ge- walt — kann nur freiwillig angenommen werden. In welchem Maße es frei ansenommen und angewendet wird auf das Leben, d. h. in dem Maße, in dem die Menschen auf Gewalf verzichten und ihre Bemühungen auf vernünftiser Überzeu⸗ zung errichten — nur in dem Maße kann wahrer Fortschritt im menschlichen Leben sich verwirklichen. Daher können die Menschen, ob sie es wollen oder nicht, nur im Namen dieses Drinzips sich von der gegenseitigen Versklavung befreien. Ob die Menschen es wollen oder nichf, dieses Drinzip bedeutet die Basis jeder wahren gesen⸗ wärtigen und zukünftigen Verbesserung im menschlichen Leben. Garrison war der erste, der dieses Drinzip als Regel für die Ordnung des menschlichen Lebens aufstellfe. Hierin liest sein großes Verdienst. Wenn er damals die friedliche Sklavenbefreiuns in Amerika nichf erreichte, so zeichnete er doch den Wes vor, der zur Be- freiung des Menschen im allgemeinen von der Macht bru⸗ taler Gewalt zu beschreiten ist. 27 Daher wird Garrison für immer einer der srößten Reformatoren und Förderer wahren menschlichen Fortschritts bleiben. Ich denke, dan die Veröffentlichung dieser kurzen Bio⸗ graphie vielen zum Nutzen gereichen wird. Vasnaya Dolyana, Januar 1904. Leo Tolstoi. GENF. I. Als am Abend des 6. März 1926 die Genfer Delegation der deutschen Reichsregierung, mit dem Mittagszuge vom Sonn- abend dem 7. März zahlreiche an internationalen Droblemen besonders interessierte Dersönlichkeiten den Anhalter Bahn⸗ hof verließen, haben sie gewif das Ende der Genfer Taguns sich nichf fräumen lassen. Im Gegenteil. So skeptisch man auch der Instifution des Völkerbundes gegenüber stehen mag — die das Resultaf ciner sehr ungleichen Ehe zwischen dem leidenschaftlichen Hasser Clémenccau und dem idcologischen Träumer, dem philosophischen Ethiker Wilson ist —, so konnte doch selbst der Skeptiker cine — wenn auch noch recht entfernte — Annäherung an das Ideal überstaatlicher Organisation wohl für möglich halten. So landete denn der⸗ selbe Zus vom Norden Deutschlands über Basel nach Genf Vertrefer der entgegengesetztesten politischen und Welt- anschauungstypen: den chemaligen Reichskanzler Wirth, amerikanische ſournalisfen, radikale Dazifisten und den belgischen, ach, während des Krieges so nationalistischen Minister Vandervelde. War es ein Omen, dal in dem Warte- saal in Basel, wo nach der Nachffahrt Erfrischung winkte. zwischen die müden Rcisenden laufe Gruppen von Nacht- schwärmern sich mischten, die — noch im Maskenkostüm — von einer Karnevalsfeier heimkehrfen? Mit einem optimistisch-feierlichen und, wie sich nun er- geben hat, noch fragisch verfrühten Auftakt begann am Sonntag nachmittag in der Madeleine-Kirche die Internatio- nale der Völkerbund-Ligen durch Vertreter Frankreichs: Drofessor Richet, Englands: Mr. Barnes und Deutschlands: Drofessor Bonn schon den Eintritt Deutschlands in den Völ- kerbund zu feiern. Während dann am Dontag, den 8. März, im schönen Dalais des Sekrefariats des Völkerbundes am Wilson-Quai sich in den kiallen und Vorhallen und Gärten alles zusammendränste, was irgend als Delesation, als ſour⸗ nalisf, als politischer Beobachter dort mitzuwirken bemüht war. In der Mittelhalle unten drängt sich Kopf an Kopf: in 28 der einen Gruppe der graue Kopf, die zierliche Gestalt Daul Boncours, des französischen Delegierten, der sich „Sozialist“ nennt, und der doch am meisten verantwortlich ist für die „Srandiose“ Idee der künftigen Armee in jenem „Total- krieg“ der Zukunft, die sozusagen jedes menschliche Wesen von der Wiege bis zum Grabe in die Netze und Ketten der militärischen Dienstleistung für sein „Vaterland“ spannt. Aber noch empfinden die meisten Völkerbundanhänger nicht das Grotesk-UInsinnig-IInmoralische des Friedensengels, der immer wirksamere Giftgase erfindet¹). Tröstlicher wirkt da- neben die schlanke, hohe Gestalt des Norwegers Pritjof Nansen, von dem man das eine sicher wcil, daß er zur Zeit der ärgsten klungersnot in Rußland, als die Vorurfeile gesen den Bolschewismus noch bergehoch lagen in Westeuropa, ohne Besinnen, ohne Zaudern, einfach menschlich, hilfreich, tat- kräftig zugesriffen hat. In ihm scheint der Dolitiker den Men- schen noch nicht ganz erschlagen zu haben, wie es bei 80 vielen anderen der Fall ist. Die warme Frühlinsssonne, der klare, blaue Ilimmel, die reine Gletscherluft, die von den kiöhen des Mont Blanc über den See weht, sie haben leider nichf vermocht, auch aus den Herzen und klirnen all den alten Moder überlebter Diplo⸗ matenkünsfe, egoistischer Interessenpolitik zu scheuchen. Die politischen Drobleme der Gegenwart werden auch in Genf, frotz all des Kummers, der Zerstörung und der Vernichtung, die jene alte Gesinnung anserichtet hat, noch immer auf den alten Wegen und mit den längst überholten, unzulänglichen Methoden zu erledigen versucht. War es schon eine Enttäuschuns, das Außere des Heims zu schen, das den Vertretern von 55 Nationen der Welt heute im klotel Victoria mit dem daranschlieBenden Reformations- saale für die Völkerbundversammlung zur Verfügung steht — es ist nicht entfernt an äußerer Würde mit dem Friedens- palast im Haag zu vergleichen —, so ist auch der Inhalt dcssen, was sich in der Versammlung abspielte, Jewil für all die liörer auf den Dresse- und Dublikumstribünen eine große Desillusion. Nur einige äußere, rein formale An- gelegenheiten werden erledigt: die Neuwahl des Dräsidenten, der Ersatz des ſapaners K. Isshi durch den Dortugiesen da Costa, die Wahl der Kommissionen oder dergleichen. Auch ¹) Daul Boncour ist soeben zum Berichterstatter für die Organi- sation des Landes im Kriegsfall ernannt. Siehe auch „Sicherung durch militärische Gewalt?“ von Dr. Hans Wehberg, Dr. Kurt Hiller, Dr. Helene Stöcker, Verlag von C. A. Schwetschke S Sohn, Berlin. 29 die Filmapparate, die die Vorgänge auf der Dräsidenten⸗ tribüne kurbeln, vermögen den an sich frockenen Verhand- lunsen keinen besonderen Reiz, keine tiefere Bedeutung zu geben. Tag für Iaßg zeigt sich klarer, daß das Wesen der öffentlichen Völkerbundversammlungen — eine Atrappe ist. Der Kampf degen die Geheimdiplomatie, der während des Krieges so leidenschaftlich seführt wurde, hat jedenfalls ver⸗ sagt. Alles Dolitisch-Bedeutsame spielt sich hinter ver- schlossenen Türen in engen Zirkeln und Sitzunsen ab. Das Leben in Genf, von dem die länger dort Weilenden be- haupten, daf es durchaus das Wesen einer Drovinzstadt habe, gehf seinen Gans weiter. Nur an den wenisen Zentral⸗ punkten, am Wilson-Quai mit dem Völkerbundsekretariat, in der Nähe der großen fiotels und um den Saal der Völker- bundversammlung herum merkt man ein wenig von dem, was sich abspielt. Daßs der Eingang zur Völkerbundversammlung polizeilich für den profanen Bürger abgesperrt ist — genau wie wir es früher hier bei der Ankunft von kiofzügen machten —, ist vielleicht zuerst überraschend, bis man sich klarmacht, daß, soziologisch geschen, die über die Massen emporschobenen Einzelnen vielleicht niemals entbehrlich sein werden. II. Es ist hier nicht Zeit und Raum, über die politischen Kon⸗ flikte und Intriguen jener zehn bedeutungsschweren Genfer faße im einzelnen zu reden; nur mas Janz kurz auf ihr Re⸗ sultat hingewiesen werden. Es ist mülis, hier wieder ein- mal mit der Leidenschaft und Ungerechtigkeit des blinden Fanatikers die „Schuldfrage“ aufzuwerfen und zu behaupten, daß diese oder jene Delegation allein das Unheil ver- schuldef habe. Weder den „brasilianischen UIrwald“, noch den „herzlosen Militarismus der Deutschen“, noch den konserva⸗ tiven Machtdiinkel des englischen Ministers Chamberlain, noch Frankreichs Mißtrauen, das den Vasallen Dolen an seine Seite rief — trotz der Friedensworte in Locarno —, weder polnischen Ehrgeiz, noch spanischen Dinkel allein darf man hier nennen. Auch das scheint mir nichf maßgebend, wem in diesem oder jenem Moment der zehmmal vierundzwanzig Stunden die Sympathien der verschiedenen Darteien zu⸗ geflogen sind, die um diese Stunde jener, zwölf Stunden später wieder einer anderen Dartei gehörten. Es ist als eine bedauerliche, immer verhängnisvoller werdende Einseitis- keit zu werten, wenn an sich hochachtenswerte Führer des. deutschen Dazifismus zum Beispiel jeden für einen „Ver- räter“ erklären, der nicht mit ihnen in die vorbehaltlose Ver⸗ urteilung aller deutschen Lebensäußerungen einstimmt. Viel 30 objektiver crscheint mir demsegenüber, was das „ſournal de Genéve“, das offiziöse Völkerbundorgan durch seinen Korrespondenten William Martin schreibt, der ganz gewiß nicht im Verdacht steht, „Deutschenfreund“ zu sein. (Er hat zum Beispiel seinerzeit mit aller Energie und Entschieden- heit für das „Durchmarschrecht“ (gegen Rußland) sekämpft, das Deutschland bei seinem Eintritt in den Völkerbund zu⸗ sestehen müsse.) Der Konflikt, der sich ergeben habe, meint das „ſournal de Genéve“, sei im Grunde ein Konflikt der Locarno-Großmächte mit den kleinen neutralen Staaten des Völkerbundes. Briand und Chamberlain, Frankreich und England, haben wohl geglaubt, ihre Wünsche und Vorschläse in irgendeiner wesentlichen Frage seien Gesetz für den Völkerbund. Das Selbstgefühl der kleinen Staaten ist diesem Anspruch, dieser stillschweigenden Voraussetzung nun mit großer Ausdauer und auch mit „Erfolg“ entgegengetreten. Man braucht auch noch — frotz dieses Versagens — nicht die Hioffnung aufzugeben, daß jemals die Menschen lernen werden, in verniinftiseren Formen übersfaatlich miteinander zu verkehren. Der heutige Begriff der Souveränität kann frotz dessen in der Zukunft einmal zugunsten einer Welt- staatengemeinschaft überwunden werden. Was für die Ver⸗ einigten Staaten, für die 34 Staaten innerhalb Deutschlands seit 1870, für die drei verschiedene Sprachen sprechenden Elemente der Schweiz einmal möglich war, ist psvchologisch am Ende auch einmal für die Staaten der Welt möglich. Es hat natürlich keinen Sinn, diesen ersten schwierigen Versuch und seine Rückschläge nur mit Ilohn und Spott zu über⸗ gießen. Diese Schwierigkeiten liegen nicht allein in dem bösen Willen weniger einzelner, sondern in dem Cesamt- zusfand, in der ensen Gesinnuns fast aller Beteiligten. Nicht nur die Degierenden, sondern auch die Degierten miissen ihre innere Einsfellung noch wesentlich ändern; das Bewußtsein einer tieferen, innigeren Verknüpfung, einer Schicksalsgemeinschaft muß in ihnen erwachsen. III. Wie weit wir aber auch heute noch von jener Erfüllung ent- fernt sein mögen: der Gedanke, die Notwendiskeit einer Vereinigung der Völker in cinem über den Nationen stehen- den Ganzen isf nicht wieder aus der Welt zu schaffen. Mag man nun, marxistisch formuliert, die „Droletarier aller Länder“ zur Vereiniguns aufrufen oder, bürgerlich-demokra⸗ tisch „für die Idee des Völkerbundes eintreten“. Der letzte Sinn von beidem ist doch, daß über die trennenden Schranken — die die Nationen immer wieder zu blutiger 31 gegenscitiger Zerfleischung verführen — das gemeinsame Interesse der Mehrheit aller Völker siegen soll. Und wenn uns die demokratisch-bürgerlichen Versuche des Genfer „Welttheaters“ ganz gewiß nicht befriedisen — weil sie allzu sehr noch an die alte Kabinettspolitik der absolutistischen Staaten erinnern, weil bei dem internationalen „Kabinett der Negierungen“ in Genf das wirkliche Völkerparlament und das Verantwortunsssefühl, der Wille der Massen noch fehlt —, 80 Seht aus all dem doch klarer als jemals die Notwendigkeit hervor, die schaffenden Menschen aller Länder zu vereinen. Wobei als „Menschen“ eben alle die empfunden werden, die das Recht ihrer Nebenmenschen auf gleiche Ent⸗ wicklungsmöglichkeiten anerkennen und den Massenmord abschaffen wollen. Wir glauben nicht mehr, daß wir den Diplomaten und Darlamenfariern die Arbeif der internatio⸗ nalen Dolitik allein überlassen dürfen. Im Gesenteil, wir haben das Verantwortungsgefühl und den Willen in den Massen selber zu wecken, damit wir alle immer mehr Ferren und Meister unseres Schicksals werden. Noch sind viele der tiefen unseheuerlichen Sklaverei, in der wir leben, sich nicht bewunf. Seit ſahrhunderten sehört ein ausgebildeter Apparaf dazu, damit auch nur ein einzelner Mörder, der einen Denschen Jemordef hat, in feierlichem, sorgfältigem, oft Monate sich hinziehenden Verfahren seiner Schuld über- führt und verurfeilt wird, wobei er in zahllosen Fällen dem Leben selber erhalten bleibt. UInd zu gleicher Zeif steht es noch in dem Belieben jedes zufälligen Kabinettes, jedes Darlamentes, unbehindert Todesurteile über klunderf- fausende und Millionen gänzlich unbefeiligter, freier, schuld- loser Menschen zu verhänsen, wenn Kriesführen aus Drestigesründen, aus wirtschaftlichen Motwendiskeiten oder aus sonstigen äußerlichen Motiven jenem kleinen Kreise nof- wendis erscheint! Millionenmal ist schon die „Internatio- nale“ von den Lippen von Millionen crklungen: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde!“ Es hat offenbar noch nicht genügt, sie wirklich aus ihrem Gedankenschlummer zu er⸗ wecken, ihnen die ärgste aller Ausbeutungen, die schmäh- lichste aller Sklavereien, dieses Hlingegebensein an die mehr oder minder sroße Einsicht, an die Besonnenheit oder UIn⸗ geschicklichkeit von Staatsmännern und Darlamentariern — in deren Hland noch heute Leben oder Tod von Millionen Segeben ist — zum Bewußstsein zu brinsen. Sie zur ent- schlossenen Auflehnung dagegen zu führen! Auch die sozia- listischen Darteien haben diese krasseste aller Ausbeutungen noch keineswegs in ihrem vollen Umfang erkannt. Wir sind eben crst dabei, eine tiefer schürfende, die menschliche Der- 32 sönlichkeit gesen frivole oder idiotische Willkür schützende Ideolosie und Strategie des Dazifismus zu schaffen. Der Marx des Dazifismus muſ noch kommen. An einem wirklichen Bund der Völker wollen wir sicherlich mitbauen helfen; aber zu ihm wird dann allerhand gehören, von dem sich das heutige „Welttheater“ in Genf noch nichts fräumen läßt. Generalstreik und Verweigeruns jeglicher Vorberei- fung zum Menschenmord, jeder Teilnahme am Kries, Ach- fung jedes Krieges sind dazu die ersten, wesentlichen Vor⸗ aussetzungen. WELTFRIEDENSKONGRESS IN GENF. Niemand scheint manchmal mehr den eigentlichen Zweck des Dazifismus: die Abschaffung des Krieges zu ver- dessen als die kierren berufsmäligen Dazifisfen. Besonders wenn sie ſurisfen sind. Wer mit unerbittlicher Strenge gegen den Staats- und Kriegs-Aberslauben kämpft, den kann wohl die infensive Mitarbeit innerhalb des orsanisierten Dazifis- mus oft mutlos machen. In der Tat, wenn es allein auf diese Kreise ankäme, wenn allein auf deren Initiative hin der Krieg aus der Welf geschafft werden könnte, dann würde die Welt das wohl nie erleben. Sicher fehlen den Friedens-, Versöh- nungs- und Völkerbundkongressen — oder vielmehr einer 8roßen Zahl ihrer Leiter — vollkommen das Feuer, der Schwung, die Glut in den Adern, der unzerstörbare Ver⸗ wirklichungswille — also die notwendigsten Voraussetzungen des Kampfes desen die Übel der menschlichen Gesellschaft. Wen dagegen der tiefe Ernst, die ungeheuere Gewalt dieses Droblems brennt, der möchte ansesichts dieser Halbheit und Lauheit wohl manchmal verzweifelf davonlaufen. Es frast sich nur: wohin? Denn bei den politischen Darfeien steht es noch ärger: Von Gräfe und Westarp bis Breitscheid sind sie jedenfalls eins darin, daf man selbstverständlich „Sank⸗ tions“- und „Verteidigungs'“'kriege führen muß. Die Kom- munisten wiederum sind überzeust, dan der Kries nur — durch den Krieg — nicht nur durch den Kampf — Sesen den Imperialismus abseschafff werden kann. UIm dahin zu kommen, geht es also wieder nur durch blutigen Krieg. Wo gibt es auf dieser Welt — frotz des „Völkerbundes“ — einen Pleck ohne Krieg und — schlimmer noch — ohne den Willen, ohne das gute Gewissen zum Krieg?! Daß ein so tief eingewurzeltes Übel — an dessen „UIn⸗ vermeidlichkeit“ sich die Menschen mit einer manchmal deradezu erschütternden Hartnäckigkeit klammern — in der Tat nicht ohne schwere Kämpfe und soziale Umgestaltungen, 33 aber auch nicht ohne tief eingreifende psychologische Ver- änderungen bescitist werden kann, das ist sicher. An dieser psychologischen Umwandlung wie der sozialen Umgestaltung silt es daher mit höchster Intensität mitzuarbeiten. Manche der Ilerrschaften in und um das infernationale Friedensbüiro scheinen aber zu glauben, es genüge schon zu fun „als ob“. Sie sind sich dessen allermeist wohl nicht bewufst. Aber es werden Beschlüisse anderer bekämpft — oder Beschlüsse ge- falst —, die von einer Hlärfe des kierzens, von einer Be- schränktheif des Gesichtskreises zeusen, die jedem Milita⸗ risfen wohl anstehen würden. Als ob es sich beim Kampf füir den Frieden nur um eine Beschäftigung mit schönen Redens- arfen, um einen besseren Zeitverfreib handle, aber nicht um eine Frage von vitalster Dringlichkeit, in der es um Leben und Tod, um Sein oder Nichtsein der Völker, der Mensch- heit geht. I. All diese Bitterkeit hat einen der eben hinter uns liegende 25. Friedenskongreß, der unmittfelbar vor der Völkerbunds- tagung, vom 28. Augusf bis ³. Sepfember, in Genf stattfand, wieder gründlich empfinden lassen. Wer die letzten inter- nationalen Friedenskongresse, 1922 in London, 1924 in Berlin, 1925 in Daris und nun 1926 in Genf mitmachte und somit Gelegenheit zu vergleichen hat, muß wohl er- kennen, daf das Milieu an sich nirgendwo konservativer und vom Standpunkt des Dazifismus beenster war als in der einstmals „freien“ Schweiz: in Genf — dem Sitz des Völker- bundes. Um dieses politisch-psychologische Dhänomen zu verstehen, muf man sich sasen, dan die Schweizer ihre „Re⸗ volution“ — soweit es überhaupt eine war — seit mehr als sechshunderf ſahren hinfer sich haben und nun schon ein wenis lange auf diesen Lorbeeren ihrer „Freiheit“ ruhen, die inzwischen doch rechf vergilbf sind. Das, was heute in fast allen Völkern — nichf nur in denen, die selbst am Kriege teilgenommen haben und davon tiefe innere Erschütterungen verspürten —, sondern was auch schon in Hiolland oder in den skandinavischen Ländern zum Beispiel an neuen Er- kennfnissen für den Dazifismus gewonnen ist, das war für die am Kongren beteiligten Schweizer Demokraten-Dazifisten noch die ungeheuerlichste, verabscheuungswürdigste Re- volution. Die linken Schweizer waren bedauerlicherweise nicht vertreten, wohl weil sie es gar nicht mehr für sinnvoll halten, bei so verschiedenen Zielen noch mit den orsani- sierten Vorkriesspazifisten zusammenzuarbeiten. IInd doch scheint mir das ein falscher, unzweckmäßiger Standpunkt zu sein. Wir haben alle noch — trotz unserer verschiedenen 34 Wege — auch noch mit diesen seltsam rückständigen Geistern ein gemeinsames Ziel: die Abschaffung der orsani- sierten Menschenfötung. Mir scheint es daher ganz im Gegenteil nofwendig, alle vorseschrittenen, einsichtsvollen, tapferen und lebenbejahenden Kräfte, die in diesem Kampf nicht Ablenkung und Zerstreuung suchen, sondern bittersten Ernst sehen, im Genfer Büro zusammenzufassen. Es gilt, ein Zentrum aller Kräfte zu schaffen, die ohne Schwanken, ohne Menschenfurcht, ohne Dücksicht auf das Urteil der Welt das zu erkennen, auszusprechen und zu verwirklichen bemüht sind, was ihnen um des Hieiles der Menschheif willen als not- wendig erscheint. Und so wenig erhebend — ohne Prage — vieles gewesen ist, was der Konsref gebrachf hat — so dai manche unserer besten Freunde und Cenossen schon re- signiert und abgeschreckt davon laufen wollen, überzeugt, es sei Kraftvergeudung, länger in diesem Kreis zu verweilen —. so haben wir doch, genauer betrachtet, keine Ursache, schon völlig alle kioffnuns aufzugeben. Im Gegenteil. Wenn man einmal von der Tatsache ausseht, daß wir hier beim inter- nationalen Dazifismus vor einem Gebilde stehen, das bis zum Krieg fast nur bürgerliche Demokraten umfaßte, wenn wir uns dann vergegenwärtigen, daß immerhin London (1922) und Berlin (1924) radikale Mehrheiten im Dlenum brachten, und daß auch Daris (1925) bei strenser Kontrolle der Stimm- führuns höchsfwahrscheinlich eine solche Mehrheit erseben hätte, daf selbsf Genf übrigens in den wichtigsten Drin- zipienfragen eine radikale Mehrheit ergab — so daß die Führer der Rechten ärgerlich erklärten, sie würden nie wieder auf einen Friedenskongren kommen —, dann muß man doch immerhin erkennen, daß der Einfluß der Linken, die energischere, umfassendere, tiefer wirkende Mittel for- dert, schon recht spürbar geworden ist. Er würde noch gröBer sein, wenn nicht der sogenannte Organisationsapparat noch so ziemlich ganz in den Händen der rein formal- juristischen Vorkriegspazifisfen wäre, weil der „Conseil durch seinen Wahlmodus die rechtsgerichteten Mitglieder stärker konserviert, als es der heutigen Stimmuns und Ge⸗ sinnung der Mehrzahl der Mitglieder entspricht. Was wir brauchen, ist mehr Aktivität, mehr ſusend im geistigen — nicht nur physiologischen — Sinne¹), tiefste Einsicht in die Schwere der ökonomisch-politischen und psychologischen Drobleme, die mit dem Krieg-Abschaffungskampf nun einmal ¹) Diesen UInterschied lehrte zum Beispiel der Vorsitzende Senator Lafontaine mit seinen siebzig ſahren, der bei verschie- denen Gelegenheiten durchaus auf Seite der Linken zu finden war. 35 verbunden sind. Die Kurzsichtigkeit, der Aberglaube, dafs es sich hier nur um juristische Fragen und Formen handle — um ein bißchen „Realpolitik“, politischen Kuhhandel gewöhn⸗ licher Art —, sie sind die schwersten Iindernisse für die notwendige Vertiefung und Erweiterung der Aufgaben des „Dazifismus“. II. Als Hlauptprobleme waren diesmal dem Kongrel die Er⸗ örterunsen der „Souveränitäf des Staates“, der Gestal- tung des Völkerbundsrates, der Kolonialfrage und der öko- nomischen Fragen gestellt. In langem Ringen war die „Souveränitätskommission“ — unter dem Vorsitz von Drofessor Scelle — zu dem Re- sultat gekommen, einen Mehrheits- und einen Minderheits- bericht abzustatten, da in der Kommission selbst andauernd die Mehrheiten und die Minderheiten gewechself hatten. Dro⸗ fessor v. Kebedgy, früher griechischer Gesandter in der Schweiz, war in diesem Falle unser — ritterlicher — Gegner, der den konservativeren Standpunkt vertrat, während Dr. Daul Honissheim-Köln mit der Erstattuns des Min⸗ derheitsberichtes — die Mehrheiten und die Minderheiten in der Kommission hatten manchmal 6 zu 6 oder 6 zu 7 be⸗ fragen — betraut war. Im Dlenum gelang es, unsere „Min- derheit“ zum Siege zu führen, vor allen Dingen die uns sehr wesentliche Forderung — trotz aller Bemühungen der über- ängstlichen Schweizer Demokraten — zur Annahme zu bringen, daß die Souveränität des Staates — nach unseren modernen Erkenntnissen — nicht nur nach außen anderen Staaten gegenüber, sondern auch nach innen, dem Indivi- duum gegenüber, eingeschränkt werden muß. So sieht denn die Resolution, die nach mehrstiindigen lebhaften Debatten zur Annahme gelangte — mit diesem von mir gestellten Zu- satz unter Dunkt ³ —, wenigstens folgendermaßen aus: „Es ist eine unleugbare Tatsache, daß eine Pülle von Funk⸗ tionen, die bisher ausschließlich vom Staate ausgeübt wurden, und die die Rechts- und Geschichtswissenschaft, wie die öffentliche Meinung als Aufgabe des Staates ansehen, auf nichtstaatliche, überstaatliche und zwischenstaatliche Gebilde übergehen. Der 25. Weltfriedenskongren sieht darin eine zwangsläufige und glückliche Entwicklung und hält es für wichtig, an der Beschleuni⸗ gung dieser Entwicklung mitzuarbeiten, nicht zuletzt durch Be- seitigung des hergebrachten Dogmas von der Souveränität des Staates, das mit der unerläßlichen individuellen Freiheit und der Organisation des dauernden Friedens unvereinbar ist. Jedoch in Anbetracht der Tatsache, daß die Tradition der 36 Souveränität in der Mentalität der Völker und in der Draxis der Regierungen noch eine wichtige Nolle spielt: I. erachtet es der Weltfriedenskongreß beim gegenwärtigen Zustande der internationalen Beziehungen für angebracht, die staatliche Souveränität durch freiwillige Einschränkungen scitens der Staaten auf dem Wege internationaler Verträge zu be- schränken; 2. hält er es ferner für eine wesentliche Aufsabe des Völker- bundes, die Autonomie und die Kompetenz der Mitsliedstaaten zu regeln und besonders durch fortschreitende Entwicklung der internationalen Rechtsnormen die Möglichkeit obligatorischer Schiedsserichtsbarkeit vorzubereiten, um hierdurch in wirksamer Weise den Schutz des menschlichen Lebens zu sichern; 5. ist der Kongreß der Überzeugung, daß die sich ent- wickelnde Veränderung des Begriffes der Souveränität auch ihre Wirkung auf das Verhältnis des Staates zu seinen Staatsangehörigen haben soll und haben wird, daß das aber nur dann in befriedisendem Maße seschehen kann, wenn die Idee der Staatsallmacht aufgegeben und wenn anerkannf wird, daß in dewissen Frasen des mensch- lichen Zusammenlebens das Gewissen des einzelnen die letzte und höchste Instanz sein muß. Um diese bescheidene Selbstverständlichkeit also, daß man Gott mehr sehorchen mun als den Menschen, dal sittliche Evolutionen nur denkbar sind, wenn die einzelnen, dic., eine neue, höhere ethische Stufe erreicht haben, sie auch zu bekennen und zu verwirklichen wagen, um sie allmählich zum Guf der Mehrheit, der Gesamtheif zu machen — um diese Selbstverständlichkeit ist stundenlang, in den Kommis- sionen tagelang — wo sie unfer anderem von dem englischen IInterhausmifglied der UInabhänsigen Arbeiterpartei Rennie Smith unterstützt wurde — leidenschaftlich gerungen worden. Mit Drohunsen der öffentlichen Ablehnuns und Bekämpfung, mit Austrittsdrohunsen, mit Außerunsen der Besorgnis, dal die Öffentlichkeit nach solchen Beschlüssen nichts mehr würde von uns wissen wollen, mit der Beschul- digung, daß wir — mit dieser Selbstverständlichkeit — „Bomben gesen den Staat würfen“, wurde von seiten der Rechten der Fortschritt aufzuhalfen versucht. Nun, man kann sasen: wenn es auch nur ein Sandkorn ist, was wir beitrasen können zur Bekämpfung dieses Sfaafsaberglaubens in den Köpfen und Herzen — indem wir den einzelnen auf die Dflicht zur Gewissensprüfung hinweisen — auch dann ist die Mühe dieser Tage gewiß nicht vergeblich gewesen. Denn nicht darauf kommt es wohl an, in unseren Resolutionen die Re⸗ sicrungen, die Iierren in den hohen Amtern und die be- 37 sitzenden Klassen zu unterstützen oder ihr Wohlgefallen zu erwerben, sondern den Kampf um eine höhere sittliche Ent- wicklung der Menschheit zu führen. Mit 141 gegen 79 Stimmen wurde dann die „revolutionäre“ Fassung an- genommen. III. Die ökonomische Kommission ist sowohl in der Kom⸗ mission wie im Dlenum zu verhältnismäßis fortschrittlichen Forderungen gekommen. Rudolf Goldscheid und Fenner Brockway hatten in ihr wesentlich mitgearbeitef. Der Kon⸗ greß soll nach dem Vorschlag dieser Kommission das Inter- nationale Friedensbüro beauftragen, im nächsten ſahre cine besondere Konferenz von Draktikern aller Länder für die Wirtschaftsorganisation des Friedens einzuberufen. Ferner wurde Kontrolle des Völkerbundes über die Ab- machunsen der Industrie, über das Ein- und Auswanderer⸗ recht, Schaffung einer internationalen Kreditstelle und Iler⸗ beiführung einer wirtschaftlichen Verständigung aller euro⸗ päischen Staaten (Zoll, Geld, Eisenbahn und Wanderungs- wesen) gefordert. In der Kommission zur Reform des Völkerbundsrates hatte