50 MA 9404 ¹ Samimniung deutscher Orucke 1450 bis 1912 Erworben mit Mitteln der volkswagen-Stiftuno Fenitſchka. Eine Ausſchweifung. Zwei Erzählungen von Lou Andreas-Salomé. III 2241 Stuttgart 1898. Verlag der J. G. Gotta'ſchen Buchhandlung Nachfolger. 50MA9404 Alle Rechte vorbehalten. DH.LH.10,1062i Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart. Fenitſchka. Es war im September, der ſtillſten Zeit des Pa⸗ riſer Lebens. Die vornehme Welt ſteckte in den See⸗ bädern, die Fremden wurden ſcharenweiſe von der drücken⸗ den Hitze vertrieben. Trotzdem drängte ſich an den ſchwülen Abenden auf den Boulevards eine ſo vielköpfige Menge, daß ſie der Hochſaiſon jeder andern Stadt im⸗ mer noch genügt hätte. Mar Werner flanierte nach Mitternacht über den Boulevard St. Michel, als er in eine kleine Geſellſchaft ihm bekannter Familien hineingeriet. Sie hatten mit durchreiſenden Freunden ein Theater beſucht, und wollten nun dieſen Herren und Damen ein wenig „Paris bei Nacht“ zeigen, — nämlich erſt in einem charakteriſtiſchen Nachtcafé des Quartier latin einkehren, und dann, im Morgengrauen, um die Stunde, wo die Stadt ſchläft, den intereſſanten Trubel bei den Hallen betrachten, wenn der verödete Platz ſich mit den Marktleuten belebt, die ihre Waren vom Lande einfahren und ſie ausbreiten. Nach einigem Zögern und Schwanken von ſeiten der Damen entſchied man ſich für das Café Darcourt, das um dieſe Stunde ſchon überfüllt war mit den Griſetten und Studenten des Quartiers, und beſetzte ein paar der kleinen Marmortiſche draußen, die auf dem Trottoir, mitten unter den Paſſanten, an den weitgeöffneten, hell⸗ erleuchteten Fenſtern entlang ſtanden. Max Werner kam neben eine junge Ruſſin zu ſitzen, die er zum erſtenmal ſah, — ihren langklingenden Namen überhörte er bei der Vorſtellung, doch wurde ſie von den anderen einfach als „Fenia“ oder „Fenitſchka“ angeredet. In ihrem ſchwarzen nonnenhaften Kleidchen, das faſt drollig unpariſeriſch ihre mittelgroße ganz unauffällige Geſtalt umſchloß, und eine beliebte Tracht vieler Züricher Studentinnen ſein ſollte, machte ſie zunächſt auf ihn kei⸗ nerlei beſonderen Eindruck. Er muſterte ſie nur näher, weil ihn im Grunde alle Frauen ein wenig intereſſierten, wenn nicht den Mann, dann mindeſtens den Menſchen in ihm, der ſeit einem Jahre doktoriert hatte, und nun ein brennendes Verlangen beſaß, in der Welt der Wirk⸗ lichkeit praktiſch Pſychologie zu lernen, ehe er von einem Katheder herab welche las: was ihm einſtweilen noch keine begehrenswerte Zukunft ſchien. An Fenia fielen ihm nur die intelligenten braunen Augen auf, die jeden Gegenſtand eigentümlich ſeelen⸗offen und klar — und jeden Menſchen wie einen Gegenſtand — anſchauten, ſowie der ſlaviſche Schnitt des Geſichtes mit der kurzen Naſe: einer von Max Werners Lieblings⸗ naſen, die da vernünftigen Platz zum Kuſſe laſſen, — was eine Naſe doch gewiß thun ſoll. Aber dieſes gradezu blaß gearbeitete, von Geiſtes⸗ anſtrengungen zeugende Geſicht forderte ſo gar nicht zum Küſſen auf. Anfangs ſprachen ſie kaum miteinander, denn im 8 Innern des Lokals, neben demſelben Fenſter, an deſſen Außenſeite ſie ſaßen, ſpielte ſich eine erregte Scene ab, die aller Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Dort befanden ſich zwei Pärchen am Tiſch, die ihre Unterhaltung mit Scherzreden und Neckereien begannen, und damit endeten, ſich fürchterlich zu zanken. Das eine der beiden Mädchen — wenig ſchön und am Verblühen, aber trotzdem ein unverwüſtlich graziöſes Pariſer Köpfchen — wurde ſchließlich vom Gegenpaar mit einer Flut häßlicher Schmähreden überſchüttet, ohne daß ihr eigner Begleiter ihr auch nur im mindeſten bei⸗ geſtanden hätte. Vielmehr ſtimmte er bei jedem erneuten Angriff johlend in das brutale Gelächter der beiden an⸗ dern ein, das ſich bald auch auf die benachbarten Tiſche fortpflanzte, wo neben den erhitzten halbbezechten Män⸗ nern die geputzten Genoſſinnen des mißhandelten Ge⸗ ſchöpfs mit lärmender Schadenfreude ihre Konkurrentin niederjubelten. Durch die ſchwere, dumpfe, vom Tabaksrauch und vom Dunſt der Menſchen, Gasflammen und Getränke erfüllte Luft des Lokals ſchallten die rohen Stimmen laut bis zu dem Tiſch draußen hinüber, an dem es ganz ſtill geworden war. Auf den Geſichtern der Damen prägten ſich deutlich Mitleid, Ekel, Entrüſtung und eine gewiſſe Verlegenheit darüber aus, einer ſolchen Situation beizuwohnen: eine von ihnen knüpfte furchtſam ihren Schleier feſter. Niemand aber war ſo benommen von dem, was er ſah, wie Fenia. Sie hatte von allem Anfang an mit ſachlichem Intereſſe um ſich geblickt, jede Einzelheit, die ihr auf⸗ 9 fiel, mit großer Unbefangenheit beobachtet. Jetzt aber wurde ſie ganz ſichtlich von einer ſo intenſiven Anteilnahme erfüllt, daß ſie zuletzt, — offenbar ganz unwillkürlich, wie außer ſtande länger paſſiv zu verharren, — ſich langſam erhob und die eine Hand gegen die Lärmenden ausſtreckte, als müſſe ſie eingreifen oder Halt gebieten. Im ſelben Augenblick ward ſie ſich ihrer ſpontanen Bewegung bewußt, hielt ſich zurück, und errötete ſtark, wodurch ſie plötzlich ganz lieb und kindlich, und ein wenig hilflos ausſah. Während ſie aber ſo daſtand, traf ihr Blick den der Griſette, die in ihrer Ratloſigkeit und Verlaſſenheit an⸗ gefangen hatte zu weinen, ſo daß große Thränen ihr über die heißen geſchminkten Wangen rollten, und ihre Lippen ſich konvulſiviſch verzogen. Unter dem langen, eigentümlichen Blick, den ſie mit Fenia austauſchte, ver⸗ änderte ſich der Ausdruck des weinenden Geſichts; von Fenias Augen ſchien eine Hilfe, eine Liebkoſung, eine Aufrichtung auszugehn, etwas, was die Einſamkeit dieſes getretenen Geſchöpfes aufhob. Man konnte vom Tiſch aus deutlich den Stimmungswechſel auf ihren Zügen ver⸗ folgen, denn ſie ſaß faſt grade gegenüber am Fenſter. Ein Danken, Staunen, Nachſinnen, — ein momen⸗ tanes Taubwerden für ihre lärmende Umgebung und deren Schmähreden ließ ihre Thränen verſiegen, und ſie achtete kaum noch darauf, daß das Paar neben ihr ſich erhob, um fortzugehn, und auch ihr Begleiter ſeinen ſchäbigen Cylinder vom Wandhaken abhob. Da ſtieß er ſie brutal mit dem Ellenbogen an und forderte ſie auf, ſich zu beeilen. Sie ſchüttelte den Kopf und erwiderte einige Worte 10 im Pariſer Argot, die man draußen nicht deutlich ver⸗ nehmen konnte, die aber eine äußerſt deutliche Gebärde der Geringſchätzung und Ablehnung begleitete. Er machte eine verdutzte Miene und rief dadurch neues Gelächter her⸗ vor. Diesmal jedoch galt es ihm, dem Geprellten, der mit wütendem Geſicht das Lokal verließ. Das Mädchen nahm ihr fadenſcheiniges Seiden⸗ mäntelchen von der Stuhllehne, hing es um, und ſchaute dabei mit einem ſtolzen und leuchtenden Blick zu Fenia hinüber, die unbeweglich ſtehn geblieben war, — eine ganz wunderlich ernſte, ergriffene Geſtalt inmitten der verſchleierten Damen und der buntgekleideten, lachenden Dämchen um uns her. Gleich darauf ſah man ihren Schützling aus der Thür treten und am Tiſch vorüberkommen. Aber da geſchah etwas allen ganz Unerwartetes: denn neben Fenia blieb das Mädel ſtehn, öffnete die Lippen, wie um ſie an⸗ zuſprechen, und plötzlich, mit einer impulſiven Bewegung, deren Natürlichkeit eine mit ſich fortreißende Anmut be⸗ ſaß, ſtreckte ſie Fenia beide Hände entgegen. Dieſe ergriff die dargebotenen Hände und ſchüttelte ſie mit herzhaftem Druck. Einige Augenblicke lang ſtan⸗ den ſie da und lächelten einander an wie Schweſtern, während alle verblüfft, intereſſiert, amüſiert um die beiden herum ſaßen. Dann entfernte ſich das Mädchen mit einer Kopfneigung gegen die andern und verſchwand im vorüberhaſtenden Menſchenſtrom. Man lachte über das kleine Drama, man ſcherzte über Fenias „Erfolg“ und neckte ſie nicht wenig. Sie ſelbſt war ſehr einſilbig geworden. 11 Eine der Damen mißverſtand ihren ernſthaften Ge⸗ ſichtsausdruck und bemerkte: Freundſchaft! Sie könnte Ihnen eines ſchönen Tages „Ja, chérie, eine ziemlich unerbetene und unbequeme recht peinlich werden, wenn dies Weſen Sie irgendwo auf der Straße wiederfindet und Sie auf das intimſte begrüßt, — zur Ueberraſchung derer, die vielleicht mit Ihnen gehen. Max Werner raſch, „ich wette darauf, daß dieſes Mäd⸗ „Das brauchen Sie nicht zu fürchten,“ widerſprach chen ohne merkbaren Gruß an Ihnen vorübergehen wird, falls es Ihnen je begegnet. Anderswo würden Sie vielleicht von ihrer Dankbarkeit verfolgt werden, — die Franzöſin würde es für eine ſchlechte Dankbarkeit halten, Sie eventuell dadurch zu kompromittieren. Das iſt der franzöſiſche Takt, — der Takt einer alten Kultur, die allmählich bis in alle Schichten eines Volkes durch⸗ dringt und ihm ſeine faſt inſtinktive Intelligenz giebt.“ „Ich würde ſie aber gern wiederſehen!“ ſagte Fenia leiſe. „Um was zu thun?“ „Ich weiß es nicht. Aber was mich vorhin ſo ent⸗ ſetzte, das war das Gefühl, als ob dieſe Mädchen gleich⸗ mäßig ſowohl von den Männern wie von den Genoſ⸗ ſinnen preisgegeben würden, — als ob ſie gradezu wie in Feindesland lebten. — Iſch habe noch nie ſo viel höh⸗ niſche Verachtung geſehen, wie in den Mienen der Män⸗ ner, — ſo viel höhniſche Schadenfreude wie in den Blicken der andern Mädchen. — Und das iſt hier im Lokal, wo ſie ſozuſagen bei ſich iſt, unter den Ihrigen. — Außer⸗ 12 halb nun erſt! — O ich denke mir, ein ſolches armes Ding muß nach einer freundlichen, einfach menſchlichen Berührung lechzen. „Das iſt richtig. Manchmal ſind ſie ſehr dankbar dafür. Ich hab es mitunter auch ſchon beſtätigt ge⸗ funden. „Sie?“ Fenia heftete voll Intereſſe ihre hellbraunen Augen auf ihn. Sie war ganz und gar bei der Sache. „Warum nicht ich? „Weil ich mir vorſtelle, daß ſolche Mädchen einem jeden Mann mit Mißtrauen begegnen, — müſſen ſie nicht annehmen, er wolle von ihnen etwas ganz andres als ihr Vertrauen?“ „Donnerwetter!“ dachte er und ſah ſich Fenia ge⸗ nauer an. Dieſer Grad von Unbefangenheit, womit ſie über ſo heikle Dinge mit einem ihr ganz fremden Manne ſprach, hier, in Paris, in der Nacht, in dieſem Café, — und dabei ein Ausdruck in ihren Mienen, als unterhielten ſie ſich über fremdländiſche Käfer. Waren Griſetten, junge Männer, Nachtcafes und Liebesabenteuer ihr wirklich dermaßen fremdländiſche Käfer? „Dieſe Annahme würde ihr Vertrauen dem Manne gegenüber vermutlich gar nicht beeinträchtigen,“ entgegnete er inzwiſchen Fenia auf ihre Frage, „denn daß er neben ſeiner menſchlichen Anteilnahme vielleicht auch von ihnen als — als Frauen etwas empfangen will, das halten ſie für ganz natürlich. Das Gegenteil würde wohl gar ihre Eitelkeit kränken und keinesfalls ihr Selbſtbewußt⸗ ſein heben." 13 Er blickte bei ſeinen Worten um ſich, ob der kleinen Geſellſchaft, die längſt zu andern Geſprächsſtoffen über⸗ gegangen war, die Unterhaltung vernehmbar ſei, und beugte ſich näher zu Fenia, um mit gedämpfterer Stimme fortfahren zu können. „Es iſt auch gar nicht ſo verwunderlich, wie es Ihnen vielleicht ſcheint,“ bemerkte er, „denn Sie dürfen nicht vergeſſen, daß es ſich dabei nur um eine dieſen Weſen ganz geläufige Verkehrsform handelt, — um eine ſo gewohnte und geläufige, daß ſie in ihr unwillkürlich alles und jedes zum Ausdruck bringen, auch Seelen⸗ regungen der Freundſchaft, Dankbarkeit oder Sympathie, die in die ſinnliche Aeußerungsform nicht genau hinein⸗ paſſen. Es iſt eben ihre Art von Sprache geworden. Auch die vertrauliche Nähe, in der er das zu Fenia ſagte, und ſie gleichſam mit ſich iſolierte, ſtörte ſie augen⸗ ſcheinlich nicht; ſie ſenkte den Kopf und ſchien nach⸗ zudenken. Nach einer kurzen Pauſe fragte ſie lebhaft: „Sie meinen alſo, auch dieſe Mädchen hegen oft rein kameradſchaftliche Geſinnungen Männern gegenüber und äußern ſie nur — nur — ſozuſagen nur falſch? Das kann ich mir ſchwer vorſtellen. Denn wenn es auch die ihnen gewohnteſte Sprache iſt, worin ſie alles und jedes ausdrücken, — alle Menſchen haben doch verſchie⸗ dene Bezeichnungen für total verſchiedene Dinge. „Glauben Sie? Ich meinerſeits glaube viel eher, daß auch in unſern Ständen ſich eine ganz ähnliche Be⸗ obachtung machen läßt. Unſre Mädchen und Frauen werden ſo daran gewöhnt, mit den Männern ihrer Um⸗ 14 gebung eine rein konventionelle, ganz unſinnliche Verkehrs⸗ form zu üben, daß ſie in dieſer Sprache auch das noch ausdrücken, was ganz und gar nicht ſo abſtrakt gemeint iſt. Wie manches Mädchen meint mit einem Mann nichts als Geiſtesintereſſen und Seelenfreundſchaft zu tei⸗ len, während ſie, — oft unbewußt, — nichts andres begehrt als ſeine Liebe, ſeinen Beſitz. — Für eine kleine Griſette iſt die menſchliche Anteilnahme eines Mannes das bei weitem ſeltenere, gewiſſermaßen ausgeſchloſſene, — für die Dame unſrer Geſellſchaft iſt es die rückſichts⸗ loſe Auslebung des Weibes. Kaum hatte er dieſe Tirade vorgebracht, als unglück⸗ licherweiſe die Geſellſchaft aufbrach. Mitten im Stühle⸗ rücken und Durcheinanderreden faßte eine von den Da⸗ men Fenia unter den Arm und ſchnitt ihm ihre Ant⸗ wort ab. Es kam nicht mehr über ein höchſt unin⸗ tereſſantes Geſchwätz aller mit allen hinaus. Dennoch flanierte er neben ihnen her durch die nächtlichen Straßen, machte im „Chien qui fume“ das unvermeidliche Nachteſſen von Zwiebelſuppe und Auſtern mit, und beſchaute ſich mit den andern in der Früh⸗ dämmerung durch die breiten Spiegelfenſter des Reſtaurants das großartig maleriſche Bild der Wareneinfuhr in die Hallen. Dabei erfuhr er von einem ruſſiſchen Jour⸗ naliſten, der Fenias Eltern gekannt hatte, wenigſtens etwas vom äußern Umriß ihres Lebens. Von Geburt war ſie Moskowitin, begleitete aber ſchon früh ihren er⸗ krankten Vater, einen ehemaligen Militärarzt, nach Süd⸗ deutſchland und der Schweiz, wo ſie ihre Univerſitäts⸗ ſtudien begann, — und nach ſeinem Tode mit Hilfe von 15 mühſamem Nebenerwerb, Stundengeben und Ueberſetzungen aller Art hartnäckig fortſetzte. In Zürich ſchien ſie mit lauter ihr befreundeten Männern zuſammen zu ſtudieren, — einer von ihnen hatte ſie in den Herbſtferien auch hierher, nach Paris, begleitet, war dann aber nach Ruß⸗ land abgereiſt. Kam daher dieſer merkwürdig ſchweſterliche, geſchlechts⸗ loſe Anſtrich, den ſie ſich gab, als gäbe es für ſie auf der Welt nur lauter Brüder? Oder war es nicht viel wahrſcheinlicher, daß dies unendlich unbefangene Betragen nur den äußeren Deckmantel abgab für ein ganz freies Leben? Sie mußte doch ſchon recht viel von der Welt und den Menſchen kennen, — mehr als eines der wohl⸗ behüteten jungen Mädchen unſrer Kreiſe. Immer wieder ſchweiften ſeine Augen und ſeine Ge⸗ danken zu ihr hinüber, von der er argwöhnte, ſie halte ſich eine höchſt kluge und gelungene Maske vor. Steckte nicht hinter dieſem Nonnenkleidchen, das unter den andern Toiletten faſt auffiel, etwas recht Leicht⸗ geſchürztes, — hinter dieſem offenen, durchgeiſtigten Ge⸗ ſicht nicht etwas Sinnenheißes, worüber ſich nur ein Tölpel täuſchen ließ? — Spielte nur ſeine eigne Phantaſie ihm einen Streich, oder erinnerte Fenia nicht an die Magerkeit, Geiſtigkeit und ſtiliſierte Einfachheit einer modern präraphaelitiſchen Geſtalt, die ſo keuſch aus⸗ ſchauen will, und doch geheimnisvoll umblüht wird von verräteriſch farbenheißen, ſeltſam berauſchenden Blu⸗ men — —? Jedenfalls ging etwas Aufregendes von Fenia über ihn aus und reizte ihn ſtark, trotz der Abneigung, die 16 ihm damals jede ſtudierende oder gelehrte Frau ein⸗ zuflößen pflegte. Ja, er nahm's faſt als Beweis, daß Fenia nur zum Schein eine ſolche ſei —. Beim Verlaſſen des Reſtaurants wurde noch der Vor⸗ ſchlag laut, die lange Nachtſchwärmerei mit einer Fahrt ins Bois de Boulogne abzuſchließen, aber ein vielſtim⸗ miges Gähnen proteſtierte dagegen. Uebrigens ließ ſich auch an keiner Straßenecke ein Fiaker blicken. End⸗ lich entſchloß man ſich, zu Fuß den Heimweg anzutreten, jeder Herr begleitete eine der Damen nach Hauſe, und Max Werner gelang es, Fenia auf ſeinen Anteil zu be⸗ kommen. Schon drang die Sonne durch den Morgennebel und übergoß Paris mit jenem köſtlichen Frührotſchein, den die feuchte Luft über den Ufern der Seine erzeugt. „Das iſt ganz herrlich!“ rief Fenia und blieb mitten auf der Straße ſtehn, ſetzte aber ſogleich ſehr proſaiſch hinzu: „Wenn ich jetzt eine Taſſe ſtarken Kaffee bekommen könnte! Dann brauchte ich mich zu Hauſe nicht erſt niederzulegen, und der Tag wäre nicht verloren. „Sie ſehen nicht müde aus, ſondern ganz wunder⸗ bar klaräugig,“ bemerkte er und ſah ſie an, „es wird Ihnen offenbar leicht, eine Nacht nicht auszuruhen." Sie nickte. „Ich bin's gewöhnt,“ ſagte ſie, „ich habe vorzugs⸗ weiſe nachts bei den Büchern geſeſſen. Wenn's um einen her ſo ſtill iſt — „Das klingt doch wirklich rein wahnſinnig, wenn man ein junges Mädchen ſo etwas ſagen hört,“ er⸗ Lon Andreas⸗Salomé, Fenitſchla. 2 17 widerte er faſt gereizt, denn es mißfiel ihm heftig, „ich, ſo wie ich hier ſtehe, bin eben erſt der Bücherſtudiererei entlaufen wie dem ärgſten aller Frondienſte. Und Sie — ein Weib — ſpannen ſich freiwillig hinein. „Warum ſoll denn das ein Frondienſt ſein?“ ſie blickte erſtaunt auf — „das, was unſern Geſichtskreis erweitert, uns das Leben aufſchließt, uns ſelbſtändig macht —? Nein, wenn irgend was in der Welt einer Befreiung gleicht, ſo iſt es das Geiſtesſtudium. „Sie iſt imſtande und benutzt dieſen Heimweg, — mitten auf der Straße, im Morgennebel, — zu einem philoſophiſchen Disput über den Wert des Geiſtes⸗ ſtudiums für das Leben!“ dachte er faſt erbittert, und entgegnete im Bruſtton ſeiner feſteſten Ueberzeugung: „Aber, mein Fräulein! da irren Sie ſich nun wirk⸗ lich! Es iſt im Gegenteil das Beſchränkendſte, Ein⸗ ſchränkendſte, was es auf der Welt giebt! Und eigent⸗ lich verſteht ſich das ja von ſelbſt. Die Wiſſenſchaft führt an der Wirklichkeit des Lebens, mit all ſeinen Farben, all ſeiner Fülle, ſeiner widerſpruchsvollen Man⸗ nigfaltigkeit, völlig vorbei, — ſie erhaſcht von alledem nur eine ganz blaſſe, dünne Silhouette. Je reiner, je ſtrenger und ſicherer ihre Erkenntnismethoden ſind, deſto bewußter und größer dann auch ihr Verzicht auf das volle, das wirkliche Erfaſſen ſelbſt des kleinſten Lebens⸗ ſtückchens. — — Deshalb iſt der Wiſſenſchafter, der ihr dient, an ſo viel Selbſtkaſteiung gebunden, an ſo viel bloße Schreibtiſchexiſtenz und geiſtige Bleichſucht." Während er redete, überlegte er ſich zugleich, daß der Weg bis zu Fenias Hotel ſehr kurz ſei, und machte 18 deshalb auf alle Fälle einen Umweg, obwohl der Him⸗ mel ſich bezog. Sie bemerkte auch gar nichts davon, weder von der Himmelstrübung noch vom Umweg. „Für uns Frauen, — für uns, die wir erſt ſeit ſo kurzem ſtudieren dürfen, iſt es durchaus nicht ſo, wie Sie da ſagen,“ widerſprach ſie, ganz eingenommen von ihrer Sache; „für uns bedeutet es keine Askeſe und keine Schreibtiſcheriſtenz. Wie ſollte das auch möglich ſein! Wir treten ja damit nun grade mitten in den Kampf hinein, — um unſre Freiheit, um unſre Rechte, — mitten hinein in das Leben! Wer von uns ſich dem Studium hingiebt, thut es nicht nur mit dem Kopf, mit der Intelligenz, ſondern mit dem ganzen Willen, dem ganzen Menſchen! Er erobert nicht nur Wiſſen, ſondern ein Stück Leben voll von Gemütsbewegungen. Was Sie von der Wiſſenſchaft ſagen, klingt ſo, als ſei ſie nur noch die geeignetſte Beſchäftigung für Greiſe, für abgelebte Menſchen. Aber vielleicht ſeid nur ihr greiſen⸗ haft. Bei uns begeiſtert ſie die Starken, die Jungen, die Friſchen!" „Ja, wiſſen Sie denn, was das beweiſen würde. wenn es wirklich ſo iſt?“ fragte er ärgerlich, und ſtu⸗ dierte dabei mit verliebtem Wohlgefallen den Anſatz des braunen Haares an ihren Schläfen, der eine reizende kleine Linie bildete; „es beweiſt einfach, daß Ihr Ge⸗ ſchlecht zurück iſt, daß es da lebt, wa wir vor Jahrhun⸗ derten ſtanden. Etwa da, wo wir für jede wiſſenſchaft⸗ liche Erkenntnis auf den Scheiterhaufen gerieten, oder mindeſtens in öffentlichen Verruf. Damals hatte aller⸗ dings das Leben für die Wiſſenſchaft noch etwas ver⸗ 19 dammt Charakterſtählendes und zog die ganze Exiſtenz eines Menſchen in die abſtrakteſten Erkenntnisfragen hinein. Aber ſolange das ſo iſt, iſt auch die feinſte geiſtige Kultur noch nicht möglich, — die Kultur von heute, die über den Dingen ſchwebt, — und von der die Frauen nichts wiſſen, wenn ſie ſtudieren. „Aber wenn ſie nicht ſtudieren?“ fragte ſie ſpottend. eine Ahnung davon.“ „Jawohl. Dann bekommen ſie durch den Mann und blieb ſtehn. „Bitte, — wo ſind wir?“ unterbrach mich Fenia, ſind wir von der kürzeſten Heimwegslinie abgewichen. „Werden Sie nicht böſe! Im Eifer des Gefechts — — Aber ich wußte wohl: hier muß ſchon ein kleines Lokal offen ſein, wo Sie Kaffee bekommen können, fügte er ſchnell hinzu und führte ſie ein paar Schritt weiter, — „ich konnte nicht vergeſſen, daß Sie ſo ſchmerz⸗ lich nach Kaffee verlangten.“ Das kleine Café, vor dem ſie ſtanden, wurde aller⸗ dings grade geöffnet. Aber auf ſo frühe Beſucher war es noch keineswegs eingerichtet. Der Beſen, der drinnen über die Dielen fuhr, fegte ihnen mächtige Staubwolken entgegen, und die Stühle ſtanden noch friedlich auf die Tiſche geſtülpt da, wie während der Nachtzeit. „Ich glaube, es iſt noch weit nach meinem Hotel, meinte Fenia bedenklich, — „iſt nicht jetzt ein Fiaker —“ „Nach Ihrem Hotel iſt es freilich ein wenig weit,“ fiel er ihr ſchnell in die Rede, „aber wenn Sie — — —, ich kann es gar nicht ertragen, daß Sie um den er⸗ ſehnten Kaffee kommen. Sie müſſen jetzt ja noch viel 20 durſtiger ſein. Ich weiß einen Ort, wo Sie ſelbſt um dieſe frühe Stunde ganz vorzüglichen bekommen. „Wo denn? Ganz nah?“ „Ganz nah. Keine zehn Häuſer weit. Denn wir ſind hier zwar etwas entfernt von Ihrem Hotel, aber deſto näher bei dem meinen. Und meine Hotelwirte ſind auf die merkwürdigſten Kaffeeſtunden eingerichtet. Gehen wir hin. Ich laſſe dann von dort einen Fiaker beſorgen. „Bei mir wird, glaub ich, der Speiſeſaal nicht ſo früh aufgemacht,“ meinte Fenia etwas verwundert, „aber wenn es ſo iſt — gehen wir meinetwegen.“ Ihre einfache Bereitwilligkeit irritierte ihn beinahe. Die mit ihr durchwachte Nacht hatte ſeine verliebte Neu⸗ gier bis zu nervöſer Erregung aufgereizt. Wie, wenn er ſie gar nicht in den allgemeinen Speiſeſaal führte? konnte ſie denn das wiſſen? Höchſt wahrſcheinlich war dieſer wirklich noch nicht auf. Aber ſeine eignen Zimmer lagen daneben. Eine Art von ſtiller Wut kam in ihn, ſeine Unklar⸗ heit über dieſes Mädchen quälte ihn. War es wohl mög⸗ lich, daß ſie einem wildfremden jungen Menſchen ſo weit entgegenkam, ſich ihm ſo arglos anvertraute, wenn das alles nicht bloßes Raffinement war? Lachte ſie etwa im ſtillen über ihn? Oder von welchem fernen Stern war ſie auf das Pariſer Pflaſter gefallen? Ach, er war noch ſehr jung damals! Die Weiber tarierte er ganz beſonders deshalb noch ziemlich falſch, weil er Angſt hatte, für einen leichtgläubigen Dummkopf gehalten zu werden. Und was die ſtudierenden Frauen an⸗ betraf, gegen die er eine ſolche Abneigung beſaß, ſo mußte 21 er ſich geſtehen, daß er ſie eigentlich noch nicht kannte, denn die Frauen ſeiner intimeren Bekanntſchaft gehörten ganz und gar nicht zu dieſer Raſſe. Er führte Fenia in das Hotel garni, wo er wohnte, ließ ſie einige Stufen hinaufſteigen und öff⸗ nete im breiten Korridor die Thür zu einem Zimmer neben dem Speiſeſaal. Es war nicht ſein Zimmer, ſondern eine momentan unbeſetzte große, helle Hinterſtube mit Saloneinrichtung, die er zu benutzen pflegte, wenn bei ihm aufgeräumt wurde. Als ſie eintraten, kratzte jedoch nebenan ſein kleiner weißer Spitz, den er einer alten Straßenver⸗ käuferin abgehandelt hatte, aufgeregt über die lang er⸗ wartete Rückkunft ſeines Herrn, unter leiſem Gewinſel an der Thür. Max Werner ließ ihn herein, und er ſchoß unter freudigſtem Wedeln und Bellen auf Fenia und ihn zu, als gehörten ſie zuſammen. Fenia war zaudernd ſtehn geblieben, nicht recht be⸗ greifend, wo ſie ſich hier befand. Sie bückte ſich un⸗ willkürlich zu dem Hund nieder, der ſich indeſſen zwiſchen ihnen hingeſetzt hatte und ſie befriedigt anſah, richtete ſich aber ebenſo raſch wieder auf und wollte etwas ſagen, als ihr Blick Max Werners Geſicht traf. Er hatte ſie ohne irgend eine klare Abſicht hier hereingeführt. Wie ſie jedoch nun wirklich daſtand, in dieſem Zimmer, in dieſer völligen Abgeſchloſſenheit mit ihm allein, in dieſem ſchlafenden Hotel, auf deſſen Gängen es noch ſo totenſtill war, daß man hinter den halb⸗ geſchloſſenen Fenſterjalouſien das vergnügte Zwitſchern eines Spatzen im Hofe hörte, — da, — ja, als Fenia 22 da aufſchaute, ſah ſie ihn zitternd vor Erregung über ſie geneigt, ganz nahe über ihrem Geſicht, und im Begriff, ſie mit beiden Armen zu umfaſſen. Sie ſchrie nicht auf. Sie zuckte nur zurück, bückte ſich ſchnell, um den Schirm aufzunehmen, der ihr bei der Begrüßung des Hundes entglitten war, und wandte ſich zur Thür. „Wie ſchade!