nach dem Vorschlas von Dr. Hans Wehbers der Vor- schlag gesiegt, bei der Verwirklichung des Völkerrechts an dem Grundsatz der Gleichheit der Staaten festzuhalten. Es müsse danach gestrebt werden, alle Ratsmitslieder durch die Bundesversammlung wählen zu lassen; die ständigen Dats- sitze sollfen also abseschafft werden. Thesen zur Kolonialpolitik, von fielmuth v. Gerlach for⸗ mulierf, wurden in wesentlichen Dunkten abgelehnf. Dagegen fand ein Vorschlas des englischen Delegierten Walter Avles Zu⸗ stimmung, im nächsten ſahre die Kolonialfragen zum Gesen- stand einer eingehenden Erörterung zu machen. Denn in den Kreisen der entschiedenen Dazifisten ist glüicklicherweise die Erkenntnis gereift, daß die europäischen Völker, zumal nach ihrem Verhalfen während des Weltkrieges, nichf die min- deste UIrsache haben, sich als „höher enfwickelte“ und daher zur Herrschaft berechtigte Völker denjenigen gegenüber zu befrachten und zu betätigen, die sie gern wirfschaftlich aus- beuten möchten. Micht ganz ohne Absicht waren wohl von der konservativen Geschäftsführung die Verhandlungen so geführf worden, daß eine Reihe sehr wichtiger und aktueller, von der englischen „No-more-War movement“ wie von der „Internationale der Kriegsdienstgegner“ eingereichte Resolutionen nicht mehr behandelf werden konnten: zum Beispiel die an den Völker⸗ bund gerichtete Resolution gegen die Wehrpflicht, die 38 für absolute Abrüstung, Freiheit der Meere, über Zivil- dienst und das Minoritätenproblem. Man haf es — bedauer- licherweise — nicht nur fertig bekommen, die Resolution gegen Wehrpflicht und Abrüstung im Dlenum unfer den Tisch fallen zu lassen, sondern der „Conseil“ — dem sie zur weiteren Erledigung übergeben wurde — entschied — trotz unseres Drotestes —: cin gerade an den Völkerbund de- richtetes „Manifest gegen die Wehrpflichf“, von den be- rühmfesten Namen der Welt, aller europäischen, asiatischen und amerikanischen Mationen gezeichnet, dürfe, weil es ge- lungen war, es im Dlenum zu unferdrücken, nichf einmal in der Dresse erwähnt werden! — obwohl es in der Kommission einstimmig begrüßt worden war! Über „Thema“ darf also auf einem Dazifistenkonsrei nicht gesprochen werden!! Diese fast unglaubhafte Widersinnigkeit ist leider eine fraurise — Wahrheit. Aus allem diesen gehf ganz deutlich hervor: da der Fortschritt auf dem Wege zur Abschaffuns dieses Frauen- vollen und erniedrigenden gegenseitigen Abwürgens der Menschheif doch zweifellos davon abhänst, dal wir uns nichf allein auf die Dolitiker und Staatsmänner, auf die Regieren⸗ den und Besitzenden verlassen, die jetzt im Zeichen des Eisenkartells internationale „Verständisung“, „Dan-Europa und „Völkerbund“ mimen, sondern daf wir den sittlichen Widerstand, das Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen wecken, so ist unsere Arbeit auch innerhalb des orsani- sierfen Dazifismus noch nützlich und notwendig. Darum wollen wir auch nichf davonlaufen, weil uns vieles empört und erschreckf, weil wir in einigen vitalen Fragen Janz ver- schiedene Sprachen sprechen. Sondern wir müssen bemüht sein, die Rückständisen nachzuziehen, sie über ihre Ver- wechslung der Aufgaben konservativ-kapitalistischer Staats- männer und der Aufgaben geistig-sittlicher Vorkämpfer für neue Menschheitsideale aufzuklären. Dazu kann vielleicht auch ein Beschluß helfen, der im „Conseil“ sefaßf wurde: es soll das Amf eines Direktors und eines fätigen jüngeren Sekretärs neben dem bisherisen dieneralsekrefär seschaffen werden. Ende des ſahres soll eine Conseil-Sitzung unter dem Vorsitz von Senator Lafontaine-Brüssel zum Beschluß hier- über zusammentrefen. Werden da die richtisen Dersönlich- kciten dewonnen, so wird es vielleicht gelingen, auch allc überzeusten und entschiedenen Dazifisfen organisatorisch mit uns zu vereinen, die heute noch abscits stehen. Da- mif wir eine moralische Machf werden, die das für die Entwicklung von morgen bedeutet, was die Dazifisfen des vorigen ſahrhunderts für den Kampfbeginn gegen den or- ganisierten Denschenmord — dessen erste, wenn auch noch 39 unzulängliche Resultate wir heute sehen — geworden sind. Mit Rechf hat das „ſournal de Genéve“ in einem Be- grüßungsartikel daran erinnerf, auch der Genfer Völkerbund würde nicht existieren, wenn es nicht vor einem halben ſahr⸗ hundert und länger Menschen gegeben hätte, welche die Not- wendigkeit internationaler Zusammenarbeit — ohne blutise Kriege — erkannt und gepredigt hätten. Und selbst der an sich gewin nicht radikale Direktor des Internationalen Ar- beitsamts, Albert Thomas, hat in seiner Begrüßung des Kongresses betont, daß unsere Beschlüsse gar nicht ent- schieden und radikal genus sein könnten. Ideen müissen die Ilerzen dewinnen, die Gewissen erwecken, che sie verwirk- lichf werden können. Und wenn daher der Cienfer Konsren in vielem noch cin doppeltes Gesicht zeigte: wie ein echter ſanuskopf noch Krieg und Frieden zugleich darstellte, in seinem Übergehen und UInterlassen noch nach riickwärts wies, 8o finden wir doch in anderen seiner Entschlüsse schon die Spuren, die in die Zukunft weisen. Diese Spuren zu starken, breiten, für Alle gangbaren Wegen auszubauen — das ist Arbeit und Dflicht für die nächsten ſahre — vielleicht auch Jahrzehnte. LONDON — AMSTERDAM — BERIIN. I. Am 20., 21. und 22. Mlai 1927 taste in London-Enfield die Sitzung der Exekutive der Kriegsdienstseoner. Aus dem vor- bildlichen Verhalfen insbesondere enslischer und ameri- kanischer Kriegsdienstgegner während des Krieges: der Weiserung, am Kriese feilzunehmen, entstanden, haf dieses Beispiel auch in anderen Ländern gezündet. Die Ostern 1921 in Bilthoven gegründete „Internationale“ hat sich unter der Leitung ihres jetzigen ehrenamtlichen Generalsekretärs, Run- ham Brown, außserordentlich hoffnungsvoll entwickelf. — Zweiundzwanzig Länder besitzen heute Gruppen, die sich den Kampf für die gleiche Gesinnung zum Ziel setzen. Er- freulicherweise waren diesmal auch die Vereinisten Staaten von Nordamerika vertreten: durch die ſuristin Elinor Bvrns. Bür Frankreich berichtete Martha Steinitz über sehr inferessanfe illegale Gruppen, überzeusfe Kriegsdienst- verweiserer, freidenkend, antiklerikal, die ein besonders vor- bildliches Leben zu führen versuchen und weder Tabak noch Alkohol genießen. Die Konferenz nahm u. a. die folsende Resolution an: Der Ausschuß der Internationale der Kriegsdienstgegner 40 erklärt es als erste Aufgabe ihrer Mitglieder, den Krieg durch folgende Maßnahmen zu verhindern: I. durch Aufruf der Völker zu solch festem Entschluß zur Kriegsdienstverweigerung, daß die Regierungen davon absehen werden, zum Kriege zu schreiten; 2. durch Arbeit für völlige Abrüstung, nicht nur auf Grund infernationaler Vereinbarungen, sondern durch nationales, von der Hlalfung anderer Völker unabhängiges Vorsehen; 3. durch Erstrebung nationaler und internationaler ge⸗ setzlicher Achtung des Krieges äls Verbrechen gegen die Menschheit; 4. durch Arbeit für die Überwinduns des Kapitalismus und Imperialismus, durch die Errichfuns einer neuen internationalen Ordnung, beruhend auf dem Drinzip internationaler Gemeinschaffsarbeit zum allgemeinen Wohle. II. Den UInterschied zwischen einem England, in dem die Arbeiferpartei an der Herrschaff isf, oder einem England unter der Tory-Reoieruns, konnte ich schon aus der anfäng- lichen Einreiseverweigerung erfahren. Der Grund dafür wurde mir auch auf besondere Bitte nicht mitgeteilt. Meine Teilnahme am Brüsseler Konsren desen den Imperialismus dürfte — nach der Meinuns „zuständiger“ Stellen — wohl die Ursache sein. Ersf besondere Bemühunsen englischer Abseordneter verschafften mir die Einreiseerlaubnis. Und diese kam nafürlich so spät, daf ich an dem sroBen, 800 Menschen umfassenden Empfans in London unter Donson⸗ bys Vorsitz, einer der schönsfen und erfreulichsten Zu- sammenkünfte der Bewesuns, nicht mehr feilnehmen konnfe. Wohl aber habe ich nach dem Kongreß in dem „Inter- national Guest-Hlouse“ von Siddenham Hill noch zwei Tage unter hunderfjährigen Buchen und Rofdorn verweilen können, nachdem wir während der Konferenzfage die gerade- zu aufopfernde Gastfreundschaft von Runham Brown er- fahren hatten. Die idvllische Darkruhe von Siddenham HIilI stand in seltsamem Gegensatz zu dem — seit landem — er- schreckendsfen politischen Ereignis, das derade in jenen Tasen im Darlament verkündet wurde: dem Bruch der enslischen Negierung mit Pußland. Wohl konnte Llovd Georse noch unfer dem Beifall des Hauses der Regierung zurufen: „Ver- stand habf Ihr keinen mehr, Ihr habt nur noch die Mehr⸗ heit!“ Aber der Fluch der bösen Tat hat sich inzwischen schon verhänsnisvoll genug ausgewirkt. Eine Gewalttat nach der 41 anderen hat sie erzeugt, und wir sfehen, wie wir fürchten müssen, noch lange nicht am Ende von Schrecken und Greuel- faten. Wird es möglich sein, den Ausbruch offener, kriegeri- scher Verwicklungen so lanse hinauszösern, bis in England wieder eine Arbeiterresierung ans Ruder kommt? Die Tat- sachc, daß Liberale und Arbeiterkandidaten bei den Nach⸗ wahlen zum Darlamenf wieder siegreich blieben, scheint eine der Ursachen für das Vorsehen der konservativen Dartei de⸗ wesen zu sein: die Riickkehr der Arbeiterparfei an die Hlerr- schaft soll um jeden Dreis verhindert werden — und sei es auch um den Dreis eines Krieges. III. Die Organisation einer Antikriegsfront, wie sie in der Donsonby-Aktion in England schon begonnen wurde, dic 100000 Stimmen in wenigen Donaten cinbrachte, gehört da- her zu den dringendsten Aufgaben der Gegenwart. Auch die in Deutschland jetzt von der Deutschen Friedensbewegung in einem bestimmten Bezirk (in Zwickau) begonnene Samm⸗ lung von Unterschriften zum gleichen Zweck, hat nach vor- läufiger Schätzuns etwa 100000 Stimmen gebracht, eine Tat⸗ sache, die zum mindesfen beweist, daß auch im deutschen Volk der Geist des Militarismus keineswegs 80 schranken- los herrscht, wie man nach dem Verhalfen gewisser Schreier und Daufbolde manchmal versucht wäre zu glauben. Wie es zu ermöglichen isf, daß diese latent vorhandenen krieg- verneinenden Kräfte überall erwachen und in machtvollen Aktionen zusammenwirken, darüber wird noch eingehender zu sprechen sein. Zunächsf hat das Deutsche Friedenskartell meinen Antrag angenommen, sowohl das Internationale Friedensbureau, wie den Internationalen Gewerkschaftsbund an die Beschlüsse vom Haag (Dezember 1922) zu erinnern: „allen in Zukunft drohenden Kriegen mit allen der Arbeiter- schaft zur Verfüsung stehenden Mitteln entgegentreten zu wollen“, um so durch Verwirklichung jener Beschlüsse in der Tat einen wirksamen Widerstand gegen den Krieg zu schaffen. Aus dem London, das durch den Bruch mit Rußland mit Bewußfscin die Kriegsfurie aufs neue zu entfesseln droht, fuhr ich mit unserem Gesinnungsfreunde Rennie Smith, Darlamentsmitglied der enslischen Arbeiterpartei und Cene- ralsekretär des englischen Friedenskartells, von Harrich nach Hlook, da Rennie Smith an der Internationalen Tagung der Völkerbundligen in Berlin teilnehmen wollfe. Ich hatte in⸗ zwischen noch in Amsterdam auf einer Iagung der holländi- schen Kriegsdienstverweigerer zu sprechen. Der Himmel- 42 fahrtstag vereinte in einem nüchternen Saal mehrere hundert Zuhörer, meist Ansehörise der arbeitenden Klassen, der Jugendbewegung und verwandte Kreise. Einer der ersten Red- ner war der bekannte antimilitaristische Führer, der ehe- malige Dfarrer Schermerhorn. Sehr wirksam sprach Mispel- blom Bever aus Dorfrecht, ebenfalls ein freigesinnter Dfarrer, Madeleine Vernet (Frankreich), Armand Sulz aus Antwerpen u. a. Hiolland ist vielleichf eines der am meisten instinktiv antimilitaristischen Länder der Welt, in dem schon seit einigen ſahrhunderten gewissermaßen eine Iradition der Kriegsdienstverweigerung besfeht, wie der geistige Führer des heutisen holländischen Antimilitarismus B. de List historisch nachgewiesen hat. Und doch konnte ich eine tiefe Melancholie während dieser Verhandlungen so wenis unter⸗ drüicken, wie mich die gleiche Trauer — nur aus entsesen⸗ gesetzten Gründen — in den darauffolgenden Tagen in Berlin während der Verhandlungen der „Internationalen Völkerbundligen“ erfüllfe. Hier in Hiolland oder in dem kleinen Kreis in England überzeugungstreue Ehrlichkeit, Opfertähigkeit, religiöse Inbrunst der klingabe an die Idee, wie die ſünger, die Fischer vom See Genezareth, aber Ohn⸗ machf im Sinne äußerer Machtmittel desenüber der furcht- baren zersförerischen Macht des Staates. Und auf der anderen Seite diese angeschenen, von Dresse und Re- gierung gefeierten „Internationalen Völkerbundligen“, heute alle offiziöse Nebeninstitutionen der auswärtigen Amter der verschiedenen Resierunsen. In denen die sehr bekannten prominenten Bührer lauter Grafen, Lords oder Ladies, zu- mindest aber Abgeordnete und Drofessoren sein müssen. In England verfügt die Liga sogar über eine halbe Million Dlit- glieder. Auf den Banketten dieser Organisationen halfen die Außenminister selbst Friedensreden. Aber ist von ihnen wirklich die Verhinderung des nächsten Krieges zu er- warten?? Und nur darauf kommt es an. Aus diesem fragischen Zirkel kommen wir, 8o scheint cs, nicht heraus: Die opferfähigen Idealisten können es nicht. Die Opportunisten — die „Realpolitiker“, höf- licher gesagt — wollen es gar nicht. Diejenisen, die mit heiligem Ernst und opferbereiter Entschlossenheit er- kannt haben, worauf es ankommt, um den Krieg unmöglich zu machen, sie haben nichf die finanzielle und faktische Macht, ihn zu verhindern. Und diejenigen, die Macht und Ein⸗ fluß haben und die heute, weil es so Mode geworden ist, ein wenis mehr vom Frieden sprechen, als Staatsmänner und Darlamentarier es früher zu fun pflegfen, sie können oder sie wollen nicht sehen, worauf es ankommt. Sie sind 43 aber ganz gewiß nicht bereit, die Mittel anwenden, die nötig wären, um wirklich dem Krieg ein Ende zu machen: den Krieg, das Menschenschlachten überhaupt zu ächten und jeden, der dazu auffordert oder daran teil- nimmt, als einen Verbrecher an der Menschheit zu be- handeln. Und zugleich die Grundlasen für eine neue bessere Gesellschaftsordnung zu schaffen, die nicht, wie die heutise, zwangsläufig zu Kriegen führt. So werden wir denn wohl noch einmal in nicht gar zu ferner Zeit das schauerliche Schauspiel ciner grandiosen Menschenvernichtung durch Menschen erleben, wie es noch nie erhört war, nachdem der Weltkrieg, der der „letzte Krieg“ scin sollte, kaum beendet ist. Denn wenn nicht einmal die, die sich „Dazi- fisten“ und „Sozialisten“ nennen und es selber zu sein glauben, oder die „Völkerbündler“ die letzte Enfschlossen- heit zur Kriegsverhinderung aufbringen — was soll man dann von dem Teil der Menschheit erwarten, dessen geistiges Niveau noch auf den wüsten Kampf Aller gegen Alle — wie in dunkelsten Vorzeiten — einsestellt ist? Oder werden wir es noch erleben, daß die Kräfte der Vernunft, der Einsicht, der Menschlichkeit über Feisheit, über Verworrenheit, über Barbarei, über gefühllose Ausbeutuns friumphieren? Werden wir das?? Es ist jedenfalls Dflicht, alle Kräfte in dieser Richtung einzusetzen. RUSSLAND UND DER WELTFRIEDE. I. überall, wo man für eine bessere Gesellschaftsordnung kämpft, feiert man die zehnjährige Wiederkehr des Sieges der Revolution in Sowjef-Rußland. Was beschränkte Gesner von rechts — denen jede Anderuns des Bestehenden, erst recht aber der besfehenden kapitalistischen Gesellschafts- ordnung, ein Frevel und Greuel ist — gegenüber diesem Versuch eines Neuaufbaues an Mißverstehen, an böswillisem MiBdeuten geleistet, wie sie den Gegner zum Teufel um- phanfasiert haben, das braucht uns an dieser Stelle nicht weiter zu beschäftigen. Aber den Gegnern von links, der anarchistischen Kritik gepenüber z. B., sei daran erinnert, daß dieser Neuaufbau — freilich nichf ohne Blut und Ge- walf — doch zumindest den noch umfassenderen Greueln des vier ſahre vorher entbrannten Weltkrieges ein Ende machen sollte. Wir dürfen nicht vergessen, daß es leider bisher überhaupt noch keine sröBere menschliche Giemein- schaft auf diesem noch sehr unvollkommenen Stern, der nun cinmal unsere Hcimat ist, gegeben hat, in der sich große 44 Umwälzungen ohne heftige Gegenwirkungen, ohne starke Reaktionen vollzogen. So aufrichtig wir jeden Verlust menschlichen Lebens und Lebensglückes beklasen, so können wir uns der unerbittlichen Erkenntnis nicht verschließen: bis heute haf kein Staat, keine menschliche Gemeinschaft, keine siegende Idee sich anders behaupten können — auch das siegreiche Christentum nicht —, als es leider auch in Sowjet-Rußland der Fall war. Daher darf nicht min- verstanden werden, warum wir, frofz unseres Crundsätz- lichen Kampfes gegen blutige Gewalf, im Gegensatz zu vielen anarchistischen Preunden, dennoch glauben, die Tatsache dieses grandiosen Versuches in Rußland, cine neue Gesell- schaftsordnung zu verwirklichen, bedeute ein großes und neues, hoffnungsvolles Ereignis in der menschlichen Ent- wicklung. Über weite Zeiträume gesehen — sub speziae aefernitatis — ist hier fatsächlich etwas geschehen, das sich so während der bewußfen Geschichte der Menschheit bisher noch nicht vollzogen haf: daß die Anhänger einer Idee, einer Weltanschauung, sich an die Spitze eines mehr als hunderf Millionen umfassenden Staatswesens zu stellen vermochfen, den Millionen Bauern Land und Kulfur, den bisher Ausgebeuteten in vielen Bezichunsen höhere Rechte gaben als denjenigen, die von der Arbeit der anderen leben. Auch wenn die schwere Zeif des Bürgerkrieges und der ihr nachfolgenden Gefahrenzeit noch manche Einschränkung der persönlichen Freiheit mit sich gebrachf hat, so isf das Ge- schaffene — gemessen an dem, was es vor dem Kriege in Rußland gab, frotz all seiner Unzulänglichkeiten und UIn- vollkommenheiten — dennoch ein Großes in der mensch- lichen Geschichte, das Millionen Hlerzen mit Irost und Freude füllt. Wir wollen dar nicht davon reden, ob alle anderen Völker in jenen kritischen ſahren um das Kriegsende es hätten ebenso machen müissen. Aber wir wollen frasen: wie würde heute die Weltperspektive für das Droletariat, für die Leidenden und UInterdrückten aller Länder aussehen, wenn es Pußland nichf mehr gäbe, das Land, in dem immerhin große Teile dessen verwirklicht sind, nach dem die Sehn- sucht der UInterdrüickten geht? Sind die wirtschaftlichen und politischen Machtverhälfnisse in den anderen Ländern, in denen man klus auf die Revolution verzichtet hat, aber etwa so erfreulich beschaffen, dan man UIrsache hätte, sich der eigenen Vernunft, des eigenen Verzichtes restlos zu rühmen? Es ist eine tragische Situation: vor der Erreichung einer neuen Gesellschaftsordnung liegt bitterster Kampf, liegt viel- leicht Blutvergießen. Bei dem Verzicht auf den Kampf bleibt 45 Hlaßs und UInterdrückung, Ausbeutung und Mißhandlung be⸗ stehen. Wir sind Gefangene, wir werden Mitschuldige, so oder so, ob wir wollen oder nicht. Wer einmal diesen tra⸗ eischen und unlösbaren Widerspruch zwischen rechts und links, zwischen Fortdauer des Unrechts und dem Wasnis einer gewaltsamen Umgestaltung erkannt hat — Antinomiecen nennt die Dhilosophie solche unlösbaren Widersprüche —, der wird milder in seinem Urteil, der wird zusleich dank- barer für jedes Erreichte. Wie wir daher auch persönlich, nach unserer besten Überzeusung, das Droblem unserer Mit- arbeit an der Höherentwicklung der menschlichen Gesell- schaft für uns lösen mögen — sei es durch Vorbereitung an einer Neugestaltung von innen und außen, sei es durch Aus⸗ bau des Vorhandenen —, jedenfalls sollfen wir die Stärke des Willens, den Mut zur Verantwortung und die Hingabe an eine große Idee nicht verkennen, die vor einem ſahrzehnt Sowjet-RuBland geschaffen haben. Diese Tatsache gibt nun — das kann nicht geleugnet werden — Tausenden, nein Mil- lionen Teilnahme an geistigen Erkenntnissen, kioffnung und Lebensfreude, neue, weit über das enge, persönliche Dasein hinausreichende Impulse, Antriebe und Ziele. Auf diese russischen Errungenschaften habe ich in Schrift und Dede öfter hingewiesen, da sie in vollem Einklans mit den Porderunsen stehen, die von unserer Bewesuns für Mutterschutz und Sexualreform von jeher dem Staat, der Gesellschaft gegenüber erhoben worden sind. Ich erinnere nur an den Schutz der Mutterschaft, an die Fürsorge für die neue Generation, an die Abschaffung der Strafen für Schwangerschaftsunterbrechung, an die Schaffung des gleichen Rechtes für die außerehelichen Kinder, an die weitgehenden Ehereformen wie an das moderne Strafrechf. Bei dem nur zu beklagen ist, daß es unter dem Druck der Verhältnisse bisher — wie leider zahlreiche andere Länder — auf die Todes- strafe noch nicht verzichtet hat. Rußland hat auch, so wenis das der bürgerliche Völkerbund-Dazifismus bisher hin- reichend anerkannt hat, einen großen Schritt zur Völker- versöhnung getan. Einmal dadurch, daßs es seinen Minder- heiten, seinen zahlreichen Völkerschaften völlise UInab- hängigkeit im Nahmen des Staatsganzen gab — bis zum Recht des Austritts aus dem Verbande. Und es hat andererseits die Gefühle der Unterdrückten aller Länder gecint in dem Bewußtsein: so unvollkommen auch vieles noch in RuBland sein mag, in keinem anderen Sfaate jedenfalls isf so ernst- haft der Versuch gemacht worden, den Arbeitenden und Schaffenden — an Stelle der wenigen Ausbeutenden — die Dlacht zu geben. Und wer kann den Einwand erfolgreich zu- 46 riickweisen, daß auch das russische Staatswesen schon um vieles dem letzten Ideal noch nähergerückt sein könnte, — wenn — wenn eben in den anderen Ländern sich ähnliche Entwicklungen vollzogen hätten? Diese Entwicklungen haben sich nicht vollzogen; damit müssen wir rechnen. Aber wenn nun dieser Staat, der die Kühnheit besitzt, immerhin einige antikapitalistische Ten⸗ denzen zur Geltung zu bringen, den anderen ein Dorn im Auge ist, wenn daher die Gefahr besteht, daß der nächste Krieg — und auf diesen „nächsten Krieg“ rüsten mit heilig⸗ unheiligem EBifer die Kriegskabinette der ganzen Welt — sich gegen Sowjet-RuBland richtet, — was ist dann die Auf- gabe derer, die an der Höherentwicklung der menschlichen Cesellschaft mitarbeiten wollen? Zunächst und zuletzt, ohne Frase, nach meiner innersten Überzeugung, infensive Arbeit an der Verhinderung jeden Krieges überhaupt. Aber diese Aufgabe drängt. ſedem, der aufmerksam die Zeichen der Zeit beobachtet, wird es täglich klarer, daf wir vielleicht nicht einmal mehr ein ſahr⸗ zehnt vor uns haben, einen ausreichenden aktiven Wider- stand gegen den Krieg zu organisieren, um ihn unmöglich zu machen. Die holländisch-englische Olgescllschaft — und ihr Vertreter Deterding, der vergeblich versucht hat, den Ol- export aus Rußland zugesichert zu bekommen — hat sich öftentlich in ihrem Geschäffsbericht der Tatsache gerühmt, daßs sie an dem Abbruch der Bezichungen Englands Zu Rußland nichf ganz unbeteiligt gewesen sei (Europäische Ge- spräche 1927, S. 557). Daß dieser Bruch der Beziehungen, die fortschreitende Einkreisung Pußlands Mehrung der Kriegs- gefahr bedeutet, kann kein Verständiger leugnen-f. II. ¹ Aber wollen wir noch länger ein Spielball in der kland der Wenisen bleiben, deren Interesse an 51 oder Stahl, an der Entwicklung der Rüstungsindustrie oder der Giftgase immer wieder zu kriegerischen Verwicklungen treibt?? Frei- lich, solange der Staatsapparat in den Hländen der Wenigen ist und damit auch die Geldmittel, die Iieere, die Schule, die Dresse, die öffentliche Meinung, ist es nahezu unmöglich, dieser Macht erfolgreich entgegenzutreten. Nur denrestlos Seeinten Kräften aller arbeitenden und schaffenden Menschen könnte das selinsen. lAber wie weit sind wir noch von einer solchen Einheitsfront der Arbeitenden, einer aktiven Kriegsabwehrfront entfernt! In welchem Grade im 47 vorisen Weltkrieg in fast allen Ländern die Führer der „Sozialdemokratischen“ Darteien den Kries unterstützt haben — von den anderen gar nicht zu reden —, das haben wir schaudernd erlebt. Und wir haben heute, neun ſahre nach Beendigung des Krieges, kaum ein Zeichen, daß es bei einem künftigen Welfbrand anders werden wird. Damit wäre unser Schicksal von vorneherein besiegelt. Nur das Eine bleibt uns als kloffnung: daß es uns gelingt, die Massen selber so aufzuklären, daß sie aus sich jenen einheitlichen aktiven Widerstand erzeugen, der über die rückständigen Führer hinwesseht, der sie zwingt, mitzugehen. (Denn das ist das Tragische an dieser Zersplitteruns der frei- heitlichen und fortschrittlichen Gegenkräfte segen den Krieg durch die Spaltuns der Arbeiterparteien, daß die Führer der zweiten Internationale es zwar als unmöglich anschen, mit den Kommunisfen zusammen zu arbeiten (z. B. in dem Kampf gegen den Imperialismus, wie ihn die „Liga gegen Imperialismus“ im Februar dieses ſahres in Brüssel begonnen hat), daßs es ihnen aber keinerlei moralische oder sonstige Beschwerden machf oder Femachf hat, sich mit den kapita- listischen Regierungen und Darteien von Beginn des Krieges an bis heute auf Gedeih und Verderb zu verbünden. Müßten nicht Sozialisten und Kriegssegner aller Nuancen sich viel eher im Kampf gegen Kapitalismus und Krieg zusammenfinden?!) Wir müssen das in all die fauben Ohren einhämmern und die Schlafenden erwecken, die zu ihrem eigenen wie zum Unheil der Welf sich schon wieder beruhigt aufs Faulbett gelegt haben. Wenn wir der garstigen Dolitik, dem Kampf degen die Mißstände unseres sozialen und staatlichen Lebens aus dem Wege gehen, Vosel- straußpolitik freiben wollen, so nützt uns das gar nichts. Auch wenn wir uns nichf um Dolitik bekümmern, die Dolitik bekümmert sich um uns. Sie packt uns un- erbittlich, sie schickt uns wieder in den Schützengraben, läßf uns elend vergasen oder verhungern. Wollf ihr das? Wollen wir nicht lieber beizeiten vorbeugen, der Dolitik eine andere, völlig entgegengesetzte Richtung geben? III. Noch sind es nur wenige, die diese Notwendigkeit er- kennen: daßs wir uns nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahrzehnte nicht auf die Regierungen und die Darlamente verlassen dürfen. Aber schon beginnt es, besonders in den größeren Kultursfaaten, zu dämmern. Schon sind überall stärkere Gruppen in ihrem Verständnis für die Bedenk- 48 lichkeif der Situation über die Rücksfändigkeit und den Egoismus ihrer Führer hinausgewachsen, die nicht gern auf den Ruf verzichten wollen, „Realpolitiker“ zu sein und ihre Chancen auf Darlamentserfolg und Ministersessel in der Segenwärtigen Ordnung nicht gern mit dem harfen, un- bequemen Kampf gegen die Kriegsgefahren vertauschen wollen. So hat er eine gesindere Sexualmoral, eine Höherentwick- lung in Liebe, Ehe und Fortpflanzung, eine bessere Gesell- schaftsordnung überhaupt, will keine Möglichkeit, passiv und neufral fern zu bleiben, wenn er es ernst meint. Immer mehr spitzt der Konflikf sich zu: zu dem „letzten froßen Gefecht“, das nichf mehr allein zwischen den Nationen, son- dern auch zwischen den unterdrückten und unterdrückenden Klassen und Völkern in allen Ländern, auf allen Kontinenten ausgefochten werden muß. So fällt also der Kampf sesen den Kries und das Wirken für eine kiöherentwicklung der Liebe wie für eine bessere Gesellschaftsordnung aufs engste zusammen. So gehört es auch in diesem Ringen um die Erhalfuns des Weltfriedens, um die Schaffung