“ ſagte ſie dabei. Es entfuhr ihr faſt bedauernd, zugleich im Ton außerordentlichen Erſtaunens. Er ſtand einen Augenblick verdutzt da. Dann ſchwoll eine plötzliche Raſerei in ihm auf, — ein blinder wütender Drang, ihr nur ja nicht den Willen zu thun, und ohne noch ſelbſt recht zu wiſſen, was er eigentlich damit bezweckte, ſtürzte er an ihr vorbei zur Thür, riß den Schlüſſel heraus, drehte ihn von innen im Schloß herum und ſteckte ihn darauf in ſeine Taſche. Fenia war wie eine Salzſäule ſtehn geblieben. Sie war furchtbar erblaßt. Ihre Blicke irrten durch das Zimmer, durch das Fenſter in den Hof, wo der Spatz ſchrie, und blieben dann am hellen Klingelknopf der elektriſchen Glocke haften. Aber konnte ſie den Garcon herbeiläuten und ſich von ihm zu dieſer Stunde in dieſer Stube mit dem Fremden finden laſſen? — Und in den Hof hinunter⸗ ſpringen konnte ſie ja doch auch nicht. — Sie richtete ihre Augen, tief erſchrocken, groß und fragend, auf ihn, grade als frage ſie ihn danach, was nun zu thun ſei. Einen Augenblick lang war etwas Hilf⸗ loſes und Hilfeheiſchendes über ihrer ganzen Geſtalt, wie 23 über einem im Wald verirrten Kind. — Aber nur einen Augenblick. Dann ſiegte ein andres Gefühl. Ihr Blick lief an ihm hinab, und ihre Lippen wölbten ſich in einem unausſprechlich beredten Ausdruck des Ekels, — der Ver⸗ achtung —. Seine Hand fuhr, ohne daß er es ihr im geringſten anbefohlen hätte, in ſeine Taſche und zog, ohne ſich um den Lümmel zu kümmern, der dumm, rot und wie ein Schulknabe daſtand, den Schlüſſel heraus. Als aber die Hand Fenia den Schlüſſel reichte, begleitete er dieſe un⸗ freiwillige Gebärde mit einem Gemurmel: mißverſtanden Sie mich, — ich wollte doch nicht etwa, „Ich — vorhin, als ich die Thür zuſperrte, da — nein, überhaupt nichts, — ich wollte ja nur, daß Sie nicht in dieſer Stimmung fortgehen ſollten, — nicht aufgebracht und zornig gegen mich. Die ſeltſame Logik dieſer Worte ſchien ihr nicht einzuleuchten. Ihr Geſicht trug noch immer denſelben Ausdruck, der es faſt verzerrte, — als ſäße ihr eine Raupe am Halſe und kröche langſam weiter. Sie ergriff den Schlüſſel und ging ſehr ſchnell, ohne ein Wort, aus der Thür. Er hinterdrein. Hinter ihm der Spitz. Einen Hut hatte er nicht aufgeſetzt, ſie wäre ihm entwiſcht, während er ihn vom Tiſch holte. Und er fühlte ſich gänzlich unfähig, ſie ſo gehen zu laſſen, — auf im⸗ mer, — ohne ein Wort, — lieber wollte er ihr nach⸗ laufen, — ja das wollte er, — wie ein verliebter Pudel, — verliebt in dieſem Augenblick zum Närriſchwerden. — Ganz nah am Hotel ſtanden ein paar Droſchken. 24 Die ledernen Verdecke waren herabgelaſſen, ein feiner Regen fing an, vom Himmel niederzurieſeln. Im ein⸗ förmig grauen Morgenlicht haſteten ein paar Zeitungs⸗ verkäufer, ein verſchlafener Bäckerjunge vorüber. Die Straße entlang klapperte ein Gemüſekarren. Ehe es Fenia noch gelang, den Kutſcher auf ſeinem Bock wachzurufen und in den Fiaker einzuſteigen, waren ſie ſchon zur Stelle, Max Werner und der Spitz, letz⸗ terer in höchſter Aufregung dazwiſchen bellend. „Hören Sie mich an!“ ſagte er atemlos zu Fenia und half ihr unter das Verdeck zu gelangen, „hören Sie mich an! ſehen Sie mich an! Nein, — ſehen Sie mich nicht an,“ verbeſſerte er ſich, ſeines verwirrten Aus⸗ ſehens, ſeines hutloſen Kopfes gedenkend, — „aber Sie ſehen ja, daß ich über meine eigne, wahnſinnige Dumm⸗ heit außer mir bin! Sagen Sie mir, daß Sie mir ver⸗ zeihen, — ſagen Sie mir ein Wort, — gehen Sie nicht ſo, — ich meine: fahren Sie nicht ſo. Er wußte durchaus nicht mehr, was er eigentlich ſagte. Der Kutſcher war ſchwerfällig vom Bock geklettert, hatte ſeinem Pferde den Futtereimer abgehängt, nahm dem Tier die Schutzdecke vom Rücken und faltete ſie be⸗ dächtig. Fenia ſchaute indeſſen unter dem Schirmdach des Verdeckes hervor, in ſich zuſammengeſchmiegt wie eine weiche Katze, und ſah Mar Werner ganz groß und ernſt an. „Verzeihen?“ wiederholte ſie, — „ich will Ihnen noch mehr ſagen: da iſt gar nichts zu verzeihen. Denn 25 ich bin ebenſo dumm geweſen wie Sie, indem ich Ihnen folgte, ohne Sie und Ihren Speiſeſaal auch nur ein biß⸗ chen zu kennen Ja, das war ſehr dumm, und ſo ſind wir quitt, denn Sie ſind auch nur ſo dumm geweſen, weil Sie mich nicht kannten. — Wir haben beide die⸗ ſelbe Entſchuldigung dafür, daß wir es nicht beſſer wuß⸗ ten. — Denn obgleich ich ſo viel unter Männern ge⸗ weſen bin, ſehen Sie, ſo hat es ſich für mich immer ſo glücklich getroffen, daß es immer die anſtändigſten Män⸗ ner von der Welt waren. Ja wahrhaftig. Sie ſind der erſte unanſtändige — Mann, den ich Sie brach ab, wie ſelbſt erſchrocken über das belei⸗ digende Wort, womit ihre lange Rede abſchloß. Der Kutſcher war auf den Bock geſtiegen, der Gaul zog an, und Fenia drückte ſich errötend ins Dunkel des Verdecks, während der Fiaker mit ihr davonraſſelte. Max Werner ſtand auf dem Straßendamm uno fuhr mechaniſch, mit düſterm Geſicht, nach ſeinem Kopf, um den Hut zu lüften, — der nicht darauf ſaß. 26 In den darauffolgenden Tagen drängte es ihn ſehr, Fenia aufzuſuchen oder ihr zu ſchreiben, doch zauderte er immer wieder und unterließ es. Erſt nach längerer Zeit, als er ſchon mit einigem Humor an ſeine Eſelei zurück⸗ dachte, that er es trotzdem; aber da war Fenia, — Fiona Iwanowna Betjagin hieß ſie, — bereits wieder nach Zürich abgereiſt. Indeſſen ſchien es des Schickſals Wille, daß ſie ſich wiederfinden ſollten, als ſie beide längſt nicht mehr dran dachten. Ein Jahr ging hin. Mar Werner verbrachte es, nach ſeiner Rückkehr aus Paris, in der öſterreichiſchen Heimat, wo ihn ſeit einiger Zeit etwas Liebes feſthielt und ſeine Reiſeluſt merklich abſchwächte. Da erhielt er eines Tages einen Brief ſeiner einzigen Schweſter, die ſich den letzten Monat bei einer nach Rußland verheirateten Freundin auf deren Gut aufgehalten hatte: ſie zeigte ihm ihre Verlobung mit einem in der Nähe von Smolensk begüterten Landedelmann an, und ſandte ihm zugleich einen ſchönen Gruß von Fiona Iwanowna Betjagin, — einer Verwandten ihres zukünftigen Mannes, die im Auslande ſtudiert und kürzlich promoviert habe. Tief im Winter, Mitte Januar, reiſte Max Werner zur Hochzeit ſeiner Schweſter in die ruſſiſche Provinz. Dort, auf dem Gut von deren Freunden, wo eine Un⸗ menge fremder Gäſte untergebracht waren, ſah er mitten im Trubel der feſtlichen Vorbereitungen Fenia wieder. Als er ſie zuerſt erblickte, hätte er ſie faſt nicht wiedererkannt, obgleich er nicht hätte ſagen können, worin die überraſchende Veränderung gegen den Pariſer Eindruck liegen mochte. Fenia ſaß in läſſiger Haltung zwiſchen einigen Be⸗ kannten, ihre rechte Hand in träger Gebärde mit der Innenfläche nach oben gekehrt im Schoß, und ſeltſam feſtlich und feierlich im leuchtenden Weiß ihres ſeidenen Kleides. Während ſie heiter lachte und ſprach, ſah ſie doch zerſtreut aus, als verträumten ſich ihre Gedanken ganz wo anders hin. Ihre Geſtalt ſchien voller herangeblüht zu ſein, in allen ihren Bewegungen lag etwas Weiches, Abgerun⸗ detes, was ſie nicht beſeſſen hatte, und was ihr eine har⸗ moniſche Schönheit gab. Fenia war ſchöner geworden, als zu erwarten ſtand. Ja, ſchöner, — doch den beunruhigenden Reiz von damals übte ſie nicht mehr auf Max Werner aus, — das Widerſpruchsvolle, Geheimnisvolle, was ihn damals an der fremden Studentin anzog und abſtieß, ſchien von ihr abgeſtreift zu ſein, ſeitdem das Weib, das er ſo un⸗ ruhig in ihr geſucht hatte, in ihrem Aeußeren voller hervorgetreten war. Das fühlte er trotz der herzlichen Freude, womit er ſich von Fenia bewillkommnet ſah. Sie begrüßte in ihm ſogleich den neuen Verwandten, und beide lachten 28 ſie miteinander über ihren gemeinſamen verblichenen Pa⸗ riſer „Liebesroman“, der gar ſo kurz geweſen. Bei der Hochzeitstafel ſetzte Fenia ihn neben ſich, und ſie tranken, zugleich mit vielen andern Paaren, ſo⸗ gar Brüderſchaft, an der jedoch nie ordentlich feſtgehalten wurde. Mar Werner fiel der große Ernſt auf, womit Fenia ihm alle Einzelheiten und deren Bedeutung wäh⸗ rend der griechiſch⸗katholiſchen Trauung, die der prote⸗ ſtantiſchen folgte, zu erklären bemüht war. Ihn in⸗ tereſſierten wohl die verſchiedenen Zeremonien, die er da ſah, doch konnte er eine etwas ketzeriſche Bemerkung über ihre Ueberflüſſigkeit nicht unterdrücken. „Ueberflüſſig?!“ ſagte Fenia erſtaunt, fügte jedoch ſchnell hinzu: „nun freilich, für einen Fremden, der's mitmachen muß. Für mich iſt es gradezu köſtlich, ſo unterzutauchen in Weihrauchduft und Geſang und Kind⸗ heitserinnerungen. Ich bin ja ſo viele Jahre fortgeweſen. — — Und jetzt erſt fühle ich mich wieder zu Hauſe, wo all dies Altvertraute wieder um mich iſt. — — Ruß⸗ land hat auch darin den großen Vorzug vor andern Ländern, daß man ganz ſicher iſt, alles auf dem alten Fleck wieder vorzufinden. Da iſt kein Haſten von Fortſchritt zu Fortſchritt, — es iſt alles jahraus, jahrein dasſelbe. Ueber dies vaterländiſche Kompliment mußte Mar Werner lachen. „Auch ein Grund, ſeine Heimat zu verehren!“ be⸗ merkte er heiter, „aber in dieſem beſondern Fall — denken Sie — denkſt du — doch auch nicht mehr wie einſt als Kind. Dieſe langen Trauungszeremonien ſind ihres tieferen Sinnes ja doch entkleidet." 29 Fenia ſchüttelte den Kopf. „Durchaus nicht! im Gegenteil! Streift man die äußere Form ab, was iſt der tiefere Sinn? Er lautet etwa: da ſind zwei Menſchen, die ſich zuſammenthun wol⸗ len für immer, — vermutlich weil ſie ſich lieben, — aber nicht nur zum Zweck ihrer perſönlichen Verliebtheit, ſondern zu einer gemeinſamen Aufgabe, — ſozuſagen im Dienſt eines Höheren, Dritten, worin ſie ſich erſt unlöslich verbinden. Sonſt iſt die ganze Unlöslichkeit zwecklos. Nein, ſie wollen darin über das nur Perſön⸗ liche, rein Gefühlsmäßige hinaus, — ob ſie es nun Gott nennen, oder Heiligkeit der Familie, oder Ewig⸗ keit des Ehebündniſſes, — das gilt dafür gleich. — — In jedem Fall iſt es etwas andres, — auch etwas durchaus Anderwertiges, als nur Liebe zwiſchen den Ge⸗ ſchlechtern.“ „Mein Gott, Fenia Iwanowna!“ ſagte Mar Werner ganz konſterniert, „Sie können einem wahrhaftig das ganze Heiraten verleiden! Mir läuft förmlich eine Gänſe⸗ haut über den Rücken. — — Zum Glück irren Sie ſich. Unlöslich iſt die Geſchichte wenigſtens nicht. Es giebt ja doch Ausſicht auf Scheidung — Fenia zuckte die Achſeln. „Mag ſein — bei euch. Da drückt eben die Form den Inhalt nicht mehr voll aus. Hat alſo auch die ihr zukommende Schönheit und Feierlichkeit nicht mehr. Da kann ich mir ganz gut denken, daß ihr vielleicht leicht⸗ ſinniger drauf los heiratet. — — Wir ab³, — — ehe wir es thun, werfen wir uns auf die Kniee — ganz ſo, als ob wir das Entgegengeſetzte thun und auf Lebens⸗ 30 zeit unſre perſönlichen Genußrechte in einem Kloſter auf⸗ geben wollten. Es war Mar Werner noch ebenſo angenehm und anregend wie früher, mit Fenia zu disputieren, wenn ihre Meinungen auch ebenſo aufeinanderſtießen wie da⸗ mals in Paris. Aber wie in ihrem Aeußeren erſchien Fenia ihm auch in ihren Meinungen jetzt weit frauen⸗ hafter als früher, und vielleicht bewirkte es grade dieſer Umſtand, daß ſie ſich in der kurzen Woche faſt unaus⸗ geſetzten Zuſammenſeins ſchließlich eng befreundeten. Die einfache Schweſterlichkeit ihrer Umgangsformen, die er damals mit ſo argwöhniſchen Augen angeſehen hatte, wurde ihm hier im fremden Lande unendlich ſym⸗ pathiſch, und ſehr bald erkannte er auch im Schlichten, arglos Vertrauenden des Benehmens einen ſpezifiſch ſla⸗ viſchen Zug der Mädchen und Frauen. Fenia unter⸗ ſchied ſich von den andern nur wenig, — am wenigſten durch den Umſtand, daß ſie ein ſo langes Studienleben geführt hatte. Der Ausdruck ihres Naturweſens war viel ſtärker als irgend etwas Angelerntes. Endlich kam es ſogar dazu, daß Max Werner Fenia den größten Vertrauensbeweis gab, indem er ihr andeu⸗ tete, was ihn jetzt ſo ganz an ſeine Heimat feſſelte und ihn dahin zurückzog. Sie erfuhr, daß er ſeit Jahres⸗ friſt heimlich verlobt ſei. Er geſtand es ihr während einer großen Schlitten⸗ partie, die alle Gutsgäſte gemeinſam bei prachtvollem Winterwetter in die verſchneite waldreiche Umgebung unternahmen. Fenia und ihr deutſcher Freund kamen zuſammen in eine der niedrigen zweiſitzigen „Salaski“ 31 zu ſitzen, die beim hellen Schellengeklingel der flinken kleinen Pferde pfeilſchnell über die hartgefrorene Schnee⸗ fläche dahinſauſten. lebhaftem Intereſſe: Auf Max Werners Geſtändnis bemerkte Fenia mit ſo, daß wirklich niemand, ſelbſt die Nächſten nicht, etwas „Eine wirklich ganz heimliche“ Liebe? Ich meine davon ahnt? Das muß ja ſehr ſchwer durchzuführen ſein. eine Norddeutſche iſt und das Leben nichts weniger als „Das iſt es auch. Doppelt ſchwer, weil Irmgard leicht nimmt. Jede Heimlichkeit jagt ihr hinterher tage⸗ langes Entſetzen ein. Kleiner norddeutſcher Adel, der in alten, feſten Familientraditionen groß geworden iſt. den?“ fragte Fenia, „denn Sie, mein Lieber, machen „Wie ſind Sie denn miteinander bekannt gewor⸗ doch umgekehrt einen leichtlebigen Eindruck auf uns junge Mädchen.“ „Bitte, bitte! Ich bin nicht immer wie in Paris. Für Irmgard war ich anfangs eine Art Ausweg und Rettung aus der etwas engen geiſtigen Atmoſphäre ihres Haufes. Damit fing es an. „Und deshalb hält Ihre Braut Sie für einen Tu⸗ gendbold?“ fragte Fenia ſpottend. „O nein! Sie hält mich im Gegenteil für viel ſchlimmer, als ich bin. Das iſt meiſtens ſo. Aber das ſchreckt ſie nicht ab. Sie liebt wie eine Königin, die gewährt, ohne zu verlangen. Das iſt die trotzigſte Art von Mädchenſtolz. „Doch nur eine Maskerade für lauter übergroße 32 Demut,“ fiel Fenia lebhaft ein, „— ach, wie deutſch iſt das! Aber da bringt ſie Ihnen doch lauter Opfer. Leiden Sie denn nicht darunter? Mar Werner machte unter ſeiner geliehenen Pelz⸗ kappe ein verlegenes und pfiffiges Geſicht. „— Leider nein!“ bemerkte er kleinlaut. „In dieſer Selbſtüberwindung und ſtolzen Demut liegt etwas, was unſereinen entzückt. Es ſteigert die gegenſeitige Liebe, glaub ich —. Fenia ſchwieg einige Minuten. Irgend ein Gedanke ſchien ſie zu beſchäftigen. Dann äußerte ſie plötzlich: „Und trotzdem, — trotz all dieſen ſchwierigen Um⸗ ſtänden, — will ſie Sie noch nicht heiraten? Mar Werner ſah ſo verblüfft aus, daß Fenia zu lachen anfing. „— Nicht heiraten —? ja, wie denn? Das iſt ja nur — — eigentlich bin ich ja doch nicht recht in der Lage dazu,“ entgegnete er, noch immer geenz verdutzt von dieſer unerwarteten Auffaſſung, „— ſie würde natür⸗ lich gern ſo bald als möglich —. Ich habe meinen ſehr kleinen Vermögensanteil früher ſchon ſo ſehr zu Reiſen und Studienzwecken angegriffen, daß ich erſt eine Pro⸗ feſſur haben müßte. Fenia verfiel in Nachdenken. Sie ſaß mit geſenktem Geſicht, als horche ſie aufmerkſam auf das Schellen⸗ geklingel der Schlittenpferde. Aber es mußten liebe und angenehme Betrachtungen ſein, die ſie hegte, denn ſie ſaß ſo glücklich in ſich zuſammengeſunken da, und auf ihrem von der Kälte rotgehauchten Geſicht blieb ein Lächeln ſtehn —. Lou Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 33 3 Nach den letzten Hochzeitsfeierlichkeiten reiſte Max Werner zuſammen mit Fenia nach St. Petersburg, wo er ſich noch etwas umſehen wollte, ehe er nach Deutſchland zurückging. Fenia mietete ſich in einer maison meublée des Newskij Proſpekts ein, um ſich in Ruhe für ihre künftige Lehrthätigkeit vorzubereiten. Ihn führte ſie gleich bei ihren einzigen Petersburger Verwand⸗ ten ein, ins Haus ihres Onkels, des Mannes einer verſtor⸗ benen Schweſter ihrer Mutter, weil man dort deutſch ſprach und deutſche Intereſſen pflegte. Der Onkel war von baltiſchem Adel, Admiral in ruſſiſchem Dienſt und unter⸗ hielt mit ſeinen drei Töchtern die gaſtfreieſte Geſelligkeit. Den größten Teil der erſten Tage ſeines Aufent⸗ halts widmete Max jedoch eingehenden Beſichtigungen der Hauptſtadt. Einmal, nachdem er ſo lange in den Kunſtſälen der Eremitage verweilt hatte, als das ſpär⸗ liche Winterlicht irgend zuließ, verlangte es ihn nach einem ausgiebigen Spaziergang, und ſo ging er noch den ganzen Newskij Proſpekt hinunter, von dem man ge⸗ wöhnlich nur eine gewiſſe Strecke, zwiſchen der Admira⸗ lität und dem Moskauer Bahnhof, zu ſehen bekommt. Hinter dem Moskauer Bahnhof iſt es nicht mehr der Newskij der vornehmen Nachmittagspromenade. Die breite ſchnurgerade Straße mit ihrer Einfaſſung von Kirchen und Paläſten macht eine ſcharfe Wendung und verändert plötzlich ganz ihren Charakter. Anſtatt der eleganten Spiegelſcheiben der großen Magazine trifft man gewöhnliche Warenbuden und billige Bazare, deren niedrige Arkaden am Trottoir entlang laufen; anſtatt der europäiſchen Hotels, Wirtshäuſer zweiten und dritten 34 Ranges und Schnapskeller mit grellen Plakaten über der Thür. Immer weniger herrſchaftliche Schlitten ſau⸗ ſen über den feſtgeſtampften bläulichen Schnee, immer volkstümlicher werden die Trachten der vorübergehenden Menſchen, — bis endlich von ferne, im blitzenden Schein, den die Winterſonne den goldenen Kuppeln entlockt, — das Alerander⸗Newskijkloſter herüberſchimmert. Schon eine ganze Strecke vor dem Kloſter wird die Straße beinahe dörflich und erhält einen ſozuſagen geiſt⸗ lichen Anſtrich. Weißbeworfene Gebäude mit goldenen Kreuzen oder goldener Strahlenform über dem Thor, Wohlthätigkeitsanſtalten, Kapellchen, fromme Aſyle er⸗ heben ſich zwiſchen den kleinen, niedrigen, demütigen Wohnhäuſern, die auch nur noch weiße Kleidchen an⸗ zulegen wagen. Und darüber ragt die gewaltige weiß⸗ goldene Himmelsſtadt mit ihren Kloſtermauern, Kuppeln und Kirchen gegen den blaßblauen Winterhimmel empor, — umhaucht vom Weihrauch, der aus ihren Heilig⸗ tümern dringt, umſtanden von geweihten Buden, wo Betperlen, Räucherkerzen und Kränze verkauft werden, umklungen von Glocken und Chorälen, — das Ganze eine unbeſchreibliche Symphonie von Weiß und Gold in⸗ mitten dieſer weißen Schneelandſchaft unter den letzten goldenen Sonnenſtrahlen. Und dahinter der weite, weite Kloſtergarten im tiefen Winterfrieden. Max Werner wollte grade in den Garten eintreten, als er zu ſeiner Ueberraſchung Fenia darin erblickte; ſie ſtand dicht am Eingang, an das goldblitzende Staket ge⸗ lehnt, und wendete ihm den Rücken zu. 35 „Fenia Iwanowna, gehen Sie ins Kloſter?“ ſagte er ihr über die Schulter. und entgegnete aus der Pforte tretend: Sie wandte ſich verwundert, nicht erſchrocken, um, geh ich zu meinem Onkel, — jour fixe, Sie wiſſen ja! „Ich habe mir das Kloſter angeſehen — — Und nun Ich ſpeiſe dort. Haben Sie nichts Beſonderes vor? Dann kommen Sie doch mit, Sie ſind ja ein für allemal zur Familientafel geladen." zu begleiten. Wollen wir bei dieſem ſanft ſibiriſchen „Ich will es ſehr gern thun, Fenia, ſchon um Sie Wetter die Promenade zu Fuß machen?“ Sie nickte, und indem ſie ihr Geſicht mit dem vor⸗ gehaltenen Bibermuff vor dem ſcharfen Winde ſchützte, ſchaute ſie ſich aufmerkſam nach allen Seiten um. Dann ſchritt ſie eine Zeitlang einſilbig neben ihrem Begleiter her. „Wie ſind Sie nur darauf verfallen, grade hierher zu kommen,“ fragte ſie plötzlich, — „dieſen Teil des Newskijs beſuchen ſo wenige. Man kann faſt ſicher ſein, daß man — „Wäre es nicht viel berechtigter, wenn ich Sie dasſelbe fragte?“ bemerkte er neckend, „ein Spaziergang für eine junge Dame ohne Begleitung iſt das doch gar nicht. Ich glaubte Sie in die tiefſten Studien ver⸗ tieft, habe Sie zartfühlend nur deshalb nicht aufgeſucht, — ich ſtelle Sie mir ja ſeit Paris immer noch wie be⸗ ſeſſen von Fleiß vor, — und ſtatt deſſen bummeln Sie hier herum. „Ja, bummeln iſt das richtige Wort,“ ſagte ſie in zufriedenem Ton, — „wiſſen Sie, mit dem Fleiß iſt es 36 ganz vorbei. Ich lebe jetzt ja auch in einer ſolchen Uebergangs⸗ und Zwiſchenzeit, — nicht wahr? Bis zu der mir verſprochenen Anſtellung. Und wie genieße ich das! Wiſſen Sie, es war Zeit, nach dem langen Arbeits⸗ fieber. Jetzt ſtrecke und recke ich mich, wie auf einem rechten Faulbett, — ordentlich wie eine Rekonvaleszentin fühl ich mich, — da lebt man ganz anders. — Paſ⸗ ſiver, lauſchender, aufnehmender. — Man wacht nicht, man ſchläft aber auch nicht. — „— Man träumt!“ ergänzte er aufs Geratewohl. Fenia ſah mit einem raſchen Blick zu ihm auf. Dann ſchwieg ſie. „Eigentlich haben wir alſo die Rollen getauſcht, meinte er, „denn ich bin dieſes Jahr recht fleißig ge⸗ weſen. — — Aber wie wird es Ihnen denn ſchmecken, nach dieſer Zwiſchenzeit ein ſchwieriges Lehramt auszu⸗ üben, — graut Ihnen nicht davor?“ Sie lachte. „So weit hinaus kann ich im Augenblick nicht vor⸗ wärts denken. — — Aber das wird recht ſchlimm ſein, denn es iſt mir eigentlich ſtets ſehr anziehend geweſen. Darauf ſchwieg ſie wieder mit nachdenklichem Ge⸗ ſicht, als beſchäftige ſie etwas Unausgeſprochenes. Sie gelangten inzwiſchen auf den belebten Teil des Newskijs, wo die ſie umdrängende Menſchenmenge, die ſie jeden Augen⸗ blick trennte, ohnehin die Unterhaltung erſchwert hätte. Hinter der Polizeibrücke ſank die Sonne. Lange blaue Schatten liefen über den Schnee und ſchufen jene nordiſche Winterdämmerung, in der man ſchon mitten am Tage nichts mehr recht deutlich erkennt, und dennoch 37 fremdartig davon berührt wird, daß hier und da hinter den Schaufenſtern die erſten Flammen aufzucken. Das vorüberflutende Leben und Treiben auf der glänzenden Hauptſtraße paßte ſich der Stimmung dieſer Stunde wunderbar an, denn trotz all des Gewühles war nichts Lautes, nichts Buntes, nichts Aufdringliches an dem ganzen Bilde, ſondern eine gedämpfte und diskrete Eleganz; das faſt lautloſe Durcheinanderjagen der Schlit⸗ ten, das etwas beinah Geſpenſtiſches haben konnte, die gleichförmige dunkle Kleidung der pelzvermummten Damen, die langſam, ohne Haſt, faſt feierlich ſich vorbeibewegten, die Totenſtille der breiten tief ver⸗ ſchneiten Nebenſtraßen, in denen die Welt plötzlich auf⸗ zuhören ſchien, gaben allem eine Art von verträumter Poeſie, die vom lebensvollern und trivialern Lärm andrer Großſtädte ſcharf abſtach. Selbſt die Ecken und harten Umriſſe der Häuſer hatte der Froſt mit blitzenden Eis⸗ kruſten abgeſtumpft und verwiſcht, und in der kalten, kryſtallklaren Luft erſtarb jeder Ton, — Menſchenſtimme oder Schlittenglöckchen, — ganz eigentümlich hell und fein wie ferner Geſang. Fenia war gegenüber der Kaſanſchen Kathedrale vor einem hell erleuchteten Schaufenſter ſtehn geblieben. Sie ſchlug den Schleier über ihre Pelzmütze zurück und be⸗ trachtete die neuen Auslagen der Paſettiſchen Kunſthand⸗ lung. Ganz vorn lagen die drei mittelmäßigen, aber ſehr populären Illuſtrationen zu Lermontoffs „Dämon“: die Verführung Tamaras durch den Dämon, ihre Hingabe an ihn, ihr Tod durch ihn. Fenia wies mit dem Muff darauf hin 38 „Zur Höhe des Himmels will ich mich heben, Zur Tiefe des Meeres ſenke ich mich, Alles Irdiſche will ich dir geben! Nur liebe mich! liebe mich!“ citierte ſie lächelnd und ging weiter. „Was iſt das?“ fragte Mar Werner. „Improviſierte Ueberſetzung,“ entgegnete ſie, „ſo ſpricht der böſe Dämon, nachdem er den Engel Tamaras in die Flucht geſchlagen hat. — — Dieſe Bilder treffen Sie hier in allen Häuſern, — Photographien, Gips⸗ ſtatuetten. — Ich entſinne mich ihrer ſo gut aus meiner Kindheit, auch wir beſaßen ſie zu Hauſe. Es iſt trau⸗ lich, ſie wiederzuſehen. „Rechte Bilder für ein junges Mädchen,“ bemerkte er, „haben Sie ſich nicht auch die Liebe ſehr dämoniſch vorgeſtellt? Kampf mit dem Engel, — hölliſche Selig⸗ keiten, — bengaliſche Beleuchtung, — Weltuntergang. Sie ſagte lachend: „Ich? O nein. Ich ſtelle ſie mir ganz — aber ſo ganz — anders vor. In den großen milchweißen Glaskuppeln hoch über der Mitte des Straßendamms erſtrahlte urplötzlich das elektriſche Licht und übergoß mit einemmal die dämmer⸗ dunkle Straße mit ſeinem blendenden Mondſchein. Als Fenias Geſicht in dieſer unerwarteten Helle neben Mar Werner auftauchte, erſchien es ihm, mit dem kindfrohen Blick und lachenden Munde, durchaus ver⸗ ſchieden vom nachdenklichen Frauengeſicht im Kloſter⸗ garten bei den letzten Sonnenſtrahlen. Ihre Mienen wechſelten im Ausdruck ſo ſehr, daß ſie faſt auch in der 39 Form zu wechſeln ſchienen; nur wie ein promovierter Doktor ſah ſie niemals aus, eher wie alles andre. Sie ſich die Liebe denken würden, wenn Sie daraufhin „Ich wäre wirklich neugierig,“ bemerkte er, „wie examiniert werden ſollten, anſtatt auf Philologie, Ge⸗ ſchichte Tc.“ So ganz einfach und geſund. Ich würde ſie dann ſicher „Wie ich ſie mir denken würde? O ganz einfach. mit den Dingen vergleichen, die am allerwenigſten dä⸗ moniſch und romantiſch ſind. Mit dem guten geſegneten Brot, womit wir täglich unſern Hunger ſtillen, mit dem friſchen erhaltenden Luftſtrom, dem wir jeden Tag unſre Stube öffnen. Mit einem Wort: mit dem Wichtigſten, Schönſten und Selbſtverſtändlichſten, dem wir alles ver⸗ danken, und wovon wir am wenigſten Phraſen machen.“ „Das iſt gar nicht übel geſagt! — Aber doch wohl noch etwas andres erwartet ihr davon: die große Sen⸗ ſation des Lebens, — glauben Sie nicht? — vor allem die Senſation.“ Sie ſchüttelte den Kopf. „Ich nicht. Dann ginge ja das Koſtbarſte, was man damit empfängt, verloren, denk ich mir. „Was iſt denn nach Ihrer Meinung das Koſtbarſte, was die Liebe Euch geben kann?“ fragte er lächelnd. Sie bog in die Admiralität ein und entzog ihm damit den Blick auf ihr Geſicht. „Frieden!“ ſagte ſie leiſe. „Frieden!“ dachte er zweifelnd und folgte ihr in das goldſtrotzende, weitläufige Gebäude, wo der Ad⸗ miral Baron Michael Ravenius einen Seitenflügel be⸗ 40 wohnte. Irmgard würde ihm ſchwerlich eine ſolche Ant⸗ wort gegeben haben, — ſind die ruſſiſchen Mädchen phleg⸗ matiſcher, oder proſaiſcher? — fragte er ſich. Oder ſprach Fenia nicht nur deshalb in dieſer Weiſe, weil ſie wie ein Blinder von der Farbe ſprach? Möglicherweiſe hatte ihr Temperament hier ſeinen blinden Fleck. Oben im Empfangsſalon des Admirals war leider noch der jour fixe im vollen Gange. Um die Geſell⸗ ſchafterin und die beiden älteren Töchter herum ſaßen noch etwa ein Dutzend blitzender Uniformen und dunkler Damentoiletten und machten jene überaus angeregt er⸗ ſcheinende und überaus langweilige und langweilende Konverſation, wofür die konventionell abgeſchliffene Eleganz der franzöſiſchen Sprache ſich ſo beſonders gut eignet. Es war ganz amüſant, den tadelloſen Mecha⸗ nismus dieſes Kommens, Sprechens und Fortgehens der durcheinanderſummenden Menſchen zu beobachten, von denen jeder etwa eine Viertelſtunde blieb, um dann von der zweitjüngeren Tochter des Hauſes durch eine Flucht von Sälen bis in das Vorzimmer geleitet zu wer⸗ den, wo zwei Diener in Matroſenlivree ihn in Empfang nahmen. Etwa noch eine Stunde lang vollzog ſich das mit der Regelmäßigkeit und Genauigkeit eines Uhrwerks. Dann ging der letzte der Gäſte, und der Baron Rave⸗ nius, ein hagerer alter Herr mit überariſtokratiſchen Händen und Füßen und ſtark gelichtetem grauem Haar und Bart, reichte ſeiner Nichte Fenia mit altmodiſcher Galanterie den Arm, um ſie zur Mittagstafel zu führen, wo er ſorgſam den Stuhl für ſie abrückte. 41 Mar Werner folgte mit der älteſten Tochter Nadeſchda, — bereits verlobt mit einem Attaché der deutſchen Bot⸗ ſchaft. Hinter ihnen die Geſellſchafterin mit den beiden andern Mädchen, von denen die jüngſte noch zur Schule ging, — und ganz zum Schluß die perſiſche Windhündin des Barons, Ruſſalka, die, ſilberhaarig, lang, ſchmal und vornehm, eine unverkennbare Aehnlichkeit mit ihrem Herrn beſaß. Während des Eſſens wartete man meiſtens auf die Eröffnung der Unterhaltung durch den Hausherrn. Heute ſprach er nach genoſſener Suppe wie folgt: „Man redet immer viel davon, daß in der deut⸗ ſchen — überhaupt in der ausländiſchen — Kolonie hier der Klatſch zu Hauſe ſei. Es hat natürlich ſo eine Kolonie, ſelbſt wenn ſie noch ſo groß iſt, im fremden Lande leicht den Charakter einer Kleinſtadt. Man wird leichter in böſen Leumund geraten, als anderswo. — — Wie haſt du es zum Beiſpiel anderswo gefunden, Fenia?“ „Darauf hab ich wirklich nur wenig geachtet, Onkel Miſcha,“ antwortete Fenia, „es mag ſehr wohl der Fall ſein, daß auch ich oft tüchtig verklatſcht worden bin, weil ich mich abſolut nicht um den Schein kümmerte, aber ich hatte immer einen genügenden Schutz an echten Kameraden, die das nicht bis an meine Ohren heran⸗ kommen ließen. „Exponiert genug haſt du dir freilich dein Leben eingerichtet,“ bemerkte der Baron, „mir faſt unbegreif⸗ lich ſorglos. Aber man muß dir nachſagen, daß du es verſtanden haſt, vortrefflich ans Ziel zu kommen. Alle 42 Achtung davor, — und vor dem Ernſt, womit du deine Jugend zugebracht haſt.“ Alle warteten mit einiger Spannung auf die Pointe dieſes Geſprächs, denn wenn der Baron mit ſeiner würde⸗ vollen Umſtändlichkeit ſo weit ausholte und ſich in aller⸗ lei geographiſchen oder ſozialen Allgemeinbetrachtungen erging, ſo beabſichtigte er meiſtens, etwas höchſt Spezielles vorzubringen. Umſonſt hatte er ſicher nicht die Klatſch⸗ ſucht der ausländiſchen Kolonien feſtgeſtellt und zugleich ſeiner Achtung für Fenia vor ſeinen Töchtern ſo oſten⸗ tativ Ausdruck gegeben. Aber bei der Mittagstafel kam das „Spezielle“ nicht mehr. Erſt als nach aufgehobener Tafel die beiden jün⸗ gern Töchter mit der Geſellſchafterin fortgegangen waren, und man in einem kleinen Wohngemach neben dem Speiſeſaal bei einer Taſſe Kaffee Zigaretten rauchte, wandte ſich der alte Baron plötzlich an Fenia mit den Worten: „Mein liebes Kind, du ſiehſt mich recht beunruhigt, — ich ſchwankte wirklich, ob ich dir Mitteilung von der Sache machen ſollte, — aber ich möchte doch die Ge⸗ legenheit benutzen, wo Herr Werner zugegen iſt, — vielleicht wird er Rat wiſſen.“ Fenia hatte ſich läſſig in einem Lehnſtuhl aus⸗ geſtreckt und ſtemmte ihre Füße gegen den ſilberhaarigen Rücken der Ruſſalka, die vor ihr lag und, die lange feine Schnauze auf die Vorderpfoten gedrückt, leiſe wedelte. „Aber was iſt denn nur los, Onkel Miſcha?“ fragte Fenia neugierig. „Sage mir, mein liebes Kind, beſitzeſt du Feinde? 43 Du weißt, es kann eine Ehre ſein, Feinde zu haben! — — Kennſt du irgend jemand, der ein Intereſſe daran hätte, dich zu verleumden?“ Sie ſchaute erſtaunt und lächelnd auf. ſolcher Böſewicht gefunden?“ „Ich?! — — Nein, ſicher nicht. — Hat ſich ein Werner und ſtand auf, „da könnte ich am Ende noch hier „Das wird ja ordentlich intereſſant,“ bemerkte Mar für Fenia gegen irgend einen ſibiriſchen Drachen zu Felde ziehen?“ ſeine Miene blieb ſo feierlich und beſorgt wie zuvor. Aber der Onkel teilte die heitere Stimmung nicht; Hände auf den Lehnen ſeines Seſſels, — „laß jetzt das „Ich bitte euch, es ernſt zu nehmen,“ ſagte er, beide Spiel mit der Hündin, Fenia! Es iſt eine ganz abſcheu⸗ liche Verleumdung, worum es ſich handelt. Jemand behauptet, dich geſehen zu haben, — zu ſehr vorgerückter Nachtſtunde in einer entlegenen Straße, — zuſammen mit einem Herrn.“ „Wer iſt es, der es behauptet?“ warf Fenia ein. „Das eben möchte ich durchaus ermitteln: die erſte Quelle des Klatſches,“ erwiderte der Onkel unruhig, „mir iſt die Mitteilung vom ſchändlichen Gerücht durch einen erprobten alten Freund des Hauſes zugegangen, der ſich mit mir darüber aufregt.“ „Mein Gott! daß dn das ſo ruhig nehmen kannſt!“ murmelte Nadeſchda, die neben Fenia ſaß, und langſam ihren Kaffee ſchlürfte, „ich war ganz außer mir, wie ich davon erfuhr. Wie ſchlecht iſt die Welt! Ich zerbrach mir dermaßen den Kopf darüber, daß ich faſt meine 44 Migräne bekam. — — Bei dir wird es auch noch mor⸗ gen nachkommen.“ „Ich zerbreche mir den Kopf nicht. Bis morgen werf ich es weit — weit hinter mich!“ ſagte Fenia, und ihr Geſicht leuchtete auf. Mar Werner blickte auf ſic. Ihr Kopf lag an die Stuhllehne zurückgelehnt, die Augenlider waren ſo tief geſenkt, daß ſie den Blick ganz verdeckten. Aber ihre Lippen wölbten ſich ein wenig, — ein wenig nur, doch ſo überzeugend beredt im Ausdruck, als ſei ihnen ein Trank zu nah gekommen, vor dem es ſie ekelte. Urplötzlich erinnerte dieſer Ausdruck der vollen roten Lippen Max Werner an etwas, — an das Er⸗ lebnis im Hotelzimmer in Paris, — und durch dieſen Umſtand umſtrahlte in dieſem Augenblick in ſeinen Augen Fenia eine eiſige, unanzweifelbare Reinheit. Wie oft mochte ſie in ihrem freien Studienleben im Auslande Verachtung empfunden haben für die Menſchen, deren billige Klugheit ihre Freiheit mißverſtand, und deren weiſes Urteil auf den erſten beſten Schein hereinfiel! „Vielleicht löſt ſich die Sache als ein unglückliches Mißverſtändnis auf,“ meinte Mar Werner. „Ließe es ſich nicht feſtſtellen, wie die Dame gekleidet geweſen ſein ſoll?“ Der alte Ravenius blickte raſch auf. „Jawohl! die Kleidung ſtimmt genau. Langer Mantel, Fuchspelz, — Mütze, Muff und Kragen von Biberfell. „Jawohl, es iſt recht ſchlimm!“ bemerkte Mar Werner, „in Paris oder Berlin oder Wien könnte der Anzug einer 45 Dame ſchon ein Erkennungszeichen abgeben. Aber hier? Hier ſind die Damen auf das leichteſte einer Verwechs⸗ lung ausgeſetzt. Denn ſie ſind alle gleichmäßig dunkel vermummt, höchſtens drei, vier Pelzſorten variieren. Jede Dame muß eigentlich darauf gefaßt ſein, ein paar Doppel⸗ gängerinnen zu beſitzen. ganz erfreut, „darauf vor allem müßte man hinweiſen! „Das iſt wirklich wahr!“ beſtätigte der Varon Darauf gründet ſich vielleicht der Klatſch. — — Und dann, denken Sie an die dichten Winterſchleier, die man hier trägt! Und oft ſind es nicht einmal Schleier, ſondern die feinen, weichen Orenburger Wollgewebe, die unſre Damen wie ein weißes Spinngewebe vor das Ge⸗ ſicht binden, wenn es ſtark friert, — namentlich abends. — Reine Unmöglichkeit, dann jemand zu erkennen. „Lieber Onkel Miſcha!“ unterbrach ihn Fenia, „bitte, gieb dich mit dieſer Geſchichte nicht ab. Ich will es ein⸗ fach nicht! Es iſt mir fatal und gänzlich ungewohnt, daß andre ſich um meinen Ruf abängſtigen, — wenn der gläſern iſt, — — ich bin's nicht!“ Der Baron erhob ſich und berührte mit ſeinen langen kühlen Fingern leicht, liebkoſend Fenias Wange. „Du darfſt nicht ſo ſprechen!“ verwies er ihr ihre Worte; — „du weißt, dein guter Vater hat dich ſo frei erzogen, wie ich es für meine Töchter weder gewünſcht, noch jemals geſtattet haben würde. Aber du haſt ihm Ehre gemacht! Und du biſt, wenn nicht meine Tochter, ſo doch unſer teures Familienmitglied, für das ich ein⸗ ſtehe überall und in allem. C'est convenu. N'en par⸗ lons plus.“ 46 Fenia drückte einen flüchtigen Kuß auf die lieb⸗ koſende Hand ihres Onkels, als der alte Herr ſo einfach und vornehm zu ihr ſprach. Aber in ihre ruhige Stirn grub ſich die erſte kleine Falte bei ſeinen guten Worten ein. Offenbar empfand ſie es nur peinlich, daß irgend jemand für ſie einſtehen, verantworten, ſchützende oder verteidigende Maßregeln ergreifen wollte. Sie begehrte nicht nach dem Schutz der Familie, und erſchien ihr vermutlich ebenſo lächerlich wie unbehaglich, mit einem⸗ mal wie zerbrechliches Glaszeug behandelt zu werden. Unwillkürlich verſetzten Mar Werners Gedanken Irm⸗ gard in die gleiche Lage, und er ſah, wie ſie ſchon bei der bloßen Vorſtellung um vernichteten Mädchenruf litt und blutete. Beſaß ſie wirklich ſo viel mehr Menſchen⸗ furcht, ſo viel weniger Seelenkraft als Fenia? Nein! dafür kannte er ſie zu gut. Aber was die öffentliche Moral tadelte und lobte, das tadelte und lobte ſie ſelbſt bis zu gewiſſem Grade auch. Wenn ſie in Zwieſpalt mit der vorgeſchriebenen Lebensführung geriet, dann geriet ſie auch mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt. Daher mitten im Rauſch eines Kuſſes das Erzittern geheimer Angſt, als beſäßen die Wände Ohren, — daher das Gefühl, daß die Liebe ſowohl der Genius ihres Lebens, als auch der allmächtige Dämon und Verſucher ſei, dem Gewalt gegeben iſt, den Engel zu verſcheuchen. — Irmgard er⸗ wartete von der Liebe nicht — Fenias „Frieden“. Während alle in der Plauderecke verſtummt waren, und Max Werner ſeine Gedanken ſo weit forttrugen aus dem Kreiſe, worin er ſich befand, ſtand Fenia auf und trat, begleitet von der Ruſſalka, an eines der hohen Fenſter ihm grade gegenüber. 47 Mit etwas erhobenen Händen faßte ſie in die ſchweren dunkelroten Damaſtvorhänge, die geſchloſſen vor dem Fenſter herabhingen, und ſchob ſie ein wenig auseinander, um hinausſehen zu können. Mar Werner fiel ihre eigentümlich ſchöne Rücken⸗ linie in dieſer Haltung mit gehobenen Armen und vor⸗ geneigtem Kopfe auf, und ſeine Blicke blieben darauf ruhen. Noch immer hatte ſie die Vorliebe für dunkle, ſchlichtfallende Kleider, und noch immer trug ſie ihr Haar in zwei lichtbraunen Flechten kranzförmig um den Kopf geſchlungen. Irgend etwas trieh ihn, ſich ihre ein wenig ge⸗ zwungene Haltung gelöſt zu denken, paſſiv geworden, — er meinte vor ſich zu ſehen, wie ihre Hände den Vor⸗ hang zuſammenfaſſen und vor das Geſicht ziehen, — wie der Kopf ſich tiefer und tiefer herabneigt in die ſchweren tiefrotſchimmernden Falten, — wie der Rücken gebeugt iſt, — die Schultern weiche, gleitende Linien bekommen, — bis die ganze Geſtalt in ſich geſunken daſteht und, das Antlitz im Vorhang geborgen, weint. — Es war wie eine Zwangsvorſtellung, aber nicht durch ſeeliſche Eindrücke oder Mutmaßungen hervorgerufen, ſondern wie ein maleriſcher Zwang, der in den Linien lag, die durchaus in dieſer Weiſe zuſammenfließen woll⸗ ten, — hartnäckig, alle Wirklichkeit fälſchend. Aber dafür ging von dem Illuſionsbilde eine faſt ſeeliſche Wirkung aus, — etwas von dem widerſpruchsvollen Zauber, den Fenia urſprünglich für ihn beſeſſen hatte. — Er fuhr ſich über die Augen, die zu ſchmerzen an⸗ fingen, — nervös geworden. 48 Da ſagte mitten in das Schweigen hinein Na⸗ deſchda in ihrem feſt anerzogenen, ihr eingewöhnten Be⸗ wußtſein, daß es ſchicklich ſei, ſich irgendwie zu unter⸗ halten: „Heute abend muß draußen herrliches Wetter ſein.“ Fenia wandte ſich raſch zu ihr um. Die Hände unwillkürlich noch ausgebreitet, den Vor⸗ hang wie einen ſchweren Flügel hinter ihrem Rücken, ſtand ſie da, ein Bild ſorgloſer Geſundheit und lächeln⸗ der Freude, und rief hell: „Bitte, Onkel Miſcha! nehmen wir eine große Troika und fahren wir Schlitten! 49 Lou Andreas⸗Salome, Fenitſchka. 4 Das Hotel de Paris, wohin Mar Werner bei ſeiner Ankunft in Petersburg geraten war, befand ſich zur Zeit grade im Zuſtand einer teilweiſen Renovierung, wes⸗ halb man ſeine ſchönſten Zimmer, diejenigen mit der Ausſicht auf den Iſaaksplatz und die Iſaakskathedrale, ſämtlich geſperrt hielt. Infolge der daraus entſtandenen Ueberfüllung in den übrigen Räumlichkeiten ſah er ſich auf einen Winkel angewieſen, wo er, eingeklemmt zwiſchen einem Ungetüm von Ofen und einem feſt verklebten, unaufſchließbaren Fenſter, faſt zu erſticken meinte. So zog er denn an einem der folgenden Tage aus, und fand ſchließlich in einem echt ruſſiſchen Gaſthof, der „Sſewernaja Goſtiniza“, auf dem entferntern Teil des Newskijproſpekts ein ihn anſprechendes, preiswürdiges Zimmer mit viel Licht und freiem Blick über den weiten Platz vor dem Moskauer Bahnhof. Den Abend nach ſeinem Umzug dorthin paſſierte ihm etwas Seltſames. Müde der Kramerei und der Scherereien des Nach⸗ mittags, flanierte er ganz ohne Ziel ein gutes Stück jenes Newskijendes hinab, deſſen unbelebte Straße er kürzlich vom Moskauer Bahnhof bis zum Alerander⸗ Newskijkloſter hin mit Intereſſe ſtudiert hatte. Da, etwa zwanzig Minuten vom Kloſter, in dieſer des Abends völlig vereinſamten Gegend, hält ein Schlit⸗ ten mit drei Pferden und klingelnden Schellen am Trottoir. Ein Paar iſt im Begriff hineinzuſteigen. Der Herr groß, elegant gewachſen, in eng anliegendem kurzem Pelz, — die Dame von Fenias Wuchs, mit Biber an Kragen, Muff und Mütze. Sie wendete Mar Werner beim Einſteigen den Rücken zu. Nur ſekundenlang erhaſchte er ein Stückchen ver⸗ lorener Profillinie im Licht der hier nur ſpärlich brennen⸗ den Gaslaternen, — und doch! — es mußte Fenia ſein! Er zweifelte nicht daran, — ja, er zweifelte ſo wenig, daß er nicht wagte, ſeinen Schritt anzuhalten, oder ſie anzurufen, oder zu grüßen, — und im nächſten Augenblick ſauſte der Schlitten in der Richtung des Kloſters nach den Stadtgrenzen hinaus. Er zog die Uhr. Es war elf vorüber. Eine ungeheure Spannung bemächtigte ſich ſeiner. Fenia! ſollte Fenia ihn zum zweitenmal in ſeinem Leben zum Dummen gemacht haben, — dieſes Mal im entgegen⸗ geſetzten Sinn wie damals? Er war jetzt genau ſo ge⸗ neigt geweſen, in Fenia nur das herb Unſchuldige zu ſehen, als ſei es ein für allemal ihre Eigenart und Signatur, wie er in Paris geneigt geweſen war, da⸗ hinter ein beſondres Raffinement zu wittern. Warum nur? Warum hatte er in beiden Fällen ihr Weſen ſo typiſch genommen, ſo grob firiert? fragte 51 er ſich. Es war ganz merkwürdig, wie ſchwer es fiel, die Frauen in ihrer reinmenſchlichen Mannigfaltigkeit aufzufaſſen, und nicht immer nur von der Geſchlechts⸗ natur aus, nicht immer nur halb ſchematiſch. Sei es, daß man ſie idealiſierte, oder ſataniſierte, immer verein⸗ fachte man ſie durch eine vereinzelte Rückbeziehung auf den Mann. Vielleicht ſtammte vieles von der ſogenannten Sphinxhaftigkeit des Weibes daher, daß ſeine volle, ſeine dem Mann um nichts nachſtehende Menſchlichkeit ſich mit dieſer gewaltſamen Vereinfachung nicht deckte. Am nächſten Morgen war es Max Werners erſter Gedanke, Fenia einen Beſuch zu machen. Sie wohnte etwa eine halbe Stunde den Newskij⸗ proſpekt weiter zur Admiralität hinauf in einem ganz aus chambres meublées beſtehenden Hauſe. Unten im behaglich durchheizten Treppenraum, der oft eleganter zu ſein pflegt als die Wohnungen ſelbſt, nahm ein Por⸗ tier mit prächtigen Silberlitzen auf ſeiner Livree den Ankommenden die Pelze ab. Auf der teppichbelegten Treppe begegnete man auch gewöhnlich der Wirtin, einer Provinzlerin in loſem, weit nachſchleppendem Kattunrock, die hier von früh bis ſpät umherſtrich und überall eine gewiſſe Unruhe und Unordnung um ſich verbreitete. Außer ihrem Ruſſiſch radebrechte ſie nur noch ein fehlerhaftes Franzöſiſch, Deutſch war ihr gänzlich fremd. Fenia beſaß einen eignen Eingang von der Treppe in ihr Wohnſtübchen, das ſich in ein ſchmales Schlaf⸗ gemach öffnete. Das Fenſter war ganz vollgeſtellt mit ſchönen Blattpflanzen, die in der gleichmäßigen ruſſiſchen Zimmertemperatur ſo vortrefflich gedeihen. Neben dem 52 Fenſter, über eine Näharbeit gebeugt, ſaß Fenia, als Mar Werner eintrat. Sie blickte auf und ſtreckte ihm mit Herzlichkeit die Hand entgegen. „Das iſt ſchön, daß Sie kommen. Setzen Sie ſich dorthin. Ich meinte geſtern abend, ich würde Sie bei meinem Onkel treffen. — Setzen Sie ſich. Wollen Sie rauchen?“ „Sie waren geſtern abend bei Ihrem On⸗ kel? Waren Sie lange da?“ fragte er mit ſchlecht ver⸗ hehltem Intereſſe, und fügte deshalb ſchnell hinzu: „Nun, hat er ſich über die Klatſchgeſchichte beruhigt?“ „Bis zum Thee blieb ich. — Dieſe alberne Geſchichte hab ich ihm ziemlich ausgeredet,“ ſagte Fenia ruhig, und ſtichelte an ihrer Arbeit. Sie hatte heute eine weiße Morgenbluſe an, worin ſie weit jünger ausſah, kindlicher. Ihre beiden Flechten hingen ihr den Rücken hinunter. „Dann wird die arme Dame, die da geſehen wor⸗ den iſt, alſo wohl nicht weiter durch Nachforſchungen behelligt werden. Sonſt hätte dabei noch das Drollige herauskommen können, daß ſie plötzlich irgend eine eigne, vielleicht recht delikate Angelegenheit an die große Glocke gehängt ſieht, — um Ihretwillen, Fenia. Thäte Ihnen das nicht leid?“ bemerkte er halb ſcherzend, halb ironiſch. Fenia hörte nicht auf den ironiſchen Ton hin. Sie ſtützte das Kinn auf die Hand, ſah ihn an und ſagte unwillig: „Ja, wiſſen Sie, das iſt doch wirklich etwas Ab⸗ ſcheuliches! Ich meine, daß den Frauen in manchen Be⸗ ziehungen die Heimlichkeit einfach aufgezwungen wird! 53 Daß ſie auch noch froh ſein müſſen, wenn ſie gelingt, — und vom Mann wie etwas Selbſtverſtändliches erwarten, daß er ſie durch ſeine Diskretion, ſeine Schonung, ſeine Vorſicht ſchütze und beſchirme. — Ja, es mag notwendig ſein, ſo wie die Welt nun einmal iſt, aber es iſt das Erniedrigendſte, was ich noch je gehört habe. Etwas ver⸗ leugnen und verſtecken müſſen, was man aus tiefſtem Herzen thut! Sich ſchämen, wo man jubeln ſollte!“ Sie erregte ſich an ihren eignen Worten. Ihre Wangen brannten, und ihre Augen wurden tief und blitzend. Die ein wenig frivole Spannung, in der Mar Werner heute zu ihr gekommen war, verlor ſich mehr und mehr; je länger er ihr zuhörte, deſto menſchlicher kam er ihr nah. Er bemühte ſich, ganz ſo zu thun, als hielte er ihre Erregung für durchaus ſachlicher Natur, und als handle es ſich für ſie lediglich um einen ihrer beiderſeitigen ungeheuer philoſophiſchen Dispute. „Sie vergeſſen doch etwas ſehr Weſentliches, Fenitſch⸗ ka,“ warf er ein, „nämlich daß die öffentliche Meinung meiſtens doch nur die Hälfte der Schuld trägt. Denn zur andern Hälfte liegt es ja doch ſchließlich im Weſen aller intimen Dinge ſelbſt, daß ſie geheim bleiben wollen, — daß ihnen jede Entblößung vor fremden Augen und Ohren das Zarteſte ihrer Schönheit nimmt. Manchen ſenſitiven Menſchen empört ſchon die offizielle Trauung gegen die Ehe, — wie viel weniger könnte nun ein ſol⸗ cher eine andre Form der Liebe, eine nicht allgemein anerkannte Liebe öffentlich bloßſtellen, — wie könnte er etwas ſo unendlich Intimes und Verwundbares mitten 54 in einen rohen Kampf hineinzerren, — ſozuſagen auf die Straße ſtellen zwiſchen den Pöbel — Fenia hatte ſehr aufmerkſam zugehört. „Ja,“ ſagte ſie langſam, „ſo mögen wohl Männer urteilen, — — ihr, denen alles geſtattet iſt, und für die darum auch kein andrer Beweggrund zu einer Ge⸗ heimhaltung vorzuliegen braucht, als nur ſolch ein innerer. Aber für uns iſt das ganz etwas andres. Wir fühlen das wohl auch, — ja ſicher noch viel feiner und ſcheuer als ihr, — — aber wir fühlen auch den Schein von Feigheit, der auf uns fällt dadurch, daß wir der Heimlichkeit zu bedürfen glauben. Eine jede Heimlich⸗ keit ſcheint nicht aus Feingefühl, ſondern aus Menſchen⸗ furcht da zu ſein, — — und dann demütigt es uns auch, wenn wir uns von Menſchen achten und verehren laſſen müſſen, deren ganze Anſchauungsweiſe uns vielleicht ver⸗ dammen würde im Falle unſrer Offenheit. „Das kann unangenehm ſein!“ gab er zu, „aber ſobald es nur ein Opfer iſt, das wir bringen, und nicht ein erlogener Erfolg, den wir ſuchen, — kann man ſich doch wohl darüber hinwegſetzen. All dies iſt ja nur der Schein der Feigheit, — das klar zu erkennen und ruhig zu tragen, wäre eigentlich erſt die rechte Ueberlegenheit über die menſchlichen Vorurteile. Meinen Sie nicht? Sonſt iſt man doch eigentlich nur ein Wahrheitsprotz. Fenia ſchüttelte den Kopf und blickte nachdenklich in das Fenſter hinein, wo zwiſchen den Doppelſcheiben dicke weiße Wattſchichten jeden Luftzug abſperrten, und mit Waldmoos und bunten Papierblumen häßlich genug ausgeſchmückt waren. 55 Man konnte ihren beweglichen Mienen aufs deutlichſte anſehen, daß ſie über irgend einen Gedanken mit ſich ſelbſt ins reine zu kommen verſuchte. „Ach, Ueberlegenheit! Was ſoll mir die!“ ſagte ſie darauf wegwerfend, „wir haben nun einmal das Ver⸗ langen, für das, was uns am teuerſten iſt, auch am offenſten einzutreten; und wir ſchätzen ſogar ganz unwill⸗ kürlich den Wert einer Sache ein wenig danach ab, ob wir ſie zu einer Geſinnungsſache machen würden, — ob wir für ihr Recht kämpfen können. „Mein Gott! die Frauen ſind jetzt aber auch ſo ent⸗ ſetzlich kampfluſtig geworden!“ bemerkte er lachend, — „ſo entſetzlich poſitiv und aggreſſiv, daß es kaum zum Aushalten iſt! Sehen Sie, das kommt nun von all der Frauenbefreiung und Studiererei und all dieſen Kam⸗ pfesidealen. — — — Die Frauen ſind die reinen Em⸗ porkömmlinge! Verzeihen Sie, — — es liegt ja etwas ganz Jugendliches und Kräftiges drin, aber es hat nicht den vornehmen Geſchmack. Alles zur Diskuſſion zu ſtellen, ſelbſt das Undiskutierbarſte, alles in die Oeffentlichkeit zu werfen, ſelbſt das Intimſte, — — finden Sie das etwa ſchön? Ich nicht! Es vergröbert alle Dinge un⸗ geheuer, fälſcht ſie ins Rationaliſtiſche hinein, wiſcht alle zarten Farbennüancen fort, ſetzt allem gräßliche grelle Schlaglichter auf — Obwohl Fenia gegen ihn ſtritt, ſo ſah ſie ihn doch ganz unverkennbar ſo an, als ob ſie ſich ganz gern widerlegt ſähe. Während er ſo ſchön ſprach, dachte er an etwas ganz andres: „Wer mochte dieſer Mann ſein? Ob er ſie 56 ſchon lange liebte? oder ob es nur ein loſes Liebesaben⸗ teuer war? Sie war ſo friedlich und glücklich, — der Klatſch erſt hat ſie aufgeſtört, — — ob ſie ſeiner ſo ganz ſicher war —? Schließlich brach er, durch dieſe Nebengedanken be⸗ hindert, ſeine Rede ab und platzte ungeduldig heraus: „Aber das ſind ja überhaupt doch nur Bagatellen! Für zwei Liebende bleibt die Hauptſache doch immer, wie ſie zu einander, nicht wie ſie zur Welt ſtehen. — — — Wie lange das Glück währen mag, — wie gefeſtigt es iſt, — oder ob man ſich bei der erſten Not wieder verläßt, — das quält viel mehr. Um Fenias Lippen glitt das ſorgloſe unbefangene Lächeln, das für ſie charakteriſtiſch war. „Warum ſoll denn das quälen?“ fragte ſie halb verwundert und halb phlegmatiſch, — „ich könnte mir gar nicht denken, daß ich einen Mann, den ich lieb ge⸗ habt habe, grade in der Not verließe. Dermaßen naiv klang das, daß er faſt hell auf⸗ gelacht hätte. Er wurde ſogar plötzlich ganz irre an ſeinen be⸗ ſtimmteſten Mutmaßungen. — — An den verlaſſenen Mann hatte er nicht grade ge⸗ dacht! — — Führte ſie ihn vielleicht doch hinters Licht? Wäre ſie nun doch wieder in Wirklichkeit die unſchuldige Fenia, ſo wäre das ja einfach, um aus der Haut zu fahren. Etwas nervös griff er in Fenias Garnröllchen, die auf ihrem Nähtiſch herumlagen, ſpielte mit ihnen und legte ſie unſchlüſſig wieder hin. Er war gradezu ver⸗ drießlich. 57 Endlich ſtand er auf, um fortzugehn. Aber jetzt konnte er ſich doch nicht enthalten, zu bemerken: gängerin ebenfalls zu ſehen geglaubt habe?“ „Wiſſen Sie übrigens, daß ich kürzlich Ihre Doppel⸗ kurzem Schweigen: „Ach!“ machte Fenia frappiert, und fragte nach „Wann denn?“ wir uns neulich trafen. Sie ſtieg mit einem Herrn in „Geſtern abend. Nicht ſehr weit vom Kloſter, wo einen Schlitten und ſauſte mit klingelnden Schellen davon. — — — Ich habe ſie übrigens nur von hinten ge⸗ ſehen,“ fügte er ſchnell hinzu, denn plötzlich zweifelte er durchaus nicht länger, und ſchämte ſich ſeiner unritter⸗ lichen Aufwallung. „Alſo vielleicht ſieht ſie Ihnen auch nur von hinten ähnlich, Fenitſchka.“ Sie erhob ſich von ihrem Stuhl und las mit ge⸗ ſenkten Augen von ihrem Rock die Fäſerchen und Fädchen ab, die beim Nähen daran hängen geblieben waren. Sie ſah blaß und in ſich gekehrt aus. Sehr lieb ſah ſie aus. Ihm that es weh, er verwünſchte ſich und blickte mit Anſtrengung fort. Da reichte Fenia ihm zum Abſchied die Hand. „Nun, — und wenn ſie mir auch von vorn geglichen hätte, — Ihnen das Geſicht zugekehrt hätte, — mein Geſicht, — was hätten Sie ſich dann gedacht?“ fragte ſie und ſah ihn dabei an. Er hielt ihre etwas kalte, etwas nervös zuckende Hand in der ſeinen, beugte ſich darüber und drückte zwei Küſſe darauf. 58 „Liebe Fenitſchka!