einer höheren Kultur mit zu unseren Aufgaben, das Versfändnis für die Bedeufung dieser An- fänge in Sowjet-Rußland zu fördern, das kühn Begonnene, eben Erblühende vor brutaler Zersförung zu schützen. Wer vermöchte sich das Grauen eines nächsten Krieges auch nur vorzusfellen? UInd wessen Dhantasie würde aus- reichen, die Orgien der Reaktion sich zu vergegenwärtigen, die einer Niederzwingung Sowjef-Rußlands in allen Ländern: eine Vernichtung aller Reste von Freiheit und Menschlich- keit, folgen würden?! Helfen wir alle mif, die frostlose Erkenntnis Ernst Tollers in seinem Drama „Hoppla, wir leben“: „Es hat sich nichts geändert seit 1914“1 durch unsere Energie, durch unsere Tat- kraft dennoch Lügen zu strafen. Das leidenschaftliche Inter- esse von Hlunderten, die allabendlich in Berlin diesem ver- nichfenden Dückblick auf all unsere Versäumnisse im Theater Discators lauschten, scheint ein wenis zur Hioffnuns zu be⸗ rechtigen. Helfen wir mit, die Menschheit vor dem Rückfall in tiefste Barbarei zu bewahren. Noch ist es vielleicht Zeit. Aber es ist höchste Zeit! 49 WELTABRÜSTUNG? Auch innerhalb der Bewegung für Mutterschutz und Sexualreform gibt es Einzelne, die nicht erfaßt haben, warum organisch notwendigerweise unsere Bewesuns, die ursprüns- lich nur dem Schutz des werdenden, des blühenden Lebens galt, nach den furchtbaren Erfahrungen von 1914—1918 sich zum Kampf gegen die organisierte Zerstörung des mensch- lichen Lebens durch den Krieg erweitert haf. Ist solche Kurz- sichtigkeit nichf verwunderlich? Nachdem wir so bitter grüindlich crfahren mußfen: auch wenn wir uns nicht um das Droblem der Kriessabschaffuns bekümmern, so bekümmert sich doch der Krieg um uns?! Er nahm uns unsere Kinder, unsere Väter, unsere Brüder, unsere Gatten; er zerstörfe unsere Wohnungen, raubte unsere Vermögen und Besitztümer, ließ uns im Elend vergehen, machte uns zu Hilflosen, Ausgebeuteten, Verstümmelten, Toten. Erfreulicherweise hat jedoch die Mehrheit in unseren Reihen die Notwendiskeit dieser Verbreiterung unscrer Kampffront erkannt. So wird sie auch mit Interesse verfolgt haben, was sich im Dezember 1927 in Genf bei der „vorbereitenden Abrüstunsskommission des Völker- bundes“ zusefragen hat. Es war ein Ias von nicht verinse- rer historischer Bedeutung, als der, an dem Deutschland seinen Eintritt in den Völkerbund vollzog. Im Gegenteil, vielleicht noch bedeutungsvoller. Pußland, dessen Teil- nahme an den Verhandlungen des Völkerbundes unentbehr- lich ist, wenn sie jemals zu einem Erfolg kommen sollen, hat wieder, wie schon in den ſahren 1921,/1922 und am 10. April 1922 auf der Konferenz von Genua seine Bereitschaft zum Frieden und zur vollkommenen Abrüstuns durch den Mund des stellvertretenden Volkskommissars für aus⸗ wärtige Dolitik Litwinow bekundef. ſe weniger Fortschritte die Abrüstung machte, um so stärker isf seit langem in den Kreisen der Arbeiter und entschiedenen Friedenskämpfer die Empörung gegen den Abrüstungsbetrug der Völker- bundskommission stetig gewachsen, so daf selbst ein che- maliser Delegierter im Völkerbund, Senator Lafontaine — der Vorsitzende des Infernationalen Friedensbureaus — erklären mußfe: die Geschichte werde cines Tages die an den Schandpfahl stellen, welche die Vertreter der Nüstungs- indusfrie, des Waffenhandels und der militärischen Karriere eingesefzt haben, um die Welt von der Militärherrschaft zu befreien. Es lag natürlich nicht im Interesse der kapitalistischen Länder — die eine mehr oder minder offene Sabotage der Ab- 50 rüstung befreiben — den Wortlaut der russischen Abrüstungs- vorschläge weithin klar bekannt zu geben, da dann ja die alte Mär sich nur schwer weiter aufrecht erhalten ließe, dan es ausgerechnet Sowjet-Rußland sei, welches die Fortdauer der Püstungsmabnahmen nötig machc. Es ist bedauerlich genug, dalz der Naum hier nicht gestattet, dieses Dokument von außerordentlicher historischer Bedeutung in seinem vollen Wortlaut wiederzugeben, wie es die Wichtigkeit der Sache, das Interesse des Weltfriedens verdiente. Einige wesentliche Teile aber, die hier wiedergeseben werden, zeisen wohl unzweideutig genug, auf welcher Seite der Wille zum dauernden Frieden, auf welcher Seite die Ausflüchte und Kriegstendenzen sind! Litwinow führte unter anderem folsendes aus: „Die Delegation ist beauftragt von der Sowjet-Regierung voll- ständise Abschaffung aller bewaffneten Kräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft vorzuschlagen. Zur Verwirklichung schlägt die Sowjet-Degieruns folsende Maßnahmen vor: a) Entwaffnung aller bewaffneten Land-, See- und Luftstreit- kräfte und das Verbot ihrer Bildung unter irgendwelcher mas- kierfen Form. b) Vernichtung aller Waffen, Munition, aller Mittel des chemi- schen Krieges und aller anderen Mittel der Rüstungs- und der Vernichtungswerkzeuge, die sich in den Armeen, Militärdepots oder in deren Gebrauch befinden. c) Die vollständige Vernichtung aller Kriegsschiffe und Militär- fugzeuse. d) Abschaffung der Einberufungen zur Militärausbildung in der Armee oder in sonstigen Vereinigungen und gesetzliche Abschaf- fung der Militärdienstpflicht sowie des freiwilligen oder durch Rekrutierungen zu erfüllenden Dienstes. e) Die Schaffung von Gesetzen, die die Einberufung der aus- sebildeten Militärreserven verbieten. f) Die Schleifung der Festungen und Zerstörung der See- und Luftstützpunkte. 8) Die Auflösung der speziellen Kriegsfabriken und Zerstörung aller Maschinen, die in den Fabriken der Kriegsindustrie zur Her- stelluns von Kriessfabrikafen dienen. h) Alle Bewilligungen für Militärzwecke in den Staatsbuddets und den Budgets verschiedener Vereinigungen sollen gestrichen werden. 1) Die Abschaffuns der Mlinisterien für Kries, Marine und Militärflugwesen. Ebenso der Generalstäbe und der militärischen Leitungen, Unternehmungen und Institute jeder Art. ¹) Gesetzliches Verbot jeder Art militärischer Dropasanda und Ausbildung unter der Bevölkerung sowie jeder militärischen Er- 51 ziehung der usend durch Organisationen des Staates oder durch Vereine. k) Es sollen keine Erfinderpatente für alle Arten von Waffen und Zerstörungsmittel mehr ausgestellf werden, damit jede Er⸗ munterung zu solcher Art von Erfindungen fortfällt. 1) Schaffung von Gesetzen, nach denen die Verletzung der soeben gegebenen als das größte Verbrechen gegen den Staat bezeichnet wird. m) Alle Regierungsmaßnahmen oder Vereinbarungen zwischen Regierungen, die den anseführten Bestimmungen widersprechen, sind für null und nichtig zu erklären oder entsprechend abzu⸗ ändern. n) Die Sowjetdelegation hat die Vollmacht, die Verwirklichung des vorgetragenen vollständigen Abrüstungsprogramms vorzu- schlagen, sofort nachdem eine entsprechende Konvention in Kraft getreten ist, derzufolge alle zur Vernichtung des Kriegsmaterials notwendigen Maßnahmen innerhalb eines ſahres verwirklicht werden sollen. Die Sowjet-Regierung glaubt, daß der vorgetragene Plan zur restlosen Verwirklichung der vollkommenen Abrüstuns der einfachste und der der Sache des Friedens zweck- entsprechendste Dlan ist. IIm aber dem Einwande zu begednen, daß ein so radi⸗ kaler Vorschlag nicht von heute auf morgen verwirklicht werden könne, erklärf sich die Sowjet-Regierung auch mit einer allmählichen Abrüstung einverstanden: „Falls die kapitalistischen Staaten die sofortige Abschaffung der stehenden Heere ablehnen würden, glaubt die Sowjet-Dezierung, von dem Wunsche geleitet, den Abschluß einer praktischen Ver- einbarung über die vollkommene Abrüstung zu erleichtern, fol- gendes vorschlagen zu können: Die restlose Abrüstuns wird von allen vertragschließenden Staaten gleichzeitig in nachcinander folgenden Etappen in cinem Zcitraum von vier ſahren verwirklicht. Die erste Etappe mul im Laufe des nächsten ſahres beendet werden. Die durch Abschaffung des Militärbudgets freigewordenen Mittel können von jedem Staat nach seinem Belieben verwendet werden. Aber ausschlieB- lich zu industrieller oder kultureller Entwicklung. Indem die Sowjetdelegation ihren Standpunkt in dieser Weise verteidigt, wird sie ohne Ausnahme an allen Diskussionen teil- nehmen, soweit sich diese um praktische Maßnahmen drehen, die wirklich zur Abrüstung führen. Die Delegation erklärt, daß die Sowjet-Resieruns sich der Kon⸗ vention bezüglich des Verbots der Anwendung chemischer und bakteriologischer Mlittel zu militärischen Zwecken restlos an⸗ schlient. Indem sich die Sowjet-Regierung zur sfortigen Unter- zeichnung dieser Konvention bereit erklärt, besteht sie aber dar- 52 auf, dal für die Ratifizierung derselben durch alle Staaten ein sehr kurzer Termin festgesetzt wird. Um die Wirksamkeit dieser Konvention zu farantieren, hält es die Sowjet-Regierung für unerläblich, daß eine Kontrolle der Arbeiter über jeden Zweis der chemischen Industrie eingerichtet werde, die auf leichte Weise zu Kriegszwecken benutzt werden könnte, in den Staaten, wo diese Industrie entwickelt ist.“ Dieser offiziellen Deklaration hat Litwinow noch einide Erklärungen angeschlossen, in denen er betonte, daß ein künftiser Krieg nicht nur eine theoretische Möglichkeit, son⸗ dern eine vollkommen reale Gefahr sei; wenn der Krieg vermieden werden solle, müsse man sofort handeln, und da sei natürlich die vollkommene Abrüstung die beste Garantie für die Sicherheit aller Völker. Die Sowjet-Delegation legt daher der Konferenz folsen⸗ den Resolutionsentwurf vor: „Mit Rücksicht darauf, daß die Existenz der Rüstungen und ihre offenkundige Tendenz zum Wachstum die Staaten unvermeidlich zu bewaffneten Konflikten führen mul, welche die Arbeiter und Bauern ihrer friedlichen produktiven Arbeit entreißen und ein unermeBliches Unglück herbeiführen würden, mit Rücksicht dar- auf, daß die bewaffneten Kräfte ein Mlittel darstellen, dessen sich die großen Staaten bedienen, um die kleinen Völker und die kolo⸗ nialen Völker zu unterdrücken, indem die Konferenz anerkennt, daß nur die vollständige Vernichtung aller Rüstungen die wirk- samste Garantie der Sicherheit und eine ausreichende Sicheruns zur Verhinderung der Kriege darstellt, beschließt die vierte Session der Vorbereitungskommission der Abrüstungskonferenz: 1. Sofort die Ausarbeitung eines detaillierten Entwurfs der Konvention bezüslich der allsemeinen Abrüstung zu bezinnen, wobei die Vorschläge der Sowjetdelegation zur Grundlage ge⸗ nommen werden. 2. Spätestens im März 1928 die Abrüstungskonferenz einzube⸗ rufen, um die unter 1 vorgesehenen Vorschläge zu diskutieren und gutzuheißen.“ Was war die Antwort des Völkerbundes auf diese Forde⸗ rungen, die doch seiner eigentlichen Aufgabe, dem Zweck, zu dem er ursprünglich gegründet wurde: der Kriegsver- hinderung entsprechen? Hohn und „Heiterkeit“, verbissene Wut über diese Ent- larvung der „Friedensliebe“ im Völkerbund — das war die Antworf. Und ausgerechnet der „Sozialist“ Boncour hat sich zum Sprecher dieser Ablehnung gemacht! Daß die englische Dresse, so zut wie die französische, keine Lust hatte, diesen Vorschlägen zu folgen, sie ernst zu 53 nehmen, wird niemand wundernehmen, dem das Wesen der Dresse im Gegenwarfsstaate aufgegangen ist. Es wird nun an der Energie und dem Willen aller ernsfen Friedenskämpfer liegen, ob auch dieser Mahnruf zur Ab⸗ rüistung wirkungslos verhallt, oder ob die Menschheit wieder in das Grauen neuer, noch vernichtenderer Kriege gestürzt wird. Es isf jedenfalls unsere Dflicht, diesen Ruf aufzu⸗ sreifen und nicht zu ruhen, bis der Widerstand gegen den Krieg, die Selbstabrüstung der Völker so stark ge- worden ist, daß er auch die kapifalistischen Negierungen zwingt, sich diesem elementaren Willen zum Leben — Zepen⸗ über dem Willen zur Vernichtung, der jetzt noch überall herrscht — zu unterwerfen. II. Aber wenn wohl die meisten internationalen Friedens- freunde der verschiedensten Richtungen — übrigens auch das „Deutsche Friedenskartell“ — die russische Kritik am Völkerbund und den Abrüstungsvorschlag warm begrült haben, so gibt es eine Pichtuns innerhalb des Dazifismus, die hier eine bedauerlich paradoxe Stellung einnimmt. Was Friedrich Wilhelm Foerster in der „Denschheit“ vom 9. De⸗ zember 1927 zum Abrüstungsvorschlag der Russen, oder zur Erklärung des Deutschen Friedenskarfells (23. Dezember) sagt, ist in sich unbegreiflich widerspruchsvoll. Selbst einer der Fröüten Verehrer Foersters, der Führer des schweizeri- schen religiös-radikalen Dazifismus, Drof. I. Ragaz, Heraus⸗ geber der „Neuen Wege“, bekennt in der Dezember-Nummer S. 605, dal ihm die Art, wie Drof. Foersfer im Zusammenhang mit der Aktion der Russen in Genf von der Abrüstuns über⸗ haupf spreche, „sehr leid tue“: „Wie will Foerster die moralische Abrüstung, von der er spricht, mit der maferiellen Aufrüstuns verbinden? Und wie will er den Deufschen wesen ihrer Aufrüstuns Vorwürfe machen, wenn er eine völlige Abrüstuns für unmös- lich hält?“ Es ist sehr schade, schließt Ragaz, daß Foerster durch solche falsche Stellungnahme seine sonst 8o zute Sache verdirbt. Foerster erklärt u. a.: solange noch der Densch von Hlal crfüllt sei, könne auch die äußere Abrüsfung uns nicht völlig vor den zerstörenden Wirkungen des Hlasses schützen. Aber spielt darum wirklich nun der, der „in dieser wilden Maturwelt“ die Abrüstung vorschlägt, „nur eine Komödie?? Foerster sieht in der allgemeinen Abrüstuns das letzte Er- gebnis religiöser Vertiefung, sittlicher Erziehung, schieds- serichtlicher Entwicklung, weltorganisatorischen Ausbaus von vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten. Solange aber die Be- 54 dingungen nicht erfüllt seien, daßs die Mehrheit eines Volkes aus christlichen Motiven sich selbst entwaffne, werde sich „jede Nation, die wirklich barbarisch überfallen oder bedroht wird, von dem Wunsch nach Selbsterhalfung und nach Gegenwehr gegen das Unrecht in der Welt unwiderstehlich zu dem alten, elementaren Mittel der Kraftmessung gedrängt fühlen und lieber sterben, als nur einfach weich und charakterlos den Dlatz räumen.“ — Wenn dem so ist, wie kann Foerster dann, wic auch Ragaz mit Recht fragt, den Deutschen noch einen Augenblick wegen ihrer Aufrüstung Vorwürte machen, solange die ganze Welt um sie her eben- falls gerüstet ist? Diese doppelte Moral in Foersters Arsu⸗ mentation, die nur für bestimmte Völker oder Resierunsen die realpolitischen militaristischen Tendenzen gelten läßt — die sie anderen streng-idealistisch verweigert —, sie ist es, die einen großen Teil der Verbitteruns und Empörung gegen diese Auffassung schafft und so das Verständnis für radi- kalen Dazifismus erschwert. Und wenn Foerster ferner den Russen „die moralische Berechtigung“ abspricht, einen Ab- rüstungsvorschlag zu machen — welcher Staat, welche Regie- rung der Gegenwart haf dann, nach seiner Auffassung, das moralische Rechf dazu?? Efwa die Regierungen, die in den Weltkrieg „hineinschlidderten“, der doch eine unsas- bar viel größere Vernichtung an Menschenleben und Menschenglück defordert hat als die Revolution? Die den Krieg führfen, unfer der verbrecherisch-heuchlerischen Losung, den Krieg abschaffen zu wollen, und die, nachdem sie den Krieg gewonnen haben mit dieser unehrlichen Losung, mit dieser Spekulation auf die edelsten Instinkte der Menschen, sich schamlos weisern, auch nur einen ernst- lichen Schritt zur Abrüstung, zur wirklichen Ausroftung des Krieses zu fun? Drof. Foerster scheint panz vervessen 2u haben, daß es die Führer der russischen Revolution waren, die dem elemenfaren Friedensinstinkt des russischen Volkes im klerbst 1917 Genüige faten, daß sie als ersfe im Weltkrieg aus dem Kriege ausschieden, an dessen Entfesselung sie nicht beteiligt warcn, und einen Frieden der Freundschaft, ohne Eroberungen, anboten. Diesem Vorschlag hat ver- hängnisvollerweise der damals herrschende deutsche Mili- tarismus in Brest-Litowsk so wenig entsprochen, wie der Entente-Militarismus 1919 seine während des Krieges ge- heuchelte Friedensliebe im Vertras von Versailles betätist hat. An diesen unwiderleglichen hisforischen Tatsachen, die entscheidend für die weitere Entwicklung Europas nach dem Kriege gewesen sind, darf nicht vorüberblicken, wer über das Friedens- und Abrüstungsproblem moralische 55 Werturteile fällen will. Gewiß, zugegeben: die Russen sind in ihrer Mehrheit keine „Christen“. Aber da bis jetzf auch keine andere Regierung, kein anderes Volk in seiner großen Mehrheit aus „wahren Chrisfen“ besteht, sollen wir demnach bis auf den ſüngsten Tag warfen, um auch nur die Forderung nach der äußeren Abrüstung erheben zu dürfen? Mag ein vollkommener Friede auf der Welt erst mit der vollkommenen psychologischen Harmonisierung der menschlichen Natur möslich sein, auch die Erfüllung der von allen heute schon Friedenswilligen unter- stützten Forderung nach äußerer Abrüstuns kann ohne Zweifel von großer Wirkung auch für die seelische Befrie- duns der Welt werden. Sicherlich: dem letzten Ziel eines Daradieses, einer vollkommen idealen Menschheit nähern wir uns — wenn überhaupt — crst in ſahrhunderten, in ſahrfausenden, in ſahrmillionen. Wohl aber ist es doch denkbar und erstrebbar, zunächst einmal die ganz brutale physische Vernichtung, die organisierte Menschentötung aufzuheben. Um den Blick nicht ganz ins Uferlose, Nebel- hafte zu verlieren, wollen wir ihn jedenfalls zunächst cinmal mit aller Klarheit auf das Ziel richten, die physische Vernichfung der Menschen untereinander abzuschaffen und alle unsere Willenskräfte darauf konzentrieren. Es wird wohl niemand bestreiten, daß die Erreichung dieses Zieles: die Abschaffung des moralisch gestatteten Mordens auch ihre psvchische Einwirkung auf die menschliche Natur nichf verfehlen würde —, 8o daß wir damif dem Endzie! einer auch cthisch vollkommeneren Menschheit schon ein Zut Teil näher kämen. III. Immerhin, wie weit wir auch noch vom Ziel entfernt sein mögen: der Gedanke des „Widerstandes gegen den Krieg“ marschiert. War er erst nur — seit dem Ende des Krieges — die Angelegenheit, die Erkenntnis, der Wille Kleiner radikaler Gruppen unter den Friedenskämpfern der verschiedenen Länder, so ist er heufe genügend erstarkt, um schon in den Mittelpunkf auch parlamentarischer Dis- kussionen zu treten. So meldet eben die Dresse, daß der englische Dremierminister auf den Friedensbrief, den ihm am 8. Dezember 1927 Donsonby, der Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes im Kabinett Macdonald, im Namen von 128770 Unterzeichnunsen überreicht hatte, geantwortet hat. Die Unterzeichner des Briefes verpflichten sich bekanntlich. cine Regierung, die zur Gewaltanwendung durch Waffen 56 greift, nicht zu unferstützen und den Kriegsdienst zu ver- weisern. Mach dem bisherisen Verhalfen der kapitalistischen Negierungen ist es kein Wunder, daß Baldwin der Mei⸗ nung Ausdruck gibt, England leiste der Aufrechterhaltung des Eriedens den besfen Diensf dadurch, daß es stark, das heißt gerüstet bleibe. Bliebe diese Anschauung ferner in Geltung, die auf das alte: „Willst du den Frieden, so bereite den Krieg“ zurückkommt, so bestände keine Mög- lichkeit, die Menschheif jemals von der Dlase der Düstungen und Kriegsdrohungen zu befreien. Gerade diese Antworf einer der mächtigsten Resierungen zeist, ebenso wie die ver⸗ stärkten Flottenbaufen der Vereinisten Staaten, dan wir un⸗ erbittlich in neue Massengemetzel hineingleiten, wenn wir nicht dieser fatalistischen Rüstungsvermehrung unsere ent- schlossene Verneinung der Kriegsunterstützung entgegen- stellen. Auch im holländischen Darlament hat jetzt eine Debatte über das Droblem der Kriegsdienstverweigerung statt- gefunden. In der Zweifen holländischen Kammer kam es bei der Besprechung des Hiaushalts des Kriessministeriums zu einer Erkläruns des sozialdemokratischen Abscordneten Zadelhoff: „Für den Fall, daß Hiolland einen Krieg erkläre, würden die Sozialdemokraten nicht mitmachen.“ Der hollän⸗ dische Kriessminister Lambooy fraste, ob die Sozialdemo⸗ krafen diese Hlaltuns auch einnehmen würden, wenn die Regierung Maßnahmen ersreife, um den Krieg außerhalb der Grenzen Fiollands zu halten. Diese Frase bezos sich wohl auf die holländischen Kolonien, in denen noch heute, wie zu Mulfafulis Zeiten, die holländische Degierung denau so unbarmherzig vorgeht, wie dies kapitalistische Ausbeuter- staaten den Kolonien vesenüber zu tun pflesen. Nach dem Bericht des „Berliner Taseblattes“ vom 18.Dezember 1927 Jab der Abseordnete hierauf eine ausweichende Antwort, indem er erklärte, daß sich die Sache nicht mit ein paar Worten abtun lasse. Der Dest seiner Antwort ging in dem groBen Iumult, den sie hervorrief, verloren. Interessant ist übrisens, dad in Deutschland nicht nur der Reichstagspräsidenf Löbe, sondern auch die Abseordnete der Wirtschaftspartei, Katharina von Kardorff-Oheimb, in einer Versammlung über Dan-Europa, in der Coudenhove- Kalergi sprach, erklärf hat: einem neuen Kries müsse man mit Kriegsdienstverweiserung — insbesondere von seiten der Fraucn und Mütter — begegnen. Wenn dieser Cedanke schon so weit bis nach rechts vor- gedrungen ist, und auch in Deutschland, wie die stetig wachsende Zahl von Unterschriften beweist, vor allen Dingen 57 in den großen Massen starken Widerhall findef, dann kann man darin nur die Bestätigung sehen, daß in der Tat diese neue Methode der Kriegsbekämpfung, wie Donsonby in seinem Brief an den englischen Ministerpräsidenten desagt hat, das Signal eines neuen und mehr aufgeklärten Datriotismus ist. Eines Datriotismus, der sein Ziel darin sieht, Leben zu erhalten — anstatt zu zerstören —, cines Datriotismus, dessen Befriedigung nicht darin besteht, die eigene Nation über alle anderen zu stellen, sondern sie zu der tapfersten und vornehmsten im opfervollen Kampf für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu machen. ANTIKRIEGSPAKT UND GIFTGAS. Was vor kurzem noch Geheimwissenschaft pazifistischer Fachleute war — als ich August 1925 auf der Deutschen Frie- denstagung in einem Referat für die Idee der „Kriess- ächtung“ eintrat, wurde sie selbst von organisierten Dazi⸗ fisten kaum beachfet —, ist nun durch die Tatsache, daf führende Staatsmänner diese Idee aufgegriffen haben, Gegenstand der Weltpolitik geworden. Aber gerade wir, die wir dem Gedanken Freunde zu werben suchfen, als er „noch verkannt und sehr pering“ nur innerhalb der kriesbekämp⸗ fenden Konventikel umging, haben mit besonderer Sors⸗ falt darüber zu wachen, daßs hier nicht wieder eine an sich fruchtbare Idee zu einem Mittel der Einschläferung, des Volksbefruses wird. Denken wir an den während des Krieges ersehnten Bund der Völker und den heutigen „Völkerbund“: äußerste Vorsicht, fatbereiteste Wachsamkeit ist am Dlatze! Von welcher Regierung, die dem Kellosg-Vorschlag zuge- stimmt hat, dürfen wir erwarfen, dal sie wirklich halten wird, was Vertrauensselige in allen Ländern von der „Ach- fung des Krieges“ erhoffen? Sicher ist gegenüber den hier im Mittelpunkt stehenden Mächten, den II.S.A. selbst, Frankreich, England, ſapan und Deufschland, der ernsteste Zweifel einfach Gewissenspflicht. Die diplomatische Formel, daß man den Krieg als Mittel der nationalen Dolitik ausschalten will, läßt den harmlosen Bürger — der sich nach offiziellem Abschluf dieser Vereinbarung beruhigt auf sein Darteibett legt — nicht ahnen, daß damit ganz und gar nichf der Kries über- haupt, sondern nur eben eine bestimmte Sorte von Krieg zurückgedrängt werden soll. Nach dem französischen Gegen- vorschlag aber kann man mindestens zwischen vier Arten von Krieg unferscheiden. Einmal zwischen dem Krieg als Werkzeug der „nationalen Politik“, zweitens dem Krieg als 58 Folse von Biindnisverpflichtungen, die Frankreich bzw. ein anderer Staat in Europa oder der Welt eingegangen ist, drittens dem Krieg als Sanktionsmaßnahme des Völker- bundes gegen einen aufsässigen Staat und vierfens dem Krieg als „rechtmälige Verteidigung“. Frankreich will die lefzfen drei Fälle des Krieges nichf zum „Verbrechen“ er- Klären, Deutschland will auch den Krieg als Mittel der Selbst- verteidiguns und als Völkerbundmaßnahme nicht ausge⸗ schalfet wissen (Note vom 27. April 1928), und Amerika glaubt seinerseits nicht auf „Dolizeiaktionen“, die etwa den kriegerischen Völkerbundmafnahmen entsprechen, verzich- fen zu können. Die englische Regierung hat in ihrer Antwort- note vom 19. Mai ebenfalls erklärt: dieser Antikriegspakt schlicße einen Krieg nicht aus, der zur Selbstverteidisung diene, und die britische Regierung behalte sich den „Schutz sewisser Gebiete gegen jeden Angriff als Selbstverfeidigung vor“. ſa, die englische Regierung geht sogar in dieser Ein- schränkung noch einen sehr bedeufsamen Schritt weiter. Während Amerika zunächst bestimmte Regierungen aufge- fordert hat und anderen Regierunsen den Zufritt zu diesem Abkommen freistellte, erklärt England ausdrücklich, die Universalifäf des Verfrages dürfte auch gar nicht er- wünscht (!) sein, da es einige Staaten gäbe, „deren Regie- rungen noch nicht offiziell anerkannt seien“. Womit in erster Linie also die Regicrungen von China und Rußland gemeint sind, denen gegenüber der Krieg demnach ausdrücklich nicht nur nichf zum Verbrechen gemacht wird; es soll sogar die Möglichkeit einer Vereinbarung mit ihnen, den Kricg auszuschlielen, ausdrüicklich vermieden werden!! Wie die „Dolizeiaktion“ des Staates aussiehf, der in der Forderung der Kriegsächtuns vorangeht, darüber berichtet soeben das Orpan der englischen Arbeiterparfei. Es stellt fest, daß die Soldaten der Vereinisten Staaten bei der „Do⸗ lizeimaßnahme“ in Nikaragua „zwar wenige Soldaten, aber viele Zivilisten“ fötefen, Farmer auf ihren einsamen Be- sitzungen erschossen und ihre Hläuser niederbrannfen, — darunfer cinen, weil er sich weiserte zu sprechen. Nach seinem Tode stellfe sich heraus, daß er taub war. Die ameri- kanischen Marinesoldaten stellten die „Ordnung“, die durch einige angefrunkene Eingeborene anläßlich eines religiösen Pestes verletzt worden war, dadurch wieder her, daf sie Maschinengewehre auf die Menge richteten, vier töteten, fünf verwundefen. Zumindest England und Amerika wollen sich auch gewisse „Einflußsphären“ sichern, in denen der Krieg nicht verboten sein soll, in denen Krieg eben nicht Krics se- nannt wird. Wo die Truppen natürlich dann immer nur unter 59 dem Vorwand Krieg führen, dan ledislich der Schutz „berech⸗ tigter“ Interessen oder des Lebens und Eigentums gewisser Bürger des betreffenden Staates sie zu dieser Maönahme zwinsc. apan handelf gleichermaßen; es hat seine thcoretische Zustimmung zur Achtung des Krieges im sleichen Moment Seseben, wo es ohne Scham und Scheu Iruppen in die Man⸗ dschurei entsandte. Ind die englische Regieruns isf bekannt- lich von so cmpfindlicher demokratischer Moral, daß sie auf den UImgang mit Negierungen zu verzichten gezwungen ist, die das Wort „Demokratie“ nicht stets im Munde führen. Wenn es sich um eine — antikapitalistische Resierung han⸗ delt natürlich nur; denn bei Mussolini ist es natürlich etwas ganz anderes. Was diese fromme konservative Regierung im Grunde von „Demokratie“ hälf, das haf sie ja am schlagend- sten offenbart, als sie vor kurzem Kriegsschiffe nach Asypten entsandte, um durch diese „demokratische“ Methode die Annahme eines ihr nicht genehmen Gesetzes im ägyptischen Darlament zu verhindern. Hier hat in der Tat der Imperia⸗ lismus seine demokratische Maske abseworfen; hier sehen wir, dals, solange nicht die Völker ihre Regierungen zwingen, wahrhaft auf den Krieg zu verzichfen, auch die Annahme eines angeblichen Antikriegspaktes uns dem Prieden nicht näherbrinsf. Im Gegenteil, die Gefahr der Einschläferung der Massen wird dadurch nur gesteigert. Voran man die wirk- liche Gesinnung der Regierungen erkennen kann, das sind nicht Reden und Verträge, die sie in der Öffentlichkeit halten oder abschließen — ginge es danach, so befänden wir uns bereits im Daradiese des allgemeinen Friedens —, son- dern das sind ihre Hlandlungen, ihre geheimen Vorberei- fungen. Vorläufig bauen alle Reoierunsen neue Danzer⸗ kreuzer, neuc Luftschiffe; alle bereiten sich auf den Krieg der Zukunft, den Giftgaskrieg vor. So war im Flinblick auf eine rechtzeitige Warnung der Völker das UInglück des geplatzten Giftgastanks in Hamburg eine weitaus wirksamere Aufrüttelung, als ein Dutzend Friedenskonsresse sie ver- mitteln können. Denn leider fehlf den meisten Menschen Interesse und Dhantasie, sich die Resultate der politischen Entwicklung nüichtern, unerbittlich vorzustellen. Daher fehlt auch der Gegenbewegung gegen den Krieg die Wucht, die Energie, die allein die herrschenden Mächte: Militarismus, Kapitalismus, Imperialismus, aus ihren Machtpositionen zu verdrängen und eine neue, bessere, nationale und internatio⸗ nale gesellschaftliche Ordnuns aufzubauen vermöchte. Es ist bezeichnend, daß in Genf die Delegation der II. S.A., von denen der Kriegsächtungsplan ausgeht, sich am schärfsten sesen den russischen Abrüstungsvorschlag ausgesprochen 60 hat! Wenn Rußland, wie seine Gegner sagen, mit diesem Vorschlag nur habe bluffen wollen, warum haben dann nicht die anderen „ehrlich pazifistischen“ Staaten das heuchle- rische Rußland beim Wort genommen? Eine bessere Ge- legenheit, das „kriegerische“ Rußland zu entwaffnen, wird sich doch sobald nicht wiederfinden. Ist es nicht charakteri- stisch, daß weder die II.S.A. noch die im Völkerbund ver- einigten Staaten bisher jemals dem Gedanken einer wirk- lichen Abrüstung näherzutreten versuchfen, obwohl mit der Ablehnung der Abrüstung nun nachgerade der Versailler Vertrag aufs schwerste verletzt wird, der die Abrüstung der anderen Staaten vorsieht, sowie Deutschland abserüstef hat? Mit Recht hat auch ein so besonnener, allem Padikalismus ferner Völkerrechtsgelehrter wie Drof. Hans Wehberg, der soeben einen Lehrstuhl für Völkerrecht in Genf — leider immer noch nicht in Deufschland — erhalten hat, gesagt: „Welche Bedeutung soll die Achtuns des Krieges haben, wenn Bombardements und Beschießungen von Städten unter- worfener Völker in dem Kriegsverbof nichf einbegriffen sind? Das ägyptische Beispiel ist eine Warnung, sich mit einer allgemeinen Achtuns des Kriepes zu besnüsen, ohne im Ver⸗ frage klar zu sagen, was denn nun eigentlich verboten ist oder nicht. Heißt Kriegsächtung Verzicht auf Krieg und kriegsähn⸗ liche Handlungen, dann soll man mit Freuden darauf ein⸗ gehen. Will aber ein solcher Verfrag, wenn auch nur indirekt, militärische Maßnahmen weiter zulässig erklären, die sich nicht der rechtlichen Form des Krieges bedienen, dann sollfe man einem solchen Vertrase mit Vorsicht besesnen, weil er die Völker zur Heuchelei anstatt zur Wahrhaftigkeit erzieht. Noch schärfer drücken es die demokratischen „Dresdner Neuesfen Nachrichten“ vom I. ſuni aus, indem sie sagen: „Kommt der Dakt mit diesen Vorbehalten wirklich zustande, dann stellt er eines der verlosensten Drodukte moderner Weltdiplomatie dar.“ Wenn kleinrich Ströbel im „Andern Deutschland“ das obligatorische Schiedsgericht fordert, so steht das im Einklang mit Forderunsen, die auch im Deut⸗ schen Friedenskartell erhoben worden sind. Wenn er aber es weiter so hinstellf, als liege in Frankreichs Dolitik, das für den Verteidigungskrieg und für die Völkerbundsaktion gegen den Friedensbrecher Naum lassen will, eine „Sicherung des Friedens, so kann man dazu doch nur bedauernd den Kopf schütteln. Denn gesetzf selbst, die kriegerische Aktion Segen „den“ Friedensbrecher sei eine Friedenstat, so isf doch nun endlich wohl die Frage am Dlatze, wie man „den“ ima- ginären „Friedensbrecher“ denn ausfindig machen will? Unter „Friedensbrecher“ wird nämlich nicht etwa der leitende 61 Staatsmann, der den Krieg erklärt, oder der Püstunssinter- essent, der zum Kriege freibt, versfanden. Ihn ausfindig, un⸗ schädlich zu machen — damit könnte man sich schon ein⸗ verstanden erklären. Sondern man freibt, in unbegreiflicher Gedankenlosigkeit, ein barbarisches, sonst überall mit Dccht verpöntes Geiselsystem. Man hälf sich in unfaßlicher Grau⸗ samkeif für berechtigt, fünfzis Millionen Menschen, die das UInglüick haben, demselben Lande wie der „Friedensbrecher“ anzugchören, die am Ausbruch des Krieges so wenig mit- gewirkt haben, wic etwa die Marsbewohner oder die des gegnerischen Landes, das zur „Verteidigung“ schreitet — man hält sich für befugt, im Namen der Gerechtiskeit und des Friedens diese Unglücklichen als angebliche „Friedens- brecher“ zu vergasen oder auf irgendeine verwandte anse- nehme Drozedur vom Leben zum Tode zu befördern. Wenn die katastrophal-gedankenlose Auffassung, daßs die Bestra- fung des „Friedensbrechers“ durch kriegerische Maßinahmen segen Millionen Unbeteilisfer eine moralische Notwendig- keit und eine „Sicheruns des Friedens“ sei, den Mationalisten und Milifarisfen aller Länder noch geläufig sein mag, so wird sie zu einer fragischen Groteske, wenn Organe des Dazifis- mus in den verschiedenen Ländern diese Auffassung noch unbestritten vertrefen. Die Frage nach der Kriegsschuld, „nach Angriff“ oder „Verteidisung“, nach den für eine Entfesselung des Krieges verantwortlichen Dersönlichkeiten, die muß doch nachgerade — die Zeit dafür scheint in der Epoche des Giftgaskrieges wirklich gekommen zu sein — ctwas differenzierter behandelt werden, als mit so haarsfräubenden, geradezu mittelalter- lichen Verallgemeinerungen. Oder vielmehr: nein — man fut dem Mittelalter mit seinen — von heutigen Methoden aus geschen — wahrhaft „ritter- lichen“ Kämpfen schweres UInrecht: dort fochten noch die, die Ulrsache zu Fehden miteinander zu haben glaubten, mit eigener Derson ihre Sache aus. Aber heute? Wer freibt zum Kriege? Wie Arnold Rechberg in der demokratisch-friedlieben⸗ den „Vossischen Zeitung“ vom 7. ſuni 28 auseinander⸗ setzen darf — soll es zum Besten des „Dazifismus“ ein deutsch-französisches Militärbündnis geben. Und zwar wird ganz klar ausgesprochen — was wir lange wissen, was aber in dieser Offenheit doch selten zusestanden wurde —: die französische Schwerindustrie finanziert die französische Rechte, so wie die deutsche Schwerindusfrie die deutsche Rechte finanziert. Die französische Schwerindustrie ist vor⸗ läufis zesen dies Bündnis, da dann der Ausbau der Ost- 62 festungen in den nächsten zehn ſahren hinfällig würde, an dem sie schwer verdienf. Dafür soll eher eine Aufrüstung Deutschlands gestattet sein, wenn die französische Düstungs- industrie bei deutschen Heereslieferungen mit 250 beteiligt würde. Die deutsche Schwerindustrie soll sich hiermit ein- verstanden erklärt haben, da sie auf diesem Wege noch immer bessere Geschäfte zu machen glaubt, als bei dem 100 000-Mann-Ileer. Wir leben oder sterben also — müssen aufrüsten oder Krieg führen — durchaus nur nach den Geldbedürfnissen der EroBindustrie. Wahrhaftis, es ist eine Lusf zu lebenl Daß von solchen Bedürfnissen Wohl und Wehe der Völ- ker, Kries oder Frieden heute noch bestimmf werden, ist das nicht eine Schande für die Menschheif? Die Rüstunss- indusfrie — infernational verbunden seit je — will eines Tages zum ganz großen Geschäft kommen und wird uns wie- der in Kriese verwickeln. Selbstverständlich werden sich die Negierungen der aufeinanderplatzenden Länder nicht über die Definition von Anoriff und Verteidisuns, über den „Friedens- brecher“ einisen. Sollte nicht unser Sinn für Gerechtigkeit und Menschlichkeit heufe ein wenis weiter enfwickelf sein? Schon vor einigen fausend ſahren erklärte sich Gott auf Abrahams Bitte bekanntlich bereit, den sündhaften Städten Sodom und Ciomorra den UIntergans in euer und Schwefe! zu ersparen, wenn er auch nur zehn Gerechfe in ihnen fände! IInd im ſahre 1928 christlicher Zeitrechnuns brinsen es aller- orten „Sozialisfen“ und „Dazifisten“ in aller Unschuld auf Sozialisten- oder Friedens-Kongressen fertig, mit gutem Ge- wissen Feuer und Schwefe! vom klimmel reonen zu lassen über Millionen UInschuldige, wenn zehn oder hundert oder dreihundert UIngerechte, an Waffenfabrikation Interessierte in einem Lande zum Kries getrieben und die Massen mit allen Künsten der Verwirrung zur „Verteidigung“ sezwungen haben?! Wie starke wirfschaftliche Interessen allein die Droduktion von Giftgasen fördern, zeigt in grausamer Klarheit cine vor kurzem erschienene Schrift „Giftsas in Deutschland. Die Machfstellung der I.-G.-Farbenindustrie A.-G.“. (Vereinigung Internationaler Verlagsanstalfen, Berlin C 25). Aus dieser nüichfernen Zusammenstellung erfahren wir, daß die wirtschaftlich am meisten florierenden Kunst- seidenindustrien sozusasen über Macht in Sprensstfoffwerke umsestellf werden können. Der internationalen Verbindung der Sprengstoff- und Rüstungsindustrien aller Art war es sosar möglich, während des Krieges ihre Verbindung auf- recht- und Zusammenkünfte in der Schweiz abzuhalten. Wie 63 sie den Krieg im Interesse des Geschäfts zu entfesseln suchen, hat u. a. der Drozen zwischen Liebknecht und Krupp 1913 sezeigt. Auch jetzt hat die Firma Krupp nach dem Kriege einen Drozeß mit der englischen Kriegsfirma Vickers geführt, um ihren Anteil an dem Erlös für jeden Granatzünder, der auf deutsche Soldaten während des Krieges abgeschossen worden ist, einzuheimsen. Erkennen wir klar: wir alle sind sozusagen, wie Kurt Eisner es einmal ausgedrückt hat, Tote auf Urlaub. Wir haben unser Leben nur von Gnaden der Rüstungs- oder Olindustrie. Solange es ihr aus irgendeinem Grunde gefällt, den künftigen Krieg noch hinauszuschieben. In dem Ausenblick aber, wo es diesen Mächten wünschenswert er⸗ scheint, um „berechtigter Interessen willen“, wie die englische Regicrung in ihrer Antworfnote an Kellogg so schön sagt, einen Krieg zu beginnen — möge es sich um die ErschlieBung neuer Märkte oder die Wiederherstelluns einer „demokrati- schen“ Degierung in Pußland oder die „Selbstverteidigung handeln —, dann sind Millionen Menschen den scheußlichsten Vernichtungsmethoden überliefert. Wollen wir dieses unwürdige Schicksal, aus „Drestige- oder Finanz-Gründen“ wie ekelhaftes Ungeziefer versast zu werden, mit gefalteten Hländen über uns ergehen lassen? Ist es nicht Zeit, sich dieser Entwicklung mit allen Kräften ent⸗ Segenzusfemmen? Freilich: solange noch führende Dazifisten und Sozialisten sich dem Irrwahn ergeben, man dürfe, um der Erbarmungslosigkeit und Geldgier Weniger willen, vanze Völker mit dem „Friedensbrecher“ identifi⸗ zieren und daher ausroften helfen — im Namen des „Genfer Drotokolls“, oder der Völkerbundsanktionen, oder des „Schutzes. berechtigter Interessen“, oder der „nationalen Selbstverfeidigung“, oder wie sonst die verwirrenden Schlas⸗ worfe heißen mösen —, solanse müssen wir wohl jede Tloff⸗ nung aufgeben. Der einzige Weg wirklicher Kriegsabschaffuns ist die radikale Abrüstung, wie die russische Regierung sie in Genf vorseschlagen hat, die entschiedene Ablehnung jeder menschenvernichtenden Maßnahme, der Zusammenschluf aller derer, die Opfer sein würden, zum enfschlossenen Widerstand, zur Umgestaltung eines fluchwürdigen Systems, dem zwar das Eigentum, die „Ordnung“, ganz und gar nicht aber das menschliche Leben heilis isf. Erst die Aner- kennung der Heiligskeit des Lebens wird ein menschen- würdiges Dasein auf dieser Erde ermöglichen. 64 IST DER KRIEGSTRIEB AUSROTTBAR? Man sollte besser fragen, klarer, unmißverständlicher: Ist der Mordtrieb ausroftbar — ausroftbar aus dem Instinkt- leben des Menschen — wenn man ausdrücken will, ob man an das Verschwinden der Kriese glaubt, ob man das Ziel des Dazifismus „Nie wieder Kries!“ im Ernsf für realisierbar hält. Den offiziellen organisierten Dazifisfen, noch den Besten und Tapfersten, scheint sehr häufig die strenge Drüfuns zu fehlen, die Klarheit darüber, ob mit den bisher angewandten primitiven Mitteln einer Massenpropaganda, durch Beein- fussung der öffentlichen Meinung, in der Dresse, durch Kon- Fresse und Versammlungen das Ziel wirklich erreicht werden kann. Ob das überhaupf faugliche Mittel am fauglichen Ob- jekt sind? Handelt es sich hier vielleichf nur um eine edlere Art von Beschäftigungstherapie, um fromme Selbst- täuschung?? Nehmen wir z. B. die Völkerbundparteien, die „auf dem Boden von Thoiry und Locarno stehen“! Nur ein Narr kann noch frasen, ob sie ernsthaft dem Krieg widerstreben werden, wenn in einem zukünftigen Augusf 1914 wieder eine allgemeine Völkervergiftung und Völkervernichtung insze- niert wird. Zur „Verteidigung des geliebten Vaferlandes oder gegen den „Rechtsbrecher“ im Völkerbund-Sanktions- kries werden die Völker mit derselben relisiösen Inbrunst getrieben werden, wie es im letzten Weltkrieg geschehen ist. (Siehe Marokko, Syrien, China, Nikaragua — d. h. siehe die Welt.) Wer von den Locarnosläubisen hat jemals nicht nur durch Worte, sondern durch Handlungen bekundet, daß er zur Abwehr aller künftigen Kriege unerbittlich entschlossen sei? Wir sehen im Gesenteil auch bei ihnen letzten Endes dieselbe uralfe militaristische Überzeusung, dan eine „aus⸗ reichende Vorbereitung der Verteidigung“ die „beste Bürg- schaft des Friedens“ ist. Das ewige „Si vis pacem, para bellum“ ist auch heute noch überall die letzte Weisheit. Daß die während des Weltkrieges so freu ihre „vaterländische Dflicht“ erfüllende Sozialdemokratie fast aller Länder auch heute und auch morgen wieder ihren Mann sfehen würde, wenn es gälte, „das Vaterland zu verteidigen“, das kann nur von politischen Kindern in Zweifel sezosen werden. Ist die Maivität des Glaubens an die Vaterlandsverteidigung so be- zeichnend für die „ernst zu nehmenden“ Darteien (wie einer unserer „realpolitischen“ konservativen Dazifisfen sagen würde) wie für die internationale Weltfriedensorsanisation die — nicht von ihr verschuldete — bisherige Unzulänglich- 65 keit ihrer Kampfmittel, so bleiben nur die äubersten Radikalcn der Linken, die Kommunisten und die An- archisten übrig. (Von den Rechtsradikalen kann mit Eug nicht verlangt werden, daß ausgerechnet sie den Willen zur Befriedung der Welt beweisen sollen.) Die Kommunisten sind wenigstens im Gegensatz zu den Locarnoparfeien offene und ehrliche Nicht-Dazifisten. Sie erkennen die Macht- verhältnisse zwischen Kapital und Arbeit; sie machen sich keine Illusionen über den Gewaltcharakter der heutisen Ge⸗ sellschaft. Ihre Fioffnung angesichts dieser trostlosen Der⸗ spektive ist, einmal die arbeitenden Schichten zum unaus⸗ bleiblichen „letzten Gefecht“ ums Menschenrecht sammeln zu können, wobei es dann freilich, wie sie voraussetzen, hart auf hart, gewinlich nicht ohne Gewalf absehen wird. 8o bleiben nur noch die nichtparlamentarischen Darteien und Gruppen: die Syndikalisten und die Anarchisten, die heute in ihrer großen Mehrzahl die Gewalf ablehnen, aber die nun wieder rein zahlenmälig zu schwach sind, als dafs Aussicht bestände. ihre Ideale in absehbarer Zeif gewaltlos ver⸗ wirklichen zu können. Es bleiben die Radikalpazifisten, die Kriegsdienstgegner. Im britischen Reich, das nie eine Wehr⸗ pflicht gekannt hat, wohlgemerkt, waren es während des letzten Weltkrieges etwa sechstausend, die es ablehnfen, sich am Kriege zu beteiligen. Eine staunenswerte Zahl — wenn man an den Massenwahnsinn jener Zeit denkt. Aber man kann gerechterweise nicht erwarten, daßs in den Ländern einer hundertjährigen Wehrpflichttraditon, wie Deutschland oder Frankreich zum Beispiel, in einem künftigen Kriege auch nur dieselben, Feschweige denn erheblich höhere Zahlen von Gc- wissenshelden sich fänden. Ganz abgesehen davon, daß die brutalsten Mittel zur Einschüichterung solchen Widerstandes ohne Zweifel angewendet würden, denen gegenüber die Härte der englischen Ciegenmaßnahmen während des Krieses vor⸗ aussichtlich unglaubhaft milde erscheinen würden. Wie hoch man also auch moralisch den cdlen Widerstand dieser Nichf Töten- und nicht Getötetwerden-Wollenden anschlagen mag — und man kann ihn moralisch nicht hoch senug an- schlasen —, nur ein Dhantast könnte glauben, daß bei dem heutigen Stand der äußeren Machtverhältnisse wie bei der jetzigen Beschaffenheit der menschlichen Dsyche die Welt schon in nächster Zeit durch diese vornehme Minorität allein aus den Angeln gehoben und dem furchtbaren Kriegsspiel ein Ende bereitet werden könnte — so unumgänglich not- wendig die Erweckuns dieses „Widerstandes gegen den Krieg“ auch ist —, dessen Stärkung alle verfügbaren Kräfte inzwischen gewidmet werden sollen. 66 Aber unser Wunsch, unser Wille darf uns nicht blind für die Tatsachen machen. Erkennen, was isf: die Machtverhälfnisse bei sich und dem Gegner richtig einschätzen, ist eine der ersten unum- gänglichsten Voraussetzungen für jeden Erfolg, für jeden Fortschritt. Mag diese Erkennfnis zunächst noch so hart, noch so niederschmetternd, noch so bitter sein. Ehe wir sie nichf ganz in uns aufsenommen haben, besteht keine Mög- lichkeit, Miftel zu dewinnen, die uns dennoch vielleicht zum Siege führen. Nach dem Resultat dieser Drüfung gehen wir also zunächst mit sehenden Augen unaufhaltsam nahenden, neuen, noch Frauenvolleren Gemetzeln der Zukunft ent- gegen? Wer es mit Drüfung und Wahrheitspflicht — allen Wünschen und Hioffnungen zum Trotz — ernst nimmt, kann nur mit einem „ſa! Ganz ohne Zweifel!“ antworten. Eine vollkommene Unterbrechung des gegenscitigen Tot- schlagens ist ja übrigens auch seit dem Ende des letzten Krieges nicht eingetreten. Seit jenem wenig zutreffend als „Frieden“ von Versailles bezeichneten Dokument von 1910 haben die Bürserkriese, die Interventionskricse, die Man⸗ datskriege, die Kolonialkriege, die Verteidigungskriege nicht aufgehörf. Einen Anlaßs zum organisierfen Totschlagen hat man immer gefunden und wird ihn auch, wenn man will, in jedem Augenblick immer wieder finden. Denn da liegt der Hase im Dfeffer: wenn man „will“! ſeder Krieg ist eine Willenssache. Bis heute „will“ ihn — bewußf oder unbewußf — die übergroße Mehrzahl der Menschen. Der Menschen aller Länder natürlich. Denn so prof auch die geographischen und klimatischen Verschiedenheiten der Länder seien mögen, noch größer ist — darüber hinaus — die Wesensähnlichkeit, die Verwandtschaft, das Gemein- same der Menschen. Durch Hunger und Liebe crhält sich das Welfgetriebe. Zweifellos. Aber noch ist der Mordtrieb, der Vergewaltigungs- und Vernichtungstrieb mindestens in gleicher Stärke erhalten. (Wir haben uns nur geweigert, es zu schen, zu erkennen.) Vielleicht aus Sphären der Urzeit her, wo nur der Stärkste überleben durfte. Die Mehrheit der Menschen wird diese Feststellung mit Entsetzen zurück- weiscn, für sich jedenfalls ablehnen. Und was ihr Bewult- sein betrifft, zweifellos auch mit einer gewissen Berechtigung. Ihr Oberbewußtsein steht diesem blinden Haß und Ver- nichtungstrieb fern. Sie glauben im Gegenteil ja gerade eine Aufopferung durch die Hingabe ihres Lebens für die Ge- meinschaft im Kriege zu beweisen. Aber so unablöslich ineinander verwoben sind in der Tat heute noch im Menschen die Liebe- wie die Haß-Instinkte, das 67 sich bei der allersrößten Mehrheit diese „Liebe“ für das eisene Volk z. B. nur betätigen kann, nur wirk- sam wird, wenn der Mensch in sleichem Grade und mit mindestens sleicher Intensität seinen Habin⸗ stinkten gegen eine andere Gruppe folsen darf. Wir haben heute freilich das Bedürfnis, diesem blinden Haß- und Mordtrieb einen schöneren Namen zu seben, ihn mit dem Dans einer ethischen Hlandlung, eines „Opfers für Volk und Vaterland“ zu umkleiden. Aber die bösen Regierunsem könnten die cdlen Völker doch nicht immer wieder zu dieser schauerlichen Sklavenfron hundert- und fausendfachen Mordens und Getötetwerdens zwingen — um kapitalistischer Interessen willen —, wenn die Völker bewunf und ent- schlossen widersfrebten, wenn nicht mächtige Naturinstinkte im UInterbewußtsein der Massen ihnen noch entsesenkämen. Gewiß, zu einem großen Teil ist es auch die Schafsnatur der Menge, die sich so zur Schlachtbank führen läßf. Und diese Schafsnatur muß man zur Rebellion zu erziehen ver⸗ suchen. Man mun diese Rebellion orsanisieren, wie es der radikale Antimilitarismus, wie es die Kriessdienstseoner- bewegung mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu fun versuchf. Denn dieser Mansel an Dersönlichkeits- bewußtsein, der die unerhörte Anmalung einiser Staats- männer oder Finanzgewaltiser: Millionen unschuldiser Menschen zum Tode zu verurteilen, noch par nichf als unerhörfe Aufreizuns empfindet und sich infolsedessen auch noch nicht gegen sie zu empören wast, ist doch wohl nur mit einer deradezu idiotischen Ilerdennatur, einem kata⸗ strophalen Minderwertigkeitsbewußfsein des Menschen zu erklären. Aber zu einem anderen — und nichf weniser wesentlichen Teil — ist das Kriegsphänomen nur durch dunkle Urinstinkfe im Menschen zu begründen, Instinkfe, die selber noch die Nofwendiskeit des Krieges bejahen, ihn als lustvoll emp⸗ finden. Auch im Marxismus wird die Gewalt noch bejaht, der doch eine neue und bessere Ciesellschaftsordnung zum Ziel hat. Aber der Weg dorthin führt nur über die Gewalt. „Die Grausamkeit ist die älteste Festfreude der Menschheit.“ Diese psychologische Erkenntnis Nietz- sches gibt uns einen Binserzeig, woher dieser „Nausch“ beim Ausbruch eines Krieges stammf, wie alle Bande sich lösen, der Einzelne sein Ich zu vergessen scheint in der Hingabe an das Ganzc, wie wir euphemistisch sagen. Aber richtiser sagen würden: in dem dunkeln Gefühl, in dem Instinkt, daß uralt mächtige, durch die Zivilisation für gewöhnlich se- bundene und gehemmte Triebe nun endlich ihre Freiheit 68 erlangen, nun offen im Tageslicht als legitim, als gerecht- fertist sich ausleben dürfen. Mit dem flunger und der Liebe war wohl für zu lange Bpochen der Urzeit die Bereitschaft zur Vernichtung des Konkurrenfen — sei es im Kampf um Mahrung, sei es im Kampf um Geschlechtsfreuden — un- frennbar verbunden. Es besteht wohl kein Zweifel daran — und jeder tieferer psychologischer Betrachtung Fähige wird das zugeben: wir werden in der Bekämpfung des Krieges nie- mals einen bemerkenswerten Schritt weifer kommen, solanse wir diese psychische Belastung des Menschen durch den HaB, durch die Crausamkeit nicht in Betracht ziehen. Man kann gleiches nur mit gleichem bekämpfen. Gesenüber letzten Er⸗ kennfnissen, rationalen Erwägungen brauchen wir Erkennt- nisse und Erwägungen. Gegenüber unbewußten In- stinkfen debrauchen wir ihre Verdränsung nicht nur durch Bewußtmachung dieser Instinkte, sondern noch sicherer vielleichf verdränsen wir sie durch andere, stärkere, aber weniser verhänsnisvolle In- stinkte. UInd das isf, scheint mir, nun unsere Aufgabe. Zu versuchen, zu erforschen, zu erproben, wie und auf welchen Wegen diese Mord- und Vernichtungsinstinkte in bejahende Lebensströmungen umgebogen werden können? Im Zeitalfer der Seelenforschuns kann man sich keiner Täuschung darüber hingeben: was man will, hofft man. Wo cin Wille isf, da isf ein Wes, ein Wes zur Verwirklichung. Wenn also die ganze lebende Menschheit — frotz allem — von ganz verschwindenden Ausnahmen abgesehen, heute nicht an die Möglichkeit des Verschwindens des Krieges glaubt, jeden- falls keinerlei Anstalfen dazu macht, die fotbrinsenden Waffen endlich abzulegen, so bedeutet das eben, dal sie es ernstlich noch gar nicht will. Es beweist, daß der Kries, der legalisierte Mordinstinkt, in ihrem UInterbewußfsein noch wünschbar, noch unentbehrlich isf. Es isf kein Zufall, daf die den Kries am stärksten und offen Bejahenden auch die primitivsten Menschen sind: die Soldatennafuren, die an ihre „Mation“ um so beseisterter sich anschließen, je beschei⸗ dener meist die geistise Dotenz der eisenen Dersönlichkeit ist, die nur durch die größere Gemeinschaft, in deren Dienst sie sich stellen, Rang und Bedeutung erhält. In ihnen sind diese Urinstinkfe besreiflicherweise noch am stärksten. Die anderen, die schon mit moderneren Begriffen — die über die eigene Nation hinaussehen —. mit „Völkerbund“ und „Völkerverständigung“ liebäugeln, aber die Dflicht der „Vaterlandsverteidigung“ zugleich als Ehrensache betrachten, sind schon in ciner etwas komplizierteren und — wenn auch 69 unbewußt, meist — peinlicheren Situation. In ihnen tritt schon die Ahnung einer höheren Ethik mit den alten In- stinkten in Konflikt. Daher die von den „ehrlichen“ primi⸗ tiven Landsknechfnaturen empfundenen Widersprüche in ihnen. Vielleicht ist es möglich, diesen „Möchte-sern-Dazi- fisten“ allmählich zum klaren Bewußtsein zu brinsen, daß wir noch Mörder sind, Mörder bleiben — wenn auch Mörder mit sutem Gewissen —, so lanse wir noch unfer iroend- welchen Vorwänden den Willen zum Töfen haben. So lande wir noch glauben, Menschenleben auslöschen zu dürfen. Vielleicht kann man einer Anzahl unter ihnen sichtbar, er- kennbar machen, daf die Gesellschaft kein moralisches Recht hat, den Einzelmörder zu strafen, so lange sie selbst als nationale Gruppe oder als Gesellschaftsschichf das Gleiche tut — sobald sie es als nötig empfindet. Die Wenigen aber, die heute schon — nicht erst morgen, nicht erst in fernen Aonen der Menschheit — mit dem Morden wirklich ein Ende machen wollen —, wenn ihnen der Aufenthalt auf dieser jetzt noch von Blut dampfen⸗ den Erde erträglich und menschenwürdig erscheinen soll: sie miissen sich vollkommen klar darüber sein, wie unseheuer schwieris und verantwortungsvoll ihre Aufsabe ist. Aber auch wie großs und bedeutungsvoll. Eine seelische Evolution, eine vollkommene Umwandlung mul mit aller geistis-seelischen Macht herbeiseführt werden als die größfe und bedeufungsvollste aller Revolutionen: Der alte fotbrinsende Haßinstinkt darf nicht länser auf lebendise Menschen gerichtet: auf die Unzulänglichkeit der Zustände, auf die Sinnlosis⸗ keit der gesenseitisen Vernichtuns muß er um⸗ selenkt werden. Der Wille zur Neusestaltung der Welt: die Welt lebenswert für alle, in eine Stätte der Freude zu verwandeln, das Unvollkommene zu hassen, als unerfräglich zu fühlen — dieser Wille muſ mit allen Mlitteln deweckt werden. Die Freude am Glück des anderen, die Mit- empfindung seines Leides, dieser positive Teil der ambi⸗ valenten „Liebe-Haß“-Einstellung mul allein zur Geltung kommen. Daßs solche Umwandlungen möglich sind, scheint ein Tierversuch zu beweisen, über den der Drivatdozent Dr. R. Brun in Zürich in der Schrift: „Biolosische Dar- allelen zu Freuds Trieblehre“ (Internationaler Dsycho- analvtischer Verlas, Wien 1926) soeben berichtet. Versuch- objekte waren Ameisen, die trotz ihres idealen sozialen Ver- bandes grimmige Kriegsfreunde sind. Der Kampf zweier Ameisengruppen endet in der Regel erst mit der Vernichtung 70 der einen Gruppe. Nun hat man aber bei solchen Versuchen Drofessor Ausust Forels, des berühmten Ameisenforschers, den Neuankömmlingen eine reichliche Mitgift an Brut (Larven oder Duppen) mitgegeben, und dann war der Kampf höchst bemerkenswerterweise von vornherein viel schwächer. Er endete schließlich mit einer Allianz der beiden Darteien. Die meisten Ameisen beschäftigten sich damit, die Brut in Sicherheit zu brinsen. Hier war also der Brutpfleseinstinkt stärker als der Kampfinstinkf. Das aufbauende Element setzte sich durch gegenüber dem zerstörenden. Sollte das, was bei Tieren möglich war, nicht endlich auch beim Menschen möglich werden? Der freilich die Himmelsgabe der Vernunft bisher allein dazu benutzt hat, „um tierischer als jedes Tier zu sein“? Dieser sozialmedizinische Tierversuch hat noch eine andere bedeutungsvolle Erkennfnis vermittelt. Die zum Kampfplatz eilenden Ameisen verschmähten sogar ihr Lieb⸗ lingsfufter, den Hionig. Der Kampfinstinkt ist also, einmal geweckt, so mächtig, daß er sich selbst gegen das egoistische Lebensinteresse des befreffenden Wesens behauptef, wie wir es auch vom menschlichen Kriege wissen. Der Nahrungs- instinkt, der Selbsterhaltungsinstinkt sogar ist schwächer als der Kriegsinstinkt! Da ist es kein Wunder, wenn der Kriegs- instinkt die Denschen zum „Kries um jeden Dreis!