“ murmelte er, — „ich würde mir auch dann nichts weiter gedacht haben, als nur: welche frappante Aehnlichkeit. Dies geſchah am Vormittag. Am Abend wollte Mar Werner in die kaiſerliche Oper und kehrte nach ſieben Uhr in ſeinem Hotel ein, um ſich dazu umzukleiden. Sein Zimmer lag zwei Treppen hoch, dem Treppen⸗ aufſtieg ſchräg gegenüber. Als er im Hinaufſteigen einmal aufblickte, ſah er von oben herab eine verſchleierte Dame kommen, die er durch Haltung und Bewegung faſt augenblicklich erkannte. Es war Fenia. Ihn durchblitzte förmlich der Schreck, ihr in den Weg gekommen zu ſein. Dieſe erſte jähe Ueberraſchung in ſeinen Zügen konnte er hinterdrein nicht wieder gut machen, mit ſo unbeteiligter Miene er dann auch, fremd und harmlos, auf der Treppe an ihr vorbeizugehn ſuchte. Sie zauderte einen Augenblick auf der Stufe, wo ſie einander begegnet waren. Dann, blitzſchnell, drehte ſie ſich um, eilte ihm die übrigen Stufen nach, erreichte ihn grade noch, als er im Begriff ſtand, ganz entſetzt in ſeinem Zimmer zu ver⸗ ſchwinden, und riß den Schleier von ihrer Mütze. „Mar!“ ſchrie ſie leiſe, heiſer, mit zugeſchnürter Kehle; „nein! das hier ertrag ich nicht!“ In höchſter Beſtürzung blieb er ſtehn, und ſeine er⸗ ſchrocken forſchenden Blicke irrten über ſie weg nach der Treppe, ob auch niemand ihren Aufſchrei gehört habe. Dann ſtieß er die ſchon aufgeſchloſſne Zimmerthür 59 auf und ſchob Fenia ſo eilig er konnte hinein. Denn vom untern Stockwerk wurden Stimmen laut, und einer der Tatarenkellner geleitete fremde Herrſchaften hinauf. horchte geſpannt nach dem Gang. „Liebe Fenitſchka!“ murmelte er faſſungslos und gekrampft, und zitterte am ganzen Leibe, während ſie Sie ſtand, den Schleier in ihrer Hand zuſammen⸗ mit einem wilden Blick um ſich ſah und hinter ſich, — als ſtände da irgend jemand. nicht!“ rief ſie außer ſich, — „Sie glauben, mich mit⸗ „Nein! nein! ich will das nicht! ich ertrag das leidig ignorieren zu müſſen, — und jetzt wieder — — — mich ſchützen, — ich bin doch keine Verbrecherin, die man aus lauter ritterlicher Schonung nicht erkennt, — — o nein, pfui!“ Und ſie brach in leidenſchaftliches Weinen aus. Er ſchob den einzigen bequemen Lehnſeſſel heran und drückte ſie ſanft hinein. „Beruhigen Sie ſich doch nur ein wenig, Fenitſchka, ſagte er, — „was ſind denn das für Ideen — Ver⸗ brecherin, — Unſinn! Wollen Sie etwas trinken? Wein, — Limonade? — Knöpfen Sie den Pelz ein wenig auf, Sie erſticken mir ſonſt noch hier. Darf ich ihn ein wenig aufknöpfen?“ Sie ſtieß ſeine Hand hinweg und weinte weiter. Er kniete neben ihr auf den Teppich hin und bückte demütig den Kopf. „Ach, Fenia!“ ſagte er lachend, „was ſind Sie doch für ein verrückter Kerl! — Wenn Sie wütend ſind, ſo zauſen Sie mich, bitte, am Haar, — ſchlagen Sie mit 60 Ihren lieben Fäuſten drein, — das dürfen Sie thun. — — Aber mit ſolcher Hingebung zu weinen! — Wer⸗ den Sie wieder ruhig und lieb, ja? — — Sonſt ſperre ich Sie wahrhaftig ein, und ſtelle Sie in den Winkel. — — Wiſſen Sie nicht mehr, wie ich Sie mal ein⸗ geſperrt habe in Paris? Ach ja, damals haben Sie mich einigermaßen mißhandelt. Aber jetzt — jetzt ſind wir doch Freunde, feſte, gute Freunde! Etwa nicht, Fenia? Ich gehe für Sie durchs Feuer, wenn Sie wollen. Sie nahm ihr Taſchentuch vom Geſicht und ſah ihn mit ihren naſſen, geröteten Augen an. „Wie ſollte ich wiſſen, daß Sie hier wohnen,“ ſagte ſie mit noch von Thränen erſtickter Stimme, — „Sie waren ja doch im Hotel de Paris. — — Sonſt wäre ich — hätte ich — —“ ſie ſtockte und wurde verwirrt. „Ja, das war eine entſetzliche Dummheit von mir, es Ihnen nicht rechtzeitig zu ſagen, daß ich jetzt hier — — aber andrerſeits, wiſſen Sie, konnte ich ja auch nicht wiſſen, daß Sie —,“ murmelte er, und ſetzte in leichtem Ton hinzu: „— nun, was macht es denn! Soll ich Ihnen einen Schlitten beſorgen? Waren Sie im Fortgehn?“ Fenia ſprang auf, und eine Blutwelle ergoß ſich über ihr verweintes Geſicht. Sie ſah zornig und bei⸗ nah wild aus. „Hören Sie mich!“ rief ſie entſchloſſen, „wozu ſpielen Sie Komödie mit mir, wozu faſſen Sie mich wie eine zerbrechliche Puppe an, der man gern was vormachen kann, wenn man ſie nur ſchön in Watte packt! Ich weiß ſehr gut, daß Sie alles wiſſen! Nun wohl, ſo wiſſen Sie es denn! Ja, ja, ja, es iſt ſo! Ich kam 61 hierher, weil ich neulich hier in meinem Zimmer etwas ver⸗ geſſen habe. Denn ich habe hier ein Zimmer. — — — Und geſtern nacht, — geſtern nacht war ich es. die in den Schlitten ſtieg mit einem Mann, den ich lieb habe!“ Er fand ſie herrlich, wie ſie mit fliegendem Atem das ſagte. Herrlich wie ein Menſch, der Gefahren trotzt, wie ein Menſch im Todesſprung, oder vor dem Feinde, vor dem Schuß, den er nicht in den Rücken erhalten will. In ihrem Geſicht prägte ſich ein verzweifelter Heroismus aus, und in ihren Blicken zitterte dennoch das ganze Entſetzen vor der Heimlichkeit, vor der Ver⸗ folgung, — und vibrierte in ihrer Stimme. Er faßte ihre Hände und küßte ſie. Nein, wir wollen keine Komödie ſpielen, — wir haben „Danke, Fenia!“ ſagte er ernſt, „ich danke Ihnen! es beide nicht nötig, — nicht wahr? Dafür aber neh⸗ men Sie mich zum Freunde und Bundesgenoſſen an, ja? — — Ich weiß wohl, daß nur der elende Zufall mich zum Mitwiſſer gemacht hat. Aber laſſen Sie es keinen Zufall bleiben, machen Sie ein Vertrauen daraus! Darf ich es ſo auffaſſen? Sie zog ihre Hände aus den ſeinen, hob ſie an ihre Schläfen, als ſei ihr der Kopf am Zerſpringen, und ſchaute ihn ganz ratlos und kindlich an. „Wiſſen Sie, das iſt wie eine Erlöſung! — Wie eine Erlöſung!“ ſagte ſie, — „wie eine Erlöſung, daß es ausgeſprochen iſt! Wenn ich es doch ſchnell hinaus⸗ ſchreien könnte, — hinaus! hinaus! Allen in die Ohren! So daß niemand es erſt mit ſeiner Neugier zu erſchleichen braucht! — — — Ach, ein Grauſen hab ich in letzter 62 Zeit bekommen, — ja, ein ſolches Grauſen, als ob lauter Geſpenſter um mich herumliefen, — ein Grauſen, wie ich es als kleines Kind manchmal im Traum gehabt habe, wenn jemand hinter mir war, und ich lief und lief, — — und doch nicht vorwärts konnte.“ Es durchſchauerte ſie. Ihre Augen öffneten ſich ganz groß und erſchreckt. „Sie müſſen ſich zuſammennehmen, Fenia!“ ſagte Max Werner in beſtimmtem Ton und faßte ihre Hand, „augenblicklich ſind Sie in einem Zuſtand, wo Sie ſich fortwährend ſelbſt verraten würden. Ich laſſe Sie ſo nicht fort. — — Dies Grauſen, wovon Sie ſprechen, müſſen Sie beherrſchen, es darf Ihnen nicht über den Kopf wachſen, hören Sie? Es iſt Nervenüberreizung, es wird vorübergehn, Fenitſchka. Sie hatte den Pelzmantel vorhin zurückgeworfen und auf die Seſſellehne hinter ſich niedergleiten laſſen. Sie ſtand im Kleide, aber ſcheu, wie auf dem Sprung. Ihre Blicke gingen flüchtig durch das Zimmer, über die ihr fremde Umgebung, als frage ſie ſich nun erſt, warum ſie eigentlich hergeraten ſei, warum ſie verweile. Mar Werner fürchtete, daß nach dem erſten, faſt willenloſen Ausbruch ſie ſich plötzlich von ihrer eignen Offenheit kalt und peinlich berührt fühlen könnte, — unter der Situation leiden, worin ſie ſich ihm gegen⸗ über befand. Er fügte deshalb ſchnell hinzu: „Sehen Sie ſich nicht erſt hier um, es iſt kein herrlicher Aufenthaltsort, das geb ich zu! Aber da Sie einmal bei mir zu Beſuch ſind, entlaufen Sie mir nicht gleich wieder, Fenitſchka. Setzen Sie ſich ein wenig her, 63 hier iſt niemand, der Sie beunruhigen oder belauſchen kann, — denken Sie ſich, Sie ſeien ruhig zu Hauſe. — — Und wiſſen Sie, daß in dieſem ſelben Zimmer Ihnen jemand nahe iſt, der auch „das Grauſen“ hat überwin⸗ den müſſen — um meinetwillen, Fenia, — jemand, den Sie innig lieben würden. ſetzte ſich wieder und blickte ihn erſtaunt und erwartungs⸗ Damit hatte er das richtige Wort getroffen. Sie voll an, — für den Augenblick von ſich ſelbſt abgelenkt —. „Iſt „ſie“ hier? Wo?“ fragte ſie leiſe. da liegen wohlverſchloſſen in einer Kaſſette alle ihre Briefe. „Nein, ſie ſelbſt nicht. Aber dort im Handkoffer, — Und ſo ſind Sie hier in feiner, lieber Menſchennähe, Fenia, das dürfen Sie glauben. Dieſe Briefe würden Ihnen erzählen, wie gern auch ſie offen gegen alle Welt wäre, — und es doch nicht darf. „Ja, ja!“ fiel Fenia etwas haſtig ein, — „genau ſo iſt es eigentlich auch bei uns. „Haben Sie ihn hier in Rußland getroffen?“ „Nein. Er iſt mir hierher nachgereiſt. „Alſo kein Ruſſe. Sie ſah erſtaunt auf. „Kein Ruſſe?! — — Ach ſo, — ja, warum ſollten Sie nicht meinen, daß es ein Ausländer ſein könnte — —. Kein Ruſſe! nein, das wäre mir unfaßlich. Für mich liegt eine ganze Welt darin, daß er ein Ruſſe, — mein Landsmann, mein Bruder, ein Stück von meines⸗ gleichen iſt. „Sie haben doch aber mit Ausländern ſchon ſo früh und ſo vertraut verkehrt, ſtudiert, — wie leicht hätte einer — 64 „Ja, verkehrt, ſtudiert!“ unterbrach ſie ihn. „Und damals dachte ich auch wohl: die Liebe, das iſt ſicher nur die höchſte Fortſetzung ſolcher kameradſchaftlichen Freund⸗ ſchaft, wo man ja ſchon ſo vieles teilt —. „Aber keinen davon haben Sie geliebt?“ Sie ſchüttelte den Kopf. „Nein. Nie. Um man⸗ chen, der um deswillen fortging, trauerte ich. Aber was konnte das ändern? Ich wartete darauf, daß die Freund⸗ ſchaft in mir bis zur Liebe ſtiege — —. Sie ſtieg auch zuweilen, — immer höher und höher, — aber nicht in die Liebe hinein, — ſie wurde dann zugleich immer dünner und ſpitzer, — — und eines Tages brach ſtets die Spitze ab. „Alſo iſt es ſchließlich auch gar nicht einer Ihrer eigentlichen Geiſteskameraden geweſen?“ „O nein!“ ſagte ſie lebhaft, — „es war einer, mit dem ich noch nichts teilte. Den ich kaum kannte. — Grade nach Beendigung meiner Studien, während einer Erholungsreiſe. — — Ja, und im Grunde trieb es mich auch nicht, mit ihm dies und das zu teilen, — oder irgendwohin dort oben hinaufzuklettern, wo die Spitzen doch immer abbrachen. — — Dazu war ich auch zu ange⸗ ſtrengt und erholungsfroh. — — Aber mich trieb es faſt von der erſten Stunde an, zu ihm hinzutreten und „du! zu ihm zu ſagen. Sie hatte den Kopf geſenkt und ſprach mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen. Sie ſah bei ihren Worten ganz weltentrückt und bräutlich aus. Er ſchaute ſie mit Entzücken an. „Ja, ſo geht es nun im Leben zu,“ beſtätigte er, 5 Lou Andreas⸗Salome, Fenitſchka. 65 bemüht, ſie in der ſchönen Stimmung zu erhalten, „man macht ſich große Theorien, man will geiſtig zuſammen⸗ paſſen und will ſich auf Herz und Nieren prüfen, — und ſchließlich wählt man einander doch in der Gunſt der Stunde, und ohne alle weitern Kennzeichen. „Aber das ſind ja die allertiefſten Kennzeichen!“ rief ſie erſtaunt, — „das iſt ja eben der ungeheure Irr⸗ tum, zu glauben, daß „Geiſt“ und „Seele“, und wie alle dieſe ſchönen Dinge im Menſchenverkehr heißen, etwas Edleres oder Tieferes ſind, als ſie. Nein, das weiß ich beſſer! Beſonders der Geiſt, der iſt ſchon durchaus nicht edler, ſondern das Gröbſte und Pöbelhafteſte iſt er, und ſaugt ſich mit ſeinem kalten Intereſſe unterſchiedslos an die allerverſchiedenſten Menſchen an, um ſie loszulaſſen, ſobald er ihnen ihr Intereſſantes entnommen hat. Das hab ich oft gethan, — pfui! — — Aber auch die ſo⸗ genannten ſeeliſchen Freundſchaften! Etwas wähleriſcher ſind ſie, aber auch ſie kann man zu mehreren Menſchen haben, mehrere können ſich folgen, denn man bekommt ja auch in ihnen nur ein Teilchen des ganzen Menſchen, und giebt nur ein Teilchen. — — Man bleibt bewußt, — geizig, — genügſam. Was ſie da ſagte, kam ihr aus dem tiefſten über⸗ zeugten Herzen. Sie verkündete es wie eine jauchzend errungene Lebenserkenntnis, — ſie war ſtolz darauf. „Sie ſind ein rätſelhaftes Mädchen, Fenia!“ ſagte Max Werner. „Und ich — ich habe Sie für kühl ge⸗ halten — —. Oder doch wenigſtens nicht recht zugäng⸗ lich für den wirklichen Rauſch. Wer ſo jahraus, jahrein mit Männern umgehn und ſtudieren kann, ohne jemals 66 in das überzuſchlagen, was — nun, was in ſolchen Fällen doch wohl das Gewöhnlichſte iſt - „Das Gewöhnlichſte?! Nein, das glaub ich ſchon nicht. — Es iſt ja das Seltenſte und Vornehmſte, was es im Leben geben kann. So ſehr, daß alles andre daneben nur noch ſchäbig und gemein ausſieht „Sie meinen das wirklich — — —: „Ja, ſicherlich, mein Gott! Wie kann man daran zweifeln! Wie können Sie es, der ſelber geliebt wird!“ rief ſie, rot überflammt von Erregung, und ſprang auf, — „da kommt nun etwas und nimmt einen hin, und man giebt ſich hin, — und man rechnet nicht mehr, und hält nichts mehr zurück, und begnügt ſich nicht mehr mit Halbem, — man giebt und nimmt, ohne Ueberlegung, ohne Be⸗ denken, faſt ohne Bewußtſein, — der Gefahr lachend, ſich ſelbſt vergeſſend, — mit weiter — weiter Seele und ohnmachtumfangenem Verſtande, — —— und das, das ſollte nicht das Höhere ſein? Darin ſollten wir nicht unſre Vornehmheit, unſern Adel haben? — — Sie ſtand da, von ihren eignen Worten berauſcht, und ſah ſo ſchön aus —. Er hütete ſich wohl, die Einwände laut werden zu laſſen, die ihm auf der Zunge ſaßen. Fenia erwartete auch keine Antwort. Sie ver⸗ ſtummte, beſann ſich einen Augenblick auf die Wirklich⸗ keit und ſagte dann mit ihrer gewöhnlichen Stimme: „Helfen Sie mir in den Pelz. Ich will jetzt end⸗ lich nach Hauſe fahren. Er hielt ihr den Pelzmantel hin und bemerkte bittend: 67 „Aber doch nicht allein? Soll ich Sie nicht nach Hauſe begleiten? Sie ſind jetzt doch in ganz beruhigter und fröhlicher Stimmung, nicht wahr, Fenia, — ich kann mich darauf verlaſſen?“ Sie nickte. kann nicht lange ſo gequält leben. Ich muß ſorglos „Ja. Mag's nun kommen, wie es Luſt hat. Ich leben, oder gar nicht. Darum ſind Heimlichkeiten mir ſo unſäglich wider die Natur. — — Froh bin ich, daß ich jetzt wenigſtens zu Ihnen offen ſprechen kann. — — Aber bitte, begleiten Sie mich nicht. Der Portier unten wird mich in den Schlitten ſetzen. Ich möchte lieber allein ſein.“ Sie nicht ſo fort, Fenia, — möchten Sie ſich nicht er⸗ „Wie Sie wünſchen. Aber zum mindeſten gehen innern — nach allem, was wir nun gemeinſam haben, — daß wir ſchon einmal Brüderſchaft getrunken haben? Möchteſt du nicht, wenn du nun zu mir ſprichſt, mich ein bißchen weniger ſteif anreden?“ „Ja gewiß. Du — und Bruder — von heute an!“ entgegnete ſie herzlich und ernſt. „Ich werd es nicht vergeſſen. Ich nehm es als einen feſten Bund.“ „Danke, — und die Bundesbeſiegelung?“ fragte er und hielt ihre Hand noch feſt, als ſie auf die Thür zuging. Da hob ſie den Kopf und gab ihm einen Kuß auf den Mund, — einen herzlichen, unbefangenen Kuß. Aber ihre Lippen brannten noch von den leiden⸗ ſchaftlichen Worten, die ſie vorher geſprochen. 68 Alar Werner blieb keine zwei Wochen mehr in Pe⸗ tersburg, aber in der Rückerinnerung kam es ihm immer wie eine weit längere Zeitſtrecke vor, ſo reichen Inhalt empfingen dieſe Wochen durch ſeine neue Beziehung zu Fenid. Selten ein Tag, wo er ſie nicht ſah, ſelten einer, wo er nicht den ungewohnten Reiz einer ſo zutraulichen weiblichen Nähe ohne alle erotiſchen Nebengedanken durch⸗ koſtete. Es ſchien ihm ein gradezu idealer Fall, ge⸗ ſchaffen dank ihrer beiderſeitigen Benommenheit von einer andern Liebe, und ganz beſonders begünſtigt durch Fenias Gewohnheit, ſich Männern gegenüber zwanglos gehn zu laſſen. „Ein Mädchen wie Irmgard erſchließt ſich nur, wo es liebt, und hält ſich ſonſt ſtets in der etwas kalten Strenge ihrer Mädchenhoheit zurück, — verſchloſſen und herb. Aber ſchließt ſich denn ein Weib wirklich auf, wo es liebt? Täuſcht es ſich nicht unwiſſentlich darüber?“ fragte er ſich oft. So zum Beiſpiel ſprach Fenia ſicher zu dem Manne ihrer Liebe mit viel rückhaltloſerer Intimität als zu ihm, — aber that ſie es nicht auch weniger einfach und ſachlich, — unbewußt bemüht, alles Verwandte in ihm und ihr hervorzukehren und einander zu vermählen, alles Störende zu beſeitigen? Ihm gegenüber fiel das fort, und er ſah ſie manch⸗ mal vor ſich gleich einem Modell, deſſen Seelenformen er nur abzubilden brauchte, — nicht ſo, wie eine Geliebte vor ihm ſtehn würde, deren ſeeliſche Reize ſo individuell wirken, daß ſie das klare Urteil beſtechen und verwirren, — ſondern wie ein Stück weiblichen Geſchlechtes in der beſtimmten Verkörperung, die ſich Fenia nannte. Zum erſtenmal glaubte er, dem Weibe als ſolchem nah zu kommen, indem er Fenia immer näher kam. Perſönliches aus ihrem Liebesleben erzählte ſie ihm nie. Sein Wiſſen um dieſes Ereignis wirkte nur wär⸗ mend und belebend auf alles, was ſie ſonſt miteinander teilten. Seine Gedanken indeſſen kreiſten mehr als ein⸗ mal um den ihm fremden Menſchen herum, dem dies liebe Geſchöpf zugehörte, und je nach Laune und Stim⸗ mung machte er ſich von ihm die allerverſchiedenartigſten Vorſtellungen. Während einer Abendgeſellſchaft beim alten Baron, wohin er Fenia begleitet hatte, erwähnte ſie gegen ihn zum erſtenmal wieder der heimlichen Angelegenheit, wo⸗ durch ſie Freunde geworden waren. Das Souper war eben beendet, und man ſtand oder ſaß zwanglos in kleinern Gruppen zuſammen, wie der Zufall es grade gab. Er hatte ſich lange mit Na⸗ deſchda und ihrem Verlobten unterhalten, — dem Typus eines Brautpaars, das ſich gern iſolieren möchte, und ſtatt deſſen ſeine Blicke und Worte an alle verteilen muß. Jetzt näherte er ſich Fenia, die im Augenblick allein, 70 — und wie immer in lächelnder Beobachtung des bunten Menſchenbildes, — hinter einer Palmengruppe am Fen⸗ ſter ſaß, und blieb vor ihr ſtehn. „Weshalb ſchauſt du mich ſo an?“ fragte Fenia. „Ich vergleiche dich im ſtillen mit der andern Braut hier im Saal; — an der armen Nadeſchda iſt heute alles erzwungene Höflichkeit und verhaltene Sehnſucht; ſie hat rote heiße Flecken auf den Wangen, und ihre Augen glänzen zu ſehr. Fenia lachte. „Hoffentlich bemerkt der Onkel das nicht!“ ſagte ſie. „Und über dir, wie du da ſitzeſt, iſt eine ſolche ſelige Ruhe ausgegoſſen. „Ich habe eigentlich gar keinen Grund, ſo ſelig zu ruhen,“ entgegnete Fenia, aber ihre vollen warmen Lippen lächelten immer noch, — „denn heute haben „wir“ uns zum erſtenmal — gezankt.. „O das iſt mir höchſt intereſſant,“ bemerkte er ziemlich eifrig und zog einen Stuhl heran — „darf ich wiſſen, was der Anlaß war? Jetzt ſah ſie ernſter aus, eine kleine Falte ſchob ſich ſogar zwiſchen ihre Augenbrauen, die über der Stumpf⸗ naſe ganz nah zuſammenkamen. „Der Anlaß iſt ganz gleichgültig. Der Grund iſt einfach: er iſt gequält und gereizt,“ ſagte ſie. „Mein Gott! er, der es ſo gut hat?“ „Er leugnet eben, daß er es gut hat,“ fiel ſie ein, „aber die Wahrheit iſt: er iſt viel anſpruchsvoller ge⸗ worden. — — Wir haben uns immer nur ſtundenweiſe geſehen — von allem Anfang an, — und nicht einmal 71 täglich. — — Sich zu allen möglichen Tagesſtunden, im Hellen, — — zu allen möglichen Beſchäftigungen und Ausgängen zu treffen, iſt doch nun einmal einfach un⸗ möglich.“ „Und das iſt es alſo, was er will?“ andre ſei Qual. Nach ſeiner Auffaſſung ſollte man ſich „Ja. Er ſagt, das ſei das einzig Natürliche. Alles überhaupt ſo gut wie gar nicht trennen. — — Dabei ſieht er ein, daß wir uns des entſtandenen Klatſches wegen eher ſeltener ſehen ſollten.“ dir nicht leichter, — warum führſt du ihn zum Bei⸗ „Sage mir nur, Fenitſchka, warum machſt du es ſpiel nicht hier bei deinem Onkel ein, — wär er nur anerkanntermaßen dein Freund, wie ich, — ſo — ſo — Sie ſah ihm grade in die Augen. „So könnte er insgeheim viel bequemer mein Ge⸗ liebter ſein, nicht wahr?“ vollendete ſie. „Mach doch nicht gleich ſolche Augen! was ſteht dem eigentlich entgegen?“ warf er ein. Sie ſagte nur leiſe, ohne ihren Blick von dem ſei⸗ nen zu laſſen: „Es würde häßlich werden! Und ich will, daß es ſchön iſt.“ „Nun, ſtreiten läßt ſich über dergleichen ja nicht. Aber dir ſelbſt fällt es doch wohl ebenſo ſchwer, wie ihm, euren Verkehr nicht nach Belieben ausdehnen zu können, — daher ſchlug ich es nur vor. Sie ſenkte die Augen und ſchien nachzudenken, wie ſie es ſo oft mitten im Geſpräch that. Eine leichte Röte ſtieg dabei in ihre Wangen. 72 „Ja, weißt du, für mich iſt es ja eigentlich wieder anders als für ihn,“ erwiderte ſie darauf zögernd, „— ich kann nicht recht ſagen, woran das liegen mag. Aber jedenfalls wär es ja für mich nichts ſo Seltenes und Neues, mit einem Manne alle möglichen Intereſſen und Beſchäftigungen zu teilen, — alle Stunden des Tages in anregender und geiſtig fördernder Weiſe zu ver⸗ bringen. Ihm iſt das neu. — — Ich — ja, ich ſehne mich lange nicht ſo ſtark danach. — — Würdeſt du es thun? „Ich?!“ fragte er etwas unſicher und dachte an Irmgard, „— ich glaube, das würde außerordentlich nach meinen Stimmungen wechſeln. — — Aber ver⸗ gleiche mich doch nicht mit deinem — — deinem — —. Er iſt vielleicht fürchterlich konſequent und ernſthaft?“ Sie lachte leiſe auf, voll Schalkhaftigkeit. „Nein, das iſt er nun doch nicht. Jung und lieb iſt er, — von allen meinen Bekannten und Freunden der am wenigſten ernſte. — Wir fingen nicht grade mit der Philo⸗ ſophie an, — er hatte keine Ahnung, daß ich mit der was zu thun gehabt hatte. Im Gegenteil, er hielt mich urſprünglich für recht leichtlebig, — weil ich ſo frei zu leben ſchien. — — Ihr ſeid eben rechte Menſchenkenner!“ fügte ſie mit einer kleinen verächtlichen Grimaſſe hinzu. „Was ſagte er denn, als es ihm allmählich auf⸗ ging, daß er einen promovierten Doktor vor ſich hatte?“ „Ach, das iſt ihm ja niemals aufgegangen. Davon hat er nicht viel zu ſehen bekommen. — — Aber doch ſagt er jetzt, er habe früher nicht gewußt, daß man mit einer Frau geiſtig ſo ſtark verſchmelzen könne, — und 73 hätte er es nur geahnt, ſo würde er mich von allem Anfang an ſo anſpruchsvoll geliebt haben, wie jetzt, — mit ſolchen Anſprüchen an alle meine Zeit und jeden meiner Gedanken. Max Werner ſchwieg dazu und dachte ſich im ſtillen mancherlei. Ein paar Minuten ließen ſie, ohne zu reden, das Stimmengewirr der Menſchen um ſich herumſummen; einer der Diener in Matroſenlivree kam zu ihnen mit ſeinem ſilbernen Tablett voll Obſt und Süßigkeiten, ein paar der Gäſte fingen an, ſie in ihrem Verſteck zu be⸗ merken. Fenia ſchaute mit blinzelnden Augen in den Kerzenglanz, ſie beobachtete nicht mehr, ſie träumte. Aber immer noch lag die ſelige Ruhe über ihren Zügen aus⸗ gebreitet. „Weißt du noch, wie du mir mal auf dem Newskij, vor Paſettis Kunſtverlag, ſagteſt: das Koſtbarſte, was Liebe giebt, das iſt Frieden?“ fragte Max unwillkürlich. Sie nickte und atmete tief auf. „Ja! Vom erſten Augenblick an war es ſo. Dank ihm, daß ich Frieden kenne! Ein ſo tiefes Ausruhen und Ge⸗ nügen. Nicht einmal Sehnſucht, — nicht Qual nach mehr, — nicht alle dieſe innern Kämpfe, — wie er ſie jetzt durchmacht. Ich verſtehe das einfach nicht. — — Ich ruhe wie in einer Wiege, weißt du, — die leiſe ge⸗ ſchaukelt wird, — darüber blauer Sommerhimmel, und ringsherum blühende Wieſe, — hochſtehende, üppige Wieſe voll Klee und langen Halmen, ſo wie ſie kurz vor dem Mähen iſt, — — hier in Rußland haben wir ſo wundervolle ſolche Wieſen. — — Oder vielleicht lieg ich auch nur wie eine Kuh im friſchen Wieſengras mitten 74 unter den gelben Butterblumen, — ſo friedlich proſaiſch. Nein, ich kann nicht nachdenken. Ich bin ſo glückſelig verdummt. — Es langt grade noch, um drüben die blöde Unterhaltung mitzumachen,“ fügte ſie hinzu und erhob ſich aus ihrer läſſigen Haltung, weil einige der Gäſte auf ſie zukamen. — Als Mar Werner dieſen Abend heimging, mußte er viel an Fenia denken, und in der Nacht ſchlief er un⸗ ruhig und träumte von ihr. Sie trug einen Kranz von gelben Ranunkeln im Haar und ſaß im Gras. Wie er ſich aber zu ihr ſetzen wollte, wehrte ſie ihn ab und ſagte, er ſolle beſſere Haltung vor ihr bewahren, denn ſie ſei die Wieſenherzogin. „Ach, Fenitſchka, warum haſt du nur gelbe Ranunkeln auf dem Kopf, — Roſen würden dir viel ſchöner ſtehn,“ bemerkte er zu ihr, auch noch im Traum galant, und wagte nicht ſich hinzuſetzen. Sie aber ſah ihn mit demſelben ſtrengen Blick an, wie geſtern bei ſeinem Vorſchlag, ihren Freund bei ihrem Onkel einzuführen, und entgegnete mit herzoglicher Hoheit: „Auch die Ranunkeln färbt dieſelbe Sonne. Er erwachte durch die Anſtrengung, dies tiefe Wort gehörig zu enträtſeln. Es war ſchon ſpät am Vormittag, und er beſchloß, in die Eremitage zu gehn. Unterwegs jedoch traf es ſich, daß er ſtatt deſſen zu Fenia in ihre Wohnung hinaufſtieg. Zu ſeinem Bedauern fand er ſie nicht zu Hauſe. An dieſem Morgen war er ein wenig verliebt in Fenia; er wußte nicht, ob ſein Traum hiervon die Urſache, oder die Wirkung ſei. Langſam und etwas mißmutig ging er den Weg 75 nach ſeinem Hotel zurück. Es ſchneite ſchwach, in win⸗ zigen, harten Körnchen, die an Hagelgraupen erinnerten und auf dem Sand, womit die Trottoirs beſtreut waren, weiß und rund liegen blieben wie Perlen. Der Himmel hing tief, tief herab, grau und lichtlos, und unter ſeinem gleichförmigen Schiefergrau ballten und ſtopften ſich noch große weiße Wolken gleich Federkiſſen; es ſah wahrhaftig aus, als habe der Himmel droben ſich gut auswattiert, um ſich vor der Kälte bei den Men⸗ ſchenkindern unten zu ſchützen. Unterwegs traf er Fenia. Er ſah ſie auf der an⸗ dern Seite des Trottoirs und ging über den Straßen⸗ damm auf ſie zu; ſie bemerkte es, blieb ſtehn und war⸗ tete auf ihn. „Ich hatte dir einen Beſuch zugedacht,“ ſagte er, während ſie ſich die Hand ſchüttelten, „fand dich aber nicht, und fürchtete ſchon, dich heute nicht mehr zu ſehen. Da⸗ her bin ich dem Zufall jetzt doppelt dankbar.“ Sie ſah ihn lächelnd und nachdenklich an. „Ich bin ihm auch dankbar!“ entgegnete ſie, — „deinen Beſuch hätt ich nämlich nicht angenommen —. Keinen Beſuch, der heute kommt. — Und nun, wo ich dich unerwartet treffe, merk ich, daß ich mich drüber freue, mit dir zu gehn und zu plaudern. — — So wenig kennen wir uns ſelbſt. „Woher kommſt du denn?