“ hin⸗ reißen kann, so dafs die von Kriegsdurst Erfüllfen diejenigen hassen und verfolsen, die den „Frieden um jeden Dreis“ — als das HIöchste oder besser: als die Voraussetzuns zu allem Hlohen erstreben. Aber wir dürfen vielleicht dennoch kloffnung schöpfen aus der Beobachtung, dafs — bei den Ameisen wenigstens — der Instinkt für die Kommenden, für die neue Genera⸗ tion stärker war als der Haß gegen die Lebenden. Sollten die Machtverhältnisse der Instinkte beim dlen⸗ schen dauernd ungünstiger liegen als bei den Tieren? Bei allem Idealismus unseres Wollens seien wir also unerbitt- lich nüchtern und klar: nicht auf politische Verträge, auf Darlamentsbeschlüsse und Mehrheitsresolutionen dürfen wir vertrauen, können wir uns verlassen, wenn wir die Mensch- heit von ihrem srönten Peinde, dem Mordinstinkt — als „Dflicht der Vaterlandsverteidigung“ moralisch umkleidet —, wirklich befreien wollen. Die Mehrzahl der heute Leben- den wird sonst die Greuel der Bomben, der Giftsas- kriege — dank des ruchlosen Optimismus eines oberfläch- lichen Völkerbund-Dazifismus — ohne Frage noch crleben müssen. Soll es wirklich noch Generationen dauern, bis diese Umwandlung der Instinkte sich vollzogen hat? Höchste 71 Eile, bitterster Ernst, letzte Bereitschaft ist also nofwendig. wenn die Menschheit jene UImwandlung erleben soll. Wir haben keine Zeit zu warten, wie uns bequeme Freunde oft raten. Fluch der „Geduld“! Denn das Tempo der technischen Entwicklung — die bisher fast ausschließlich in den Dienst des Todes, der Vernichtung gestellt wurde, ist dem der psychologischen Umwandlung so überlegen — jedenfalls bisher so überlegen gewesen —, daß die Kühnheit und Grandiosität menschlicher Erfindungen paradoxerweise die Menschheit in Nichts aufzulösen droht. Wird jene mögliche moralische Höherenfwicklung noch Zeit haben, sich zu ent- falten? Wecken und stürken wir daher auch verade überall dort, wo es sich um die Erziehung und Leitung des neuen Geschlechtes handelt, immer wieder diese fürsorsen- den und erhaltenden Instinkfe. IIelfen wir, sie zum Iriumph über Vernichfungsfendenzen zu führen. Denn in aller Irostlosigkeit der Gegenwart ist es eine Hoffnung, die da aus dem nafurwissenschaftlichen Experiment spricht. Eine Erfahrung ist das, eine Beobachtung von Tatsachen, die unser scheinbar nur „idealistisches“ Mühen rechtfertigt. Und gerade für diese unsere Arbeit gilt, wenn irgendwo — das Wort: „Das ſetzt und Ehemals, o, meine Freunde — das isf mein Unerfräglichstes —, und ich wüßte nicht zuleben, wenn ich nicht ein Seherund Künder dessen wärc, was kommen muß! 72 „Begreifst Du wohl, wie viel leichter andächtig schwärmen als gut handeln ist? Lessing. ZWEITER TEIL. ZUM VIERTEN MAIE IN RUSSIAND. I. 1904: Hochsommer. Ich fahre zum erstenmal über die rus- sische Grenze. Einseladen von der deutschbaltischen ſusend- freundin, die am Rigaschen Strande malt, während ich mein Nietzsche-Buch dort beenden will. Den Ankommenden er- wartet auf der Grenzsfation Wirballen ein unbehaglicher Empfang. Der Bahnhof ist besetzt mit Soldaten, zaristischen Offizieren mit hartem, strendem Giesichtsausdruck. Bedroh⸗ lich umsfellen sie die klalle, in die wir zur Drüfung unserer (Inverdächtigkeit wie eine klerde Gefangener hineinsefrieben werden. Um ungefährdet die strenge Zensur zu passieren, habe ich die Manuskriptblätter des Nietzsche-Buches, an dem ich arbeite, in den Kleiderrock eingenäht. Der Koffer mit Büchern entseht durch slücklichen Zufall der Drüfung der Beamten. So komme ich — nach bangem Herzklopfen — üiber die Grenze. Am Rigaschen Sfrande ist zwischen Letten, Russen und Deutschbalfen — wenige Donate vor dem Aus- bruch der ersten russischen Revolution vom ſahre 1005 — schon jenes Schwälen der kommenden Empörung, jener Druck, jene feindselige Spannung zu spüren, die sich kurze Zeit später in gewaltigen Explosionen entlud. 1909:. Eine dewisse Beruhiguns ist nach den unruhigen ſahren 1905—1907 eingetreten; ohne allzu große Hemmnisse und Schwierigkeiten kann ich das europäische Rußland durchreisen, die baltischen Drovinzen, wie Finnland, Deters- burg und Moskau besuchen. Überall werden meine Vorträge über unsere Bewesung für Mutterschutz und Sexualreform, sowohl in den Deutschen Bildunssvereinen wie auch in russi- schen Frauenvereinen, außerordentlich gut besucht. Die Kritik oder Dolemik der Zeitunsen ist nicht wesentlich anders deartet als zur selben Zeit in Deutschland. Einise Duma-Abseordnete interessieren sich lebhaft dafür, seben mir einen Empfanss⸗ abend in Detersburg in kleinem Kreise — wie Helsingfors einen Festabend veranstaltet. Selten habe ich ein dank- bareres, interessierteres Dublikum sehabt, als das jener rus- 73 sischen Vortragsreisc. Einige hundert neue Mitglieder bringe ich mit zurück. 1923: Krieg, Revolution und Bürgerkrieg sind eben glück- lich überstanden. Als eine der ersten „Gesellschaften der Freunde des Neuen Rußland“ im Ausland ist die deutsche Gesellschaft im Frühjahr 1923 gegründet. Als deren erste Delegation werden Dr. Max Osborn, Dr. Adolf Behne und ich cingeladen, das „Neue Pußland“ zu besuchen. Eine Reise voll starker, tiefer Eindrücke, welche die UInverwüstlichkeit der russischen Volkskraft, die Energie und Schaffensfreude seiner veranfwortlichen Dersönlichkeiten wie ihrer Mit- arbeiter auf allen Kulfurgebieten unwiderleglich beweisen. In der „Neuen Generation“ habe ich in den Aufsätzen „Neue Kulturträger in Rußland“ (keft 3/4, 1924) und „Als Anti⸗ militaristin in Rußland“ (IIeft 10/11/12, 1923), ferner in einer Deihe von Vorträgen über diese Erlebnisse berichtet. ¹1927: Es kommt die Einladuns, an der Feier des Zehn⸗ jährigen Bestehens der Sowjet-Verfassung in Rußsland Anfang November feilzunehmen. Aus allen Ländern der Erde kommen die Freunde. Nicht nur die Darteiangehörisen, die der herrschenden Dartei in Rußland durch die engsten Bande verknüpft sind. Sondern von überall her kommen auch die- jenigen, die, wie klar sie sich auch von den Anschauungen des Dartei-Kommunismus unterschieden wissen, dennoch den Mut, das Verantwortungsgefühl, die ungeheure Tatkraft objektiv aufs höchste wüirdigen, womit hier versucht wird, eine neue Ordnung aufzubauen, die Interessen der Werk- tätigen in erster Reihe zu berücksichtigen, sie als die obersten anzuerkennen. II. In dem Zug hinter Warschau wird es leerer. Man spürt mehr und mehr, daß die Mehrzahl der Reisenden — Ange- hörise aller Nationen — demselben Ziel: dem Neuen Rußland zustrebt. Es ist ein feierlicher Moment, als am Abend, nach- dem die polnischen Soldaten den Zus verlassen haben, plötz- lich aus dem Dunkel der Nacht der Sowjetstern als leuchten⸗ des Fanal vor uns aufschimmert: ein Lichterbosen zur Be- grüBung — das Zeichen: hier betreten wir den Boden einer neuen Welt. Im ganzen Zuge wird bei diesem Anblick spontan die Internafionale in den verschiedensfen Sprachen ande⸗ stimmt. ſungen Menschen, die diese Grenzüberschreitung zum ersten Male erleben, entringt sich das Bekenntnis: es sei, als ob sie in ihre Fieimat kämen. Ein Gefühl, das der herzliche Empfang auf den russischen Grenzstationen durch Behörden, 74 Musikkapellen der Arbeiter und Landleute nur bestätigen kann. Moskau: Zweifellos haben die vier ſahre, die zwischen meinem letzfen Besuch und dem jetzigen liegen, Rußland Gelegenheit gegeben, sich zu erholen. Was wir im Westen Europas so oft vergessen, was man nicht eindringlich genug machen kann: in Pußland hat der furchtbare Krieg drei, vier ſahre länger gedauert als bei uns. Der Weltkrieg mit all seinen Schrecken hatte das im Grunde friedliebendste Volk der Welt, das russische, dazu gefrieben, schließlich nach Hlause zu gehen, seine Fortsetzung denen zu überlassen, die ein Interesse daran hatten. Aber auf dieses Ende ist noch der Bürgerkrieg mit all seinen Furchtbarkeiten gefolst. Viel⸗ leichf ist das russische Volk auch das leidensfähigste, durch jahrhundertelange bittere Unterdrückung an Not und Leiden in grandiosem Ausmaſe gewöhnt. Wenn man im Nevolutions⸗ museum dargestellt sieht, wie prausam, unmenschlich der russische Bauer noch vor wenisen ſahrzehnten miBshandelt wurde, begreift man vieles auch von den Schrecknissen der Nevolution. Stärker als jemals früher habe ich bei diesem Aufenthalt in Rußland gespürf, in welchem Grade Rußland durchaus cine Welt, ein ganzer Kontinent für sich ist. Nur aus seinen eigenen Gesetzen heraus isf es zu verstehen und zu würdigen. Wie oft wird in Westeuropa gesagt: die russischen Methoden seien nicht auf Westeuropa anwendbar. Aber wie wenige der scharfen, gehässigen, verständnislosen Kritiker zichen die Konsequenz ihrer eigenen Erkennfnis, daß dann wohl auch die europäischen Ordnungen und Gesetze nicht ohne weiteres auf Rußland anwendbar sind! Nur dem vorurteilslos das Menschliche überall Suchenden, der sich auch um das Ver⸗ ständnis des ihm Fremden und Fernen redlich bemüht, wird sich ein Land von der vollkommenen Einzigartiskeit Ruß- lands allmählich erschließen. Völlig, restlos vielleicht erst in jahrelanger, jahrzehntelanger Hingabe an das Land und seine Menschen. Sicher aber keinem, der ihm bestimmte west- europäische Forderungen in dogmatischem Dharisäertum von vornherein präsentiert. Aber auch dem zu objektiver Aufnahme Gewillfen bietet es natürlich Schwierigkeiten. Um gleich solch ein Negatives einmal vorweszunehmen. Immer wieder haben wir uns de⸗ frast — in dem Kreis derer, die wir mit leidenschaftlichem Interesse, mit warmer Sympathie den Werdegang des Großen, Neuen verfolgen —, wie es denn möglich gewesen sei, soviel zu schaffen, wo doch jene alte, berüihmt-berüchtigte Eigenschaft der Russen, den Begriff der Zeit nicht zu kennen, 75 sich in so vielen Bezichungen noch gar nicht verändert hat. Das uralfe, bekannte Wort: „Cechast“: „Sosleich“ — das zwar „sofort“ bedeuten, aber auch am Ende mit — „in vier Wochen“, „irsendwann einmal“, übersetzf werden kann — gilt — wie oft — auch noch heute. Bür den Ethnologen, den Dsychologen freilich eine Selbstverständlichkeit, daß auch eine so umsfürzende wirtschaftliche Revolution, wie die rus- sische von 1917, nicht das Wesen der Menschen, das Wesen eines Volkes von Grund auf ändern kann. III. UInd dennoch: ſes' sind vollkommen neue Kräfte wach ge⸗ worden, es wirkt heute tatbereites, bewußtes Leben für die Gemeinschaft in fausenden, in hunderftausenden von Men- schen, die vorher vesetierfen. Das ist eine der eindruck- vollsten Iatsachen, eines der stürksten Erlebnisse: dies sei⸗ stise Leben in bisher dumpfen Massen zu spüren. Selbst- verständlich: die knapp fünf ſahre, die dem russischen Sowjetstaat seit der Beendigung des Bürgerkrieges zum Auf- bau gegönnt waren, haben nicht ausgereicht, aus Pußland ein „Daradies“ für alle zu machen. Weit entfernt. Aber nur blindeste, böswilligste Kurzsichtiskeif kann daraus einen Vorwurf für die Führer der Revolution herleiten, wie es 8o häufig, mit der Gedankenlosigkeit der Menschen rechnend, immer wieder deschiehf. Niemals ist es übrigens einem der Führer der Revolution einsefallen, sich oder andern Voll⸗ kommenheit zu versprechen. Noch zwei Monate vor Aus- bruch der Revolution, im Ausust 1917, hat Lenin in „Staat und Revolution“ das ganz klar erkannt und ausgesprochen. Er weil schon damals: das, was zunächst herbeiseführt werden kann, ist nur ein vorbereitendes Stadium. In der Zeit des Kampfes mit dem Kapitalismus — der noch überall sonst an der Ilerrschaft isf — kann ein vollkommener Sozialismus natürlich noch nicht hersestellf werden. Die Diktatur, ein in mehr als einer Hinsicht schr unerfreulicher Übergangszustand, ist aber nach der Auffassung von Marx auf dem kampfreichen Wege zum Sozialismus nichf zu ver⸗ meiden. Leider ist auf die verhälfnismäßig unblutis ver- laufene Machtergreifung der jahrelange Bürgerkrieg mit all seinen Hlärten und Grausamkeiten sefolgt. Aber haben eigentlich die Regierungen, hat die Dresse anderer Länder Anlafs, sich über Bürgerkrieg und Diktatur zu entrüsten, die selbst die Iruppen, das Geld gegeben und die Stimmuns de⸗ schaffen haben, damit der Bürgerkrieg seführt werden konnte? Dieselben Regierungen übrigens und dieselbe Dresse, die jahrelang cin noch vicl umfassenderes Menschengemetze! 76 anzurichten und zu unferhalten keinen Moment gezösert haben, solanse es gesen die Erbfeinde, die Hiunnen, die Boche oder gegen „Gott strafe Ensland!“ zing. Immer noch vergiBt der harmlose Bürser, wenn er seine politische In⸗ formation aus der Zeitung bezieht, daß im Krieg alle Waffen als erlaubt gelten. Daß daher bei dem lafenten Klassenkrieg. der zwischen Rußland. und der übrigen Welt besteht, auch alle Nachrichten über Rußland von dieser Kriegspsychose, von dieser feindlichen Einstellung gefärbt werden. GewiB, auch die Nachrichten der russischen Dresse über Europa mögen oft recht einseitig sein. Aber solche Tartaren- nachrichfen, wie sie von den zahlreichen Beinden Sowjef- rußlands immer wieder in die Dresse, in die Köpfe und flerzen der Menschen lanciert werden, haben umgekehrf deshalb keinen Sinn, man findet sie deshalb nicht in der russischen Dresse, weil das wohlverstandene, das klar er- kannfe Interesse Pußlands — sowohl der Führer wie des Volkes — mit leidenschaftlichem Ernst auf die Erhaltung des Friedens geht. Während umsekehrf die Gegner Ruß- lands alles daran setzen, die Geister bis zur Siedehitze eines Krieges gegen Rußland zu vergiften, um den Sturz des ver- haßfen neuen Regimes zu erzwinsen. Wir, die wir uns nicht gescheuf haben, uns den „Freunden Rußlands“ zu gesellen, obwohl auch uns rein theoretisch oder selbst faktisch diese oder jene Hlaltung oder Maßnahme den Gegnern des Degimes gesenüber befremdlich, ja vielleicht beklasenswert erscheinf — wir sind vielleicht vor allen Dingen deshalb so zur Verteidigung Rußlands gezwungen, weil uns die Brutalität und Skrupellosigkeit der Gegenkräfte zeigt, um welche Ziele es hier im Grunde gehf. Weil wir schen, welcher Lügenwall hier wieder einmal, genau wie im Kriege, zwischen den Nationen, Nassen und Klassen aufgerichtef wird, der den Zugang zu fruchtbarer gemeinsamer Arbeit versperrt. „Freund des Neuen Rußland“ sein, wie wir es verstehen, bedeutet vielleicht in erster Linie ein Freund der Gerech- tigkeit und Unabhänsiskeit, ein Feind der Lüse und Verhetzung sein.) Kein Sfaat hat es bisher abselehnt, mit dem Italien der Diktatur Mussolinis, mit dem Spanien der Diktatur Drimo de Riveras, dem Blutresimenf von Ru⸗ mänien, Bulgarien, Ungarn, Dolen oder Litauen oder anderen Diktaturen diplomatische Bezichunsen zu unferhalfen. Aber mit dem vermaledeiten Rußland „der Arbeiter und Bauern mösen bürserliche, ach stets so moralische, die Gewaltlosis- keit liebende und übende Regierungen durchaus nichts zu tun haben. 77 Es scheint eine Art von Verdrängungspolitik zu sein: es ist kapifalistischen Degierunsen wohl unerträglich zu sehen, daß die russische Regierung nun die Macht besitzt, mit derselben Entschiedenheit bürgerliche Klassensegner in ihrem Lande zu bekämpfen, wie es bisher als unveräußer⸗ liches Recht bürgerlicher Regierunsen galt, ihre sozialisti- schen, kommunistischen, anarchistischen, radikal-pazifisti- schen Klassengegner zu unterdrücken. Sie versuchen diese verhafte Machf durch Bovkott zu isolieren, zu schwächen, zu stürzen. Sie haben, wie die böse Königin im Märchen, keine Ruhe, solange Schneewittchen Rußland noch existiert. Diese zart besaiteten Scelen Pußland hassender Staats- männer halten ohne Scham und Scheu auf europäischen Völkerbunds- oder amerikanisch-kubanischen Konferenzen von Friedensmoral friefende Reden — in demselben Augen- blick, wo sie den Irak, Syrien, Marokko oder Nicarasua mit Bomben belegen. Übrisens dieselben lierren, denen die ersfen sieben oder acht Millionen Tote des Weltkrieges immer noch kein genügender Anlafs waren, den Frieden mit allen Mitteln herbeizuführen. Die aber bei dem Tode von zwanzig Giesenrevolutionären ihr klaupt in frommem Ab⸗ scheu verhüllen. Sie würden, wenn man sie nach einer Be⸗ Fründung für diesen Widerspruch befragen würde, dasselbe antworten, wie jener Dole, den ich auf der Dückreise in Warschau sprach. Ich stellte fest, daß die Entfesseler des Weltkrieges kein Recht hätten, sich moralisch über die Re⸗ volution zu entrüsten, die am Ende doch erst eine Folge des Weltkrieges gewesen. Und die Revolution habe glücklicher- weise trotz allem doch nur eine bedeutend geringere Zahl von Menschenleben gekostet als der Weltkrieg. Er sah mich ganz erstaunt an: wie man es überhaupt wagen könne, den moralisch erlaubten Krieg der Staatsmänner und Kapita- listen mit der moralisch unerlaubten Nevolution der Anti⸗ kapitalisten zu vergleichen und sagte dann, fassungslos, naiv: „Aber das ist doch etwas ganz anderes!“ ſa, freilich: das ist für das dumpfe Gefühl der Gedankenlosen „etwas Canz anderes“. Diese Gedankenlosigkeit ist vielleicht überhaupt eine der Erklärungen für die seltsame Tatsache, daß es immer noch gelingt, Menschen in den staatlich-organisierten Völker- krieg hineinzureinen, den sie in blindem Vertrauen auf die Staatsautorität begreiflich und verzeihlich finden, während ihnen die Revolution als der verzweifelte Aufstand von unten mit dem Makel des Verbotenen belastet erscheint. So dal hier hunderffach schwächere Ereignisse, erheblich geringere (bel dennoch hundertfach stürker als unwünschbar und un⸗ erlaubt empfunden werden. Keine Frage, das Ziel muß sein: 78 Krieg und dewaltsame Devolution unmöglich zu machen. Aber wenn in der rauhen Wirklichkeit — nicht nur im Drin⸗ zip — es sich um die Frage des kleineren Übels handelt, wenn vielleicht ein Kries im Stile des verflossenen Welt- krieses nur dadurch unmöslich zu machen ist, dan die Ver⸗ zweiflung von unten sich dagegen mit allen Kräften wehrt, wieder einmal zur Schlachtbank geführf zu werden, dann wäre in der Tat in dem Konflikt zweier entgegengesetzter Machtströmungen der Widerstand, der Aufstand von unten das kleinere Übel. Ein Übel — gewil. Aber ein geringeres, die Höherentwicklung weniger hemmendes als ein Weltkrieg. IV. ( klohe Wälle der Fremdheit und Verleumdung liegen heute nöch zwischen Pußsland und der übrigen Welf. So kann man die Tendenzen der Sowjetregierung nur unterstützen, mös- lichst vielen neutralen Dersönlichkeiten oder zumindest Auf- nahmewilligen die Möglichkeit zu geben, durch eigene Drü⸗ fung sich ein Urteil über die russischen Zusfände zu bilden. Dersönlichkeiten aller politischen Richtunsen aller Länder haben in den lefzten ſahren Rußland besuchen können. Nicht nur kritiklos-begeisterte Massendeleoationen, sondern Doli⸗ tiker, Darlamenfarier aller Darteien, Wirfschaffsführer, un- abhängige Gelehrte, Künstler, Intellekfuelle aller Muancen. Hlat je einer dieser Besucher das vernichtende Urteil, die schässigen Entstellungen der Antisowjcfpresse aufrecht- erhalten können? Die Tendenz, Rußland, vor allem seine jetzige Regierung zu schädigen, hat gegenüber den nüch- fernen Tatsachen keinen leichten Stand. Aber was wollen wir? Wollen wir den ersten unfer un- sagbaren, namenlosen Schwierigkeiten begonnenen Versuch, eine neue Gesellschaffsordnund aufzurichten, vorurteils- los kennenlernen? Ihn durch Verständnis und Teilnahme fördern? Oder wollen wir in beschränkfem Egoismus, in böswilligem Dosmatismus dieses heroische Beginnen auf alle Fälle diskreditieren und damit weitere Bemühungen und Er- folge unmöglich machen? Wer es für seine sittliche Dflicht hält, einen solchen Ver- such, auch wo er selbstverständlich mit allen tragischen UIn- zulänglichkeiten des menschlichen Wesens behaftet ist, nach seinen Kräften zu unferstützen, der wird damit von selbst ein „Breund des Neuen Rußland“ werden müssen. Daß es lohnt, eine solche Stellung einzunehmen, davon hat mich auch dieser erneute Besuch in Sowjetrußland wieder überzeugt. 79 V. Die Frau im Neuen RuBland. Man hatte, wie schon berichtet, Arbeiter und Intellekfuelle aller Länder cingeladen, als Freunde des Neuen Rußland an der Zehnjahrsfeier der russischen Revolution feilzunehmen. Aber ein Land, das seit einem ſahrzehnf eine soziale Revolu⸗ tion, seit cinem halben ſahrzehnt den Bürgerkrieg hinter sich hat und gewissermaßen einsam in einer feindlichen Welt lebt, kann diesen Gedenktag nichf besehen als blole Sieces- feier in bekränzten Bestsälen, mit Tanz und schönen Reden. Sondern es hat sich vor allen Dingen zu fragen, wo es steht, was errungen, was Cesichert, was noch zu bekämpfen, Was noch zu schaffen ist. So war es panz natürlich, daß an die cisentlichen Festtase — an die Feier im Großen Theater, die große Darade — sich eine Heerschau aller der Kämpfer an- schloß, die gewillt sind, im Ernst und in der Tat zu RuBland zu stehen, wenn es sich einmal darum handeln sollte, diese heroischen Versuche eines Neuaufbaues decen die Ver⸗ nichtungsfendenzen einer kapitalistischen Peaktion zu ver⸗ teidigen. Dieser Kongren der „Freunde Pußlands“:. „Cegen die Kriegsgefahr!“ — der in den prächtigen Näumen des Hlauses der Adelsgenossenschaft, jetzt das Hlaus der Gewerk- schaften stattfand — hat vielleicht für die Zukunft eine entscheidendere Bedeutung als die Zehnjahrsfeier selbst. Dem Kongreß ging eine besondere Tasung der Frauen voraus, von der alten Kämpferin Klara Zetkin in dem schönen „Woks-Klub“ cröffnet. z, Woks“ bedeutet: Gesellschaft für Kulturverbindung der Sowjetunion mit dem Aus- land. An der Spitze dieser, von der russischen Degieruns ve- förderten Gesellschaft, steht ebenfalls eine Frau: Olsa Da⸗ vidowa Kamenewa, die Schwester Trotzkis, die Gattin des chemaligen Volkskommissars Kamenew. Sie hat es in wenigen Jahren mit einer Reihe ausgezeichneter Mitarbeiter durch ihr Verständnis und ihr kluges Vorgehen erreicht, in einer Reihe von Kulturländern jene neutralen, überpartei⸗ lichen „Gesellschaften der Freunde des Neuen PuBland“ zu schaffen, die für den geistigen Zusammenhang RuBlands mit der übrigen Welt vielleicht nicht geringere Bedeutung haben als die kommunistischen Darteien der verschiedenen Länder. Sind es im Fall der „Dartei“ die getreuen, auf das kommu⸗ nistische Drogramm strens cingeschworenen Massen, auf die es ankommt, so sind es im Fall der „Woks“ die Intellek- tuellen, die schwer Organisierbaren oder politisch Nicht- organisierten, die selbständigen Einzelnen, die sich ihren eigenen Weg suchen, sei es auch im Gegensatz zu den Dar- 80 feien — den Weps des Verständnisses und der Sympathie für das viel angegriffene, verlästerte „Neue RuBland“. Die Fülle interessanter, bedeutender Dersönlichkeiten, die sich im Laufe der wenigen ſahre zu vorurfeilsloser Drüfung eingefunden haben, die Zahl der Freunde und Sym⸗ pathisierenden, die zum zehnten ſahrestag erschienen, läßt sich hier nur andeuten. Dankbar anerkannte es jedenfalls die greise Revolu- tionärin Klara Zetkin auf dieser Brauentagung — deren Dräsidium eine Reihe von bekannten Dersönlichkeiten der verschiedensten Länder ansehörten: für Rußland u. a. Alex- andra Kollontay, Frau Krupskaja, die Witwe Lenins, für England Mrs. Hellen Crawford, für Deutschland Käte Koll- witz und ich — daß die Mehrzahl der Anwesendem zwar keine „Dartei'genossinnen seien, wohl aber Genossinnen im Sinne des gemeinsamen Frauenschicksals: die alle be- wußste Denschen, freie Dersönlichkeiten werden wollen. ſedoch am Vorabend des Kongresses „Gegen die Kriegs- sefahr!“ sollten auch die Frauen Stellung nehmen zu diesem Droblem der Verhütung des Krieges. Die Siche- runs der Aufbauarbeit in Rußland sei von schicksalsebender Bedeutung für die Fortführung der Umwandlung des alten Zarcnreiches in den sozialsten Staat der Welt. IEine russische Delesierte, eine Arbeiterin, brachte in sehr mKungsvoller Form den anwesenden Frauen zum Bewußk- sein, welche Veränderung in RuBland vor sich degangen ist. Vor der Revolution hatte die Frau keinerlei Recht, auch nicht an Grund und Boden; selbst wenn der Mann fof war mußte die Gemeinde ihr erst die Erlaubnis geben, den Boden zu bebauen. Früher bekam die Frau keinen Daf, wenn der Dlann nicht wollfe. Ihre Stimme vor Gericht war nur eine halbe Stimme; nur wenn zwei Frauen dasselbe sagten, galt es als erwiesen. Die Arbeitszeit betrug 11—12 Stunden bei geringer Enk- lohnung. Seit 1910 gab es zwar eine Krankenkasse, aber wenig Mutterschutz. Auf dem Lande waren fasf alle Brauen Analphabeten. Die Revolution hat das alles geändert. Die Frau ist völlis gleichberechtist, und dem Schutz der Mutter und des Kindes gilt die besondere Fürsorge des Sfaates. Die Mufter bekommt 4 Monate UIrlaub, wenn sie Arbeiterin oder Bäuerin ist und ³ Monate, wenn sie Ansestellte isf. ſede Mutter hat eine halbe Stunde Stillpause, nach je dreieinhalb- stüindiser Arbeit, ohne Lohnabzus; die Nachtarbeif ist ver- boten. Alle in der Gewerkschaft Tätigen, ebenso die Frauen der Männer, die Mitglieder in der Gewerkschaft sind, er- halten 25 Rubel bei der Geburt des Kindes. Nach der Geburt 81 9 Mionate lang je 9 Rubel für das Kind. Die Säuglings- beratungsstellen sind stark vermehrt. Aber auch im Ver⸗ mögensrecht ist die Frau heufe dem Manne völlig sleich, auch in dem Recht auf Grund und Boden. Man hat Vor⸗ sorge getroffen, daß die Frauen diese Rechte ausnutzen können. Aber crst seit einem halben ſahrzehnt, seit der Be- endigung des Bürgerkrieges, hat man besinnen können, an die kulfurelle Hebung der Frauen zu denken, Krippen, Kinderoärten, Speischäuser zu schaffen. In jedem Bezirk ver⸗ sucht man heute Frauen als Delegierte zu wählen. Kurz vor unscrer Ankunft in Moskau hatte der zwcite Allrussische Frauentag der Arbeiterinnen und Bäuerinnen stattgefunden, an dem man einen Rückblick auf die geleistete Arbeit für die Befreiung der Prau fun konnte. Heute nehmen 147000 Frauen feil an den Land-Sowjets; in den Stadt-Sowjets sind 21 000 Frauen; in dem Zentral-Exekutiv-Komitée, dem 500 Dersonen angehören, sind etwa 100 Frauen. Das ist ein weit größerer Drozentsatz als irgendwo in irgendeinem anderen bürgerlichen Darlament. Wir haben im deutschen Reichstag zum Beispiel 33 Frauen, unter 460 Mitgliedern im ganzen also 71½0 — in Österreich kaum 100f—, und in den anderen Ländern: in England, Vereinigten Staaten, Skandinavien ist die Zahl der weiblichen Darlamentarier noch weit verinder, ganz abgeschen von jenen Staaten, die überhaupt keine Be⸗ feilisung der Frauen an der politischen Legislative und Exekutive kennen. Auf dieser Tagung spricht auch Frau Krupskaja, die Witwe Lenins. Sie ist eine schlichte Erscheinung, Fünfziserin, noch der Tvpus jener alfen nihilistischen Studentinnen oder Lchrerinnen, die auf jede äußere Aufmachung, jede Be- fonung besonderer weiblicher Anzichunssfendenzen ver⸗ zichfen, die in völliger Selbstlosigkeit nur der Sache dienen. Sie erinnert daran, daßs die Nevolution in PuBland zum Besten der Droletarier der ganzen Welt vollbracht sei; es gelte, dem Kapitalismus die Organisation der Schaffenden entgegenzustellen. Die ganze bürgerliche Welt habe vor zehn ſahren geglaubt, die Bolschewisten würden sich nur wenige Wochen an der Macht erhalten können. Aber Lenin habe sewußst, daßs die Massen mit ihnen sein wüirden, der sozialistische Aufbau daher beginnen könne. Diese Befreiung der Frau durch die Revolution habe nicht nur in Rußsland. sondern auch für die Befreiung der Frau in den anderen Ländern bahnbrechend gewirkt. Auf die politische Be- freiung der Frau 1917 in RuBland folgte 1918/1910 die Be⸗ freiung der Frau in Deutschland, Österreich und anderen. Ländern. 82 Während des Weltkrieses haben die Frauen überall noch als Zufrägerinnen des Krieges gewirkt; sie waren fast überall als Munitionsarbeiferinnen beschäftigt. Die Revolution gab den Frauen neue Lebenskraft und kloffnung. Sie haben sich vor allem dann auch in der schweren Zeit des Bürgerkrieges in RuBland bewährt. Ohne diese heldenhaften Kämpferinnen hätte die Revolution sich niemals zu halfen vermocht. Besonders bedeutsam ist nach ihrer Meinung auch die Tätigkeit der Frauen auf dem Gebiet des Genossen- schaftswesens geworden. Gerade diese Tätigkeit isf un- deheuer wichtig für die Verwirklichung des Sozialismus. Aber während nun in PuBland alle Kräffe auf den inneren Aufbau und Ausbau, auf die allmähliche Verwirklichuns des Sozialismus gerichtet werden — denn alle Führenden und Denkenden in Rußland wissen, daß die Gegenwart nur eine Vorbereitung sein kann auf eine schönere Zukunft — sehen wir in den anderen Ländern eine gefährliche Zu- sammenballuns der kapitalistischen Kräfte auf einen neuen Krieg, die Fortsefzung der Rüstungen, die unfer allen mös⸗ lichen Vorwänden bisher abselehnte Abrüstung. Daher sollfen die Frauen in allen Ländern ihre eisene Freiheif ver⸗ teidisen, indem sie mithelfen, einen neuen Krieg, der wahrscheinlich ein Krieg sesen Rußland sein würde, unmöglich zu machen.“ Auf dieser Iasuns durfte ich betonen, daß ich mich in zwei Hauptpunkten mit den dort versammelten fapferen Frauen aller Länder einig fühlfe, es mir zu einer Ehre an- rechne, unfer ihnen sein zu dürfen: einmal in dem Kampf für den Schufz der Mutter, die Freiheit und Gleich- berechtisuns der Prau, und zweifens in dem Kampf degen den Krieg. In einem der sroßen Säle der Festversamm- lungen des 6. und 7. November fanden sich auf den Froßen Wandtransparenten unfer anderem die charakferistischen Worte: „Wir wollen den Frieden, um den Sozialismus zu errichfen. Die Imperialisten wollen den Krieg, um unser Werk zu zerstören!“ In dem Widerstand degen diesen Zerstörungswillen müssen alle Menschen, alle freiheit- lich Gesinnten einig sein. VI. So wie sich diese Konferenz ausländischer weiblicher Dele- gierten — Frauen der fernsten Erdteile, Indierinnen, Nord- und Südamerikanerinnen unfer ihnen — cinstimmig dem Kampt gegen den Krieg anschloß, so geschah es wenige Tage später von der großen, efwa 5000 Frauen umfassenden Ver- sammlung der Dioskauer Sowjets, im großen Thcater. 83 (Interessant ist übrigens die für uns unsewöhnliche Porm der unmittelbaren Verbindung solcher Kongsresse mit Theaferaufführungen: nach Beendigung des Kongresses, abends 11 Uhr, wurde die Oper „Boris Godunow“ von Mussorgski aufgeführf. Ahnliches fand ich wenige Wochen später in Tiflis: ein Gewerkschaftskongref fand statt im Iheater, daran anschlieBend ebenfalls in der Nacht für die Kongreßbesucher die Aufführung der Oper eines grusini- schen Dichters, der das Droblem der Blutrache behandelt — ein Thema, das den Gicorsiern leider noch dar nicht fern⸗ liegt. — Sie schloß mit einem der schönsten Ballefte, das ich je in meinem Leben sah: einem nächtlichen Tanz von Dio⸗ uusos-ſüngern und Bacchanten um ein Feuer.) ¹ Das scheint mir überhaupt das Charakteristische für die Wirkung der Revolution in Dußland — etwas, das wohl auch vom Gegner nicht geleugnet werden kann: die Befreiuns Se- bundener Lebensenergien. Wie der russische Bauer ein ganz anderes Lebensgefühl gewonnen hat, das bekannte mir unter anderem eine alte Bäuerin, die als Delesierte der Land⸗ sowjefs an den Moskauer Fesfen feilnahm, in den Versamm⸗ lungen sprach. Diese Bäuerin — sie stammte aus Kalusa, mit Namen Wlimowa — setzte sich mit mir später in einem der Arbeiterklubs durch eine Dolmetscherin in Verbindung und betonte, wie dankbar sie für die neu dewonnene Freiheit sei, die die Bauern und die Frauen durch die neue Negierung erhalten hätten. Sie fühle sich jetzt zum ersten Male als ein Densch; sie habe nun auch das Gefühl der Mitverantwortuns und Mitbestimmung. Am stärksten mul vielleicht dies Gefühl der Befreiung bei den bis dahin am meisten geknechteten Frauen des Ostens und Südens sein. Davon bekamen wir einen starken Eindruck auf unserer Neise nach dem Süden Rußlands. Nach den Besttagen, nach dem Kongreß gegen die Kriegssefahr, frat ein kleiner Kreis von Delegierten, darunter Arthur kio⸗ litscher, Emil Dabold, der rumänische Schriftsteller Danait Istrati, der Grieche Dr. Kasantzaki, der japanische Dichter Akita, ich und einige andere eine Kaukasusreise an. Ich komme noch in anderem Zusammenhang auf sie zuriick. Hier möchte ich nur von dem Besuch im „Türkischen Frauen- klub“ in Baku am Kaspischen Meere sprechen. In diesen franskaukasischen Republiken, wo noch vor kurzem die Bluf- rache herrschte, hat man keiner Neuerung leidenschaftlicher widersfrebt als der Befreiuns der Frau. Der Fanatismus der muselmännischen Driesfer besonders war 8o srof, dan es einer Reihe der Vorkämpferinnen für die Freiheit der Frau das Leben kostete. Diese Neuerung erschien ihnen 84 schlimmer als alle anderen Revolutionen. Aber die Prauen lassen sich heute nicht mehr zurückdrängen; sie haben während des Krieges die Wirtschaft geführt und gesehen, was sie leisten können. Nun ist auch bei ihnen die Vielweiberei abgeschafft und das Eherecht dasselbe wie in Rußland. In dem von den türkischen Führerinnen unter der Leituns von Frau Chanuwnas Azisbekowa gegründeten Frauenklub haben sich die Frauen gesammelt und die ersten Schritte zur Selbständiskeit getan. ſetzt lernt ein Teil von ihnen den Heb- ammenberuf; sie brauchen 31 ſahre zur Vorbereituns. Fask 2000 Frauen studieren an der UIniversität Baku: Dädagogik, Recht, Medizin, Insenieurswesen usw. Es sind meist Ar- beiterkinder, die vom Staat unterstützf werden. Sie bereiten sich 4 ſahre lang auf die Arbeiter-Universität vor. Dann können sie ohne weitere Zeugnisse auf die Universität gehen. Die Schulen sind allen seöffnet, auch den Frauen. Unter den Schülerinnen dieser Flebammenschule war eine Reihe inter- essanter, schöner Köpfe. Die Bührerin, die uns die Heb- ammenschule sowie die übrigen Einrichtungen für die Be- rufsausbildung der Frau zeiste, erzählfe uns, wie im Anfans die Frauen nicht einmal dewagt haben, den Klub aufzusuchen, wic aber nun ihr Selbstgefühl erstarkt ist, so daß sie die gewonnenen Freiheiten zu nutzen verstehen. Von besonderem Interesse war eine Gerichtsverhandlung — gegen eine Hebamme, die eines Vergehens gegen die Abtreibungsgesetze beschuldist war —, der ich beiwohnen konnte. In einem vroßen, etwa 300 Dersonen fassenden Saal des Frauenklubs fand die Gerichfsverhandluns statt. Die Iypen der Richter, des Staatsanwaltes, des Verteidisers, der Angeklagfen, der Zeugen, des Dublikums und, last nof least, des Gerichtsdieners, waren besonders charakteristisch. Mit leidenschaftlicher Teilnahme drängte sich das Dublikum heran, zum großen Teil Frauen, aber auch eine sroße Anzahl von Mlännern unter ihnen. Die Tiebamme isf angeklast, ab⸗ getrieben zu haben: die von ihr behandelfe Prau ist an den Folsen gestorben. Die Angeklaste, eine Frau in mittleren ſahren, einfach sekleidet, etwas bedrückt, aber nicht ohne Würde, sitzt neben dem Verteidiger. Der Mann der Ver⸗ storbenen tritt auf und erklärt, er sei nicht mit der Ab- freibung einversfanden gewesen. Der Staatsanwalt, übrisens ein typisches Staatsanwaltsgesicht: scharfe, kalte Züge mit foten Ausen, offenbar ein Russe, während der Verteidiser der Angeklasten, ein kluges, sympathisches Gesicht, wohl jude ist. Unter den Schöffen isf eine Brau mit strengem Gesichtsausdruck, schmalen Lippen, gewöhnlichen Zügen, von der man unwillkürlich fürchtet, daß sie wenig Verständnis 85 und Milde bei der Urteilsfällung zeisen wird. Über die Gründe der Abtreibung befragt, erklärt die Hebamme, die Frau habe ihr mitgeteilf, ihr Mann sei sehr grob mit ihr. Interessant isf das Motiv, das der Mann dafür angibt, warum seine versforbene Prau ihre Schwangerschaft auch vor ihrer eigenen Schwester verheimlicht hat. Sie habe es verbersen wollen, weil sie, obwohl bereits seit fünf ſahren intimere Be- zichungen bestanden, erst seit zwei Monaten setraut und nun schon im sechsten Donat schwanger war. Also dies Motiv der „Schande“ des vorehelichen Verkehrs kann auch im „euen Rußland“ im Gefühl kleinbürgerlicher Kreise noch eine so verhängnisvolle Dolle spielen! Die Anseklagte, mit durchaus einnehmenden feinen Züsen, dunkelblondem Scheitel, berichtet mit niedergeschlagenen Augen über cinen früheren Fall, in dem sie ebenfalls eine UInterbrechung vorgenommen hat: Es seien cin Mann und eine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm zu ihr gekommen; sie haben sie mit fränenden Augen flehentlich gebeten, die Frau doch zu befreien. Die Frau sei im vierten Mionat Je⸗ wesen. Sie habe gefürchtef, die Frau beschädigt zu haben und daher einen Arzt zusezosen. Der Arzt aber habe alles in Ordnung gefunden. Charakteristisch isf, daß später diese Leute einen Entschädigungsprozeß gesen sie ansestrengt haben, da sie nunmehr beklagfen, daß das Kind nicht zur Welt gekommen sei! Über den Iypen des beschränkt aus- sehenden Richters, des Staatsanwaltes von zaristischer Strenge, der Angeklasfen, deren Drozef vertagt wurde, den würdigen Sachverständigen, den europäisch anmutenden Zu- hörern, soll aber der originelle Gerichtsdiener — ein junses, frisches, warmherziges, von Gufmütigkeit strahlendes Ge- sicht — nicht vergessen werden. Er sitzt in der Regel mit seiner rofen Mütze auf dem Boden der Bühne, auf der die Gerichtsverhandlung stattfindet, ruft liebevoll: „Towarischil Genossen!“ in den Saal hinein, als wolle er eine Rede be- ginnen. Er will aber nur eine Zeugin ausfindig machen. Er stützt die fassungslos (ewordenen Zeusen, Schwester und Mann der Verstorbenen, liebevoll-mütterlich und bringt ihnen Wasser, wie sie einen Weinkrampf bekommen. UInd als das Dublikum einmal allzu lebhaff an den Verhandlungen feilnimmt und unruhig wird, glaubt er sich berechtigt, ihnen sönnerhaft zuzurufen: „Ihr werdet doch nichf das Ulrfeil zu fällen haben; warum mischt ihr euch überhaupt hinein?1 Eine köstliche Figur, würdig cines Heinrich von Kleist für einen „erbrochenen Krug“. 86 VII. Kaukasusreise. Das Leben in Rußland ist voll von Überraschungen. Ich komme gerade aus dem Kreml zurück, wo mir die alte Kämp- ferin Klara Zetkin höchst interessant und lebendis von ihren Fahrfen und Versammlungen im Kaukasus crzählfe. Sie hat drei schwere Lungenentzüindungen im letzten ſahre hinter sich, soll viel liegen und bewohnt ein paar schöne, hohe Däume im alten Zarenschloß, im Kreml. Es muß für einen Menschen, der sein ganzes Leben an die Befreiung des Welf- proletariats gesetzt hat, eine hohe Genugtuung sein, einen solchen Wandel der Dinge noch erlebt zu haben. Die trasische Situation der Dartei, daß die führenden Geister, die Schöpfer der UImwälzung, nun nicht mehr einis sind über den Wes zur Verwirklichung des Sozialismus, beklagt sie tief. Tief schmerzlich ist ihr, nicht mehr mit Männern wie Trotzki, Rakowski usw. Hland in Hland zu gehen. Sie erzählf, wie sie von frühauf mit der Beweouns des internationalen Sozialis- mus verwachsen, wie eng sie von je mit den Führern der russischen Revolution betreundet war, u. a. mit dem Gründer der russischen Sozialdemokratie, mit Dlechanow. Lenin sei ihr besonders dankbar gewesen, dafs sie schon 1918 füir die russische Revolution eintrat. Vor kurzem habe ihr Sohn noch einen Brief Lenins an sie gefunden, worin er ihr dankfe und das erste Siesel der neuen russischen Staats- machf übersandfe bzw. zum ersten Male einen Brief an sie damit siegelfe. Erfreulich ist auch die Hinsicht und das Ver- ständnis für Dersönlichkeiten bei ihr, die nicht eigentlich dem Kommunismus angehören, aber die Willenskraft, das Verant- wortungsbewuftsein zu würdigen wissen, das die Schöpfer der russischen Revolution erfüllt. Sie berichtet, wie auch jetzt noch die leitenden Staatsmänner durch den Ernst ihres Verantwortungsgefühls so über die Maßen überlastet seien, dal sie meist erst gegen fünf Uhr früh am Morsen zu Bett kommen, sich alle, wie Lenin, Krassin und viele andere, zu früh, zu schnell verbrauchen. Dieses freundschaftliche Zusammensein mit Klara Zetkin — bei dem ich auch noch ihren Sohn sowie ihre Schwieger- tochter freffe, die mir übrigens von meiner PuBlandfahrt im Herbst 1923 als Dolmetscherin bekannt ist — hat sich länger hinausgezogen, als ich ursprüinglich erwartete. Klara Zetkin entläßt mich mit einer herzlichen UImarmung. Vo man auch stehen mag, diese Tapferkeit, diese Leidenschaft der Hingabe an die Sache, diese unbedingte Ehrlichkeit des Cha- rakters, diese warme Menschlichkeit muß jeden mit Ver- chrung erfüllen. 87 Als ich ins Hiotel zurückkomme, heißt es plötzlich im größter Eile packen: wir fahren nach dem Süden. Mit Hilfe der treuen Übersetzerin, Prau ſefimowa, der Witwe eines Arztes, die uns allen in unermüdlicher Freundlichkeit und Selbstlosiskeit die Verbindung mit der russisch sprechenden Welt vermittelt hat, gelingt es noch — freilich ohne Essen, ohne Umziehen, zu packen und den Anschluf zum Nacht- zug — Moskau-Baku-Tiflis zu erreichen. In einem Wasgon leben wir nun siebzehn Tage lans — siebenzehn Delegierte aus allen Ländern, dazu ein Über⸗ setzer, eine Übersetzerin und die beiden Führer der Delega- tion. Tagelang fahren wir durch die unermeßliche Schnee- wüste dem Süden zu bis fast an die Grenze Dersiens. Diese Fahrt in einem russischen Eisenbahnwagen mit seiner breiteren Spurweite hat etwas Traumhaft-Einschläferndes. Keine Städte, höchstens ein paar Tannen, cin paar Bauern⸗ häuser; an den Stationen hörf man keinen Laut, sieht kaum einen Menschen. Das alles steht so ganz in Gesensatz zu der Hlast und Unruhe unscres Lebens: dies ist wie ein völlig anderer Erdteil, etwas ganz für sich, weder Europa noch Asien. Fast nie sieht man, daß jemand im Zuse ein- und aussteigt, kein Ton erklingt; nur Schnce, Schnee, Schnec. UInser Wasgon ist durch einen besonderen Umstand nicht an das elektrische Licht anseschlossen, und so sitzen wir bei der frühen Dämmerung des Novembertages von vier Uhr an im Dunkeln; nur ganz oben an der Decke leuchtet eine Kerze. Aber bei deren Licht kann man weder lesen noch schreiben. Um die schöne Zeit zur Arbeit zu nützen, habe ich beim „Kommandanten“ des Wagens eine Kerze erbeten. Als der Wagenkontrolleur kommt, muß ich der Feuersgefahr wegen die Kerze auslöschen. Aber der Zug fährt immer noch in scinem poctisch einwiegenden, fräumerischen Iempo; man fühlt sich zu gleicher Zeit vor der Unrast der Welt seborgen und dennoch neuen Erlebnissen entpegensetragen. Wir fahren über Kursk, Iula und Orel nach Charkow, wo wir ein paar Tage bleiben. Dann weiter nach Rostow am Don, und von dort nach Südwcsten, nördlich des Kaukasus über Derbent nach Baku. Das Asowsche Meer bei Dostow am Don haben wir nur im Dämmer des Winterabends in Frost und Nebel crblickt; in Nostow fahren wir bei kurzem Aufent- halt im tiefen Schnee beim Klang der Sonntagabendglocken an den Don, der etwa die Breite des Rheines hat. Rostow haf während des Bürgerkrieses bitter zu leiden sehabt — zahllose Male den „Herrn“ gewechselt. Auf dem Bahnhof in Dostow sind die großen Hallen mit Menschen gefüllf, die Buffets mit EBwaren beladen bis zum Brechen. Und schon 88 gibt es auch südliches Obst: eine köstliche Birne, einen wunderbaren Apfel als Nachtisch, während man im nörd- licheren Rußland gegenüber der Reichhaltiskeit der Fleisch- nahrung Gemüse und Obst oft schr entbehrf. Das war schon vor dem Kriege so. Einer der Wartesäle ist ganz mit Dlakaten zur Zehnjahrsfeier und mit Zeitungen ausgefüllt. Dort sitzen Arbeiter und Kinder eifrig lesend. Wo wird überhaupt wohl eifriser selesen als in Sowjet-Rußland? Wie Ausgehungerte stürzen sich hier Tausende in die ihnen früher verschlossene geistige Welf. In einem anderen Wartesaal liesen die Leute zum Teil auf dem Fußboden ausgestreckt und schlafen. Aber mit großer Spannung sehen wir alle dem nächsten Tase entsegen, der uns den Anblick des Kaukasus bringen soll. Das ist in der Tat ein unvergeßlicher Anblick. Das Bild des winterlichen Asowschen Meeres im Mebel, Dostow am Don im tiefen Schnee sind völlig versunken: über der weiten, grauen Steppe, auf der Herden weiden, im Hintergrund die mächtide, schneeweine herrliche Kette der Zacken des Kau⸗ kasus. Fraglos noch gewaltiger als die Kefte der Berner Alpen, mindestens dreimal so lans in der Ausdehnung. Fast den ganzen Tas genießen wir diesen Anblick, da keinerlei Vorberse oder Städfe den Blick über die unermeßliche Ebene hin hemmen. Im Vordergrund, ganz nahe, ein paar frofzige Berskesel, wunderbar seformt, wie der Vesuv mitten aus der Ebene aufsteigend. So geht es stundenlang den Nordrand des Kaukasus entlans; nur zuweilen sammeln sich um eine russische Kirche mit ihren malerischen bunten Kuppeln ein Dutzend kleiner fläuser zu einem Dorf — ein liebliches Idvll in dieser wahrhaft heroischen Landschaft. In Baku, wo die Bäume noch grün sind, aber seit zwei Iagen ein cisiger Schneesturm die Stadt durchfegt, finden wir — an dieser Scheide zwischen Europa und Asien — ein Völker- gemisch, wie ich es nur noch in Konsfantinopel sah: Ischer- kessen, Türken, Armenier, Osseten, Araber, Nussen, Gcor- Sier, Derser, nein, mehrere Dutzend verschiedener Nationen auf enostem Naume zusammen. Die IInweosamkeif des Ge- birges und die Abgeschlossenheit der Täler hat die Spaltung der Bewohner in zahlreiche Stämme befördert; so versteht oft ein Dorf nicht die Sprache des anderen. Übrigens gibt es gerade im Kaukasus, in der Nähe von Tiflis, auch deutsche Kolonien, in denen noch deutsch gesprochen wird. Auf der Rückfahrt hatten wir in unserem Wasen einen Wolsadeutschen als Schaffner, der sein Deutsch mit einem Zut württembergischen Akzent“sprach, Nachkomme jener württembergischen Bauern, die im Anfang des vorigen Jahrhunderts nach Rußland auswanderten. Sein Vater war 89 Bauer, er selbst Musiker, hat diesen Beruf aber, des Bürger⸗ krieges wegen, aufgeben müssen, ein schlanker, blonder Mensch, mit den sympathischen feinen Zügen eines deut⸗ schen Gelehrten. Seine ruhig-sachliche Einstellung als Nicht⸗ Kommunist zum jetzigen Regime ist: frotz aller Schwierig⸗ keiten, die für die bäuerliche Bevölkerung noch bestehen, halte sie unbedingt zu der jetzigen Regierung, insbesondere einem Anpriff von außen sesenüber. Und nie habe man vorher in Rußland das Gefühl haben können, daß auch dem einfachen Manne sein Recht werde, wie es eben jetzt unter der Sowjet-Regierung der Fall sei. In Baku mit seinen berühmten Maphthaquellen sind wir dann in jenem Zentrum der Finanzinteressen, jener Macht- kämpfe um Detroleum, von deren Ausgang Krieg oder Frie- den der ganzen Welf abhängt. Die Olimperialisten, Sir Iienry Deterding in London an der Spitzc, erstreben ja nichts mehr und nichts weniger, als die kierrschaft über diese Olquellen in Baku. Und da es kierrn Deterding bisher nicht mit „fried- lichen“, geschäftlich-kapitalistischen Mitteln gelungen isf, sich die Herrschaft über die russischen Olquellen zu verschaffen, so hat er die englische Regierung im vorigen Frühjahr be⸗ stimmt, die diplomatischen Bezichungen zu RuBland abzu⸗ brechen. Er proklamiert: niemand auf der ganzen Welt dürfte von RuBland Erdöl kaufen. Seine Frau sehörte vor der Revolution zu den Besitzern dieser Schätze, einem der wichtigsten Rohstoffe in der heutigen Welf. Herr Deterdins kann es nicht begreifen und dulden, daß die Rohstoffe der Welt allen zusute kommen sollen; so nennt er — wer lacht da? — das russische Ö1 mit Vorliebe „gestohlenes“ Öl. In seiner Hand ruht heute eine Macht, die größer ist als die aller jener, die sich noch mit dem etwas altmodisch-roman⸗ tischen Iitel „Kaiser“ oder „König“ nennen dürfen. Wollen wir zulassen, daß die Finanzinferessen einiger Weniger Millionen von Denschen wieder in Tod und Verderben senden?! Wenn jetzt Lord Birkenhead offiziell in Berlin empfangen wird und mit besonderer Betonung davon spricht, welche Rolle Deutschland in der Bekämpfung des inneren und gewisser äußerer Feinde sich crrungen habe, 8o heißt es für uns jedenfalls aufmerken. Lord Birkenhead steht in engster Gesinnungs- und Kampfgemeinschaft mit Herrn Deterding. Leidenschaftliche Gegner der jetzisen rus⸗ sischen Regierung haben mir offen erklärt: die oft ge- äußerte Befürchtung der russischen Regierung, England er- strebe eine Einkreisung mit dem Ziel des Kriegcs, sei kcin leerer Wahn. Eben Lord Birkenhead, der alle paar 90 Wochen mit führenden Männern der Wirtschaft, franzö⸗ sischen und deutschen, zusammenkomme, sei einer der An- führer. Wenn durch das russische Aulenhandelsmonopol die Tür zum russischen Markt vcrsperrt sei, meinen diese Herren, dann müsse man sie eben „einfreten“. Ich sagte entsetzt: „Eintrefen“? Was meinen Sie damit? Also Kries führen?1 Damif die kierren Finanzmaonaten noch größere Millionen- geschäfte machen können, sollen wieder Millionen mit schein- heilisen, verwirrenden Dhrasen in den Tod und zum Töten auspesandf werden?! Zur Befriedigung ihres Finanzehrceizes soll die halbe Welt vergast werden?!“ ¹ 7 In der Tat, wenn die russische Regierung oder die kom- munistische Dresse der verschiedenen Länder dergleichen Sorgen äußert, wendet man sich in der bürserlichen Offent- lichkeit achselzuckend ab: „Hirngespinste, Hysterie, poli- tische Mache.“ Wenn aber dGesner des Kommunismus es selbst bezeugen, ist wohl kein Zweifel mehr daran Er- laubt. Und der Kongreß „gegen die Kriegsgefahr“, dem wir in Moskau beiwohnfen, der alle Werkfätigen und alle ehr- lichen Kämpfer gegen den imperialistischen Krieg auf- forderte, die Abrüstungsbestrebungen der Sowjet-Regieruns nach Kräffen zu unferstützen und die Kriessvorbereitungen desen die Sowjet-Union mit allen Mitteln zu bekämpfen, hafte also viel dränsendere, tiefer begründete Ulrsachen, als sich selbst manche der sympathisierenden Anwesenden haben träumen lassen. UIm Bakus Näphthaquellen geht es also hauptsächlich. Diese Naphthaquellen: eine Stadt von Bohrtürmen, in der Form von Eiffeltürmen, im Schlamm steckend, der in allen Farben des Drismas leuchfen kann. Und doch crinnert diese Ansiedlung weit draußen, am Kaspischen Mecr, auf der Hlalbinse! Apscheron, weit eher an ein Danfesches Inferno, als an einen Ort, der von den Menschen so heil begehrt wird, als sei es cin Daradies. Darum also werden Kriege seführt? Weder in dem eisigen Sturm, in dem wir die Naphthaquellen sahen, noch in der Sonnenglut des Sommers scheint es mir cin Aufenthalt, der besonders zur Freude verlockt. Arbeiter, die an uns vorbeigehen, rufen uns freundlich zu oder sinsen wohl auch für sich. Aber für den Außenstehenden ist es doch ein erschütternder Eindruck. Nenschen, die dort leben, haben es Sewißs nicht leicht, sut und froh zu sein. Die ganze Dro- blematik der Verwirklichung des Sozialismus, des Zieles: allen Menschen eine erträgliche und erfreuliche Existenz zu verschaffen, fällf gerade an diesem Ort besonders lebhaft auf die Seele, scheint schwieriger als je zu verwirklichen. 91 VIII. Baku—Tiflis—Batum-Noworossisk. Aber dann wird die Landschaft immer südlicher, wie es von Baku nach Iiflis weitergeht. Nun sind wir südlich des Kaukasus. Das ist südlich der Alpen. Das bedeutet Italien, die Riviera. An der Kura vorbei, dem einzigen schmalen Fluß, der vom Kaukasus kommt und nicht von der Steppe aufgezehrt wird, ganz antik-heroische Landschaft ringsum: Dinien, Weinbau, Lehmhütten, blühende Blumen, Kakteen. Wir sehen Brauen mit malerischen weißen oder lila Shawls einherschreiten über diese menschenleere Ebene, — vielleicht Türkinnen, die zum Teil noch die Verhülluns trasen, aber den Nock erfreulicherweise kurz bis zum Knic, mit hellen Striimpfen, ganz wie in den Straßen von Daris oder Berlin. Die Arme malcrisch erhoben, um die schön geformten Kupfer- oder Iongefäße auf der Schulter zu halten. Schaf⸗ herden mit ihrem Hlirten in der Delzmütze, Frauen, die das Brot im Freien auf einem Stein rollen und backen. Wagen, die in der Stadt — Baku oder Tiflis — fahren, werden poe- tisch „Dhaeton“ senannt, und sind heiter-bunf bemalt. Aber, wie durch ſahrtausende von jener ursprünglichen Ein- falt geschieden, die moderne Eisenbahnlinie, die zwischen Baku und Batum, zwischen dem Kaspischen und dem Schwarzen Deer das Land, die Einsamkeit durchschneidet und in eigens dafür bestimmten rollenden Walzen auf langen Güterzügen Ö1 oder Benzin vom Kaspischen zum Schwarzen Mcere führt. Aber das Schönste und Malerischste ist doch die Lage von Tiflis selber. 