“ fragte er im Weiter⸗ gehn. „Von einem zweckloſen Hin⸗ und Hergehn. Ich ertrug's in der Stube nicht. Ertrag's aber auch draußen nicht. Ich habe entſetzliche Sorgen, Max. — — Denke 76 dir, — vielleicht kann ich „ihn' nur noch wenige Male wiederſehen. Er blieb ſtehn. „Wie das, — warum?! „Es hat ſich ſo zugeſpitzt — all das mit den Heim⸗ lichkeiten. Wir ſind nicht mehr ſicher, — nirgends mehr. Es geht einfach nicht mehr. Es geht abſolut nicht. „— Und gar kein Ausweg? man findet ihn ja doch ſchließlich in ſolchen Fällen. Fenia ſchüttelte den Kopf. „Im Auslande zu leben wäre einer, — ja. Aber ich bin hier durch meine Stellung gebunden, und habe keine andern Exiſtenzmittel. Und im Ausland wär es dasſelbe — in einer Stellung. Es ſcheint, man muß reich ſein dazu. Lehrerinnen ſind, ſcheint es, davon aus⸗ geſchloſſen.“ „Aber deshalb könnt ihr doch nicht auseinander⸗ gehn?!“ Fenia lachte dazu unwillkürlich. Ihr ganzer froher Unglaube an irgend ein Auseinandergehn lachte aus ihren Augen. Aber die Augen waren gerötet wie vom Weinen. „Wir haben eben die Wahl zwiſchen zwei Unmög⸗ lichkeiten,“ ſagte ſie, noch lächelnd, und ging langſam weiter, „— ich war ſo tief im Glück und Frieden, weißt du, daß ich noch ganz dumm bin: ich begreif's noch gar nicht, daß es Sorgen giebt — im Himmel. Sie ſtanden an ihrer Hausthür. „Höre, Fenia,“ bat er, „laß uns doch noch ein wenig zuſammen bleiben, — kann ich nicht hinein?“ — 77 Sie hatte die Thür geöffnet, und der Portier mit den Silberlitzen kam dienſtbefliſſen herbei, wollte hinter ihr ſchließen, und händigte ihr zugleich zwei inzwiſchen eingelaufene Briefe ein. Fenia blieb auf der Schwelle ſtehn, beſah die Brief⸗ adreſſen und bemerkte dabei zu Mar: wir können alſo gern noch ein wenig draußen bleiben, „Ich beabſichtigte eigentlich noch nicht, hinaufzugehn, — aber ich erwartete Nachrichten, und deshalb“ — ſie warf einen ſchalkhaften Seitenblick auf ihn und fügte hinzu: „— Dieſen einen, ſiehſt du, der ohne Marke her⸗ gebracht worden iſt, den muß ich gleich leſen. Es han⸗ delt ſich um die Verabredung einer Stunde zu heute — oder morgen. Er ließ ſie leſen, während ſie die Straße lang⸗ ſam entlang ſchritten, und muſterte dabei ungeduldig den Sand und Schnee auf dem Trottoir zu ſeinen Füßen. Heute morgen kam ihm Fenias Auserwählter etwas in die Quere. Als Fenia aber den Brief eingeſteckt hatte und, wie ihm ſchien, Minuten vergingen, ohne daß ſie ſprach, ſah er ſcharf nach ihr hin. Der Ausdruck ihres Geſichtes hatte ſich ganz ver⸗ wandelt, — zum Erſchrecken verwandelt hatte er ſich. Sie war erblaßt, um den Mund ein geſpannter, ner⸗ vöſer Zug, ihre Augen blickten mit einer gewiſſen ver⸗ wirrten Anſtrengung grade vor ſich hin. „Fenia!“ ſagte er halblaut, „— was iſt dir? was iſt denn geſchehen? Steht im Brief irgend etwas Schlimmes?“ 78 „Iſt er tot, — — — untreu?“ fuhr es ihm durch den Kopf, und er konnte ſeine eignen Gefühle dabei nicht recht deutlich unterſcheiden. „Nein, — nein!“ widerſprach ſie haſtig, „— es iſt nur, — ja, etwas Schlimmes. „Kann ich es nicht wiſſen? — — Nein, natürlich — nicht, wenn du nicht magſt.“ „Doch, — warum denn nicht? — — Es iſt ja, — ſie ſtockte, und ſetzte dann leiſe, faſt ſcheu hinzu: „Er will, daß wir uns heiraten ſollen. „Heiraten!“ Er rief es zuerſt ganz konſterniert; gleich darauf bemerkte er aber ſelbſt: „Ja, lieber Gott, warum auch nicht? Das iſt doch eigentlich ganz natürlich? Haſt du denn nicht ſelber ſchon an dieſes Ende gedacht?“ „— Ich? — Nein, — ich, — es ſchien ja aus äu⸗ ßern Gründen zunächſt ſo ganz unmöglich, — ich meine: es ging eben noch nicht, — ſo daß man nicht daran denken konnte, — — nicht zu denken brauchte,“ er⸗ widerte ſie, noch ebenſo ſcheu und verwirrt, — bedrückt. „Nun — und jetzt? „— Er hat irgend eine Anſtellung im Süden er⸗ halten, — was weiß ich, — — ach, ich weiß nicht. — — Mir iſt ſo furchtbar zu Mut,“ ſagte ſie hilflos, und ſah aus, als ob ſie gleich anfangen wollte loszuweinen. Max Werner bog in eine kurze breite Nebenſtraße ein, wo ſie vor der Menſchenmenge auf dem Newskij⸗ proſpekt ſicher waren. Nur ein paar Kinder rutſchten ſpielend und ſchreiend auf einem ſchneefreien Eisſtreifen längs dem Damm umher. 79 „Aber, Fenitſchka, auf dem Gut, während der Hochzeit meiner Schweſter, warſt du ja noch ſo vollgeſtopft mit den allergraulichſten Ehebetrachtungen!“ ſagte Max Werner beruhigend, „— willſt du denn nicht — Sie blieb ſtehn und ſah mit ihren großen, klaren, ſo eigentümlich ſeelenoffenen Augen zu ihm auf. ganzen Zeit, — als ob ich heiraten wollte?“ „Iſt es dir jemals ſo vorgekommen, — in dieſer mußte ſchließlich — „Nein, — das wohl nicht,“ gab er zu, „aber es ſie ihn, „ſage mir, will es denn etwa einer von euch, „Ich konnte es auch gar nicht wollen!“ unterbrach — will es ein junger Menſch zum Beiſpiel, der ſeine ganze Jugend drangeſetzt hat, um frei und ſelbſtändig zu wer⸗ den, — der nun grade vor dem Ziel ſteht, — auf der Schwelle, — der das Leben grade um deswillen lieb ge⸗ wonnen hat, — um des Berufslebens willen, um der Verantwortlichkeit willen, um der Unabhängigkeit willen! — Nein! Iſch kann es mir einfach nicht als Lebensziel vorſtellen, — Heim, Familie, Hausfrau, Kinder, — es iſt mir fremd, fremd, fremd! Vielleicht nur jetzt, — vielleicht nur in dieſer Lebensperiode. Weiß ich's? — Vielleicht bin ich überhaupt untauglich grade dazu. — — Liebe und Ehe iſt eben nicht dasſelbe.“ Sie ſprach raſch und erregt, ſie vergaß ganz, wo ſie war, und lehnte ſich einfach mit dem Rücken gegen eine Hausmauer, vor der ſie gerade ſtanden. Dies war ſicher kein geeigneter Aufenthalt für eine ſolche Unter⸗ haltung; Mar Werner fürchtete, ſie könnte mit ihrem Tuchpelz an der weißbeworfenen Hauswand feſtfrieren, 80 und außerdem rieſelten die kleinen, feinen, runden Schneekörnerchen unabläſſig um ſie nieder. Aber da⸗ bei war er ſelbſt in einiger Spannung und Erregung; er war, offen geſtanden, bezüglich des Mannes, der da ſoeben Fenia einen Heiratsantrag gemacht hatte, nicht ganz ohne Schadenfreude, — — aber da hinein miſchte ſich ein ganz ſonderbares Gefühl, — faſt ein verblüfftes, beleidigtes, — faſt, als ſei er es, den ſie abgewieſen habe. — — Das war die Verblüffung über ihre Worte, — Worte einer Frau, die ganz ſo ſprach, als ſei ſie ein Mann, und als ſei es eine unerhörte Zumutung, einen Mann, ſeinesgleichen, zu heiraten. — „Das iſt mir denn doch noch nicht vorgekommen, Fenitſchka,“ ſagte er, und trat von einem Fuß auf den andern, denn ihn fror ſehr, „— dieſe ſpitzfindige Unter⸗ ſcheidung zwiſchen Liebe und Ehe. — Wenn du deiner Liebe ſicher biſt, dann dürfen dich auch die Schwierig⸗ keiten des Ehelebens nicht abſchrecken, — die wahre Liebe ſetzt ſich drüber hinweg, — glaube ich. Und dann, ſiehſt du, ſoll es ja auch grade ſo ſchön ſein, alles mit⸗ einander zu teilen, — und beſonders, wenn es für im⸗ mer iſt, — und ſelbſt wenn Krankheit, oder Sorge, oder ſonſtige Unannehmlichkeiten mitunterlaufen, — nun, ſo hat man doch dafür ein wahrhaftes, wirkliches Stück Leben miteinander gelebt, — und grade das will die Liebe, — ſie will doch nicht etwa nur den Genuß? O nein, bewahre! ſie hat ſozuſagen die Tendenz zur Ehe. Fenia hörte ganz aufmerkſam, mit zur Seite ge⸗ neigtem Köpfchen zu; unendlich lieb ſchaute ſie dabei aus, mit ihren halbgeöffneten Kußlippen, — wie jemand 6 Lon Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 81 ungefähr, der einer gar erſtaunlichen Mär und Kunde lauſcht. und erwartungsvoll, „— ich meine, denkſt du ſo im „— Denkſt du das wirklich?“ fragte ſie zweifelnd tiefſten Ernſt? Haſt du denn jemals dieſe Dinge ſo em⸗ pfunden, wie du da ſagſt, — grade ſo?“ — — Aber ich hab es von andern gehört,“ bemerkte „— Ich? — — Nun, ich ſelbſt grade nicht. er etwas kleinlaut. Sie bückte enttäuſcht den Kopf. „Von andern gehört!“ wiederholte ſie. Sie that ihm leid. Offenbar hatte ſie von ſeinen halb ironiſch gemeinten Worten eine Art von Hilfe in ihren Zwei⸗ feln erwartet, — war er doch ihr Freund! Es drängte ihn über die Maßen, ſie wieder beruhigt und heiter zu ſehen. „Aber Fenitſchka,“ redete er ihr zu, „was kommt denn auf mich an! Bin ich denn ein Vorbild auf dieſem Gebiet?! — Nein, — nicht wahr? Und überhaupt, was ſo ein Mann darüber ſpricht! Ihr Frauen empfindet ſchließlich doch anders, — beſſer, feiner. — Aus der Ueberzeugung heraus ſprach ich. Glaube mir, ihr wollt im Grunde doch die Dauer und vollkommne Zuſammen⸗ gehörigkeit, — das weiß ich von der, die mich lieb hat, Fenia. Denn wollte ſie das im Grunde nicht, wollte ſie nicht ſo inbrünſtig das ganze Leben mit mir teilen, ſo wär es ja keine rechte Liebe, ſondern nur eine — eigentlich eine reine Sinnen — „Sondern nur eine rein ſinnliche Leidenſchaft, — nur eine ſinnliche,“ ergänzte Fenia mit bedeckter Stimme, ſah ihn an, und wurde plötzlich blaß. 82 „Ach Unſinn, Fenia, — ich . Sie antwortete nicht, ſondern ſtand nur requngslos da, und in ihren Mienen prägte ſich etwas ganz Er⸗ greifendes aus, das ihn verſtummen machte. Wohl ſchaute ſie ihn noch an, aber ſichtlich ohne ſich deſſen bewußt zu werden, wohin ſie gerade ſchaute; ihre ganze Seele war nach innen gekehrt, — hielt gleich⸗ ſam den Atem an. Ihre Augen öffneten ſich weit, eine Art von Ent⸗ ſetzen flog durch ſie hindurch, es war, als ſchlüge eine plötzliche Erkenntnis, einem Blitze gleich, ihr mitten durch die Seele. Und langſam ergoß ſich über ihre Wangen, ihre kleinen Ohren, über den Hals, ſoweit das Pelzwerk da⸗ von einen Fleck ſehen ließ, — eine warme tiefe Röte, — immer flammendere Röte. — — Und ehe Max Wer⸗ ner ſich's verſah, wandte ſie ſich von der Hausmauer fort, an der ſie lehnte, und enteilte ihm plötzlich mit ſchnellen Schritten. „Fenia! Fenitſchka!“ rief er beſtürzt, und griff un⸗ willkürlich nach ihr. Aber er griff ins Leere. In we⸗ nigen Sekunden ſchon war ſie um die Ecke gebogen, und entſchwand ihm unter den Menſchen, die auf der Haupt⸗ ſtraße vorüberſtrömten. Der Eindruck war ein ganz ſeltſamer. Obgleich ſie mit geſenkten Stimmen zu einander geredet, — und mehr noch geſchwiegen, als geredet hatten, war ihm mit ihrem Verſchwinden doch, als ſei mit einemmal eine laute, gewaltige Unterhaltung verſtummt. Still, ganz totenſtill lag die breite Nebenſtraße, wo 83 ſie geſtanden, plötzlich da, wie eine ſchlafende ver⸗ ſchneite Welt. Und ganz verwunderlich klang aus dem tiefen Schnee jetzt wieder das helle Geſchwätz der beiden umherrutſchen⸗ den Kinder auf dem Fahrdamm und tönte hinter Fenitſchka drein. 84 Max Werner hatte das Gefühl, daß er Fenitſchka nach dieſer Begegnung nicht gleich wieder aufſuchen dürfe, — daß ſie augenblicklich keines Menſchen Geſellſchaft brauchen könne. So ließ er den ganzen nächſten Tag verſtreichen, ohne ſie zu ſehen. Ein Brief von Irmgard kam am Vormittag; er beantwortete ihn ſofort, und berechnete zugleich das Datum ſeiner Ankunft in München. Seine Abreiſe aus Rußland war von ihm längſt auf dieſe Tage feſtgeſetzt worden, aber noch nie hatte es ihn ſo gedrängt, wie heute, Irmgard wieder in die Arme zu ſchließen. Und Fenia, trotzdem er ſich erſt geſtern ein wenig in ſie verliebte, trug die Schuld daran. — Denn plötzlich wollte es ihm weit weniger ſelbſtver⸗ ſtändlich erſcheinen als bisher, daß Irmgard ihn ſo ſtark und treu liebe, wie ſie es that, — es drängte ihn da⸗ her, ihr das Geſtändnis ihrer Liebe aufs neue aus den Augen und von den Lippen zu leſen. Im Grunde wußte er wohl: der Zweifel, der über Fenia gekommen, konnte über Irmgard niemals kom⸗ men, — ganz zweifellos liebte ſie ihn und ging ganz in dem Wunſch auf, mit ihm für immer das Leben zu teilen, — in jedem Sinn es mit ihm zu teilen. Ja, er wußte es, aber es beglückte ihn anders als bisher, und ſtimmte ihn dankbarer, weicher. Er ſagte ſich, daß er für Irmgard von vornherein glücklicherweiſe mehr bedeute, als für Fenia ein Mann augenblicklich bedeuten konnte. Er bedeutete für ſie zugleich das einzige ſie belebende Geiſteselement inmitten ihrer konventionellen Familienkreiſe, — er hatte mit ihrer Liebe, ihren Sinnen zugleich auch ihre geiſtigen Bedürfniſſe geweckt und angeregt, ihre geiſtige Sehnſucht auf ihn und ſeine Entwickelung bezogen. Das machte ſeiner Meinung nach einen gewaltigen Unterſchied! Wenn ein Mann mitunter eine Frau weniger tief und abſolut liebt, als ſie ihn, ſo mochte es nicht zum wenigſten damit zuſammenhängen, daß ſie für ſein ge⸗ ſamtes Geiſtesdaſein meiſtens eine geringere Bedeutſam⸗ keit beſeſſen hat, als er für ſie. Er erholt ſich mehr bei ihr, als daß er ihrer außerhalb der Liebe bedarf. — — — So erholte Fenia ſich vielleicht von ihren eignen geiſtigen Kämpfen und Anſtrengungen bei dem Mann ihrer Liebe. Nach Jahren konzentrierteſter Studien, asketiſchen Lebens eine unbewußt vollzogene, ganz naiv hingenom⸗ mene Reaktion —. Erſt der Heiratsantrag rührte ihre friedlich ruhenden Gedanken darüber plötzlich auf, ließ ſie erwachen, — ſich klar werden. Dem andern mußte die Vorſtellung, daß ſie ihn nicht genügend liebe, um ihr ganzes Leben an ihn zu binden, natürlich völlig fern liegen. Man nimmt ja wohl von minderwertigen Frauen an, daß ihre Neigung eventuell der Tiefe und Treue entbehren werde, — hoch⸗ ſtehenden Frauen gegenüber erſcheint es als ein Sakri⸗ 86 legium. Und doch, fragte ſich Mar Werner, können dafür denn nicht dieſelben Gründe maßgebend ſein, die den Mann ſo leicht dazu verführen, ſeiner Liebe nur einen Teil ſeines Innern zu öffnen, ihr Grenzen zu ziehen, ſie neben, und nicht über ſeine ſonſtigen Lebens⸗ intereſſen zu ſetzen? Die Frau, die ihr Leben ganz ſo einrichtet und in die Hand nimmt wie der Mann, wird natürlich auch in ganz ähnliche Lagen, Konflikte und Ver⸗ ſuchungen kommen wie er, und nur, infolge ihrer langen anders gearteten Frauenvergangenheit, viel ſchwerer daran leiden. Am Nachmittag traf er den alten Baron Ravenius auf der Straße und erfuhr von ihm, daß Fenia krank ſei, — wenigſtens habe ſie Hausarreſt. „Wahrſcheinlich hat ſie ſich in ihrem Eifer über⸗ arbeitet!“ fügte der Baron bekümmert und kopfſchüttelnd hinzu. Mar ging ſofort zu ihr. Noch während er die Treppe hinaufſtieg, öffnete ſchon die Wirtin im Kattun⸗ morgenrock die Thür zum erſten Stockwerk und blickte mit einem widerwärtigen Ausdruck ſpähender Neugier heraus, wer da komme. Als ſie ihn erkannte, verän⸗ derte ſich ihre Miene, ſie war etwas enttäuſcht und wurde zugleich wohlwollender. Er gab ihr ſeine Karte und ließ fragen, ob Fenia ihn empfangen könne. Der Beſcheid kam ſofort zurück, er möge nur eintreten. Fenias Zimmer war künſtlich verdunkelt. Die Vor⸗ hänge vor dem Fenſter waren niedergelaſſen, und ſie ſelbſt lag, in einem Schlafrock von feinem weichem Stoff, auf 87 ihrer Ottomane ausgeſtreckt, das Haar in zwei hängen⸗ den Flechten und die Hände hoch über dem Kopf ver⸗ ſchränkt. Eintreten und kam zu ihr. „Was, Fenitſchka, — du biſt krank?“ fragte er beim Sie ſchüttelte den Kopf. Menſchen ſehen, ausgehn, ausfahren, iſt mir jetzt un⸗ „Bin nicht krank. Möchte nur dafür gelten. leidlich, — nein, unmöglich. Ich danke dir aber, daß du da biſt.“ ſo aus. Selbſt in dieſer künſtlichen Dämmerung ſah ſie Möglich, daß ſie nicht krank war, aber ſie ſah ganz blaß und erſchöpft aus, und unter ihren Augen zogen ſich tiefe Schatten. „Fenitſchka,“ bemerkte er, indem er einen Stuhl zu ihr heranzog, „mir öffnete vorhin deine Wirtin die Thür, — widerwärtig ſchaute das Frauen⸗ zimmer heraus, — wie das ſchönſte Exemplar von einem Spion. Iſt es dir nicht aufgefallen?“ „Ja, ſie iſt jetzt ganz beſonders neugierig und miß⸗ trauiſch geworden. Sie achtet darauf, wer zu mir kommt. — — Wenn jetzt ein Klatſch entſteht, ſo entſteht er von hier aus. Ich habe ſelbſt ſchuld dran. „Aber dann darfſt du hier doch nicht bleiben! Den Hals umdrehen werd ich der Kanaille! Seit wann iſt es denn?“ „Ich war unvorſichtig. — — „Er' iſt einigemal hier geweſen,“ entgegnete Fenia apathiſch. „Das hätteſt du ſchon lieber vermeiden ſollen, ſagte er beſorgt, „warum auch grade hier? Sie zuckte die Achſeln. 88 „Uns auswärts zu treffen, iſt uns ja auch ſchlecht bekommen. — — Ach, laß doch! Es liegt ſo gar nichts dran,“ fügte ſie freundlich hinzu. Ihre Stimme fiel ihm auf. So ſanft und lieb klang ſie, daß ſie Rührung in ihm weckte. Aber ein ſo matter Ton klang darin mit, — — und weckte auch Sorge, wie man ſie etwa am Krankenbett von leb⸗ haften Kindern fühlt, wenn ſie plötzlich gar zu artig und gut werden. — Sie ſchwiegen eine Zeitlang. Endlich ſagte er: „Ich war geſtern nicht bei dir, weil ich nicht wußte. ob du mich ſehen wollteſt. Aber gedacht hab ich an dich Sie unterbrach ihn mit einem Lächeln: „Ich auch an dich. Und an die erſte Zeit unſrer Bekanntſchaft — weißt du? Denk' nur — mir hat ſogar in der Nacht davon geträumt. „Von Paris? Sie richtete ſich etwas auf, ſtützte ſich mit der einen Hand auf das Polſter der Ottomane und ſah ihn an. Das Stirnhaar hing ihr ein wenig wirr ins Geſicht. „Verſtehſt du dich auf Traumdeutung? — — ach, übrigens Unſinn, — aber ich will dir erzählen. — — Es war in Paris, ja. In dem Nachtcafé, weißt du? Ihr ſaßet alle da am Tiſch, — ganz wie damals. — — Und ich war auch da. Aber ich war nicht bei euch am Tiſch. „Sondern?“ 89 Sie legte ſich wieder zurück, und ſchloß die Augen. Griſetten.“ „Sondern irgendwo da. — — Irgendwo unter den ganz dummer Traum. „Ich verſtehe nicht recht, Fenia. Das iſt ja ein woher ſollten Träume eigentlich auch klug ſein? Ich „Nicht ſo dumm, wie du meinſt — —. Aber glaube, unſre klugen Gedanken wirken nur wenig mit am Traumgewebe. — — Nein, alle die klugen Gedanken, die wir uns ſo allmählich erwerben, alle die aufgeklärten und vernünftigen Anſichten, die träumen wir wohl nur wenig. — — Im Traum taxrieren wir uns anders, — uns und die Dinge, — verworren und wirr vielleicht, aber doch ſo ganz naiv.“ Du taxierteſt dich im Traum —? Nun, und?“ „Aber was redeſt du nur eigentlich, Fenia? — — „Nun, und da fand ich offenbar, daß ich mitten unter die Griſetten gehörte.“ Er ſprang unwillkürlich auf. Ein kurzer Laut des Unwillens entſchlüpfte ihm. Er wollte gegen ſie aufbrauſen, gegen dieſe Selbſt⸗ erniedrigung, die ihn empörte und für ſie beleidigte, aber er beſann ſich. „Du biſt krank,“ ſagte er, „du biſt es wirklich, wie könnteſt du ſonſt ſo ganz den Kopf verloren haben. — Fenia, ich erkenne dich gar nicht wieder. Wußteſt du denn nicht, was du thateſt? — „Nein, genau gewußt hab ich es erſt im Augen⸗ blick, als ich mich binden ſollte. Bis dahin verwechſelte ich es wohl — mit einer vollen, ganzen Liebe. 90 „Ich glaube, du verwechſelſt es jetzt — mit etwas zu Geringwertigem. — Denn über die Wirkung wenig⸗ ſtens war doch keine Täuſchung möglich, — über alles, was dich ſo ſchön und ſelig erſcheinen ließ. Ich ſah es doch ſelbſt, Fenia. Und du ſelbſt, ſagteſt du nicht ſo wunderſchön: es gäbe dir Frieden? Sie verſchränkte die Arme wieder über dem Kopf, und ſchaute mit einem ſonderbar ſtillen Ausdruck gegen die Decke. „Frieden!“ wiederholte ſie. — „Sieh, er wußte wohl, daß von der Liebe keineswegs Frieden zu erwarten iſt, — nein, durchaus kein Frieden. — Wie viel Schwanken und Quälen, wie viel Seelenarbeit und Seelenwandlung mag's geben, ehe ein Menſch ſich ſo tief in den andern hineinpflanzt, — ja, ſo tief, daß die beiden nun wirklich aus einer Wurzel weiter wachſen müſſen, wenn ſie ge⸗ deihen wollen. — — So war's bei ihm, — und als es nun ſo weit war nach allem Kämpfen, — da wurd es ihm aber auch ſo klar und einfach, — ſo ganz klar, daß wir eins ſind und einander die einzige Hauptſache im Leben. — — Mit ſo guten, leuchtenden Augen ſpricht er davon. — — Wie willſt du's da wohl ändern, daß ich mich — daß ich mich ſchäme. Die letzten Worte ſtieß ſie undeutlich heraus, und ſprang von der Ottomane auf. „— Frieden —? Ja, es war ſo etwas, — ein ſo träge ſeliges Ruhen war es. — Aber ſeitdem ich er⸗ wacht bin, — ſeitdem ich ſo klar weiß, was es iſt, und erkenne — — nein! ich kann's nicht ertragen!“ ſagte ſie plotzlich wild, „— mich ſelbſt kann ich nicht 91 ertragen in dieſem Zuſtand von —; fort muß ich, das iſt es! Das Schwerſte, das Notwendigſte - „Fort von ihm?“ fragte er beſtürzt, „haſt du daran gedacht?“ „Es ergiebt ſich von ſelbſt, wenn wir uns nicht offiziell binden wollen. So wie die Lage ſich zugeſpitzt hat. Heimlich können wir uns nicht mehr ſehen. Da⸗ durch iſt er zuerſt auf den Entſchluß verfallen, um jeden Preis die Heirat zu ermöglichen. „Und er weiß, — weiß er, daß du fort willſt von ihm —? Sie ſah ihn verſtändnislos an. Ihre Augen brannten wie die einer Geſtörten. „Nein. Wiſſen darf er's nicht. — — Wie käm ich ſonſt fort —? Das begreif ich jetzt. Aber doch wollt ich's ihm ſagen, — ich rief ihn dazu her.“ „Und was ſagteſt du ihm?“ „Was ich ihm geſagt habe?! Ich wollte ihm ſagen, ihn bitten: geh fort von mir, — geh auf im⸗ mer von mir fort! Aber ich bat ihn nur: bleib bei mir! bleib bei mir!“ Und ſie warf ſich in ausbrechendem Schluchzen über die Ottomane und vergrub ihr Geſicht in den Polſtern. Max blieb daneben ſtehn, minutenlang, ſchweigend. Er verſuchte dann, ihr gut zuzureden, aber ſie wehrte nur mit der Hand ab, und hörte nicht auf zu weinen. End⸗ lich murmelte ſie: „Laß mich allein, — bitte, laß mich ganz allein!“ Da verließ er leiſe das Zimmer und ging, aufs äußerſte beſorgt und beunruhigt, nach Haus. Den ganzen 92 Abend kam ihm Fenia nicht aus dem Sinn, — dieſe ganz neue Fenia, die er gar nicht erkannte. Kein Menſch konnte ihr jetzt helfen, und doch ſchien es ihm ganz unmöglich, ſie in ihrer Seelenverfaſſung ſich ſelbſt zu überlaſſen. Der nächſte Tag war ein Sonntag. Am Morgen ſprach er ſchon gegen zehn Uhr wieder vor. Er fragte die Wirtin, ob Fenia zu ſehen ſei, und erhielt darauf in ihrem ſchlechten Franzöſiſch die kriechend⸗freundliche Ant⸗ wort: „ja, ſie ſei ſicher zu ſehen, denn ſie erwarte ohne⸗ hin Beſuch. In dieſem Augenblick ſtieß Fenia die Thür ihres Zimmers zur Treppe ſelbſt auf. Als ſie ihn erblickte, ſtand ſie wie verſteinert. Sie war im Straßenkleide, blaß, ernſt, faſt kalt im Ausdruck, — völlig anders als geſtern. „Das iſt ein großes Unglück!“ ſagte ſie, als die Wirtin in ihrer Wohnung verſchwunden war, und ließ ihn zaudernd auf der Schwelle ſtehn, „— ein wahres Unglück iſt es, daß du gekommen biſt. „Mein Gott, Fenitſchka! ich will dich doch nicht ſtören! ich komme ein andermal. Ich geh alſo wieder. „Nein, nein! es iſt unmöglich, daß du fortgehſt, verſetzte ſie, und faßte ihn beim Aermel, als er ſich wen⸗ den wollte, „— verſteh doch! Er kommt gleich, — er muß gleich eintreten — „Nun, und?“ „Nun, ich kann ihn nicht empfangen, wenn ich dich. vor den Augen der Wirtin, nicht empfangen konnte. Er wollte etwas erwidern, da ging unten eine Thür, jemand ſtieg die erſten Stufen hinauf. Fenia zog ihn an der Hand in ihr Wohnzimmer. 93 Ueber ihr Geſicht flog etwas Aufblitzendes, das er nicht verſtand, — irgend ein Gedanke kam wie eine Erleuch⸗ tung über ſie. grenzenloſen Erſtaunen die kleine Thür zu ihrem Schlaf⸗ „Geh hier hinein!“ ſagte ſie, und öffnete zu ſeinem ſtübchen. „— Hier hinein —?!“ Sie blickte ihn mit tiefernſten, glänzenden Augen an. „Biſt du mein Freund?“ „Das weißt du, Fenia.“ leiſteſt du mir vielleicht in dieſem Augenblick den einzigen „Dann habe Dank, daß du gekommen biſt. Dann Dienſt, den ein lieber, — nur ein lieber, naher Freund mir leiſten kann. Bleib dort in der kleinen Stube, bis — bis er wieder fortgegangen iſt. Du darfſt alles hören, — es iſt nichts, was nicht ein dritter hören dürfte. — — Aber wenn du hier wieder durchgehſt, — beachte mich nicht.“ Er ſtarrte ſie an —. Etwas ſo Entſchloſſnes ſprach heute aus ihrem Weſen — —; ſie kam ihm vor wie der Fuchs, der ſich die eingeklemmte Pfote ſelbſt abreißt, um ſich zu befreien. Hatte ſie plötzlich erkannt, daß ſeine Anweſenheit ihr helfen könnte, — etwa dazu helfen, „nur zu ſprechen, was ein dritter hören durfte,“ um nicht wieder in die Worte auszubrechen: „bleib bei mir, bleib bei mir“ — —? Es blieb nicht viel Zeit zum Sichbedenken. Kaum hatte Mar die kleine Schlafſtube betreten, und war die Thür hinter ihm zugefallen, als es ſchon an der Vorder⸗ thür klopfte. 94 Er ſah ſich in dem ſchmalen Raum, den das Bett faſt ganz einnahm, flüchtig um, und lehnte ſich ans Fenſter. Dort ſtand zwiſchen rot und blau geſtickten grauleinenen ruſſiſchen Vorhängen ein Roſenſtock mit einer einzigen, eben aufbrechenden Knoſpe. In der Wandecke daneben brannte das ewige Lämpchen vor dem üblichen Mutter⸗ gottesbild. Mar Werner fühlte ein heftiges Unbehagen. Welch eine ſeltſame Rolle ſpielte er doch da in Fenias Leben! Man vernahm nur undeutlich, was nebenan ge⸗ ſprochen wurde, überdies redeten ſie ruſſiſch miteinander. Trotzdem antwortete Fenia unwillkürlich mit halber Stimme. Daneben hörte man ein volles, weiches Organ, — „ſeine“ Stimme. Er ſprach und lachte, wie man im Glück lacht und ſpricht. Nach kurzer Zeit wurde irgend etwas auf dem Gang draußen laut. Es begann jemand vor Fenias Thür ſo eigentümlich zu ſchlürfen und herumzutreten. Vielleicht war es die Wirtin in ihrer abſcheulichen ſpionierenden Neugier, — vielleicht auch nur ein Fremder. Jedenfalls fingen ſie drinnen plötzlich an deutſch zu ſprechen. Aber nun ließ Fenia ihre Stimme noch mehr ſinken. „Warum ſprichſt du nur ſo leiſe heute?“ fragte „er“ ſie erſtaunt, „— deutſch verſteht ja hier keine Seele. — Und weißt du wohl, grade daß du ſo rückſichts⸗ los laut geſprochen haſt, — manchmal, bei Gelegenheiten, wo es gefährlich war, — das liebte ich ſo an dir. Du wollteſt nicht unvorſichtig ſein, — aber du vergaßeſt es 95 immer wieder, — deine Stimme wußte von nichts Heim⸗ lichem, — ſie klang ſo kindlich und hell. — — Deine helle Stimme! Immer hör ich ſie, wenn ich allein bin. Deine Stimme — das biſt du. Nach einer Weile ſagte er: ich nur gewiß bin, — ganz gewiß, daß du in wenigen „Nein, ich will nicht lange bleiben. Nicht, wenn Tagen zurückkehrſt. Iſt das ganz gewiß?“ „Glaubſt du mir nicht?“ fragte Fenia. und lächerlich, hier zu ſtehn und das anhören zu müſſen. Max Werner wollte nicht zuhören. Es war albern Er lehnte ſich gegen das Fenſter und blickte hinaus. Die Straße lag in ſonntäglicher Vormittagsruhe da. Von ungezählten Kirchen begannen langſam, eine nach der andern, die Glocken zu läuten. Die verſchiedenen Got⸗ tesdienſte gingen zu Ende. Es ſchien, daß drinnen Abſchied genommen wurde. „Er“ ſagte, mit anderm Ton als bisher, ſchwer, gepreßt: „Ja, nur wenige Tage. — Aber ich weiß nicht, wie mir iſt. — — Könnteſt du jemals vergeſſen, was wir uns ſind, Fenia? In dieſem Augenblick erſt erinnerte Fenia ſich nicht länger jemandes Anweſenheit. Es war, als ſtürze ſie in die Kniee, oder an ſeine Bruſt, — in dieſem Augen⸗ blick war ſie nur mit ihm allein. — „Niemals! niemals!“ ſagte ſie weinend, außer ſich, „niemals kann ich es vergeſſen, daß ich dein bin. Und mit einem Ausdruck, der Mar durch alle Nerven ging, fügte ſie hinzu: 96 „Ich danke dir! ich danke dir! — — Ein Stuhl wurde fortgeſchoben. Man vernahm nichts mehr. Nichts als das Geläute der Glocken, das lauter und lauter anſchwoll und mit ſeinen feier⸗ lichen Klängen wie ein Lobgeſang das ganze kleine Zimmer erfüllte, — — und alle Glocken ſangen und klangen: „Ich danke dir! ich danke dir!“ Sie hatte ſich in dieſer Stunde für immer von ihm getrennt, — getrennt aus einem unerträglichen Zwie⸗ ſpalt heraus, in den ſie mit ſich ſelber geraten war, aber ſie dankte ihm, — ſie riß ſich los, um entſchloſſen in eine ganz andre Exiſtenz zurückzukehren, aber ſie dankte ihm, — und wenn ſie an ihn zurückdachte, vielleicht noch in ihren ſpäteſten Tagen, würde ſie denken wie heute, über allen Zwieſpalt hinaus: „Ich danke dir! ich danke dir!“ Als es nebenan längſt ſtill geworden war, und Max die Thür öffnete und eintrat, ſtand Fenia am Fenſter. Sie wendete ihm den Rücken zu. Mit den Händen hatte ſie in die Vorhänge hineingefaßt und ihr Geſicht darin verborgen. Er ſah nur die gebeugte Rücken⸗ linie, und es durchfuhr ihn das Gefühl, als hätte er dies alles ſchon einmal erlebt —. Aber er hatte nur in ſeiner Phantaſie Fenia ſchon einmal trauernd und gebeugt geſehen. — Lou Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 97 7 Stumm ſchritt er durch das Wohnzimmer, und ging hinweg, wie ſie es gewünſcht hatte, ohne ſie zu beachten oder anzureden. Zwei Tage ſpäter reiſte er aus Rußland fort, ohne Fenitſchka wiedergeſehen zu haben. Sie wollte es ſo. 98 Eine Ausſchweifung Hier in meinem lichten Atelier iſt es endlich zur Ausſprache zwiſchen uns gekommen, und nirgends anders durfte es auch ſein, — denn von ſämtlichen Männern, die ich gekannt, gehörſt du am engſten und intimſten in alles das hinein, was mich als Künſtlerin angeht: mehr vielleicht noch, wie wenn du ſelbſt ausübender Künſtler wärſt. Wenigſtens kommt es mir immer vor, als übte ich mit Kunſtmitteln das ein wenig aus, was du mit dem ganzen Leben lebſt, in deiner reichen Art, die Dinge voll und ganz zu nehmen und ihnen zu lebendiger Schönheit zu verhelfen. Für ſolch ein volles, ganzes Ding nahmſt du auch mich, und liebteſt darum mich vor allen andern, — ich weiß es wohl. In meinen Bildern und Skizzen, denen niemand ſo fein nachgegangen iſt wie du, ſchien dir mein ganzes Ich enthalten zu ſein, und dahinter — ach dahinter lag nur eine alte Jugendſchwärmerei, die kaum von der Wirklichkeit berührt worden iſt. Du haſt darin ja auch recht. Und doch — und doch —? Warum trennten wir uns dann bis auf weiteres, warum gehſt du jetzt umher mit zögernder, halb ſchon verſagen⸗ der Hoffnung auf unſre Zukunft, — und ich, anſtatt in fröhlicher Arbeit vor meiner Staffelei zu ſtehn, warum ſitze ich hier am Tiſch gebückt, tief gebückt, und ſchreibe und ſchreibe, in allen Nerven gebannt vom Rückblick in meine Vergangenheit? Oder warum dann dein Argwohn, und mein Eingeſtändnis, daß ich nicht mehr kann, was ich ſo heiß möchte, — nicht mehr mit voller Kraft und Hingebung lieben kann, grade als ob ich ein ausgegebener, erſchöpfter Menſch wäre? Handelte es ſich um Ueberwindung von Vorurteilen, um zu vergebenden Leichtſinn und Fehl im üblichen Sinn, — o handelte es ſich doch darum! Du, ſo ohne Be⸗ denklichkeiten zweiten Ranges, du, der jegliches verſteht und mitfühlt, würdeſt mir dadurch nicht verloren gehn. Aber das iſt es nicht, und dennoch iſt es ſo: mich hat eine lange Ausſchweifung zu ernſter und voller Liebe un⸗ fähig gemacht. Jetzt, wo ich mir das klar zu machen verſuche, kommt der Gedanke voll Erſtaunen über mich: wie viel weniger unſer Leben von dem abhängt, was wir bewußt erfahren und treiben, als von heimlichen, unkontrollierbaren Ner⸗ veneindrücken, die mit unſrer individuellen Entwickelung ſchlechterdings nichts zu ſchaffen haben. Seit ich über⸗ haupt denken kann, ſeit ich von eignen Wünſchen und Hoffnungen bewegt werde, bin ich der Kunſt entgegen⸗ gegangen, habe ich mich an ihr entzückt, oder um ſie ge⸗ litten, und lange noch ehe ich mich ihr wirklich wid⸗ men durfte, in irgend einem Sinne ſchon im Umkreis der ihr verwandten Senſationen gelebt. Und trotzdem würde jetzt, wollte ich dir mein Leben erzählen, von der Kunſt kaum die Rede ſein, und kaum würde ſie ärmlichſten Raum finden, rieſengroß aber müßte in den Vordergrund treten, was doch in meinem individuellen Bewußtſein 102 kaum exiſtiert, und was mir ſelbſt immer ſchattenhaft undeutlich geblieben iſt. An einem heißen Sommertag, weit hinten an der deutſch⸗galiziſchen Grenze, wo mein Vater damals in Gar⸗ niſon ſtand, ſaß ich einſt als ganz kleines Mädchen auf dem Arm meiner frühern Amme und ſah zu, wie ſie von ihrem Mann über den Nacken geſchlagen wurde, während ihre Augen in verliebter Demut an ihm hingen. Der kraftvolle gebräunte Nacken, den ſie der Hitze wegen offen trug, behielt einen tiefroten Striemen, doch als ich im Schrecken darüber zu weinen anfing, da lachte meine galiziſche Amme mir ſo glückſelig ins Geſicht, daß mein Kinderherz meinen mußte, dieſer brutale Schlag gehöre zweifellos zu den beſondern Annehmlichkeiten ihres Lebens. Und vielleicht war es in der That ein wenig der Fall, denn weil ſie ſich, mit der faſt hündiſchen Anhäng⸗ lichkeit mancher ſlaviſchen Weiber, geweigert hatte, unſer Haus zu verlaſſen, nachdem ſie mich neun Monate lang mit ihrer Muttermilch genährt, fürchtete ſie nun immer, ihr Mann möchte einmal aufhören zu ihr zu kommen und weder Liebe noch Zorn für ſie übrig behalten. Jeden⸗ falls prügelte er ſie oft, wenn er kam, und niemals tönten ihr die Volkslieder heller von den Lippen, als nach ſolch einem feſtlichen Wiederſehen. Viele früheſte Kindheitserinnerungen vorher und nach⸗ her, — ja ſelbſt noch jahrelang nachher, — ſind mir ſpur⸗ los verblichen. Aber etwas von der faſt wolluſtweichen Demut im Ausdruck der Blicke und Gebärden meiner Amme in jenem Augenblick iſt mir ſpäter oft noch im Gedächtnis wieder aufgetaucht, immer zugleich mit dem 103 glückſeligen Klang ihres gedämpften Lachens und mit dem Eindruck der brütenden Sonnenwärme um uns. Wer will abwägen, wie unendlich zufällig, wie rein äußerlich bedingt es vielleicht iſt, wenn mir bei dieſer Erinnerung zum erſtenmal ein wunderlicher Schauer über den Rücken gelaufen ſein mag? Sind es aber nicht tauſendfach Zu⸗ fälle, die unſer verborgenſtes Leben mit heimlicher Gewalt⸗ thätigkeit durch das prägen, was ſie früh, ganz früh, durch unſre Nerven und durch unſre Träume hindurchzittern laſſen? Oder liegt es vielleicht noch weiter zurück, und zwitſchert uns, ſchon während wir noch in der Wiege ſchlummern, ein Vögelchen in unſern Schlaf hinein, was wir werden müſſen, und woran wir leiden ſollen? Ich weiß es nicht, — vielleicht iſt es auch weder eines Zufalls noch eines Wundervögelchens Stimme, die es uns zuraunt, ſondern längſt vergangener Jahrhunderte Gewohnheiten, längſt verſtorbener Frauen Sklavenſelig⸗ keiten raunen und flüſtern dabei in uns ſelber nach: in einer Sprache, die nicht mehr die unſre iſt, und die wir nur in einem Traum, einem Schauer, einem Nerven⸗ zittern noch verſtehn —. Meine Eltern ſah ich immer nur in wahrhaft muſter⸗ hafter Ehe, — in einer jener Ehen, die gewiß ſelten genug vorkommen, wo das heranwachſende Kind in ſeiner intimen Umgebung faſt nichts wahrnimmt, als wohl⸗ thuende Harmonie ohne Erregungen. Mit dieſer Har⸗ monie verhielt es ſich aber ſo: mein liebes Mütterchen that alles, was mein Vater wollte, er aber alles, was ich wollte. Seiner urſprünglichen Abſtammung nach vielleicht wendiſchen Blutes, war er von beiden der Tem⸗ 104 peramentvollere, Glänzendere, voll von künſtleriſchen, wenn auch vernachläſſigten Anlagen und der unſinnigſten Zärt⸗ lichkeit für das einzige Kind, das auffallend ſeiner eignen Familie mit ihrem dunkeln Ton und ihrer faſt ſüdlichen Bläſſe nachſchlug. Er gab mir mit Enthuſiasmus den erſten Zeichenunterricht und dispenſierte mich von allen bürger⸗ lichen Kleinmädchenbeſchäftigungen. Meine gute Mutter ſchüttelte wohl manchmal über uns beide den Kopf, doch da ich an Heftigkeit des Temperaments und der Wünſche dem Vater am meiſten glich, ſo liebte ſie mich am hingebendſten grade in dem, worin ich ihr am frem⸗ deſten war, und hieß alles gut. Ich aber ging inzwiſchen umher und diente glückſelig jedem leiſeſten Wink dieſer Eltern, deren Liebe in mir zuſammenlief, und alles nach ihrem Willen aus mir hätte formen können wie aus er⸗ wärmtem Wachs, das dem zarteſten Druck nachgiebt. In meinem ſiebzehnten Jahre wurden wir von der galiziſchen Grenze nach Brieg in Schleſien verſetzt, und bezogen dort die ſchöne Obriſtenwohnung im Villenviertel unten am Fluß. Von Brieg aus ſollte ich noch weiter fort, ich ſollte nun endlich unter der Leitung eines tüch⸗ tigen Lehrers der erſehnten Kunſt zugeführt werden. Von dieſem Plan träumten mein Vater und ich auf das ernſt⸗ lichſte, doch kam es ganz anders, weil er zu kränkeln anfing, ſo daß keine Rede davon ſein konnte, ihn zu ver⸗ laſſen. Ich aber, — ich verliebte mich über Hals und Kopf in meinen Vetter Benno Frensdorff. Von Benno hatte ich ſeit meiner Kindheit viel im Hauſe ſprechen hören, und immer im Tone außergewöhn⸗ licher Achtung. Er war, früh verwaiſt, mit Hilfe meiner 105 Eltern erzogen worden, und fiel ſchon als Knabe durch den unheimlichen Fleiß auf, womit er, immer um be⸗ zahlte Nachhilfeſtunden bemüht, das Gymnaſium abſol⸗ vierte. Dann ſtudierte er Medizin, und befand ſich jetzt als Hilfsarzt in der Kreisirrenanſtalt von Brieg, wo ich ihn zum erſtenmal kennen lernte. Die vorzüglichen Eigenſchaften, die man an ihm rühmte, hatten mir nur einen ganz vagen Eindruck ge⸗ macht. Aber eine andre ſeiner Eigenſchaften that es mir augenblicklich an: Benno war ſchön. Schöne Menſchen ſind immer mein ganzes Entzücken geweſen, und wenn auch mein künſtleriſcher Geſchmack heute etwas andres darunter verſteht als damals, ſo muß ich doch Benno auch heute noch zugeben, daß er in ſeiner jungen Männlich⸗ keit, mit dem ernſten blonden Kopf und dem hohen Jüng⸗ lingswuchs, wie man ihn nicht oft findet, ganz auffallend gut ausſah. Wenigſtens ſtach er genugſam von den ge⸗ ſchniegelten Referendaren und Lieutenants ab, die auf der Eisbahn und in den Kaffeekränzchen uns jungen Mäd⸗ chen den Hof machten, und es gab ihm ſchon etwas Apartes, daß er durchaus keine Zeit fand, mit uns Schlittſchuh zu laufen und Kaffeekränzchen zu beſuchen, ſondern ſchweigſam beiſeite ſtand und durch ſeine Brillen⸗ gläſer jeden daraufhin zu beobachten ſchien, ob er nicht auch in ſein Narrenhaus gehöre. An Benno bin ich in einem erotiſchen und äſthe⸗ tiſchen Rauſch zum Weibe erwacht; meine Neigung zu ihm war ſo zutraulich und leidenſchaftlich zugleich, daß in mir, die ja auch nur Liebe gekannt hatte, nie der ge⸗ ringſte Zweifel an ſeiner Gegenneigung entſtand, obgleich 106 Benno mich nicht ſtark beachtete. Er hat mir ſpäter geſagt, eine Werbung um mich ſei ihm bei ſeinen geringen Zukunftsausſichten und bei ſeiner ſcheuen Dank⸗ barkeit gegen meine Eltern ſtets ganz toll und undenk⸗ bar erſchienen. So kam es denn, daß im Grunde ich um ihn warb; mit berauſchter Zuverſichtlichkeit ging ich ihm entgegen, näher, immer näher, und in kurzem war ich ſeine Braut. Sich ſo zu verlieben, hätte wohl auch einer andern paſſieren können, ſelbſt mit anderm Temperament als meines. Daß dieſe Liebe erwidert wurde und zur Ver⸗ lobung führte, iſt ein unglücklicher Zufall; hätten wir uns nun raſch heiraten können, ſo wäre wohl für mich die Enttäuſchung auf dem Fuße gefolgt, oder aber es würde die Mutterſchaft mich vielleicht in meinem ganzen Weſen ſtark verwandelt haben. Von alledem trat nichts ein, wir konnten noch nicht bald heiraten, und unter den gefährlichen Liebkoſungen des Brautſtandes ſteigerte ſich mein junger Liebesrauſch zu einer Sehnſucht und Gemütsſpannung, die das ganze übrige Leben förm⸗ lich entfärbte. Um dieſe Zeit ſtarb mein Vater, indem er mit tiefem Vertrauen meiner Mutter und mir Benno zum Hüter und Berater beſtellte. Monate voll ſchwerer Trauer folgten; meine Mutter und ich, die beiden unſelbſtändigen, verwöhnten Frauen, warfen alle unſre Hoffnung auf Benno allein. Zunächſt wurde die Wohnung im Villenviertel ge⸗ räumt und ein Haus bezogen, das neben der Irren⸗ anſtalt ſtand, wo Benno ſein Dienſtzimmer hatte. Es 107 war ein altmodiſch gebautes Haus, in deſſen Erdgeſchoß außer uns einer der angeſtellten Aerzte wohnte, über uns aber der Rendant der Irrenanſtalt mit ſeiner Frau und zwei Töchtern. Als wir dorthin umzogen, kam es mir vor wie eine Ueberſiedelung nach einem ganz frem⸗ den Ort, obwohl dieſes Brieger Viertel gar nicht weit vom älteſten Mittelpunkt der Stadt, vom Rathaus und von den Gartenanlagen auf dem ehemaligen Wallgraben, entfernt iſt, und ich oft genug den mächtigſten Gebäude⸗ kompler, den Brieg beſitzt, zum Himmel hatte aufragen ſehen: die Kreisirrenanſtalt und das Zuchthaus. Aber erſt jetzt ſah ich ſie wirklich: das erſte auf zwei Seiten von ſchönem Park umgeben, das andre von einer haus⸗ hohen Mauer umſchloſſen, die einen Kranz ſpitziger Eiſenſtacheln trug, und an deren Fuß Haufen ſchneiden⸗ der Glasſcherben lagen. Trotz dieſer Verſchiedenheit aber glichen ſie einander im düſtern Geſamteindruck, den ſie machten, beides Gefängniſſe leidender Menſchheit, von denen die ganze Straße einen eigentümlich ſchwermütigen Anſtrich erhielt. Unſre Vorderfenſter ſahen gradezu auf das hohe Mauerwerk mit den Eiſenſtacheln, durch die Seitenfenſter des Wohnzimmers aber erblickte man, über den park⸗ umſtandenen Hof des Irrenhauſes hinweg, die vergit⸗ terten Scheiben der Abteilung für Tobſüchtige. Am Abend nach unſerm Einzug, während die alten zierlichen Barockmöbel mit ihren Goldleiſten und ge⸗ ſchweiften Beinen noch ziemlich ratlos umherſtanden und nicht recht wußten, wo in dieſen langen, niedrigen Stuben unterzukommen, erfaßte mich ein Ausbruch wilder Ver⸗ 108 zweiflung. Meine arme Mutter war ſo erſchrocken, daß ſie am liebſten gleich wieder fortgezogen wäre. Sie er⸗ wog in aller Geſchwindigkeit ganz im Ernſt ſchon einen ſolchen Plan. „Denn wir müſſen ja nicht notwendig hier wohnen, — nicht wahr, Benno? wir können es ja ſchließlich auch in einer andern Straße,“ meinte ſie. Benno hatte ſich kurz nach ihr umgewandt, er ant⸗ wortete aber nichts, ſondern ging nervös im Zimmer auf und ab. Erſt als meine Mutter hinausgegangen war, um für das Abendbrot zu ſorgen, hielt er inne, kam auf mich zu und umfaßte mich raſch und heftig. „Adine!“ flüſterte er heiß an meinem Ohr, „— wenn ich nun hier, grade hier mit allen meinen Zukunfts⸗ ausſichten Fuß faſſe —? Und ich erhoffe das für uns! Wirſt du mich dann auch allein hier am Irrenhauſe wohnen laſſen?“ Ich ſah ihn zaghaft an. „— Könnte das ſein? wird es — wird's ſo ſein?“ Er nickte nur leiſe. Ich ſchwieg, und drückte mein Geſicht gegen ſeine Schulter und umſchlang feſter ſeinen Nacken. Ich war ſchon beſiegt, als er mich nur in die Arme nahm. Na⸗ türlich blieb ich auch jetzt ſchon, wo er war, natürlich wollte ich, was er wollte. Auch für die Zukunft. Aber unſer gemeinſamer Zukunftstraum, der ſich nun hier verwirklichen ſollte, und etwas wie eine unverſtandene Angſt floſſen ſeltſam ineinander über in einem ſchwachen Gruſeln, womit ich mich leidenſchaftlicher, banger an ſeine Bruſt ſchmiegte. 109 Meine Mutter trat herein, und als ſie uns ſo zu⸗ ſammenſtehen ſah, ſeufzte ſie erleichtert auf. gend, und ſah Benno an wie einen, der für alles Rat weiß. „Nun iſt wohl alles wieder gut?“ bemerkte ſie fra⸗ Benno ließ mich los und antwortete voll Heiterkeit: müßte Adine in goldenem Königspalaſt wohnen. Aber „Von Rechts wegen und meinen Wünſchen nach ſie hätte mich ja nicht lieb, bliebe ſie nicht hier.“ unausgeſetzt ein jedes Ding in meiner neuen Umgebung. Die nächſten Tage ging ich umher und beobachtete Meine tiefſte Aufmerkſamkeit erregte das Zuchthaus uns gegenüber. Bisweilen konnte man zu einer beſtimmten Morgenzeit einige Zuchthäusler ſehen, die gefeſſelt ſchräg über unſere Straße zu irgend welcher Arbeit in einen der Gefängnishöfe hinübergeführt wurden. Seitdem ich das bemerkt hatte, ſtand ich ſtundenlang mit müßig nie⸗ derhängenden Armen am Fenſter und wartete auf dieſen Anblick. Benno traf mich dabei an und ſchüttelte unzufrieden den Kopf. „Du biſt ein kleiner Faulpelz geworden, Adine, ſagte er, „ich kann nicht begreifen, was dir dran liegt, die Burſchen anzuſehen. „Ach, ſieh nur hin,“ verſetzte ich gequält, „ſieh nur, wie ſie vorübergehn, ohne jemals den Blick zu heben. Ich habe verſucht, ſie zu grüßen. Wir würden ſie doch ſo herzlich gern grüßen, nicht wahr? Aber ſie ſehen es gar nicht, ſie wollen es vielleicht gar nicht ſehen, — — vielleicht haſſen ſie uns im ſtillen? — — und leben doch ſo dicht bei uns, — ſo dicht, — bis ſie ſterben. 110 „Du mußt eine vernünftige Beſchäftigung haben. antwortete Benno darauf, „du wirſt doch keine krank⸗ hafte und ſentimentale Pflanze werden, Adine? Das kommt nur vom Müßiggang. Er hatte mehr recht, als er wußte: Jahre nachher iſt ein Sträflingskopf mein erſter künſtleriſcher Erfolg geweſen. Die Möglichkeit, mich künſtleriſch in ſtrenger Arbeit zu entwickeln, und mich auf dieſem mir einzig natürlichen Wege von allen neuen Eindrücken zu ent⸗ laſten, würde mich bald wieder froh gemacht haben. Aber die Beſchäftigung, die Benno für mich im Sinne hatte, führte mich in die Küche und an die Näh⸗ maſchine. Meiner Mutter leuchtete das vollkommen ein, es war ja auch die nächſtliegende Vorbereitung für mein zukünftiges Leben. Am Kochherd und bei der Nähmaſchine befreundete ich mich mit der älteſten Tochter des Irrenhausrendanten, der über uns wohnte, mit Gabriele, einem lang auf⸗ geſchoſſenen, rothaarigen, ſommerſproſſigen Backfiſch. Sie hatte unendlich viel im Hausſtand und für die kleine Schweſter zu thun; obgleich ſie aber zwei Jahre jünger war als ich, erledigte ſie alles immer außerordentlich raſch und gut. Deswegen bewunderte ich Gabriele, wäh⸗ rend ſie mich, trotz einer gewiſſen Liebe, etwas verachtete. Eines Abends, als wir bei einer Näherei in meiner Stube ſaßen, ſprach ſie es ganz offenherzig aus. „Es iſt albern, daß du dich ſo mühſt, da du ja viel lieber malen und zeichnen möchteſt,“ ſagte ſie, „ich will dir nur ſagen, daß mir dieſe Arbeiten ganz ebenſo ver⸗ haßt ſind wie dir. 111 „Dir?! Aber Gabriele, dann machſt du es ja grade wie ich!“ bemerkte ich voll Sympathie mit dem uner⸗ warteten Leidensgefährten. Sie ſchüttelte den Kopf. zum Oberlehrerinnenexamen lernen darf — in Berlin,“ „Ich thu's für ein Verſprechen: daß ich dann ſpäter verſetzte ſie, und konnte ein Lächeln der Genugthuung nicht zurückhalten. „Manchmal lerne ich jetzt ſchon heim⸗ lich des Nachts dafür vor — oder in Freiſtunden. Siehſt du, das hat einen Sinn! Aber du — du willſt ja nur heiraten.“ „Bin ja verlobt, Gabriele,“ ſagte ich leiſe und ſelig. geringſchätzig, und betrachtete ihre langen rötlichen Hände, „Man ſoll nicht verlobt ſein,“ meinte Gabriele „— ein Mann, huh! ich könnte davonlaufen. Warum du nur alles thuſt, was er will?“ entgegnete ich unruhig, und fühlte plötzlich deutlich, daß „Ich möchte gern ganz ſo werden, wie er will,“ ich gar nicht ſo war, wie er wollte, und daß Gabriele mir gewaltig imponierte. Sie that ja nur zum Schein Frondienſte, in Wirklichkeit hatte ſie ihr eignes Ziel dabei. Gabriele bemerkte halblaut und dringend: „Mal du doch auch heimlich! Zeichne heimlich. Hat er's verboten?“ „Nein, nein!“ rief ich heftig, „er hat mir ſogar vorgeſchlagen, Stunden zu nehmen. Aber ich —" „Nun?“ unterbrach Gabriele mich geſpannt. „— Ich glaube, ich liebe die ganze Kunſt nicht mehr, — nur ihn,“ ſagte ich, faſt zitternd während ich 112 es ausſprach, aber im geheimſten Herzen war es doch nur Furcht, die mich von meiner geliebten Kunſt hinweg⸗ ſcheuchte, Furcht wie vor der großen Verführung, der nichts widerſteht: ich fühlte, daß ſie mich losreißen würde von allem, was Benno wollte, und was ich alſo ſelbſt wollte, und mich ihm ganz fremd machen würde —. Ich konnte Gabriele nicht einmal um ihre ſichere Kampfesfreude gegen ihre ganze Umgebung beneiden, denn ich war ja ſo leidenſchaftlich bereit zu unterliegen, und ſollte ich ſelbſt darüber in tauſend Stücke gehn. Das Ideal einer kleinen Brieger Hausfrau, das ihr nur läſtig und lächerlich erſchien, und das ſie deshalb nur ſo nebenher, mit halber Kraft, verwirklichte, trug für mich geheimnisvolle Märtyrer⸗ und Asketenzüge; ich ging einen Weg der gewaltſamen Selbſtkaſteiung aus lauter hilf⸗ loſer Liebesſehnſucht. Die Folgen blieben nicht aus. Iſch wurde blaß und mager, und von immer krankhafterer Unſicherheit und Reizbarkeit. Benno, der ohnehin die Grenzen des Normalen allzu eng ſteckte, und bei all ſeinen eingeheimſten Kenntniſſen doch noch wenig Lebenserfahrung beſaß, ſchien beſorgt, meine Mutter fing an ratlos zu trauern. Der ärztliche Ausdruck, der zuweilen in Bennos ohne⸗ hin ſo ernſtem Geſicht vorherrſchte, machte mich noch ſcheuer; ich war ja jetzt ſeiner Liebe keineswegs mehr ſo naiv ſicher wie einſt: je untauglicher ich mir ſelbſt für alles vorkam, was er mit mir vorhatte, deſto un⸗ fehlbarer und autoritativer kam er mir vor, und ſeine Liebe als etwas nur durch Selbſtüberwindung ſicher zu Erringendes. Lou Andreas⸗Salomé, Fenitſchka 113 8 Durch dieſe gewaltſame Unterordnung unter ihn vermiſchte ſich in meiner Leidenſchaft das Süßeſte mit dem Schmerzlichſten, faſt mit dem Grauen. Das iſt ja gewiß nicht der Fall, wo ein Weib ſchon an ſich viel untergeordneter iſt als der Mann. Sonſt aber kann es zu einer furchtbaren Würze der Liebe werden, zu einer ſo ungeheuren Aufpeitſchung der Nerven, daß das ſeeliſche Gleichgewicht notwendig verloren gehen muß. Oft wenn ich abends ſchon zur Ruhe gegangen war, hörte ich an den gedämpften Stimmen, die bis zu mir herübertönten, wie Benno und meine Mutter noch lange im Zwiegeſpräch bei einander blieben. Ich ahnte nicht, was ſie miteinander berieten. Ich erfuhr es erſt, als ge⸗ ſchah, was endlich geſchehen mußte: als Benno unſre Verlobung auflöſte. Seltſamerweiſe habe ich von dieſem entſcheidenden Vorgang keine bis in die Einzelheiten präziſe Erinnerung behalten. Kaum weiß ich noch, was er mir ſagte, — nur meine eigne Stimme höre ich noch, und wie ich auf⸗ ſchrie in Schmerz und Entſetzen, wie ich niederſtürzte vor ihm und die Hände zu ihm aufhob —. Von jener Stunde aber ging zwingend eine Macht aus, die in meiner Phantaſie Bennos Bild übertrieb und fälſchte, die ihn hart und grauſam, ſtreng und ſtark bis zur Ueberlebensgröße erſcheinen ließ. Konnte es anders ſein? Wär er ſonſt dazu imſtande geweſen, mich trotz aller meiner demütigen Bemühungen unwürdig zu befin⸗ den und hinwegzuſtoßen? Meine Mutter weinte viel, gab ihm jedoch in allen Stücken recht, und reiſte mit mir ins Ausland, wo ich 114 mich erſt erholen, dann aber ganz meinen alten Wün⸗ ſchen gemäß entwickeln ſollte. Als ich von Benno fort⸗ kam, meinte ich, daß er mich zu lauter jämmerlichen Scherben zertreten habe. Lange Zeit litt ich halb be⸗ ſinnungslos. Dann aber ſiegte das Glück, meiner Kunſt leben zu dürfen, und erwies ſich als ſtärker als die alte Jugendleidenſchaft. Einem Traum gleich, den man beim vollen Erwachen nicht mehr feſtzuhalten vermag, ſank ſie ins Schattenhafte hinab. Meine Mutter zog ſpäter wieder zu Benno nach Brieg, und nur im Sommer ſah ich ſie auf Wochen, oder auch auf Monate bei mir. Ich ſelbſt verbrachte etwa ſechs Jahre in tüchtiger Arbeit, bei manchen Entbehrungen und Anſtrengungen, dann richtete ich mir hier in Paris mein kleines Atelier ein, — und das war eine ſchöne Zeit: eigentlich die erſte ganz ſorgenfreie, ganz erfolg⸗ reiche Zeit. Zum erſtenmal atmete ich auf und nahm das Leben endlich auch wieder von ſeiner heitern Ge⸗ nußſeitc. Da, — vor einem Jahr ungefähr, es war gegen Weihnachten, — entſchloß ich mich plötzlich zu einer kur⸗ zen Heimfahrt. Meine Mutter hatte ſchon in ihren Briefen dringend darum gebeten, aber den Ausſchlag gab ein Brief von Benno ſelbſt. Ich empfing ihn während eines kleinen Einweihungsſchmauſes in meinem Atelier und konnte ihn nur raſch, in Gegenwart von andern, durchleſen. Dennoch machte der Anblick der altvertrauten