8o etwa denke ich mir die Landschaft in Dalästina, besonders ſerusalem, das ja auch auf Hügeln liegt. Gibt es sonst noch irgendwo etwas Derartises von Anpassung an die Landschaff in der Welt? Felsen, Erde, Sträucher, Häuser, ja selbst die Kleidung der Menschen, alles hat diese gelbrote Lehmfarbe. Wieviel berühmte Städte dieser Erde haben meine Augen schon geschen: Ncapel, Dessina, Venedig, Genua, Lissabon, Edinburg und — als die märchen⸗ hafteste von allen — Konstantinopel. Und doch gchört Tiflis, das nicht am Meere sondern an der schmalen Kura liegt, zu einer der romantischsten Städte. Man könnte an Salzburg oder Heidelberg denken, wenn nichf die wildzer- klüfteten Felsen — wie von Ulrweltmächten in Wosen zer⸗ schnitten —, die rotbraunen Farben der Steppe, der meisten Hläuser, das alles in eine selfsam orientalisch-wilde Farbe und Stimmung auflösten. Zuweilen slänzen auch die weißen Schneeketten des Kaukasus herüber, besonders wenn man 92 ein Stückchen zur Stadt hinaus auf die berühmfe Grusinische Hiecrsfraße fährf, an der unten an der Kura ein neues elek- trisches Kraftwerk errichtet ist, auf das die Grusiner wie die Russen begreiflicherweise sehr stolz sind. Oben in den Felsen — gerade dem Kraftwerk und einem großen Dlatz gegenüber mit dem eindrucksvollen Lenin-Standbild, der, in der Hlaltung des Volksredners kühn und trotzig, unscheucr lebendig die neue Zeit verkörpert —. gerade diesem Dlatz segenüber zeigt man uns Felsenhöhlen aus alter Zeit, in denen vor einem ſahrtausend und länger Einsiedler gelebt haben. Ein wenig weiter hinauf, ebenfalls an der Kura, nahe der Grusinischen Heersfraße, kommen wir zu der alten Hauptstadt Grusiniens, Mzchet, mit einem berühmten Kloster, einer herrlichen Kathedrale aus dem vierten ſahr- hunderf. Ein schöner Mönch, eine hohe, edle Gestalt, ein Christustvp mit dunklen Ausen, schwarzen Locken, führt uns umher. Überhaupt sind die Georgier, oder die Grusiner, wie die Russen sasen, ein schönes Volk. Aber man sast auch, daß sie sehr stolz, auf ihre Vorzüge sehr eingebildet sind; jede Verletzung der „Ehre“ schwer rächen. Hier, wo unzählige Völker seit ſahrtausenden zusammen⸗ getroffen sind, hier prallen auch die Kulfuren zweier ſahr- fausende unvereinbar aufeinander: die Errungenschaften der modernen Zeit und zugleich — bis vor wenigen ſahren — noch Blutrache und Frauenraub als allgemeine Sitte. Den⸗ selben Gegensatz finden wir auch in bezug auf die äußeren Verhältnisse. Tiflis selbst ist eine wunderschöne moderne Stadt; breite Boulevards mit hohen Hläusern, offene clek- frische Wagen, moderne Fiotels. Aber in dem ethnosraphi- schen Museum erzählf uns der deutsche Leiter der zoologi⸗ schen Abteilung, er habe vor wenigen Iagen, Janz in der Mähe des Botanischen Gartens, einen Wolf gesehen. Er zeigt uns den jetzt ausgestopften Tiger in seinem Mu- seum, den man vor fünf ſahren zwanzig Kilometer von Tiflis geschossen habe. Bären und Leoparden sind noch ganz häufig, von den Giftschlangen nicht zu reden. Auch Erdbeben sollen sehr häufig vorkommen. In der Universität, in der wir mit einer liebenswürdigen Ansprache des Dektors empfangen werden, drängen sich in der großen überfüllfen Halle hübsche georgische Sfudentinnen mit Bubikopf, die noch vor wenigen ſahren unter dem Gesetz des Frauenraubes standen, kollegial plaudernd neben den Studenten. Wunderbare Ikone, Heiligenbilder, Goldplastik mit Edelsteinen aus den Kirchen, eine herrliche Sammlung, zeigte man uns dork. Überhaupf: alles, was wir schen, hat diese warme Farbe, diese hohe Temperatur des Lebens. Die heißen, berühmten 93 Schwefelbäder, die Wildheit der Tierwelt, die liebenswürdige Wärme der Begrüßung u. a. auch durch ein Fest des dortisen Schriftstellerklubs — das mit seiner Musik, seinem gleich- zeitigen Hiochlebenlassen je eines Gastes und eines ein- heimischen Schriftstellers die Stimmuns bis auf die letzte Flöhe treibt —, die weißen Gletscherspitzen des fern-nahen Kaukasus über den rotbraunen Felsen der Stadt, über- all eine Atmosphäre gesteigerter Intensität, vielleicht primi- tiveren, aber starken, verheiBunssvollen Lebens. Man kann begreifen, was diescs wunderbare Grenzgebiet für Rußland bedeutef, das erst dem machfvollen, im Norden die Grenzen des Eismeeres streifenden Reich auch seine Vollendung im Süden gibt. Was der „Frieden am Ende des Weltkrieges durch die Abschnürung der Randstaaten und Dolen RuBland auch de- nommen hat: es kann diese Verstümmelung ertragen, 8o- lange dieses Land dem russischen Menschen zu seinen un- ermeßlichen Ebenen des ewisen Schnees den Glanz und die Wärme des Südens, den romantischen Zauber des Hoch- gebirges schenkt. Fast sfärker noch als in Tiflis selbst haben wir dann den ganzen Neiz südalpiner Landschaft in Batum kennen se- lernt. Es liegt — nahe dem antiken Trapezunt — in einer malerischen Buchf am Schwarzen Meer. Die Ausläufer des Kaukasus erheben sich als cine schöne, mit Schnee bedeckte Kette neben den armenischen Gebirgen. Die vor kurzem noch in die endlose Schneewüisfe hinausträumenden Ausen er- blicken mit einem Male mit ungläubigem Staunen und Ent- zücken Dalmen, Zedern, Magnolienbäume, Lorbecr, Disang, Bambushaine, blühende Dosen. Wir besuchen den sich am Berghange hinzichenden Botanischen Garten mit Tecplan⸗ fagen, japanischen Dflaumenbäumen — Prüchten wie Apfel- sinen, aber mit glatter, weicher Haut —, Feldern mit Man- darinensfräuchern, die wir selbsf von den Bäumen brechen. Von dort hat man einen wunderbaren Blick über die ganze Bucht, die an den Busen von Neapel erinnerf. Eine Ahnung von den russischen Möslichkeifen hat nur, wer zumindest diese Fülle der Gegensätze in sich aufgenommen und da- mit den unseheuren latenten Reichtum dieses Staates cin- mal ergriffen hat. Was könnfe aus diesem einzisen Deiche an Vorbildlichem für menschliches Zusammenleben de- staltef werden, wenn man ihm die Mule, die Ruhe zur Entwicklung gönnfe, ihm durch Anleihen helfen würde, die immensen Schätze zu heben, die in seinem Boden ruhen! Wie off muß man in Dußland von einfachen Menschen in den Arbciterklubs oder in Gesprächen mit der bäuer- 94 lichen Bevölkerung die Brase hören: „Wenn ihr denn Sym⸗ pathie für uns habf, wenn ihr meint, daß wir ctwas tun, für etwas leiden, was cinmal der ganzen Welf zugute kommen soll — warum habt ihr nichf selbst eine Revolution herbei- geführt? Oder warum helft ihr nicht, daß wir wenigstens Kredite bekommen, damit wir die Werte realisieren können, die bei uns vorhanden sind?!“ Da steht man dann immer schmerzlich beschämf da. Wie soll man diesen Menschen, die reinen HIerzens, opferwillig, für ein der ganzen Mensch- heit dienendes Ziel ein ſahrzehnf der schwersten Leiden und Entbehrungen auf sich genommen haben, klarmachen, daßs die innere und äußere UInvorbereitetheit der Menschen, die größere Differenziertheit der Bevölkerung in Westeuropa, die stärkere Machf von Industrie und Finanz — vom Ver- sagen einzelner Menschen oder Darteien zu schweigen — bei uns diese Lösung einer siegreichen Umgruppierung der Kräfte nicht gestattet haben? Aus all solchen Erlebnissen und Eindrücken nimmf man den heien, ernsten Willen mit fort, die Aufbauarbeit in RuBland, die ja — dank der Behinderung durch die Bürgerkriege — erst soeben hat beginnen können, um keinen Dreis durch Kriege oder „Interventionen“ kapi- talistischer Interessen wieder stören zu lassen. Auch wer sich kritisch zu der jetzigen Negierung Pußlands stellf — das mag jedem unbenommen sein — mul sich nur das eine ver- Segenwärtigen: welches Grauen, welches Entsetzen, welche schauerliche Nacht der Reaktion, welch feuflische Grausam- keit weißen Terrors würde sich über Europa, über die Welf erheben, falls es gelingen sollte, die jetzige Negierung in Sowjet-Rußland zu stürzen?! ſeder, der fähig ist, sich die Konsequenzen einer solchen Umwälzung auch nur in be- scheidenem Grade vorzustellen, muf davor, wie vor dem An- blick eines Medusenantlitzes, zurüickschrecken. Darum gilt es, alle Kräfte zusammenzunehmen: die immer wieder aufs neue erstrebte Weltkoalition gegen Rußland, gegen diesen crsten Versuch, eine sozialistische Gesellschaftsordnung auf- zubauen, muß verhindert, eine ungestörfe Fortentwicklung, der Ausbau eines großen Beginnens gesichert werden. IX. Gefängnisse. Eines der schmerzlichsten Kapitel für jeden modernen Menschen isf die Frage der Verantwortlichkeit oder Un- verantwortlichkeit des Denschen für sein Wesen und Sein. Wir erstreben die Entwicklung des Verantwortlichkeits- 95 bewußstseins; aber wir sind uns auch der Zweifelhaftiskeit dieses Dostulates bewußt. Wie reimen sich Zuchthäuser und Gefängnisse, risoroser Strafvollzug, die „Schuld“ des sozi⸗ alen Verbrechers mit einer freien, menschlichen, sozialisti- schen Weltanschauung? Mit diesen Droblemen wird ein ver- antwortungsbewußfer Mensch am intensivsfen ringen, am schwersten ins reine kommen. Zu den beliebtesten Argumenten gegen Sowjetrußland sehört bekanntlich der Vorwurf der Grausamkeit gegen politische Gegner. Von den Grausamkeiten gegen politische Cegner in Bulgarien, in Rumänien, in Ungarn, in Dolen, in Litauen, in Lettland, in Estland, in Italien, in Deutschland und in andern Ländern zum Beispiel liest man selfsamer⸗ weise in einer gewissen Dresse sehr viel selfener. Ein Aufenthalt von einigen Wochen oder Dionaten in Buß⸗ land kann natürlich auch nicht alle Rätsel lösen, uns nicht zur unfehlbaren Autorität bezüglich des Gefängnisproblems machen. Vor allem dürfen wir eines nicht vergessen, wenn wir Klasen über Hlärten beim Transport oder dergleichen hören: auch das ideal Gedachte und Gewollte wird immer noch in seiner Ausführung beeinträchtigt durch ungeeignete Menschen oder den Zwang ökonomischer Verhälfnisse. Das am I. ſanuar 1927 neu in Kraft getretene Strafrecht der Sowjet-Union ist aber wohl in seinen Grundzügen eines der modernsten und humansten Strafgesetze, die wir bis heufe haben. Es geht über die Grundsätze der Schule Enrico Ferris noch hinaus; es enthält den Begriff der „Bestrafung“ nicht mehr und gebraucht nur noch „MaB- nahmen der sozialen Verteidigung“. Der § 9 des Straf⸗ gesetzbuches sagt ausdrücklich: „Die sozialen Schutzmal⸗ regeln dürfen nicht bezwecken, physische Leiden zuzu⸗ fügen oder die menschliche Würde herabzusetzen und nicht die Aufgabe von Vergeltung und Sühne haben.“ Kein Freiheitsentzug darf auch länser als zehn ſahre dauern. In der Regel handelt es sich höchstens um die Hlälfte der Zeit, da überall geprüft wird, ob nicht der kläftling inzwischen er- kannf hat, daf sein Verhalten desellschaftsschädisend war. Wenn man erwarten kann, daß er in Zukunft sein Verhalten anders einrichten wird, gibt man ihn frei. In allen anderen Ländern gibt es sonst noch zwanzisjährige Haftstrafen oder auch lebenslängliche. Es gibt keine Zwangsarbeit im russi- schen Gefängnis, keine Fesseln und keinen Nahrungsentzug. Dieselben Arbeiterschutzgesetze, die für den freien Arbeiter selfen, wie zum Beispiel der Achtstundentag, gelten auch für den Gefangenen. Das Gefängnis soll nicht mehr ein Ort der 96 Rache, sondern eine Erzichungsansfalt sein, in dem für den Inhaftierten sowohl die Möglichkeit beruflicher Fortbildung wie kultureller Aufklärung und Weiterbildung gegeben ist. Anfanss galf die proletarische Hlerkunft als mildernder UIm- stand in bezug auf die Vergehen, die bürgerliche Klassen- zuschörigkeit als erschwerender. Diese Betrachtungsweise ist im neuen Strafrecht jetzt ausgeschaltef. Auch die Todessfrafe, die man sich — leider — sezwungen gesehen hat, wieder cin- zuführen, wird ausdrücklich als eine vorübergehende Kampfmaßnahme betrachfet, als ein Ausnahmemittel zum Schutz des Staates, solanse er sich sewissermaßen im Zu- stand der Verteidigung degen den Ansturm der Feinde von auBen und innen befindet. Mit dem Besriffe einer abstrakten „Gerechtigkeit“ hat man gebrochen. Man hälf diesen Begriff in der bisherigen Gesetzgebung der bürgerlichen Staaten für cin außerordentlich gefährliches Mittel des Betruges. In seiner „Kriminalpolitik der Sowjetmacht“ sast Krvlenko: „Der UInterschied zwischen der bürserlichen und der sowjeti- stischen Strafgesetzgebung liegt vor allem darin, daß die russische Gesetzgebung offen erklärt, ihre Strafgesetzgebung habe den Zweck, den prolefarischen Staat und die von der Arbeiterklasse errichfete Ordnuns vor allen flandlunsen zu schützen, welche diese Ordnuns gefährden, während die bürgerlichen Staaten ebenfalls Klassengerichte haben und ihren Staat und die bürgerliche Ordnuns verteidisen und alle grausam verfolsen, welche einen Anschlas auf ihre bürser- liche Herrschaft und ihr bürgerliches System wagen, dabei aber heuchlerisch von einer objektiven Gerechtiskeit fabeln und dadurch die wirkliche Situation verschleiern. Man versucht, die Arbeiter und Bauern selbst mit der Rechtsprechuns in die allerinnigste Beziehuns zu bringen. So haben allein im ſahre 1926 500000 Arbeiter und Bauern des Amtes als Richter oder Schöffen in Rußland gewaltet, und man ist bemüht, immer wieder neue Kreise heranzu- ziehen, um sie die Kunsf der Staatsverwaltung zu lehren. Man kann über die Berechtisuns oder die Wünschbarkeit des Sowjefsystems natürlich verschiedener Meinuns sein; über die Folserichtiskeit und Klarheit, über den hier sezeisten Mlut zur Wahrheit und Aufrichtigkeit aber kann man nicht streiten. Die ethische Tendenz des Strafvollzuges, auch im Gefansenen den Menschen zu sehen, an dessen baldiser Zurüickführuns in die menschliche Gemeinschaft als produk- tives Mitglied dieser Gemeinschaft dem Staat gelegen sein muß, isf unleusbar. Auch das Beschwerderecht des Gefangenen ist un- beschränkt. ſedem Häftling wird sofort ein Dersonalbuch 97 ausgehändigt, das Informationen über seine rechtliche Lase enthält. Außerdem gibt es noch eine Broschüre mit dem Tifel: „Was muß der Hläftling wissen?“ Sie enthält eine aus- führliche Schilderung der Rechte und Dflichten der Hläft- linge, und jeder kann sic für wenig Geld in der Haftanstalt kaufen. In den Gefängnissen der europäischen Staaten ist in der Regel das Beschwerderecht dadurch illusorisch geworden, daß die Gefangenen wegen leichtfertiger oder unbegründeter Beschwerden bestraft werden, oder daß, wie eine Kom- mission in England 1919 und 1920 feststellte, die Rechte des- halb nicht wahrgenommen wurden, weil die Gefangenen sie nichf kannfen. Einen Frundsätzlichen Unterschied zwischen der Bestrafung in Westeuropa und dem neuen Rußland cr- kennf man auch darin, daß es in England zum Beispiel bis zum heutigen Iage noch üblich isf, wie Brockwav und Hob- house in einem Werk über Gefängnisreform berichten, die Gefangenen genähfe Sachen von neuem auftrennen und wieder nähen zu lassen. Ein Beweis sinnloser Grausamkeit, des Willens zur Erniedrisung, wie er deutlicher nicht ge- dacht werden kann. Auch das Decht auf Arbeitslohn tritt in den meisten Gefängnissen außer Kraft oder beschränkt sich auf ein Almosen von wenigen Dfennisen. In Rußland wird ihnen der übliche Lohn für die Arbeit bezahlt; 2500 werden für Verpflegung zurückbehalfen. Einen Teil crhalten die Ge- fangenen sofort zum Ankauf von Lebensmitteln oder son⸗ stisen Bedarfsgegenständen ausbezahlf, oder er wird auch an andere Dersonen geschickt, wenn sie es wünschen; 500 davon werden ihnen gutgeschrieben, die sie beim Austritt aus dem Gefängnis crhalfen. Vor allen Dingen aber versucht man produktive Befriebe in den Gefänsnissen einzurichten. Ihre Zahl ist in den ſahren 1922—1926 von 20 im ſahre 1922 auf 525 im ſahre 1926 gestiegen. Unter diesen Betrieben befinden sich große Fabriken und Werke mit umfassender Droduktion. Erwähnung verdienen auch die Textilfabriken der Haft- anstalt von Lefortowo, die Dhotoplattenfabrik des Kor- rektionshauses in Sokolniki, die Tabakfabrik im Nord- kaukasus, die Maschinenfabrik in Leningrad, die Holz- bearbeitungswerkstätten, die Druckereien, Metallbetricbe usw. Der ſahresumsatz dieser Unternehmen erreichte Ende 1926 acht Millionen Rubel. Ist also schon hierdurch, daß eine produktive Arbeit ermöglicht ist, der psychische Druck einer sinnlosen Beschäftigung von dem. Gefangenen ge- nommen, so tritt die Tendenz der Ertötung der Dersönlich- keit noch vollkommener zurück durch die kulfurelle Auf- klärungsarbeit, die man sich überall zum Ziel gesetzt hat. Die psychologische Isolierung der Gefansenen ist auf- 98 sehoben. Es gibt Vorlesungen, Klubs, Bibliotheken, Literatur, Musik, Sport, Schach, Konzerte, Iheater. Die Gefangenen geben Zcitschriften heraus, die auch außerhalb der Gefäns- nisse gelesen werden. Analphabeten werden in die Geheim- nisse des Lesens und Schreibens eingeführf. So wuchs die Zahl der Schulräume in den Anstalfen von 1924—1926 von 122 auf 204,. die der Lehrkräfte von 251 auf 348, die der Schüler von 12204 auf 18072. Die Zirkel für Dolitik stiegen von 162 auf 204, für Theater und Musik von 374 auf 401, für Turnen und Gymnastik von 272 auf 303, die Zahl der Vor⸗ lesungen von 16471 auf 20294. X. Als man uns in Moskau in den „Lcfortowo-Isolatox“ führte, wie man euphemistisch für Zuchthaus sagf, waren wir überrascht, dort in den Zellen überall Radio zu finden. ſeder darf sich seinen eigenen Empfangsapparat halfen oder ihn sich auch selber hersfellen. Was diese Bezichung zun Außenwelt, diese ständige Anregung bedeufet, mag sich jeden selbst ausmalen. Auch cin Sprechverbof, wie es sonst übefilt bei den Gefansenen noch herrscht, gibt es dort nicht. In dsi ehemaligen Kapelle, in die früher die Gefangenen nur We führt wurden, um nichf einander, sondern aus ihren abgesöms derten Kästen heraus nur den Drediser beim Gottesdienst zu erblicken, befindet sich jetzt der Klub, in dem Theater gespielt wird, Musikaufführungen, Vorträge stattfinden. Wir blickten in die meist für zwei einderichtefe Zellen. Der Leiter der Bibliothek war ein früherer Sowjetbeamter, der wegen Veruntreuungen im Amf besonders hart bestraft wurde, wie er uns selbsf erzählte. Auch politische Gefangene befinden sich in diesem sternförmig gebauten Isolator: ein alter Fürst U., unter dem Zaren ein Kavalleriegeneral, der wegen aktiver Konterrevolution zehn ſahre erhalfen hat. Er verschmäht jede Begünstigung, sitzf auf einer Dritsche und raucht. Er lehnt cs auch ab, sich mit den Delegierten zu unterhalfen; er habe schon viele Delegierte gesprochen, aber keinen Nutzen davon gehabf. Auch einen ganz anderen Typ von „Konter- revolutionär“ sprechen wir dann noch: einen jungen Schrift- steller; er kommt zu uns heraus aus seiner Zelle in den Klub mit langem, wallenden Haar, der I'vpus cines jungen, schwär- merischen Dichters. Er erzählt uns, er habe im Gefüngnis ein Buch über Tolstoi geschrieben. Zur Zeif arbeitet er über Bakunin. Er war früher Lehrer und durfte schon einmal während seiner Hlaftzeit Frau und Kind besuchen. In der Abteilung unten, in der an Maschinen gearbeitet wird, werden 99 einise der Gefansenen defrast, warum sie hier sind. Der eine hat einen Nlord begangen. Hier läßt man ihn ruhig unter den Kameraden umhergehen, in dem psychologisch ganz richtigen Gedanken, daßs es der Allsemeinheit mehr frommt, einen Mienschen durch Vertraucn, durch Achtung wieder aufzu⸗ richfen, ihm die Selbstachtung wiederzugeben, als ihn bis aufs Bluf zu demütisen und herabzusetzen. Sicherlich: ein Gefängnis, der Entzug der persönlichen Freiheit ist und bleibt unter allen Bedingungen cine harte Sache. Aber die Grade der Qual, die wir diejenigen erleiden lassen, die aus „verschuldefen“ — oder „unverschuldefen“? — (Irsachen im Zuchthaus oder Gefängnis landen, können doch unsäglich verschieden sein. Wenn man, wie hier in Rußsland, das quälende Sprechverbot aufgehoben hat, wenn man ihnen zweimal wöchenflich Besuch und Korrespondenz erlaubt, zweimal den Empfang von Lebensmitteln (in der lkraine sogar dreimal) und Gcld, eigene Kleidung und Irlaub ge- stattet, wenn es keinen Karzer mehr gibt mit Wasser und Brot, wie in den meisfen übrigen Gefängnissen der Welt, so darf man doch wohl sasen, daßs hier schon danz neue Weoe in der Behandlung derer eingeschlagen sind, die in irgendeiner Weise die soziale Gemeinschaft geschädigt haben. Den Gefangenen der zweiten und dritten Kate- gorie werden 7—14 Tage Urlaub gcwährt; Baucrn crhalfen sogar einen Urlaub von 7—4 Monaten zur Verrichtung der Feldarbeit. Zwanzig- bis dreibistausend kläftlinge erhalten jährlich solchen Urlaub für die Heimat. Die Erfahrungen, die man mit diesem UIrlaub demacht hat, der bei den leichten Gefangenen auch von Sonnabend mittags bis Montag früh erfeilt wird, sind außerordentlich günstig. Bei dieser Me- thode sind im letfzten ſahre ganze zwei Gefansene nicht wieder zurückgekehrf. Das psychische Resultat dieser neucn Arf der Behandluns zeiot sich auch darin, dal die ner⸗ vösen Schädigungen der Häftlinge so zurückgegangen sind, daßs man sagen kann: die Haftpsychosen und Neurosen sind so Zuf wie beseitigf. In der Anstalt dürfen die Beamten keine Waffen fragen und müssen jede Herausforderung oder Demütigung der IIäftlinge vermeiden. Auch durch ihre Füh⸗ rung selbst können die Gefansenen noch dazu beitragen, ihre flaft abzukürzen, und dieses Bewuntsein wirkt natür⸗ lich auBerordentlich anspornend. Wenn die flälfte der Strafe verbüßt ist, gibt es eine bedingte vorzeitige Freilassung. Im ſahre 1926 konnfen 69oſo solcher Anfräge bewilligt werden. Aber auch noch auf einem anderen Wege können sich die Fläftlinge ihre flaft verkürzen. Zwei Arbeitstage werden als drei Hlafttage gerechnet, so daß durch intensive Arbeit ein 100 Hläftling wiederum seine Strafe um ein Drittel verkürzen kann. Als produktive Arbeit gilf die Arbeit in der Werkstatt, im Unferricht, in der Kanzlei usw. Während in den meisten Ländern, zum Beispiel in Prank- reich, England und Amerika, die politischen Gefangenen den gleichen Bedingungen wie die gewöhnlichen Verbrecher unferworfen sind, werden die polifischen Gefangenen in Rußland nach dem Dekret vom 10. ſuni 1925 nicht mehr in das Ssolowezkilager gesandt, wohin sozialschädliche Ele- mente desandf wurden, die eine besondere Gefahr für den Staat zu bedeufen schienen. Die Enfsendung politischer Gegner dorthin hatte leidenschaftlichen Drotest der aus- ländischen Gesinnungsgenossen der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki usw. hervorderufen. Man kann also von der Strafgesetzgebung und dem Straf⸗ vollzug in Rufland im allgemeinen sasen: nicht mehr die Er⸗ tötung der Dersönlichkeit, ihre Erniedrisuns und Demüti⸗ gung, sondern ihre Entwicklung und Heilung ist das Ziel. Man hat — darüber hinaus — cin staatliches Institut zum Studium der Kriminalität veprüindet, an dem prominente Ge- lehrte, ſuristen, Dsychologen und Dsychiater beteiligt sind. Darunter Drofessor Cernet, Ganuschkin, Lublinsky, Schischi⸗ Cenko und andere. Dieses staatliche Institut hat 1927 eine Einrichtuns seschaffen, die die erste in ihrer Art ist, und zwar die experimentelle Dönitentiarabteilung, die unter anderem die Aufgabe hat, die Methoden des Studiums der Dersönlich- keit der Verbrecher auszuarbeiten. In dieser Abfeilung, in der sich ungefähr 200 Verbrecher befinden, arbeiten wissen- schaftliche Beobachter, die medizinische oder pädagogische Bildung und Erfahrung im Strafanstaltswesen besitzen, unter der Aufsicht eines Gelehrtenrates am Studium der Dersön⸗ lichkeit der fläftlinge und der Veränderungen, die bei ihnen unter der Einwirkuns des Korrektionsarbeitsresimes zu be- obachten sind. Der Abteilung ist ein psvchologisches Labora⸗ forium angesliedert, das mit den neuesfen Apparaten und Instrumenten ausdesfattet isf. Alle Bragen des Lebens und Wesens der Fläftlinse, alle ihre Zuschriften und Anträse, alle Frasen, die mit der Draxis des Strafvollzuges verbunden sind, werden hier geprüft. Es ist zu hoffen, daßs sich immer mehr jene notwendige Devolution auch in unserer Behand- lung der Gefangenen durchsetzen wird, die hier in RuBland crfreulicherweise schon angebahnt ist — der Nietzsche vor einem halben ſahrhundert den geistisen Anstof gab mit seinem: „Kranker“ sollt ihr sagen und nicht „Schuft“, — „Tor“ und nicht „Sünder!“ — — 101 XI. Strafvollzug. Wie ist es, angesichts eines so aufgeklärfen, wahrhaft fort- schrittlichen, die Dersönlichkeit auch des Gefangenen so schonend behandelnden Strafrechts möglich, daß so leiden- schaftliche Vorwürfe gegen die Behandlung der politischen Gefangenen serichtet werden? Denn in nichts fobt der be- Kladenswerfe Bruderkrieg zwischen den beiden sozialistischen Darteien der Welt heftiger als in bezug auf das Verhalten Rußlands gegen seine politischen Gefansenen. ſe klarer man die Einheit der Arbeiterklasse, den Zusammenschluß aller Werktätigen als die nofwendige Voraussefzung jeden crnsten sozialen Forfschriftes crkennt, um so fiefer muß man die gegenseitige Verbitterung, die Blindheit und Gehässiskeit be- klagen, die sich zu jener tödlichen Feindseligkeit entwickelt hat, wie sie in der Welt immer nur zwischen jenen entsteht, die sich eigentlich am nächsten stchen sollten. Das aber muls man wohl anerkennen — ganz gleich, wo man selbst stehen mag —: nimmf man einmal den Grundsatz der „Sozialen Verteidigung“ der gegenwärtigen Gesellschaftsord- nung als die Grundlage der Strafgesctzgebung an, crsetzt man das Wort „Bestrafung“ durch die Worte: „Maönahmen der so⸗ zialen Verteidigung“, das heift „Maßnahmen, mit deren klilfe sich der neuc Staat der Werktätigen gegen gesellschaftsgefähr- liche Handlungen einzelner Bürger, cisener oder fremder, schützt“, dann erkennf man, daß in Konsequenz hiervon jede Handlung, „welche auf den Sturz, die Schädigung oder Schwä⸗ chuns der Macht der Arbeiter- und Bauernräte und der von ihnen, auf Grund der Verfassung der II. S. S. R. sowie der Verfassungen der verbündeten Republiken oder auf die Schädigung und Schwächuns der äußeren Sicherheit der II. S. S. R. und der wirtschaftlichen, politischen und nationalen Haupterrungenschaften der proletarischen Revolution ge- richtet ist“, als das schwerste Verbrechen angesehen und — scahndet werden muß. Hier ist gewiß der Dunkt, wo uns die fragische Unzulänglichkcit alles Menschlichen, die fragische Gebundenheit auch des edelsten und höchsten Zieles an dic unvollkommenen Stadien der Wirklichkeit am krassesten, am schmerzlichsten bewußt wird. Wie skeptisch man auch die Möglichkeit der Erreichung hoher Menschheifsziele durch eine politische und wirfschaftliche Revolufion beurfeilen mag, wie sehr man beklagen mag, daß die Realpolitik, der Wille, das Gieschaffene zu erhalten, zu drastisch harten Abwehrmaf- regeln führt: kein Einsichtiger, der sich vorurteilslos um Ein- blick in das in Rußland Neugeschaffene müht, kann leugnen, 102 daß hier neue soziale und kulturelle Werte, wirtschaftliche Umgestaltungen begonnen, weitergeführt und verteidigt wer- den, wie sie in diesem Ausmaß nur in ganz seltenen Mo- menten der Geschichte geleistet worden sind. Und wenn es uns allen, denen über dem Schicksal irgendeiner Dartei das Menschenrechf, die Heiliskeit des Menschenlebens steht, außerordentlich bedauerlich und bedrückend sein mul, dal auch diese, vom klarsfen Willen und — bei aller Nüchtern- heit der Erkenntnis — vom idealsten Wollen gefragene Re⸗ volution nicht ohne blutige Härten sich durchsetzen konnte, so scheint uns Dflicht, an Stelle blinder Verherrlichung oder sehässiger Verunglimpfung dieses Tuns die Erkenntnis der tragischen Zwangslage, der Zwangsläufigkeit dieses Ge- schehens zu setzen. Sicherlich: aktiver Feind der Sowjetunion zu sein, am Sturz des jetzigen Regimes zu arbeiten, ist ein defahrvolles Unternehmen, das, je nachdem, mit Kerker und Tod bezahlt werden muß, wie die Erschießungen der Doncz- Saboteure und die nach der Ermorduns des russischen Ge- sandten zeigen. Aber gerade wer diese Todesurteile be- Klagt, wer überhaupf dafür wirkt, die Todesstrafe aus allen Gesetzbüchern der Welt ebenso abzuschaffen wie den or- ganisierten Menschenmord im Kriege, darf sich nicht ver- hehlen, daß diese Härte sich ersf wieder betätist hat, als durch den Abbruch der englisch-russischen Beziehungen, durch die Ermordung des Gesandten in Dolen der Gegen- revolution die Zeit zum verstärkten Kampf gegen Rußland dekommen schien. Und welche Regieruns der Welt — von de- nen sich ja jede noch ausnahmslos für berechtist hält, durch Kriesserklärunsen ihre schuldlosesten Staatsangehörigen zu Millionen zum Tod zu verurteilen — würde in ähnlich be- dränsfer Lase wirklich anders handeln? Auch die Dartei in Deutschland zum Beispiel, die am leidenschaftlichsten die „Grausamkeit“ der bolschewistischen Dartei in Pußland gegenüber den Menschewiken und Sozialrevolutionären be- Klast, hat keinen Moment gezögert, Iruppen, weibe Truppen, 8egen die Revolution einzusetzen, als sie das Staatsinteressc, wie sie es verstand, sefährdet glaubfe. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, Léviné, Leo ſogisches, Kurt Eisner, Gustav Landauer, um mur die bekanntesten Namen zu nennen, sie und neben ihnen fünfzehntausend Namenlose, sie bezeichnen den nicht minder blutigen Weg, den es in Deutschland ge- kostet hat, eine Revolution — nicht cine Gesenrevolu- tion — niederzuschlagen. Wir wollen an dieser Stelle nicht untersuchen, was entschuldbarer ist: um der Revolu⸗ tion oder der Bekämpfung der Revolution wesen so zu han⸗ deln. Das hängt vom Standpunkt des Handelnden ab. Jeder 103 mag sich — subjektiv — für verpflichtet halten zu seinen Maßnahmen. Nux meine ich, dürften diejenigen, die vier lange Kriegsjahre hindurch es für ihre Dflicht gehalfen haben, an der Seite unserer Militaristen Millionen Deutscher in den imperialistischen Kricg zu senden und die — nach der Be- endigung des Krieges — sich sofort mit der Gegenrevolution verbiindefen — nur dürften sie sich nicht verade darüber beklagen, daß in RuBßland nicht Gandhi, sondern der xevolu⸗ tionäre Marxismus mit allen staatlichen Gewalfmitteln herrscht. Sicherlich, unser Zie! mun sein, der Gewaltlosiskeit auf Erden allmählich den Boden zu bereiten. Niemand von uns wird behaupten, dal der Bolschewismus in seiner politi- schen Draxis die Gewaltlosigkeit schon zum Sieg geführt hat. Aber wo irgendwo sonst haben wir das schon auf der Welf geschen? Es ist schlimm, daß die dienschen noch kein anderes Mlittel gefunden haben, politische Gegner in Schach zu halfen, als sie, wenn sie sich aktiv an der Untergrabung, an der Arbeit für den Sturz einer bestimmten Degierung betätisen, der Prei- heit, in bedenklicheren Pällen des Lebens zu berauben. Hoffen wir, daſs wir endlich einmal den Weg der geistigen Überwin⸗ dung finden, wo es genügt, den anderen mit geistigen Waffen zu besiegen, das heißst ihn zu überzeugen, wie es Gandhi in Indien versucht. Und so schmerzlich es uns sein mag, ein Gefängnis zu durchwandern, in dem durch Not, durch schlechte Anlage schuldig gewordene kriminelle Verbrecher sind, so sehr uns dabei das Bewußfsein von unser aller Mit⸗ schuld, von der Schuld der Gesellschaft packt, noch viel bedauerlicher ist es im Grunde, den politischen Gesner ins Gefängnis zu senden. Es ist klar, daß hier, wo die elementar⸗ sten Leidenschaften und Interessen der Erhaltuns eines po⸗ litischen Systems einerseits, oder seiner Zerstöruns anderer- seits im Spiel sind, auch Übergriffe, auch MiBsriffe, auch UIn⸗ gerechtigkeiten vorkommen. Damit muß man leider, als mit menschlichen Unzulänglichkeiten, noch rechnen. XII. Es war ein krasser Gesensatz, als wir in Batum unmittel- bar vom freien, steilen Meeressfrand, von dem aus wir die Ausläufer des Kaukasus und des armenischen Hlochgebirges bewundert hatten, in der Begleituns des Dräsidenten der Republik Adjaristan, Bregadze, in das Gefängnis fuhren. In der HIafenstadt Batum, wo die Türkei, Armenien und Der⸗ sien angrenzen, ist natürlich die Gefahr nicht nur der Ein⸗ schmusgelung fremder, unerlaubter Waren, sondern auch ver- 104 botener Ideen, gegenrevolutionärer Bestrebunsen auleror- dentlich groß. Und die neue ansteigende Welle der Gegen- revolution: vom Abbruch der englischen Beziehungen im Mai 1927 an gerechnet bis zur Ermordung des russischen Gesandfen in Warschau, haf natürlich auch die Gefängnisse Sowjefrußlands von neuem mit Verdächtigen, mit Schul⸗ digen gefüllt. Auch in Batum. Dräsident Bregadze, der uns dort führfe, hat unter dem Zarismus selbst zwölf ſahre im Kerker zugebracht. Eine seiner Schwestern wurde bei der Niederschlagung der Nevolution 1906/1907 bei einem Dosrom getötet. Bregadze ist eine selten sympathische Dersönlichkeit, dessen Außeres uns unwillkürlich an Bilder von Max kIölz crinnert, dem man zur Zehnjahrfeier bekanntlich den Rofen⸗ Fahnen-Orden verliehen haf. In diesem Gefängnis, viel winkliger, viel enger, viel weniger systematisch von vorn- herein als Zuchthaus dedacht, wie der sternförmig gebaute Lefortowo-Isolator, hängt jefzt im Direktorzimmer ein Bild des Dräsidenten, der hier einmal lange ſahre im Kerker ver⸗ bracht haf. Der Raum, den man uns zeigt, ist mit Gefangenen überküllt. Aber wir können uns ohne irsendwelche Ilemm⸗ nisse mit ihnen unferhalten, und eine Anzahl von ihnen spricht zut Deutsch. Man läßf sie uns nachher auch ruhig in den Klub folsen, wo mehr Daum ist, sich mit den Einzelnen ungestört zu unterhalten. Einige von ihnen sind der Meinung. zu Unrecht verhaftet zu sein. Aber bei der Nachprüfung der Akten im Direktorzimmer später ergibt sich bei dem einen, daß er sich unter falschem Namen, ein früherer Gegen- revolutionär, in die Redaktion einer kommunistischen Zei⸗ tung eingeschlichen hat, ein anderer ist als ein alter, zaristi- scher General entdeckf worden, bei anderen wieder, die als frühere Angestellte englischer Firmen noch dort leben, ist nach allem, was wir inzwischen erlebt haben, der Verdacht nicht ganz ungerechtfertigt: daß sie Spionage, wirtschaft- liche Spionage, zuunsfen früherer Vorbesitzer, zum Bei⸗ spiel Englands, gefrieben haben. Ein Deutschpole behauptet, seine eifrige Korrespondenz mit Dolen sei nur an scine sechs Brüder in Dolen gerichtet gewesen; er lebe bereits als Dole seit 40 ſahren in Batum und habe nur ein durchaus persön⸗ lich-harmloses Gespräch mit einem der früheren Vorbesitzer, einem Engländer, seinem früheren Chef, bei dessen Besuch dort dehabt. Gewin ist es möslich, daß in einer politisch er⸗ regten Zeit auch UInschuldise mitersriffen werden; auch in Sowjetrußland kann das, wie überall auf der Welt, vor- kommen. Aber ich beobachtete dort eine Begegnung, die sich, glaube ich, nicht so leicht in einem anderen Lande in einem 105 Gefängnis zutragen wird. Ich unterhielt mich länser mit diesem Dolen, der sehr unter der Haft zu leiden schien und seine UInverdächtiskeit beteuerte. Als er den Dräsidenten den Klubraum betreten sah, sagte er, zu mir gewendet, in sehr warmem, anerkennendem Ion: „Das ist ein sehr vor- nehm gesinnfer Mann.“ Man spürte ordentlich die auf- richtige Sympathie, die er für den alten Kämpfer und Re- volutionär hegte. Einige Zeit später trat der Dräsident auch zu uns heran; er begrüßfe den Dolen mit einiger Über- raschung und sagte: „Ich kenne Sie ja sehr gut“ — und — man spürte sein herzliches Bedauern — „ich wußte gar nichf, daß Sie hier waren.“ UInd nun hielt er die ganze Zeit kameradschaftlich, freundschaftlich tröstend die fiand des Gefangenen in der seinen, während wir uns noch weiter über seinen Fall unterhielfen. Ich weiß nicht, wer recht hatte in diesem Fall: die russische Anklasebehörde, die zu seiner Verhaftung schritt, oder der Dole, der, wie es ja leider angesichts unserer menschlichen UInzulänglichkeit möglich ist, zu Unrecht verdächtigt zu sein behaupfefe. Aber das weil ich, dal ich mir keinen anderen Staat der Welf denken kann, in dem der Dräsident des Staafes einem der Gegenrevolution Angeklagten oder Ver- dächtigten so menschlich warmherzig begegnef, wie es hier der Fall war. — — Die ganze Schwere des Droblems, wie man wesentliche, kulturelle und wirtschaftliche Neugestaltunsen ohne die An- wenduns von Gewalt vollzicht, kommt uns bedreiflicherweise gerade in Rußland am lebhaftesten zum Bewußfsein. Da hier nicht der Daum ist, das Droblem in der Ausführlichkeit zu behandeln, die es seiner Bedeutung nach fordern kann, dart ich vielleicht auf eine Auseinandersetzung verweisen, die ich zu diesem Ihema unfer dem Titel: „Klassenkampf und Gewaltlosigkeit“ für das „Handbuch der Kriegs- dienstgegner“ (herausgegeben von Dr. Franz Kobler, Wien, im Verlag von Notapfel, Zürich und Leipzig, mit Bei- trägen fast aller führenden Radikalpazifisten, zum Bcispie! Gandhi, Nomain Nolland, Donsonby, de Ligt, Kurt Hiller, Armin I. Wegener und anderen) schrieb. Nur an eines möchte ich hier noch erinnern: ein großer Teil der gegenseitigen Vorwürfe — zwischen Anarchisfen, Tolstoianern, Gandhisten, Absolutisten einerseits und be- wußten und entschlossenen Klassenkämpfern wie in Ruß- land andererseits — beruht vielleicht auf der Unklarheit dar- über, daß den verschiedenen Gesinnungsgruppen auch ver- schiedene Aufgaben gestellf sind, daß cine vollkommene restlose Lösung des Droblems keiner von beiden Gruppen je 106 gelingen kann. Die Verantwortung des Staatsmannes, der unerbittlich an das Gegebene, unvollkommene Wirkliche an- zuknüipfen hat und daher auch zur Anwenduns der in diesem Momenf wirksamen Methoden ansesichts noch roher zuriick- gebliebener Zustände gezwungen ist, kann nicht gemessen werden an der Lage des Dropheten, der sich damit begnügen darf, im Reich der Idee Bilder einer schöneren Zukunft zu entwerfen, selbst Vorbild einer neuen Zeit zu sein. Wer hier verwechselt, wird nie zur Klarheit kommen, die dewil unzu⸗ längliche Arbeit der Gegenwart nie gebührend würdigen. Er wird dann auch dem, was im Rußland der rauhen harten Wirklichkeit an sozialem und kulturellem Fortschritt Je- leistet ist, nie gerecht werden. Wer aber die Kluft zwischen diesen beiden Funktionen: der Verwirklichungsarbeit des Staatsmannes und der Anregungsarbeit des Lehrers und Dhilosophen, erkennt, der weiß, daß noch die Arbeit von Jahrhunderfen, vielleicht von ſahrtausenden vor uns liegt, um jene von uns so schmerzlich empfundene Kluft ausfüllen zu können. Er wird in aller Demuf zusestehen müissen, daf jedem von uns nur ein bescheidenes Teil von Mitarbeit an der Vervollkommnung der Menschheit gegönnt ist. XIII. Abtreibung und Geburtenregelung. Schöpfer der neuen russischen Giesetze über die Abtrei⸗ bung und den Schutz der Dlutter isf bekanntlich der Kom⸗ missar für das Gesundheitswesen, Drofessor Semaschko. In der „Neuen Generation“ habe ich verschiedene Male Ar- tikel Semaschkos über die Abtreibungsfrage veröffentlicht. Auch hafte ich die sympathische Dersönlichkeit Drofessors Semaschkos bei einem früheren Aufenthalt in Berlin kennen- gelernt. Aber es lockte mich natürlich, während meiner An- wesenheit in Moskau, ihn selber aufzusuchen, seine persön- liche Stellung zum Droblem der Ceburfenregelung zu er- fahren. Denn man hat auf verschiedenen Seiten den Ein⸗ druck, daß das Neue Rußland zwar die in Westeuropa von allen linken Darteien so bekämpften Abtreibungspara- graphen modernisiert, reformiert habe, dafs es aber doch zögere, das Recht auf die Vorbeusung zuzugestehen. Die Leiterin der Abteiluns „Mutter und Kind“ im Kommis- sariat für Gesundheitswesen, Frau Lebedewa, die ich bei einem früheren Aufenthalt sprach, ist von der Notwendigkeit auch der Vorbeugung aus sozialen Gründen in zahlreichen Fällen überzeugf. Doch fehlen natürlich noch die Mittel, um die Regelung in so großem Stile durchzuführen, wie sie aus 107 hygienischen und eugenischen Grüinden wünschenswert wäre. Auch Drofessor Semaschko war der Meinung, daß in einem Lande so vorbildlicher Neformen in der Abfreibungsfrase die vielleicht noch wichtigere Brage der Geburtenregelung in ähnlich fortschrittlicher Weise behandelt werden müsse; er versprach, mir die Unterlagen für seine Stellungnahme schriftlich zukommen zu lassen. Diese von Semaschko ge- zeichneten Ausführungen folgen hier: Das Problem der Geburtenregelung in Sowjetrußland. Die Frage der Geburtenregelung entstand in Sowjetrußland im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Aborte. Da die Aborte zur Zeit durch die Wohnungskrisis und Notlage hervorgerufen werden, ist die radikale Verbesserung der sozial- ökonomischen Lage der Werktätigen die Hlauptsache im Kampf Segen Aborte. Doch das Volksgesundheitsamt kann die Tatsache nicht übersehen, daf die künstlichen Aborte, besonders deren Wiederholung, dem weiblichen Ordanismus eine Verletzung bei⸗ bringen. Die Notwendigkeit, bei den jetzigen ökonomischen Ver- hältnissen ein wirksames Mittel zur Verringerung der Zahl der aus sozialer Indikation notwendigen Aborte und hierdurch zur Ver⸗ minderung der Erkrankungen der Frauen zu finden, zwang das Gesundheitsamt, seine besondere Aufmerksamkeit auf die Drä⸗ servative zu lenken. Diese erreichten große Verbreitung im Auslande, ungeachtet dessen, dal ihre Herstelluns und ihr Verkauf vom bürderlichen Gesetz verboten waren. Dieser UImstand führte dazu, daß der aus- ländische Markt von verschiedenartisen Dräservativen über⸗ schwemmt war. Denn es fehlte an jeder Kontrolle, sowohl in bezus auf den Erfolg, wie die etwaige schädliche Wirkung auf die Ge⸗ sundheit der Frau. Alles dies veranlaßte das Gesundheitsamt, im ſahre 1925 eine Zentralwissenschaftliche Kommission für die Erforschung der Drä⸗ servative cinsetzen. Diese Kommission nahm eine Reihe in Sowjet- rußland bekannter Dräservative unter Kontrolle und sammelte viele im Ausland, hauptsächlich in Deutschland, verbreitete Mittel. Alle diese Mittel wurden wissenschaftlich untersucht, ihr Erfolg und ihre biochemische Wirkung auf den Organismus der Frau. Als Ergebnis der Arbeit der Kontrollkommission erschienen folgende Drucksachen: 1. Dräscrvative und deren Anwendung, redigiert von Dr. Kwofer. 2. Dräservative im Lichte der heutigen Wissenschaft, von Drof. A. P. Gubaref und Prof. S. A. Selizky. 108 5. Arbeiten der Zentralkommission zur Erforschung der Drä⸗ servative. Ausgabe I, II, III, IV und V. 4. Drospekt für Arzte über Dräservative. Als Ergebnis der ersten Arbeiten dieser Kommission erschien im Jahre 1925 das erste Rundschreiben (12. Dezember 1923), in dem vorgeschlagen wurde, den Frauen Ratschläge über Anwenduns der Dräservative in Ambulanzen für Schwangere und in synäko⸗ loßischen Ambulanzen zu geben. In diesem Rundschreiben ist be- tont, daß die Initiative der Anwendung der Dräservative von der Frau und nichf vom Arzt aussehen soll. Somit ist ein sehr wesent- licher und prinzipieller Wink gegeben zur Abgrenzung von der neomalthusianischen Bewegung, die die Dräservative propagiert und die Geburten zu kontrollieren sucht. Wir überlassen in dieser klinsicht das Recht der Initiative der Frau, und nur wenn es ärztlich für notwendig erachtet wird, geht die Initiative der Dräservativanwenduns vom Arzt aus. Aus diesem Rundschreiben und auch aus der ununterbrochenen wissenschaftlichen UIntersuchungsarbeit der Kontrollkommission für Erforschung der Dräservative resultierte folgendes: 1. In Moskau bei dem wissenschaftlichen Staatsinstituf zum Schutz von Mutter und Kind ist eine besondere Abteiluns. in der Fraucn in der Anwendung der Dräservative unter- richtet werden. Diese Abteilung ist das wissenschaftliche Zentrum für Erforschuns der Dräservative; hier findet auch der Unterricht für Arzte dieser Spezialität statt. 2. AuBer dieser Abteilung sind noch von der Moskauer Be⸗ zirksabfeilung des Gesundheitsamtes zwei selbständise Konsultationsabteilungen eingerichtet, die nur praktische Aufgaben haben. 3. In allen srößeren Städten werden 1—2 Tase in jeder Frauenambulanz für Ratschläge zur Vorbeugung der Schwangerschaft bestimmt. 4. Die panze Arbeit wird auf wissenschaftlicher Basis geführt und der Erfolg der Anwendung dieses oder jenes Mittels untersucht. 5. In Moskau ist die Massenproduktion der Dräservative ge⸗ mäß den Vorschriften der Zentralkommission für Er- forschung der Dräservative eingerichtet. Die Herstellung untersteht ihrer Kontrolle. 6. Allen Arzten in Sowjetrußland ist ein kurzer gedruckter Prospekt über Dräservative von der Zentralkommission zu- gesandt worden. 109 XIV. ¹ Unter den aus Kreisen der bürgerlichen Wissenschaft der Zehnjahrsfeier in Rußland beiwohnenden Gäsfen war auch der bekannte Drofessor Stephan Bauer, der Leiter des Inter- nationalen Arbeifsamtes aus Basel: eine der Dersönlich- keiten, die sich durch ihren Kampf für den Achtstundentag große Verdienste um die Sozialpolitik, um die Verbesserung der sozialen Lase der handarbeifenden Schichten aller Länder erworben haben. Drofessor Bauer, mit dem ich öfter politische und soziale Drobleme zu erörtern Gelegenheit hatte, da er im gleichen kiotel wohnte, hielt auf besondere Einladung „im Hause der Gelehrten“ einen Vortrag über „Arbeiterschutz“. Seine ruhige Sachlichkeit und Objek- tivität berührte äußerst wohltuend; seine Idee, ein neutrales Forschungsinstitut für soziale Drobleme zu gründen, in dem auch Rußsland mitvertreten sein könnte, verdiente Verwirk- lichung, da Rußland bei dem jetzigen, vom Genfer Völker- bund abhängigen „Infernationalen Arbeitsamt“ in Genf nicht anseschlossen ist. Bauer kam — nüchfern und dankbar an⸗ erkennend zugleich — als Sachverständiger und neutraler Forscher zu dem Desultat, daß Rußland heute an der Spitze des sozialen Fortschrittes stehe. Wenn das ein in der Schweiz — dem fast Rußland-feind- lichsten Lande — lebender Gelehrter öffentlich bekennt, dem nicmand nachsagen kann, des „Kommunismus“ verdächtig zu sein, — er dürfte efwa ein Liberaler der alten Schule mit sozialem Einschlag sein wie die „Kathedersozialisten“ Schmoller und Wagner — nun, dann dürfen wir wohl an⸗ nehmen, dafs es der Wahrheit cntspricht. Aber wie lange wird es — bei der sinnlosen psuchischen Verhetzung der Menschen gegenüber einem Staafe, der das UInseheure gewast hat: dem Kapitalismus zu frotzen — noch dauern, bis wenigsfens diese Tatsache der übrigen Welf zum Bewußfsein kommt, von ihr anerkannt wird?? (Ind die tiefen Schatten der Diktatur? fragt man. Gewiſ; sie sollen nicht geleugnet werden. Tragische Schatten in einem sonst leuchtenden, lichten Bilde. Aber diese Schatten sollten uns nur mit tiefer Trauer über die UInzulänglichkeit der Verwirklichuns erfüllen. Sie den Bührern des heutigen russischen Staates als boshaftec, abscheuliche Willkür auszulegen, wie es so oft geschieht, das scheint mir etwa ebenso sinnvoll wie dem Peuer zum Vor⸗ wurf zu machen, daß es brenne oder dem Wasser, daß es fließe. Noch regieren gewisse soziologische Gesetze mit der Macht von Naturgesetzen. Noch herrscht das tragische Ge- 110 setz der Machtkausalität: das jede noch so reine und hohe Idee zwingt, im Moment ihrer Verwirklichung sich den Ge- setzen der Machtbehauptung anzupassen. Helfen wir alle mit, diese Zwangsläufigkeit — cine der Hauptursachen für die Langsamkeit des cthischen Fort- schrittes in der Welt — zu ändern. Eine notwendise, aber überaus mühevolle Aufgabe. Bis dahin aber — — erkennen wir vorurteilslos, gerecht und dankbar das an, was in Rußland unter unendlich schwie- rigen Bedingungen, frofz unsagbarer Nöte durch Krieg und Bürgerkrieg von einem leidensfähigen Volke und entschlos- senen Führern in schmerzlicher wirfschaftlicher und morali- scher Isolierung, in heroischer Aufopferung, geleistet worden 7 7 Eine Zeit, die den Ereignissen ferner steht als die unsere, wird — daran ist für mich kein Zweifel — diesen grandiosen Versuch, eine neue, gerechtere Gesellschaftsordnung zu ver- wirklichen — frotz aller Irrtümer, Härten, Grausamkeiten im einzelnen — dennoch als ein Ereignis von höchster moralischer Kraft erkennen — als eines jener Er- lebnisse, um derentwillen es sich zu leben lohnt. LITERATUR ÜBER RUSSLAND 1). Duhamel, „Das neue Moskau“. Rotapfelverlag Zürich und Leipzis. Dr. Otto Friedländer, „Hammer, Sichel und Mütze“. Textil- Verlag G. m. b. II. Gumbel, „Vom Rußland der Gegenwart“. E. Laubsche Verlags- buchhandlung. Franz Jung., „Das geistige Rußland von heute“. Verlag Ullstein. Madeleine Marx, „Reise ins Rote Rußland“. Greifenverlag. Rudolstadt. Drof. Erich Obst, „Russische Skizzen“. Kurt Vowinkel-Verlag. Karl Anton, Drinz Rohan. Moskau. Verlag G. Braun, Karlsruhe. Michael Sostschenko, „So lacht RuBland“. Verlag Adolf Synek, Drag. Dr. Carl Vogl, „Sowjet-RuBland. Wie ein deutscher Dfarrer es sah und erlebte“. Verlag Oswald Mutze, Leipzig. ¹) Vielleicht wird es manchen Lesern willkommen sein, aus der Fülle der Rußland-Literatur auf einige — im wesentlichen von Nicht-Kommunisten — verfaßte Werke über Rusland hinge- wiesen zu werden. 111 Der srole Roman aus dem Sowjetleben! FJODOR GLADKOW „Ganz ausgezeichnet gelang dem Verfasser die Darstellung der Wand- ZEMENT lung der Frau in Rukland. Die politisch aufgeweckte, die politisch tätige unabhängige moderne Arbeiterfrau Ruflands tritt hier zum ersten- mal bluthaft. lebendig und glaubhaft gezeichnet vor uns. Die Presse schreibt über das Buch: Prof. Frans 0ssenbemer in der Frankfurter Zeitung, „Hlier spricht ein unerbittlicher Beobachter, ein Dichter, der den Menschen in seiner ganzen Gröle und seiner ganzen Schwäche kennt, der eich begnügt, aus der Tiefe heraus zu verstehen, ohne jemals zu moralisieren. . . . ein wertvolleres Dokument der Zeit und dieser Bewegung. al es die meisten wissenschafelichen Veröffentlichungen aind. Das Seachelschiein: „Unhörbar und zermürbend die Kämpfe zwischen Mann und Weib. Neue Begriffe vom Nehmen und Genommenwerden wollen erkannt und erlitten werden. Kein unechter Ton auf all den hundert Seiten. Jeder. ob konservativ oder revolutionär. muk dieses Buch lesen. Umfang 464 Seiten ¹ Preis brosch. M. 5.—. Gangleinen MI. 7.— Im Schatten des Dollars Amerikanische Reiseberichte eines Sowjetingenieurs J. DORFMANN IM LANDE DER REKORDZAHLEN (ber das Buch schrieben: Der Ouerschnite: „Sehr sympathische. kluge Reportage über Amerika.“ Jungsozialistische Blätter: „Das geschmackvoll aufgemachte Büchlein ist wohl mit das Interessanteste, was in jüngster Zeit über Amerika ge⸗ schrieben worden ist. Kure Kersten: „Es ist ein schr ruhiges, leise-ironisches Buch, ganz kritisch, anscheinend objektiv. Dorfmann sieht vor allem die Begeben- heiten des täglichen Lebens, die Dinge und Menschen, die uns umgeben. Er beobachtet kühl, wie es zugeht. Dabei kommt er oft zu erschrecken- den Feststellungen. Umfang 184 Seiten.. ¹ Preis brosch. M. 2.50, Ganzleinen M. 3.50 VERIAG PUR IIIERATUR UND POLITIK Wien Berlin S 61. Planufer 17 DAS DEUTSCHE REBELLENBUCH SOEBEN ERSCHIENEN: Das prächtige ausgestattete Buch ruft in einer Reihe literarisch-historischer Porträts die Taten von ERICH MÜLLER Männern ins Gedächtnis, die im sozialen Kampf ihr Leben eingesetzt haben. Eine Linie wird gezogen von Klaus Störtebeckers Vitalienbrüdern über Thomas Münzers Bauernheer, Florian Geyers Schwarze Schar, Pfarrer Weidig und Büchner bis zu Max Hoelz' proletarischen Bataillonen in Mitteldeutschland. "Man liest viel Unbekanntes, viel Neues in diesem Buche, das zu den fesselndsten Erscheinungen der "Universum-Bücherei für Alle" gehört, und das man wärmstens empfehlen kann." ("Welt am Abend" vom 29. August 1928.) Für einen Vierteljahresbeitrag von RM. 3.30 er- halten Sie dieses Werk und monatlich das reich illustrierte Magazin "Blätter für Alle". "Universum-Bücherei für Alle" Berlin W 8, Wilhelmstraße 48 Hier abtrennen und mit 5 pf. frankiert als Drucksache an die "Universum-Bücherei für Alle", Berlin W 8, Wilhelmstr. 48, einsenden. Unterzeichneter erklärt hiermit seinen Beitritt zur "Universum-Bücherei für Alle" und bittet um Übersendung des neuen Buches Ewig in Aufruhr. Den betrag von RM 3.30*) für das 4. Quartal 1928 bitte ich per Nachname zu erheben - zahle ich gleichzeitig auf Postscheckkonto berlin 47 713. Name: ... Ort: ... Straße: ... *) Abonnenten der "Welt am Abend" zahlen pro Quartal nur RM 3.-, da sie die "Blätter für Alle" bereits mit der "Welt am Abend" erhalten. Lesen Sie die Schriftenreihe "Neue Menschen" Herausgegeben von Universitätsprofessor Dr. Max Adler, Wien Die Aufgabe dieser Schriftenreihe ist die Erörterung der vom Sozialismus geforderten geistigen Umstellung auf allen Gebieten des Lebens, in Partei und Gewerkschaft - Ökonomie und Politik - Wissenschaft und Kunst - Schule und Haus, zur Vorbereitung der von Marx geforderten "Revision des Bewußtseins" Bisher erschienen: Dr. Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung. Zweite, vermehrte Auflage. Umfang 236 Seiten. Kart. RM. 2.80, leinen RM. 4.-. Dr. Max Adler: Politische oder soziale Demokratie. Umfang 166 Seiten. Kart. RM. 2.50, Leinen RM. 3.50. Dr Angelica Balabanoff: Erziehung der Massen zum Marxismus. Psychologisch-pädagogische Betrachtungen. Umfang 164 Seiten. Kart. RM. 2.50, Leinen RM. 3.50. Dr. Siegfried Bernfeld: Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassenkampf. Umfang 148 Seiten. Kart. RM. 2.50, Leinen RM. 3.50. Dr. Otto Neurath: Lebensgestaltung und Klassenkampf. Umfang 152 Seiten. Kart. RM. 2.50, Leinen RM. 3.50. Dr. Richard Wagner: Der Klassenkampf um den Menschen. Umfang 198 Seiten. Kart. RM. 3.-, Leinen RM. 4.-. Prof. Anna Siemsen: Beruf und Erziehung. Umfang 224 Seiten. Kart. RM 3.50, Leinen RM. 4.50. Weitere Bände in Vorbereitung Zu beziehen durch jede gute Buchhandlung oder direkt vom Verlag E. Laubsche Verlagsbuchhandlung G. m. b. H., Berlin W 30 Verlangen Sie kostenlos unsere Kataloge Soeben gelangte zur Ausgabe die 12.-17. Auflage des Romans Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und den Verlag der Neuen Generation Berlin-Nikolassee LIEBE von Helene Stöcker Preis M. 6.50. In Ganzleinen gebund. Der Kampf zwischen dem Persön- lichkeitsbewußtsein der Frau und dem elementaren triebe wird mit leidenschaftlicher Anteilnahme und mit genialer Einfühlung dargestellt. Eine einzigartige Erscheinung in der modernen Literatur Berliner Morgenzeitung Eine wertvolle, unsere Kenntnisse der verborgenen Beziehungen zwischen Körper und Willen, zwischen Liebe und Leben des Weibes tief bereichernde Tat. Berliner Volkszeitung ... gehört zu den großen Merkwürdigkeiten der Literatur das freie Volk Bewundernswert ist die Vereinigung von Sinnesglut mit jener hohen Sittlichkeit, die es als unmöglich empfindet, den Mann nicht mehr zu lieben, an dem die Liebende zum Weibe und zum Menschen gereift ist. Literarisches Echo Das ist wohl das bedeutendste Buch, das je eine Frau über die Liebe geschrieben hat. Eine Offenbarung... Freiheit, Königsberg Ein Buch von ganz neuer Art, das ein tieferen Einblick in die Psyche der Frau ge- währt als irgendein anderes Frauenbuch, das ich kenne. Rudolf Goldscheid, Wien Man ist von dem Zauber, den dieses geistvolle, mit wunderbarer Kühnheit, unerhörter Erlebnisstärke, straffster dichterischer Selbstzucht geschriebene Buch ausströmt, ganz gefangengenommen. Es steht im Zeichen Nietzsches und braucht sich nicht zu verstecken vor diesem zeitlos großen Namen. Velberter Zeitung Die genialen Syphilitiker Von Brunold Springer Preis RM. 6.50 in Leinen gebunden, RM. 5.- kartoniert. Endlich eine Buch, das die sexuelle Aufklärung am richtigen Ende anfaßt: Exempla docent. Dr. Zehden in "Medizet" In diesem buch manifestiert sich die verantwortliche Rücksichtslosigkeit eines Wahrheits- suchers. Dr. Werner Türk in "Die Literatur". Der Schlüssel zu Goethes Liebesleben Ein Versuch :: Von Brunold Springer Preis RM. 3.- In feiner, fast hellseherischer Weise spürt der Verfasser der Geschehnissen und Empfin- dungen der Geschwister Wolfgang und Cornelia nach und enthüllt so Motive, die bisher kein Forscher über Goethes Liebesleben hat. Prester Lloyd. Die Seele der Völkischen Von Burnold Springer Preis RM. 2.- Die Völkischen sind alle - ohne Ausnahme - Mischlinge, Fremdlinge, ganz oder teilweise "unechtes" Blut. Je lauter, desto fremder. Nationalismus ist Überkompensation des Blut- mangels. Dieser Satz wird durch eine große Anzahl von Beispielen bewiesen. Ein Buch, das zunächst verblüfft, aber durch Beweise überzeugt 2S. 38405 Berliner Morgenzeitung. Pierersche Hofbuchdruckerei Staphan Geibel & Co., Altenburg (Thür.)