Handſchrift mit ihren feſtgefügten runden Buchſtaben einen ganz ſeltſam auf⸗ regenden Eindruck auf mich. 115 Benno ſchrieb unter dem Vorwand, den Wunſch meiner Mutter auch ſeinerſeits noch zu unterſtützen. In Wirklichkeit trieb ihn jedoch etwas andres zu dieſem Brief: auf Grund von allerlei umlaufenden Gerüchten ſchien er beunruhigt über meine „allzufreie“ Lebens⸗ geſtaltung, wie er ſie nannte, und hielt ſich für ver⸗ pflichtet, mich vor Verleumdungen zu warnen, — oder auch vor mir ſelbſt. Ganz klar war es nicht, was von beidem er meinte. Seine Worte enthielten viele philiſtröſe Bedenklichkeiten, über die ich lächeln mußte, auch viel Unkenntnis des Provinzlers und Fachmenſchen hinſichtlich des Lebens in Weltſtädten und unter Künſtlern. Ja, das wußte ich ja nun längſt: Benno verkörperte nicht gerade den Begriff eines unfehlbaren Idealhelden, ſondern mochte das Pracht⸗ eremplar eines eingefleiſchten Pedanten und Moraliſten ſein. Ungefähr das Gegenteil von all dem, was jetzt meine leicht gefeſſelte Phantaſie entzücken und verführen konnte. Aber daß er ſich erdreiſtete, ſo zu ſchreiben, daß er ſich für verpflichtet hielt, ſo zu kontrollieren, was ich thun durfte und nicht thun durfte, — er, der mich ja nicht einmal geliebt, — nein, geliebt hatte er mich nicht, ſondern fortgeſtoßen —. Ich konnte über eine unerklärliche Erregung nicht Herr werden, während ich unter meinen Gäſten umher⸗ ging, und lachte und ſcherzte. In dieſem Augenblick fiel mein Blick auf eine auf⸗ geſchlagene Mappe, worin ich einige wertvolle Kunſt⸗ blätter aufbewahrte und die eben von einer jungen Malerin beſehen wurde. Obenauf lag die bekannte Radierung 116 Klingers „Die Zeit den Ruhm vernichtend“. Wie manches Mal ſchon hatte ich den gepanzerten Jüngling an⸗ geſchaut, der, eherne Allmacht im Antlitz, dem vor ihm niedergeworfenen Weibe erbarmungslos mit dem Fuß in die Lende tritt — —. Plötzlich weckte er irgend eine Ideenaſſociation in mir, plötzlich rührte er an irgend etwas, — und eine lang, lang vergeſſene, eine tote Senſation meines eignen Lebens regte ſich dunkel —. Iſch kann mit Worten nicht deutlich ſchildern. mie es war. Ich glaube nicht, daß ich dabei an eine be⸗ ſtimmte Situation gedacht habe, zum Beiſpiel an Bennos brutale Löſung unſrer Beziehungen, oder daran, daß ich mich damals von ihm „zertreten“ fühlte, oder überhaupt an ſeine Perſon, — aber doch hing es mit ihm zuſam⸗ men, als mir ein Schauer über den Rücken ging, — ein Schauer von ſo lähmend intenſiver Erſchütterung, daß ich unwillkürlich vor dem Bilde die Augen ſchloß. Ich nahm nur noch mechaniſch an der Unterhaltung teil, innerlich blieb ich tief benommen, denn mir war, als ſtarrte ich durch meine ganze Umgebung hindurch auf etwas, das ſich nur lange verborgen gehalten hatte, aber doch immer dageweſen ſein mußte, gleich ſchattenhaftem Hintergrund, — oder als ſänke mein ganzes glückliches gegenwärtiges Leben langſam zu meinen Füßen nieder, wie ein dünner blumengeſtickter Schleier, und dahinter ſtände hoch aufgerichtet das Wirkliche, Weſenhafte, — — ja was? etwas wie die Silhouette eines gepanzerten Mannes? oder Benno ſelbſt, der mich in den Armen hielt und mich den erſten Liebesrauſch lehrte, und das 117 erſte Grauen vor der Abhängigkeit der Liebe? — oder lag es nicht vielleicht weit, weit zurück in jener fernſten Kindheit, wo ich noch auf dem Arm meiner gali⸗ ziſchen Amme ſaß, und die Sommerſonne heiß um uns brütete, und wo von der erhobenen harten Hand des Mannes ein feuerroter Striemen auf dem demutsvoll geneigten Frauennacken blieb —? — — 118 Einige Tage ſpäter befand ich mich auf der Reiſe nach Brieg. Während der langen Eiſenbahnfahrt er⸗ zählte ich es mir ſelber wohl hundertmal, wie wunder⸗ lich eng und klein mir alles in der Heimat vorkommen werde, aber zugleich freute ich mich all dieſes Engen und Kleinen, als des heimatlich Vertrauten, was ich nun wiederſehen ſollte; es durfte ſich nicht weiterentwickelt haben, ſondern mußte, um zu wirken, genau ſo geblieben ſein, wie es war, grade wie eine alte Kinderfibel, die ohne ihre naiven Lehren und Verschen auch nicht mehr ein Erinnerungsbuch wäre. Es reute mich nicht mehr, Paris verlaſſen zu haben, trotzdem ich grade jetzt dort den Winter hatte genießen wollen, — und doch lag in der Stimmung, worin ich dieſe Reiſe unternahm, mir unbewußt, ein tieferer Leicht⸗ ſinn, der von dunkeln Senſationen träumte, als in allen Genüſſen, zu denen ich mich dort hätte verleiten laſſen können. In Brieg langte ich am Abend nach neun Uhr an. Den Tag meines Eintreffens hatte ich abſichtlich nicht gemeldet, ich ließ mein Gepäck am Bahnhof und ging langſam über den Wallgraben unſrer Steinſtraße zu. Es ſchneite. Ein mächtiger Wind, von Norden daherfahrend, fegte über die Oderniederungen und die ſchleſiſche Ebene hin, das kleine Brieg lag förmlich ein⸗ geſargt im tiefen weißen Winterſchnee. Bei dieſem Wetter waren die winkligen Gaſſen trotz der Weihnachts⸗ zeit noch ſtiller, noch menſchenleerer als ſonſt, und in den Häuſern brannten die Lampen hinter feſt zugezogenen Vorhängen. Man konnte in dem von Schneeflocken umtanzten Laternenſchein nicht gerade viel erkennen, aber das ſah ich doch mit lebhaftem Bedauern, bis zu welchem Grade die alte charakteriſtiſche Stadtphyſiognomie ſich im Lauf der Jahre verjüngt zu haben ſchien. Schon vermißte ich an den ſchmalen alten Häuſern hier und da das köſtlichſte Giebelwerk, und überall hatte die ſchlechte Glätte billiger Moderniſierung begonnen, die verfallende Schön⸗ heit zu erſetzen. Auch Brieg ging alſo vorwärts! es war nicht mehr ganz das alte, vertraute Städtchen, auf deſſen winklige Enge ich mich gefreut hatte. Der Fort⸗ ſchritt des Lebens mit ſeinen praktiſchen Anforderungen, der häufiger das Banale nützlich findet als das Seltene, hatte auch hier manches Schöne als Hindernis aus dem Wege geräumt. Als ich bei unſern großen, einförmigen Anſtalts⸗ gebäuden anlangte, ſah ich ganz nah am Eingang unſers Hauſes einen Mann ſtehn, im weiten Mantel und eine Fellmütze auf dem Kopfe. Er ſtand ganz regungslos da, und blickte mir entgegen, während ich mich am Parkgitter des Irrenhauſes entlang ihm mehr und mehr näherte. Der Laternenſchein fiel ihm in den Rücken, ſo daß ſeine Züge im Dunkeln 20 blieben, aber ich wußte doch ſofort, daß es Benno war. Mich ergriff eine kindiſche Freude, ſo groß, wie ich ſie nie für möglich gehalten hätte, zugleich mit dem Ver⸗ langen ſtehn zu bleiben. Aber das erlaubte der Sturm nicht; er blies mich von hinten an, als wehe er mich ihm einfach entgegen. Ich konnte merken, wie an meinem Reiſehut der zurück⸗ genommene Schleier zerrte und flog, gleich einem un⸗ geduldig aufflatternden gefeſſelten Vogel. Und jetzt kam Benno mir langſam entgegen. „Dina!“ rief er mit unterdrückter Stimme, noch eh ich bei ihm war. „Da biſt du ja!“ ſagte ich froh, ließ achtlos meine kleine Reiſetaſche auf den Schneeboden gleiten und ſtreckte ihm beide Hände entgegen, „— haſt du mich denn er⸗ kannt?“ „Adine! ſo unerwartet und unangemeldet, — von niemand empfangen!“ äußerte er wie in tiefem Stau⸗ nen, und dann: „Erkannt — ja, erkannt, noch eh ich wußte, daß du es ſein könnteſt. An deinem Gang. Nur grade am Gang. Dies ſorglos wiegende Schlen⸗ dern, — nur du gehſt ſo, — es ſieht aus, als ob es auf der Welt nur lauter geebnete Wege gäbe, oder als ſchritte ein unſichtbares Weſen vor dir her, das ſie dir ebnet. — — Und du kommſt im Schnee — — zu Fuß? „Ja freilich, zu Fuß, von Stein zu Stein, über das bekannte alte Pflaſter. Es war ja noch früh. Schön war's. Der Schnee, der fiel ſo dicht; — das alte Brieg! wie es ausſah im Schneeſturm!" 121 Dabei blies uns der Wind immerzu die breiten Flocken ins Geſicht, während wir daſtanden und ſprachen, wie wenn ich bereits zu Hauſe wäre, wie wenn ich dazu nicht erſt einzutreten brauchte. bemerkte: Benno hob meine Reiſetaſche vom Boden auf und vor Freude ſein. Sie konnte es kaum noch erwarten. „Deine Mutter, Tante Liſette, wird ganz außer ſich Schlüſſel,“ ſagte ich und trat neben ihm ans Haus, „Ich gehe leiſe zu ihr hinein, — gieb mir den „— oder kommſt du mit?“ anſtalt hinüber. Er ſchüttelte den Kopf und wies nach der Irren⸗ noch einmal inſpizieren —. Alſo auf morgen. Schlaf „Ich muß noch dorthin, — ſtets um dieſe Stunde gut daheim. Ich gab ihm beim Eintreten noch einmal die Hand. „Auf morgen!“ wiederholte ich heiter, „da ſeh ich dich alſo eigentlich wieder. Denn heut haben wir uns ja noch keineswegs wiedergeſehen. Zwei Stimmen im Dunkeln! Zwei Stimmen, die dem Wiederſehen voraus⸗ gelaufen ſind. — — Und die nun aufhören müſſen zu ſchwatzen. „Gute Nacht, Adine. Nimm die Hand fort, du klemmſt dich,“ ſagte er beim Schließen der Thür. Das klang ſo nüchtern und ängſtlich, daß ich unwillkürlich noch einmal zwei Finger in die Thürſpalte ſteckte. Ich rief hinaus: „Ich muß dir noch ſagen: es iſt ſchön, daß wir uns getroffen haben — im Schneegeſtöber am 122 Hauſe. Es iſt ja nur ein Zufall, aber grade darum iſt's ſchön.“ Die Thür fiel ins Schloß. Einen Augenblick lang ſchien Benno draußen noch ſtill zu ſtehn, wie wenn er lauſchte, — dann kniſterte der Schnee unter den lang⸗ ſam ſich entfernenden Schritten. Auch ich, drinnen im ſchwach erhellten Hausflur, ſtand noch und horchte, — ich horchte noch auf die bei⸗ den verklungenen Stimmen im Dunkeln, als ob ſie mir ein langes Märchen erzählten, und eigentlich ein neues Märchen, — meine frohe, faſt übermütige Stimme, die weit heller als die ſeine, und dann ſeine gedämpfte, zögernde Stimme, aus der ſo vieles — ſo ſeltſam vieles unter den alltäglichen Worten hervorſprach, und die Worte förmlich leer und ſinnlos machte durch dieſen Unterklang —. — — — — — — — — — — — Am nächſten Tage wurde ich durch einen lang⸗ gezogenen ſchrillen Glockenton geweckt, der aus einem der Arbeitshöfe des Zuchthauſes herüberſchallte. Meine Mutter, im großen Ehebett an der gegen⸗ überliegenden Längswand, ſchlief noch, oder that ſo, um mich nicht zu ſtören. Durch das Fenſter ſchimmerte hell⸗ grau das Morgenlicht über die ausgeblichenen Cretonne⸗ vorhänge mit ihren luſtigen grünen Blumen und Vögeln, und jedes einzelne der alten Möbelſtücke ſah mich vertraut und grüßend an. Ich dehnte mich voll Behagen in meinen Kiſſen. In dieſer ſüßen Indolenz der Stimmung war es herrlich, ſich hier ein wenig pflegen und verziehen zu laſſen. Bald 123 genug kam ich ja wieder in mein eignes Leben draußen zurück, in mein eignes Schaffen und Genießen. Mein Blick fiel auf das liebe faltige Geſicht im weißen Nachthäubchen, das über der verblaßten grün⸗ ſeidenen Steppdecke herausſchaute. Ohne dieſe gute Mutter mit ihren bereitwilligen Liebesopfern hätt ich mir nie meine freie, glückliche Künſtlereriſtenz erringen können. Damit mir das gelingen möchte, ſaß ſie nun hier ſo ge⸗ duldig und einſam ohne Tochter, und mühte ſich heim⸗ lich damit ab, ſich für Malerei zu intereſſieren, was doch ſo ganz hoffnungslos war. Der Offizierskreis in Brieg, ihr einſtiger alter Geſellſchaftskreis, äußerte ſich ziemlich tadelnd über dieſe fernlebende Tochter, und ich wußte wohl, daß meine Mutter mich dann verteidigte wie eine Löwin ihr Junges, und daß die Leute ſich des Todes ver⸗ wunderten, bis zu welchen modernen Anſchauungen ſie ſich dabei zuweilen verſtieg. Aber in Wirklichkeit war ſie weder eine Löwin noch ein moderner Bahnbrecher, ſondern ganz einfach eine einſame alte Frau, deren Lebensauffaſſung himmelweit von der ihres Kindes ent⸗ fernt war —. Ich glitt geräuſchlos aus dem Bett, kam auf nackten Sohlen zur Halbſchlummernden und umhalſte ſie ſtürmiſch. „Mama, meine liebe Mama! wie bin ich froh, bei dir zu ſein, und wie dank ich dir für alle dieſe ſchönen — ſchönen Jahre! Jetzt auf einmal fällt es mir aufs Herz, wie viel du mir geſchenkt haſt, — immerfort ge⸗ ſchenkt, und nichts dafür bekommen, du liebſte aller Müt⸗ ter du!“ Meine Mutter ſtreichelte mich beſchwichtigend über 124 den bloßen Arm, und öffnete ihre blaſſen blauen Augen mit einem Ausdruck voll zärtlichen Glücks. „Ich wurde ſchon ganz müde vom Liegenbleiben, du Langſchläferin,“ ſagte ſie, ſich ermunternd, „ich glaube wirklich, mir ſind die Glieder eingeſchlafen. Jetzt laß mich raſch in die Kleider kommen, Kind. „Wo ſteckt denn eigentlich Benno am Morgen?“ fragte ich, und fuhr in die Strümpfe. „Ich habe ihn nebenan im Wohnzimmer gehört, ehe du wach wurdeſt. Er wollte dich wohl ſchon begrüßen. Jetzt aber könnteſt du zu ihm gehn, während er ſeinen zweiten Thee bei ſich im Zimmer nimmt, — das iſt bald. Es wäre freundlich von dir, — du mußt gut gegen ihn ſein, hörſt du? Er iſt ein ſo vortrefflicher Menſch, Adine. Du mußt dich nicht dran ſtoßen, wenn er dir einmal ein wenig ſchroff vorkommt. „Dran ſtoßen? ach nein, Mama, im Gegenteil. Das gehört ja ſo unabänderlich zu ihm. Ohne das würde es gar kein Wiederſehen ſein. „Du biſt es nicht gewöhnt. Biſt verwöhnt, mein Kind. „Eben darum, Mama,“ bemerkte ich, und kam vor den Spiegel, um mein Haar aufzuflechten. Unwillkürlich riß ich an den dunkeln Strähnen, die ſich eigenwillig unter dem Kamm lockten, denn ich hatte, was ich eigent⸗ lich nie habe: Eile. Die Mutter ſaß halb angekleidet, mit im Schoß gefalteten Händen, daneben und betrachtete mich mit be⸗ ſorgter Zärtlichkeit im Geſicht. „— War es ſchön, — der Einweihungsſchmaus in deinem Atelier?“ fragte ſie zerſtreut. 125 „Ja, ſchön — und luſtig! Später erzähl ich dir „Aber lieber nur mir allein, Adine, denn Benno —“ „Nun, was iſt mit Benno?“ deinetwegen, — weil du ſo frei für dich lebſt, und weil „Ja, ſtell dir vor, er macht ſich ſo leicht Gedanken du ſo viel mit dem Tomaſi biſt, der Atelier an Atelier mit dir wohnt, — und überhaupt — wie eine Blutwelle mir ins Geſicht ſchoß. „So. Thut Benno das?“ bemerkte ich, und fühlte, biſt ja ganz rot geworden, — wirklich, Adine. Was iſt „Ja. Aber warum erröteſt du denn darüber? Du es mit dem Tomaſi?“ fragte die Mutter ängſtlich. Kollegen.“ „Aber nichts! Du kennſt ihn ja. Wir ſind eben "Nein, ſage mir nur eins: du glaubst doch nicht, daß du dich in jemand verliebt haben könnteſt in dieſer Zeit?“ „Das kann ich wirklich nicht ſo genau wiſſen, Mama.“ „Aber Jeſus, Kind! ſo etwas weiß man doch! — — Nun, übrigens, dann iſt es auch nichts,“ ſagte die Mutter beruhigt, und griff nach ihrem Kleide. Ich ließ den Kamm ſinken und betrachtete im Spiegel nachdenklich mein eignes Bild. Mir fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß ich Benno auf ſeinen eigentüm⸗ lichen Brief ziemlich wahrheitsgemäß hätte antworten können: „wenn die Gerüchte unrecht haben, und du mit deinen geheimen Zweifeln auch, ſo iſt das nur dein eignes Verdienſt. Du haſt mich vielleicht auf lange Zeit für mancherlei untauglich gemacht durch den allzu 126 ſtark gewürzten Wein, den ich bei dir getrunken habe. Dagegen fällt jeder andre Rauſch ab. Laut ſagte ich: „Ich bin übrigens ganz unſchuldig dran, daß ich mich nicht einmal gehörig verliebe. Es iſt ſonderbar genug. „Das kommt, weil du malſt, mein Kind,“ be⸗ merkte die Mutter ſo reſigniert, daß ich anfing zu lachen. „Nun ja, wenn du nicht malteſt, ſo würdeſt du wohl verheiratet ſein, — und ich würde einen kleinen Enkel haben!“ fügte ſie etwas verdrießlich hinzu. Ich nahm ſie beim Kopf und küßte ſie. „Ach, beim Malen iſt man eigentlich immer etwas verliebt. — — Man malt immer irgend etwas Ver⸗ liebtes aus ſich heraus, ſcheint mir. — — Aber all das iſt ſo fein und flüchtig und wunderlich, und heiraten läßt es ſich nicht. Wie ſchaff ich dir alſo einen kleinen Enkel?“ Meine Mutter hatte brummend ihren Kopf frei⸗ gemacht, ſie ſeufzte nur, und ſah ſchweigend nach dem Kaffeetiſch. In ihrem heimlichen Innern war ſie ſo froh, daß wir wieder zuſammen daſaßen und unſern Morgen⸗ kaffee tranken, daß ihr kein Unſinn, den ich ſprach, etwas anhaben konnte. Manchmal mochte ſie allerdings ein wenig verwirrt werden über das viele, was ich ihr ſchon vor⸗ geredet hatte, und was von ihrer Mutterſeele ganz fried⸗ lich neben ihren eignen Anſichten und Auffaſſungen be⸗ herbergt und verarbeitet wurde. Mutterboden mag wohl ein fruchtbarer Boden ſein, worauf die verſchiedenſten Dinge durcheinander wachſen und gedeihen können, aber 127 Mühe mocht es ihr wohl bisweilen machen, ſich in dieſem zärtlichen Krautgarten zurechtzufinden, über dem, alles ſegnend, eine ſo große Sonne der Liebe ſchien —. Nachdem ich mein Frühſtück beendet hatte, ging ich ſofort zu Benno hinüber. Seine Zimmer waren von denen meiner Mutter durch den weiten, ganz primitiv mit roten Ziegelſteinen ausgelegten Hausflur getrennt, und wurden früher von einem andern der Hilfsärzte bewohnt. Seit längerer Zeit bekleidete Benno eine ſehr angeſehene Stellung an der Irrenanſtalt, als eine Art von Bevoll⸗ mächtigtem des Direktors, der alt und kränklich war, und ihn zu ſeinem Nachfolger vorgeſchlagen hatte. Die Briefe meiner Mutter erzählten mir ſtets Wunderdinge von Bennos Tüchtigkeit und fieberhaftem Berufsfleiß. Ich pochte leiſe an die Thür ſeines Studierzimmers, doch niemand antwortete darauf. Ich öffnete ſie und blickte hinein. Niemand war anweſend. Vor dem Kaminofen, worin ein helles Feuer brannte, ſtand zwiſchen zwei Seſſeln ein Metalltiſchchen, worauf alles zum Theetrinken vorbereitet war. Ein blankes Keſſelchen dampfte über einer Spiritusmaſchine. Jeden⸗ falls war Benno ſchon hier geweſen und wieder abgerufen worden. Ich ſetzte mich in einen der Seſſel und ſchaute mich um. Sehr viel behaglicher ſah es hier aus als in dem häßlichen, kahlen Dienſtzimmer, das Benno ehemals im Irrenhauſe innegehabt, und das ich immer nur mit Grau⸗ ſen beſucht hatte, denn jedes Geräuſch dort und jeder An⸗ blick entſetzten mich. Und dennoch that es mir jetzt faſt leid, daß ich ihn hier wiederſehen ſollte, und nicht in dem 128 Rahmen, der dort zu ihm gehörte. Ich behandelte ihn in dieſer pietätvollen Regung unwillkürlich ganz als Bild —. Da ging die gegenüberliegende Thür auf, und Benno trat aus ſeinem Wartezimmer herein. „Grüß dich Gott!“ ſagte er mit ſeiner verhaltenen Stimme und kam, faſt etwas ungeſchickt, mit ausgeſtreckter Hand auf mich zu. Als ich meine Hand hineinlegte, hielt er ſie einige Sekunden lang feſt und hinderte mich da⸗ durch, mich aus meiner halbruhenden Lage aufzurichten. „Bleib ſitzen! grade ſo, wie du geſeſſen haſt, aber den Kopf hebe, und gegen das Licht; ich muß dich doch deutlich wiederſehen,“ ſagte er wie entſchuldigend. Ich fand keine Entgegnung und gehorchte nur, den Kopf zurücklehnend und den Blick zu ihm hebend, wäh⸗ rend ich fühlte, daß ich unter dem ſeinen errötete. „Wie geſund und hell und glücklich du ausſchauſt, — — und wie ſchön!“ ſagte er treuherzig. Aber zu⸗ gleich wurde er befangen und trat etwas zurück. Ich überflog ſeine ganze Geſtalt und ſein Geſicht. Das Geſicht erſchien mir zu ſehr gealtert in dieſen ſechs Jahren. Die unausgeſetzte, nervenaufreibende Thätigkeit hatte verfrühte Falten in ſeine Stirn gezogen und das weiche aſchblonde Haar an den Schläfen ein wenig ge⸗ lichtet. Ob er wohl noch die intereſſanten, furchterwecken⸗ den Irrenarztaugen hat? dachte ich und ſuchte ſeinen Blick. Aber auf den Gläſern der Brille blitzte und glitzerte das Morgenlicht, und mir kam der Gedanke, wie viel öfter ich überhaupt dieſes alles verdeckende Brillen⸗ funkeln geſehen hätte, als den dahinter vermuteten Augen⸗ ausdruck. Lon Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 129 9 Das Waſſer im Keſſelchen zwiſchen uns brodelte heftig, und um das Schweigen zu brechen, bemerkte ich heiter: du ſiehſt. Wirſt du mir auch zu trinken geben?“ „Ich bin zu deinem Frühſtück hergekommen, wie und äußerte zögernd: Er deutete auf eine zweite Taſſe, die bereit ſtand, nicht, — — wenn es dir nicht läſtig iſt, — — willſt du „Ich hoffte, du würdeſt kommen. — — Willſt du mir nicht die Freude machen, uns den Thee zu bereiten?“ während ich mit dem Geſchirr hantierte, trat wieder das Ich erhob mich und griff nach dem Theetopf. Aber Schweigen ein, und ich fühlte mit Verlegenheit, wie Benno, der ſtumm daſaß und rauchte, den Blick nicht von meinen Händen ließ. Es war etwas ſo ganz andres, ſich im vollen, nüch⸗ ternen Tageslicht wiederzuſehen, als am Abend vorher in der Schneenacht. Man ſcheut ſich unwillkürlich vor all den leiſe mitflüſternden Erinnerungen, die ſchwer ſind von alten Träumen, und die ſich in der hellen Wirk⸗ lichkeit des Tages nicht zurechtfinden können, ſondern allem unverſehens phantaſtiſche Lichter aufſetzen, — blaſſe, myſtiſche Lichtlein —. „Es geht nicht an, daß wir hier ſtumm daſitzen,“ dachte ich unruhig und ſagte ſchließlich hoffnungslos, nur um irgend ein lautes Wort zu finden, ſcherzend: „Du willſt wohl aufpaſſen, ob ich bei meinem Farben⸗ kleckſerberuf noch zur geringſten weiblichen, häuslichen Arbeit tauglich geblieben bin.“ „Ach nein,“ verſetzte er ſo ernſthaft erſtaunt, daß man ſeiner Stimme anhörte, von wie weit er eben 130 herkam, „— du biſt ja, — du haſt ja andres zu thun gehabt. Jedenfalls Intereſſanteres. Beſonders Paris iſt ja die große Stadt aller Genüſſe. „Das iſt ſie gewiß, aber die große Stadt der Arbeit iſt ſie auch, des raſtloſen Weiterarbeitens,“ verſetzte ich, und ſchob ihm ſein Glas Thee zu. Er rührte mit dem Löffel darin herum, dann fragte er unvermittelt: „— Der Tomaſi, — wie iſt denn der?“ Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken über die unbeholfene Art, wie der Pedant und Moraliſt aus ihm herausrückte. „Von meinen Kollegen iſt er mir der liebſte Genoſſe, gab ich zu, „ich danke ihm viel Anrequng und Freund⸗ ſchaft. Als ich mir den linken Arm verſtaucht hatte und der Ausſtellung wegen ſo eilen mußte, um doch noch fertig zu werden, da hat mir der Tomaſi die beſten hellen Morgenſtunden geopfert, und mir den Arm untergeſchoben und mir die Palette gehalten. Das kann nämlich nur ein ſehr lieber Freund thun. „Den Arm ſo ausdauernd unterſchieben, — das glaub ich,“ meinte Benno, und rauchte ſo ſtark und un⸗ ausgeſetzt, daß eine Wolke um ihn ſtand. Ich lachte, ganz lebhaft geworden. „Nein, aber die Palette halten,“ verbeſſerte ich, „denn der linke Arm mit der Palette arbeitet mit, mußt du wiſſen, er muß lebendig zu einem ſelbſt gehören. Benno ſtieß gewaltſam die Aſche, die ſich kaum noch an ſeiner Zigarre angeſetzt hatte, am Glasteller ab. „Lebendig zu einem ſelbſt. So kann natürlich nur 131 ein Künſtler zu dir gehören,“ bemerkte er, und ſtand un⸗ motiviert auf, ohne mich anzuſehen. Dabei ſah ich plötzlich das Finſtre, Gequälte in ſeinem Geſicht. Mitten aus der Plauderei heraus, wo⸗ bei ich für den Augenblick gar nicht mehr an ihn ge⸗ dacht hatte, ſah ich ihn plötzlich ſo, wie ihm wirklich zu Mute war: in mühſam verhaltener Erregung, — in zorniger Eiferſucht —. Daher alſo ſein Brief! Das war nicht pedantiſche Moraliſterei geweſen, — nein, — Liebe —. Es kam ganz unerwartet über mich, ein Blutſtrom, der raſch und heiß zum Herzen quillt, und ein Erſchrecken. Ja, eigentlich ein nachträgliches Erſchrecken: denn wenn ich das geahnt hätte in der erſten Zeit unſrer Tren⸗ nung, — geahnt, daß auch er leide, und daß er mich liebe, — ich wäre ja beſinnungslos zurückgeſtürzt zu ihm. Jetzt freilich konnte ich das nicht mehr wollen. Aber auch er ſollte es nicht wollen. Nein, auch er ſoll es nicht, dachte ich, und mein Herz ſchlug zum Zerſpringen. Denn ihm, ſeinem Willen, dieſem harten, engen, bewußten Willen, bin ich ſchon einmal erlegen. Die Erinnerung daran durchrieſelte mich heiß und beinah lähmend. Benno blickte mich ſtaunend und ungläubig an. In meinem Mienenſpiel mochte ſich etwas von dem verraten, was in mir vorging. Eine Möglichkeit mochte in ihm aufdämmern, mich wieder zu faſſen. Wenigſtens ſchien es mir ſo, — und da ſchien es mir gradezu, als käme er mit einer Rieſenkeule bewaffnet auf mich zu, um mich niederzuſtrecken. 132 „— Benno —!“ ſagte ich ſchwach, erſchrocken, wie jemand, der ſich wehren ſoll, und nicht kann. Der ſchwache Ausruf durchzitterte ihn förmlich. Mein Gebaren mußte ihn in eine Zeit zurückverſetzen, wo mir dieſes furchtſame Geſicht und dieſe furchtſame Stimme ihm gegenüber natürlich waren. Unwillkürlich, wortlos, faſt ohne zu atmen, beugte er ſich über mich —. Da ſtreckte ich angſtvoll meine Hand gegen ihn aus, ſie mit einer unſichern Bewegung zwiſchen ſeine und meine Augen ſchiebend, als müßte ſie ihm meinen Blick verdecken und mich ſeinem Blick entziehen, wie einer un⸗ kontrollierbaren Macht, die noch einmal mich mir ſelber rauben könnte. „— Nein — nein! — nicht! zu ſpät!“ murmelte ich. Er richtete ſich auf und legte die Hand über die Augen. Ohne ein Wort der Erwiderung verließ er das Zimmer. Ich ſtarrte ihm nach. Ich weiß nicht, wie lange ich da noch ſitzen blieb, in ſeinem Zimmer, in ſeinem Seſſel. Ich war ja heimgekommen, um Reminiscenzen zu feiern. Um in ein paar alte Erinnerungen niederzu⸗ tauchen. Ich wollte mich ſogar an all dem freuen, was an ihnen meinem jetzigen Geſchmack widerſtand, — denn all das gehörte ja zu ihnen, und auf mein wirkliches Leben hatte es keinen Einfluß. Dies da aber war keine Erinnerungsgewalt geweſen. Nein, dies da war eine Lebensgewalt, eine Wirklichkeits⸗ gewalt, die mich ſelber bedrohte. Konnte ich nicht fort? 133 konnte ich denn nicht fliehen? kannte ich denn nicht die Folgen, den Zuſammenbruch von allem, ja von allem, was meinem Weſen und meinem Leben Wert gab? mein Leben niemals wahrhaft mit Benno verknüpfen Ja, das alles wußte ich. Ich wußte auch, daß ſich ließ, — und daß es keine Liebe zu ihm war, die mich hielt. Keine Liebe, — etwas Dunkleres, Triebhafteres, Unheimlicheres — —. Wie ein Blitz, — Warnung und Symbol zugleich, — glitt an meiner Seele das Bild der Klingerſchen Radie⸗ rung vorüber —. Nein, — ich konnte nicht fort. 134 Llm Nachmittag beſann ich mich darauf, daß ich ſeit meiner Ankunft Gabriele noch nicht begrüßt hatte, und ſtieg die Treppe zur Rendantenwohnung hinauf. Faſt gleichzeitig betrat Gabriele von der Straße her den Hausflur unten, am Arm ein großmaſchiges Markt⸗ netz, aus dem ſich allerlei Gemüſeſorten hervordrängten. Sie lief raſch ein paar Stufen aufwärts, ehe ſie mich aber oben ſtehn ſehen konnte, wurde ihre Aufmerkſam⸗ keit durch Benno abgezogen, der grade über den Flur ſchritt, um aus ſeinen Wohnräumen zu meiner Mutter hinüberzugehn. Gabriele beugte ſich über die Treppenbrüſtung. „Guten Abend, Herr Doktor!“ rief ſie ihn an, „ich bin ganz böſe auf Sie. Geſtern und vorgeſtern nacht brannte ja wieder ſo ſpät Licht in Ihrer Studierſtube. Ich kann den Schein ſehr gut von oben bemerken! Sie arbeiten aber wirklich zu ſpät.“ „Ich muß wohl, Fräulein Gabriele,“ antwortete Benno, „übrigens geben Sie mir gewiß an Fleiß nichts nach. Aber ich verſpreche Ihnen, heut abend früher auszulöſchen und mich brav ſchlafen zu legen. Das iſt ja ein drolliges Verſprechen! dachte ich, inner⸗ lich beluſtigt, als Gabriele aufſchaute, mich bemerkte und mir nun eilig die Treppe nachſprang. „Gott, wie lieb von dir, zu kommen!“ rief ſie atem⸗ los und umarmte mich mit der alten Mädchenherzlichkeit, „ich wäre ſchon ſelbſt bei dir geweſen, mochte euch nur nicht gleich ſtören. „Wie hübſch du geworden biſt!“ ſagte ich und betrachtete ſie voller Freude. Gabriele glich gar nicht mehr dem langen, rothaarigen Backfiſch von ehedem; ihr rötliches, ſehr feines und krauſes Haar umſprühte förm⸗ lich leuchtend ein Geſicht von den zarteſten weißroten Farben, und von den Sommerſproſſen ſchienen nur ein paar ganz pikant wirkende Tupfe über der Naſenwurzel übrig zu ſein. Größer als ich, auch von derberm Knochen⸗ baut, bot ſie ein Bild blühender Kraft. Sie hatte die Thür aufgeſchloſſen und führte mich in das wohlbekannte Eßzimmer mit der karrierten Wachs⸗ tuchdecke auf dem langen Tiſch und dem Nähtiſch am Fenſter. An dieſem Fenſter, das von der ſtarken Zimmer⸗ wärme leicht beſchlagen war, lehnte ihre jüngere Schwe⸗ ſter Mathilde, Mutchen genannt, zwiſchen den weißen Mullvorhängen und malte mit dem Zeigefinger myſtiſche Buchſtaben auf die Scheibe. „Mit dem bißchen Ordnen der Tiſchwäſche hätteſt du auch fertig werden können, ſcheint mir,“ bemerkte Gabriele verdrießlich, und warf einen Blick über die Stöße von Servietten, die neben einem halbgeleerten Wäſchekorb auf den Stühlen umherlagen, „es giebt ohne⸗ hin vor Weihnachten noch viel zu thun.“ Mutchen fuhr bei unſerm Eintritt ein wenig zu⸗ 136 ſammen und drehte ſich ſo geſchwind herum, daß der kurze Mozartzopf in ihrem Nacken mitflog. Sie war eine ganz allerliebſte kleine Perſon von etwa achtzehn Jahren, und der heiterſte Uebermut blitzte aus ihren hübſchen Augen. Als ich ſie herzlich begrüßte und ſie fragte, ob ſie ſich meiner auch noch erinnere, da ſah ſie mich mit großen, liſtigen Augen an und atmete tief auf. „O ja!“ ſagte ſie, „aber damals waren Sie an⸗ ders —. O, ſo wie Sie, — ja, ſo möchte ich ausſehen!“ „Aber warum denn, Mutchen? was iſt denn mit mir?“ fragte ich verwundert über dieſen Ton. Sie flog auf mich zu, küßte mich und flüſterte lachend: „Ich meine nur, weil Sie ſo ausſehen, daß jeder⸗ mann — jeder Mann — Sie gern haben muß. „Wirſt du aufhören, mit ſolchen Dingen zu tän⸗ deln!“ rief Gabriele aufgebracht, die eben ihre Sachen abgelegt und nur die letzten Worte recht gehört hatte, „du biſt das unnützeſte Geſchöpf auf der Welt. Es iſt nicht das geringſte Vernünftige mit ihr aufzuſtellen,“ fügte ſie unwillig, zu mir gewandt, hinzu, während Mutchen trällernd entfloh. „Iſch kann mir denken, daß ſie dir auch jetzt noch zu thun giebt,“ ſagte ich, „überhaupt hab ich dich innig nach dem Tode eurer Mutter bedauert. Denn nun biſt du natürlich hier gebundener als je. Und du hatteſt doch ganz andre Pläne. „Iſch habe ſie noch — für einen gewiſſen Fall, wenn der eintritt,“ antwortete Gabriele und ſetzte ſich zu mir, „aber es iſt mir einſtweilen recht, hier zu ſein und den 137 Hausſtand weiterzuführen. Das kann ich dir nicht er⸗ klären. Doch ſei gewiß, gegen meinen Willen thät ich's nicht. liche Bewunderung an, wie ſie das ſo feſt und ruhig aus⸗ Ich ſchaute ſie nicht ganz ohne die alte unwillkür⸗ ſprach. wärs unmöglich, etwas ſo gegen meine intimſte Umgebung „Das glaub ich von dir,“ erwiderte ich, „mir durchzuſetzen. dein Ziel gegen deine ganze Umgebung durchgeſetzt.“ „Dir —?!“ Gabriele lachte; „du haſt ja grade bekommen,“ bemerkte ich leiſe. „Durchgeſetzt? — nein, nichts. Alles nur geſchenkt Sie zuckte die Achſeln. „Du bekommſt es eben geſchenkt, — wir andern müſſen es erobern. — — Aber nur eine thörichte Heirat hätte dich aus dem Geleiſe werfen können.“ „Das könnte auch dir noch paſſieren, Gabriele.“ Sie wurde ſehr rot und entgegnete heftig: „Du meinſt doch nicht etwa, daß die Brieger Herren dafür in Betracht kämen? Die ſind heute noch genau ſo ſchlimm, wie ſie damals waren. „Wie denn: ſchlimm?“ fragte ich. „Noch ebenſo anmaßend und dünkelhaft und zurück⸗ geblieben in ihren Anſchauungen, angefangen vom klein⸗ ſten Beamten bis hinauf in die Offizierskreiſe. Nur die Form iſt je nach ihrem Stande verſchieden, das Weſen Iſt dasſelbe. Glaubſt du, auch nur einer von ihnen ahnte etwas davon, daß wir doch nicht mehr denken wie unſre Mütter und Großmütter? Daß wir nicht mehr lauter 138 Käthchen ſind, die wimmern: „mein hoher Herr!“ ſondern daß wir unſer eigner Herr geworden ſind? — kurz, daß wir mit den alten knechtiſchen Vorſtellungen aufräu⸗ men —.“ „Ach, thun wir das wirklich?“ fragte ich ganz er⸗ ſtaunt, „nein, denke nur! wer thut denn das eigentlich?“ „Das weißt du nicht? Adine, du ſcherzeſt wohl! Du, die ſo weit herumgekommen iſt, du, die ſich ſo frei entwickelt hat, — ja, was haſt du denn die ganze Zeit gethan?!“ „Ich? ich habe ja gemalt!“ ſagte ich ganz betreten. „Nun ja, gemalt! Aber während man malt, denkt man doch an etwas! Haſt du denn dabei nie über Liebe und Ehe nachgedacht, und wie die ſich zu unſern perſönlichen Rechten verhält? Das iſt ſehr unrecht von dir. Und dir lag das doch nah genug: denn eigentlich iſt doch deine Verlobung daran geſcheitert. Nur daran: denn wenn irgend ein Mann dazu imſtande geweſen iſt, ſich in dieſem Punkt vernünftig erziehen zu laſſen, ſo iſt es jedenfalls Doktor Frensdorff. Ich ſchüttelte verwundert den Kopf. „Darin irrſt du dich, Gabriele. Seine zauberhafteſte Wirkung war ſeine Tyrannei. Und ſo iſt es wohl meiſtens. Gabriele warf einen forſchenden Blick auf mich. „Du redeſt wie deine eigne Urgroßmutter!“ be⸗ merkte ſie kurz. „Unſre armen Urgroßmütter!“ ſagte ich lächelnd, „die wußten freilich rein gar nichts von ſolchen Neuerungen. Die einzige Form ihrer Liebe war wohl Unterordnung, — in dies Gefäß ſchütteten ſie alle ihre Zärtlichkeit. 139 Sollte nicht auch in uns was davon übrig ſein? was machen wir dann mit ſolchem ererbten koſtbaren alten Gefäß?“ „Wir ſtellen es meinetwegen in den Nippesſchrank zu andern Kurioſitäten, wenn es nicht ſchon ſo löcherig iſt, daß wir es hinauswerfen müſſen,“ antwortete Ga⸗ briele und ſtand unruhig auf, „ich haſſe alten Plunder! er paßt doch nicht zu den Anforderungen des praktiſchen Lebens.“ „Vielleicht nicht. Aber er kann den praktiſchen Ge⸗ rätſchaften ſo unendlich überlegen ſein durch ſeine Schön⸗ heit,“ bemerkte ich, ſtand aber gleichfalls auf, um nicht all das zu ſagen, was mir auf dem Herzen lag. „Wir reden darüber heute nicht zu Ende, Gabriele, aber ganz außerordentlich fortgeſchritten ſeid ihr ja hier in Brieg!“ Gabriele kämpfte mit etwas, was ihr nicht über die Zunge wollte. Sie äußerte nur noch zögernd: „Du biſt eben eine Künſtlerin, Adine. Ich ſage ja nicht, daß du mit Gefühlen ſpielen würdeſt, aber ihre Tauglichkeit fürs Leben iſt dir doch nicht alles, — wenn ſie dich irgendwie künſtleriſch anregen. Aber — — du kannſt damit leicht Menſchen unglücklich machen.“ Sie errötete, ihre Stimme wurde unſicher, und ſie ging ſchnell zu alltäglichern Geſprächsſtoffen über. Wäh⸗ rend wir weiter plauderten, mied ſie meinen Blick, und ich den ihren. Aber ich that es ohne die geringſte Ahnung von dem, was ſich in ihrem Herzen an Befürch⸗ tungen regte: ſie jedoch begriff aus meinem Schweigen alles. — Ich verſpätete mich bei Gabriele ſo ſehr, daß bei uns 140 meine Mutter und Benno ſchon mit dem Abendbrot auf mich warteten, als ich herunterkam. „Das thut mir leid; ich wußte nicht, daß ihr ſo genau die Minute einhalten müßt,“ bemerkte ich etwas erſchrocken und nahm eilig meinen Platz am Tiſch ein, „wie du ſiehſt, bin ich noch immer unpünktlich, Benno.“ „Es iſt nur an mir, mich zu entſchuldigen,“ verſetzte er, ohne mich anzuſehen, „denn es iſt ſehr läſtig, daß man um meinetwillen ſo genau ſein muß. Das iſt eben der Sklavendienſt. Sklaverei von früh bis ſpät, und keine Möglichkeit, einmal frei und menſchenwürdig auf⸗ zuatmen.“ Meine Mutter blickte mit Befriedigung vom einen zum andern, ſeelenfroh, daß ihre beiden „Kinder“ ſich in Liebenswürdigkeiten überboten. Sie hatte im ſtillen davor gezittert, daß wir uns am Ende ſchlecht vertragen würden. Ich ſah unverwandt Benno zu, wie er zerſtreut und haſtig aß, was er grade auf dem Teller hatte. End⸗ lich konnt ich mich nicht enthalten zu bemerken: „Wie ſeltſam, daß du ſo von deinem Beruf ſprichſt, Benno. Grade als ob er dich zum Sklaven, und nicht zum Herrn machte. Oder als ob du ebenſoqut einen ganz andern Beruf haben könnteſt, oder auch gar keinen Beruf, oder — „— Und warum ſcheint es dir denn ſo ganz un⸗ denkbar, daß ich einen andern Beruf ausfüllen könnte,“ unterbrach mich Benno nervös. „Warum? Das weiß ich nicht. Ich kann es mir einfach nicht anders vorſtellen, als daß du Irrenarzt in 141 Brieg, — oder ſonſtwo — biſt. Ich meine, das iſt kein Zufall, ſondern ein Beweis, wie dein Beruf mit dir ver⸗ ſchmolzen iſt.“ Er erwiderte gereizt: „Es iſt vielmehr ein Beweis, wie ſehr ein Menſch bei ſtrenger, einſeitiger Berufsarbeit verſtümmelt, in ſei⸗ ner vollen Entwickelung verkürzt wird. Deshalb nehmt ihr ſo ohne weitres den Berufsmenſchen in uns ſchon für den ganzen Menſchen.“ „Verſtümmelt, verkürzt?“ wiederholte ich ſtaunend, „aber Benno, entwickelt ihr euch denn nicht dabei ſo ſehr, daß ſchon die Frauenzimmer es euch neidiſch nach⸗ thun wollen? Schließlich wählt ihr ja den Beruf. „Um in ihm irgend ein paar Fähigkeiten und Fertig⸗ keiten auszubilden, — ja,“ fiel er ein, „um mehr als das zu thun, dazu gehört Zeit und Geld, alſo iſt es nur für die wenigſten. Was meinſt du wohl, was von unſerm ganzen nicht beruflichen Innenleben zur Ent⸗ wickelung kommt, wenn man in ſolchem Zeitmangel lebt, wie etwa ich gelebt habe? Mir kommt es vor, ſo lange ich zurückdenken kann, ſchon von der Schulbank her, als hätte ich niemals Zeit gehabt, und als wären daraus die ſchlimmſten Fehlgriffe entſtanden, die ich je begangen habe. Ich ſchwieg. Ich wußte ja von ſeiner überbürdeten Studienzeit, ſeiner raſtloſen Arbeit bei geringſten Mit⸗ teln, faſt ohne Muße, und ich gab ihm recht. Aber daß es Benno war, der ſo ſprach, konnte ich nicht begreifen. Wann hätte er ſich je mit Mängeln ſeiner Entwickelung herumgeſchlagen? Wann ſich je in ſeiner ſelbſtbewußten Sicherheit beirren laſſen? 142 Meine Mutter fragte dazwiſchen: „Wie iſt es denn morgen mittag, Benno? ißt du zu Hauſe?“ „Wahrſcheinlich nicht. Es iſt weit über Land, wo ich hin muß. Wir bringen den Kranken wohl gleich mit,“ entgegnete er zerſtreut, beendete etwas haſtig ſein Abendeſſen und ſtand auf. „Du entſchuldigſt wohl, es wartet jemand auf mich,“ bemerkte er zur Mutter, und dann, ſchon bei der Thür, wandte er ſich noch einmal zu mir und ſagte zögernd: „Ich wollte dich noch fragen, ob du nicht — ich wollte dich bitten, morgen vormittag, — natürlich falls du nichts andres vorhaſt, — ob du mir nicht wieder etwas Geſellſchaft leiſten willſt. So wie heute. Es iſt meine liebſte Stunde. Dabei ſah er eilig und beſchäftigt aus und ſah nie⸗ mand an, während er redete. „Gewiß! ich will kommen,“ ſagte ich ein wenig leiſe. Dabei ſchlug auch ich die Augen nicht auf. Meine Glieder wurden mir bleiſchwer. Ich ſtützte die Arme auf den Tiſch und den Kopf darauf. „Wenn ich doch aus dem Hauſe ginge und den Nachtzug nach Paris nähme!“ dachte ich. Meine Mutter hatte von Benno wieder auf mich geblickt; ihre Augen leuchteten, und wer kann wiſſen, welche Hoffnungen in ihr aufſtiegen und welche Mutter⸗ wünſche, während ſie umherging und das Dienſtmädchen beaufſichtigte, das den Tiſch abräumte. Dieſes war eine arme entlaſſene Inſaſſin des Irrenhauſes, wie meiſtens unſer Geſinde. 143 Nach einer Weile ſchien in einer Droſchke Beſuch vorzufahren. Meine Mutter trat in den Flur hinaus und kam bald darauf mit einer kleingewachſenen jungen Dame zurück, die an einem Krückſtock ging. zutreffen,“ bemerkte die Mutter, indem ſie uns mitein⸗ „Die Baroneſſe Daniela hatte gehofft, Benno an⸗ ander bekannt machte, „ich habe ſie gebeten, bei uns ein wenig zu warten, weil Benno nur vorübergehend in Anſpruch genommen iſt.“ blick ſprechen,“ ſagte die Baroneſſe mit einer höchſt wohl⸗ „Ich wollte Herrn Doktor Frensdorff nur einen Augen⸗ lautenden ſanften Stimme zu mir, „nur um zu hören, ob ich morgen kommen darf. Denn ich kann nicht immer von Hauſe fortkommen. — Aber vielleicht wiſſen Sie überhaupt gar nicht, daß ich ſeine Schülerin bin?“ ſetzte ich, ſie ins Wohnzimmer geleitend, wobei ich ſehen „Nein! Davon wußte ich allerdings nichts,“ ver⸗ konnte, wie ſtark ſie in den Schultern und Hüften ver⸗ wachſen war, „— aber unmöglich ſtudieren Sie Medizin?“ Die Baroneſſe Daniela mußte bei dieſer Zumutung lachen, und ihr blaſſes, ſchmales, merkwürdig altblickendes Geſicht verjüngte und verſchönte ſich dabei. „Nein, nein!“ wehrte ſie ab, und ſetzte ſich mühſelig hin, „richtig ſtu⸗ dieren kann ich ja überhaupt nicht. Aber Herr Doktor Frensdorff treibt viel Schönes mit mir, Litteratur, Ge⸗ ſchichte, ſogar etwas Philoſophie.“ „Was Tauſend! Benno thut das?“ unterbrach ich ſie überraſcht, „aber wann kommt er denn dazu?“ „Ja, er thut es aus Güte für mich. Ich bin näm⸗ ich ſeine Patientin geweſen. Eh ich zu ihm kam, war 144 ich ganz entſetzlich unglücklich. Er aber hat mich gelehrt, glücklich zu werden. „Indem er Ihnen ſolche Studien erſchloß?“ Sie ſchüttelte den blonden Kopf. „Nein. Indem er mich darüber aufklärte, daß das, woran ich kranke, unheilbar iſt, und daß ich mich damit abfinden muß. Unheilbar verwachſen bin ich, — nein, werden Sie nicht verlegen für mich!“ fügte ſie ſehr lieb im Ton hinzu, und legte ihr kleines blaugeädertes Händ⸗ chen auf meine Hand, „Sie ſehen ja, ich kann ſo ganz ruhig davon ſprechen. Und als ich ihre Hand umfaßt hielt, und ſie die ſtumme Anteilnahme, das große lebhafte Intereſſe in mei⸗ nen Augen leſen mochte, da fuhr ſie vertrauensvoll fort: „Mich haben die Menſchen ſo ſehr damit gepeinigt, daß ſie mir aus lauter Mitleid vorredeten, ich würde mich bis zum erwachſenen Alter grade wachſen und wer⸗ den wie andre auch. Aber je älter ich wurde, — ich bin jetzt neunzehn, — deſto beſſer begriff ich, daß ſie mich betrogen, und wagte doch nicht, es irgendwen merken zu laſſen oder mich gegen irgendwen auszuſprechen. Denn bemitleidet leben zu müſſen, das iſt doch wie Tod, nicht wahr? Ueber dieſem innern Zwang und erſtickten Kum⸗ mer wurde ich zuletzt ſchwermütig. Und nun wurde Herr Doktor Frensdorff ins Haus gerufen. Er brauchte nicht lange, um die Sachlage zu durchſchauen! Er fing damit an, mich die Wahrheit ertragen zu lehren. Ach, er hat es nicht leicht gehabt, das können Sie glauben! Ich habe bei ihm geweint und geſchrieen, und ſchließlich lernte ich bei ihm wieder lachen. Lou Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 10 145 In mir wurde alles Wärme und Zärtlichkeit, als ich ſo dem feinen, ſympathiſchen Stimmchen zuhörte. Das beſeelte Geſicht da vor mir, mit ſeinem Ausdruck von Mut, Glück und Leiden, wirkte ſo ſtark auf meine durch alle Eindrücke leicht erregten Sinne, daß ich die kleine Verwachſene am liebſten an mich gezogen und geküßt hätte. Auch gemalt und für mich behalten hätte ich gern dies intereſſante kleine Geſicht. Darüber achtete ich nur noch zerſtreut auf ihre Worte. Um es nicht merken zu laſſen, ſagte ich: „Ich kann mir ſehr gut denken, daß in dieſer kleinen Provinzialſtadt mit ihrem Mangel an geiſtigen Intereſſen Benno Ihnen durch ſein Eingehn auf alles ein wahrer Halt und Troſt iſt. Aber wahrſcheinlich ſind Sie es ihm nicht minder. „Nein, ich bin ihm wohl nichts,“ ſagte ſie ſehr ernſt⸗ haft, „oder richtiger: ich wäre ihm wohl nichts, wenn ich nicht ein Krüppel wäre, der ihn braucht und ihm leid thut. Aber das iſt ja grade das Herrliche und Merk⸗ würdige: daß es ſo glücklich macht, ſich ihm gegenüber klein und gering vorzukommen und nur ſein Mitleid zu verdienen. Daß er ſich zu mir herabbeugen muß, und daß ich alles nur durch ihn habe, — das hab ich eben vor all den glücklichen, geſunden, anſehnlichern Menſchen voraus, nicht wahr? Dafür gönn ich ihnen gern ihre Schönheit und Kraft, und bin zufrieden mit meinem Ge⸗ brechen und meiner Schwäche. — Aber ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle,“ fügte ſie lächelnd hinzu, „Sie ſehen ſo gut aus: vielleicht lachen Sie nicht darüber. 146 „Nein, ich lache nicht darüber,“ ſagte ich aufs tiefſte ergriffen und ſchloß die kleine Schwärmerſeele in die Arme, wie ein Schweſterchen, das ich bis auf den Grund ihrer ſeligen thörichten Romantik verſtand. Ob ſie wohl eine Ahnung davon hat, daß ſie ihn liebt? dachte ich mit furchtſamem Herzen. Da fuhr ſie plötzlich in meinen Armen zuſammen, ſo ſehr, daß ihr ganzer armer kleiner Körper erzitterte. „Was iſt —?“ fragte ich erſchrocken und ſtand auf. Sie lauſchte. „— Es iſt ſein Schritt!“ ſagte ſie leiſe. 147 Als ich am nächſten Vormittag zu Benno hinüber⸗ ging, war er ſchon da, aber ein Angeſtellter des Irren⸗ hauſes war noch bei ihm und ſtand wartend neben dem Schreibtiſch, an dem Benno ſaß und einige Papiere ordnete. Ich zündete den Spiritus unter dem Theekeſſelchen an, und ſetzte mich auf eine breite mit Leder überzogene Ottomane an der Hinterwand des Zimmers. Auf einem dicht heran geſchobenen niedrigen Tiſch lagen durch⸗ einander allerlei Bücher und broſchierte Schriften. Nach dem geſtrigen Geſpräch mit der kleinen Baroneſſe wun⸗ derte ich mich nicht mehr, zwiſchen der Fachlitteratur die verſchiedenſten andern Geiſteswerke zu finden, von denen ich früher nie geglaubt hätte, daß ſie ſich bis zu Benno verirren würden. Zweifellos war dieſe Bereicherung und Vermehrung ſeiner Intereſſen ein vorteilhafter Wechſel; nur zu ſeiner ganzen Eigenart, von der Schroffheiten und Engen mir völlig unabtrennbar ſchienen, wollte er nicht recht ſtimmen. Nachdenklich langte ich einen abgegriffenen klein⸗ gedruckten Band hervor, der zu einer ältern Schillerausgabe gehörte; offenbar durchſtöberte Benno den alten Familien⸗ ſchrank im Wohnzimmer, um ſich litterariſch zu bilden, und war jetzt alſo bei Schiller angelangt. Dieſe Bemerkung kam mir ohne allen Hohn, — ich freute mich drüber, daß er im Grunde doch noch ganz derſelbe blieb, — Pedant und unmodern. „Wallenſteins Tod.“ Mitten im Band kniſterte ein breites trockenes Epheublatt und ließ das Buch ſich dort von ſelbſt öffnen. Ein langer feiner Bleiſtiftſtrich den berühmten Monolog an Mar entlang: Die Blume iſt hinweg aus meinem Leben, Und kalt und farblos ſeh' ich's vor mir liegen. Denn er ſtand neben mir, wie meine Jugend, Er machte mir das Wirkliche zum Traum, Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge Den goldnen Duft der Morgenröte webend — Im Feuer ſeines liebenden Gefühls Erhoben ſich, mir ſelber zum Erſtaunen, Des Lebens flach alltägliche Geſtalten. — Was ich mir ferner auch erſtreben mag, Das Schöne iſt doch weg, das kommt nicht wieder. ¹ — Ich las es ganz arglos; mir fiel nicht ein, daß jemand hier „ſie“ für „er“ geleſen haben könnte. Aber auch zu mir ſprach es wie ein Liebesgedicht —. Benno war aufgeſtanden, er hatte den Mann ab⸗ gefertigt und wandte ſich mir zu. „Ach laß das,“ bemerkte er mit einem Anflug von Verlegenheit, als er mich mit dem Buch in der Hand ſitzen ſah, „hier giebt es nichts, was dich intereſſieren könnte. Wir redeten ja ſchon geſtern davon, daß man in allem unwiſſend und ein Stümper bleibt, was nicht zum Beruf gehört. Ich kann nur wieder ſagen: leider! 140 Denn auch in meinem Beruf wäre der Tüchtigſte, wer zugleich Welt und Leben mit umfaſſen könnte. Thee und entgegnete zögernd: Ich legte das Buch aus der Hand, beſorgte den Benno. Du urteilteſt über alles als Mediziner ab und „Früher dachteſt du doch ganz anders darüber, ließeſt keinen Einwand gelten. Wodurch iſt denn das nur ſo gekommen? verſchneite Straße hinaus, die von den gegenüberliegen⸗ Er war an das Fenſter getreten und blickte auf die den Gefängniſſen verdunkelt wurde. „Dadurch, daß ich dich verlor!“ ſagte er halblaut. regungslos. Aber ich dachte bei mir: „Das war ja durch⸗ Ich wagte nichts zu erwidern. Ich verharrte aus dein eigner Wille, dieſer Verluſt.“ Ohne ſich vom Fenſter abzuwenden und ohne nach mir hinzuſehen, fuhr er mit halber Stimme fort: „Ja, dadurch allein. Sonſt wär ich wohl lebens⸗ lang ſo geblieben wie damals: für meine eigne Perſon ge⸗ wiß nicht anmaßend, ſondern voll Beſcheidenheit, aber voll Ueberſchätzung und Dünkel hinſichtlich meiner un⸗ fehlbaren Weisheit, als Fachmenſch. Aber da erkannte ich allmählich, wodurch ich dich verloren hatte: durch den Mangel an Einſicht in das, was dir not that, durch Mißverſtehen alles deſſen, was kraftvoll und geſund in dir war, und nur deshalb krankhaft erſchien, weil man deine Entwickelung unterband, weil man dich nicht in den Stand ſetzte, es künſtleriſch aus dir herauszugeben — „— Das war gut ſo,“ unterbrach ich ihn mit An⸗ ſtrengung, „— die Zukunft hat es bewieſen. Sie hat 150 bewieſen, wo meine Tüchtigkeit liegt. — — Nicht da, wo wir ſie ſuchten —. „Scheinbar: ja,“ verſetzte er faſt heftig in unter⸗ drücktem, gequältem Ton, „ſcheinbar hatt ich ja recht, aber warum? Nur, einzig und allein nur, weil wir von vornherein einen entſetzlichen Fehler gemacht haben. Ich meine in deinem Verhalten zu mir. Anſtatt dich durch die Grenzen und Schranken meiner Unerfahrenheit ein⸗ zuengen, hätt ich mich durch dein reicheres Weſen hinaus⸗ leiten laſſen ſollen aus ihnen, — grade wie es mir ja durch dich während unſrer Trennung geſchehen iſt. „Nein, o Benno, nein!“ fiel ich ein, „dann wärſt du ja gar nicht du ſelbſt geweſen. „Ich ſpreche dich ja bei dieſem begangenen Fehler durchaus nicht von Mitſchuld frei!“ ſagte er eindring⸗ lich, „nein, wie ſehr, wie ſehr warſt du ſelbſt ſchuld daran! Schuld durch deine Folgſamkeit und Fügſamkeit, ſchuld durch deine leidenſchaftliche Selbſtunterwerfung und den kritikloſen Glauben an meine thörichte Unfehlbarkeit. Hätteſt du mich nur nicht über dich geſtellt, ſondern neben dich, — ach, lieber noch unter dich, als ſo hoch hinauf.“ „Dann hätt ich dich nicht geliebt,“ ſagte ich leiſe. „Ach Kind,“ verſetzte er mit gedämpfter Stimme und wendete ſich vom Fenſter fort, „— warum liebt ich dich denn? mir ſelbſt unbewußt doch um deswillen, worin du thatſächlich über mir ſtandeſt, etwas Selteneres, Feineres, Glanzvolleres warſt als ich. Ich kam aus der Dürftigkeit, aus der Dunkelheit zu dir wie ins Licht. — — Sieh, warum ſoll das auch nicht ſein? Es ſind 151 ja grade ſolche Frauen, die uns vor der Seelenöde ret⸗ ten, die unſre Berufsmonotonie ergänzen —. Im Beruf, da mögen wir ja die Ueberlegenen ſein, mögen beſtim⸗ men, befehlen, unterweiſen, was uns unterſtellt iſt, — aber der Frau gegenüber, die wir lieben: glaube mir, da fällt dieſer ſchlechte Ehrgeiz fort. Da werden wir wieder gut und einfach und Kinder, und wollen uns gern beſchenken, uns gern die ſchönſten Träume erzählen laſſen, — mit unſerm Kopf in eurem Schoß. Ich hatte mich in dem Seſſel niedergelaſſen, die Arme aufgeſtützt und das Geſicht in den Handflächen ver⸗ graben. Er ſollte mir nicht in das Geſicht ſehen, das nichts zu verſchweigen verſtand. Er ſollte nicht ſehen, wie ſeine Worte auf mich wirkten — gleich einem feinen, langen, ſchmerzenden Stich durch alle Nerven. Eine ſtaunende und enttäuſchte Traurigkeit legte ſich über mich, als er ſo von ſeiner Liebe ſprach, — eine Traurigkeit, als gölte dieſe Liebe gar nicht mir, ſondern als liebte er ſozuſagen an mir vorbei ins Leere hinein. Als ich noch immer ſchwieg, kam Benno näher, ſetzte ſich mir gegenüber an das Kaminfeuer und ſagte nach einer Pauſe: „Siehſt du, von dieſen innern Umwälzungen iſt auch meine äußere Eriſtenz beeinflußt worden. Du mußt nicht denken, daß ich ewig hier bleiben will. Ich will nicht den Direktorpoſten hier, und habe Ausſichten in einer größern Stadt — —. Nun, davon ein andres Mal. Ich wollte dir nur ſagen, weshalb ich hier ſo un⸗ ſinnig viel gearbeitet habe, — du dachteſt wohl, weil 152 ich gan; aufgegangen wäre hier im Winkel. Aber das iſt nicht ſo. Mit einem Ziel vor Augen, einem einzigen Ziel, hab ich wie verrückt gearbeitet — und auch ge⸗ ſpart und gegeizt, — der reine Hamſter —.“ Er bückte den Kopf gegen das Feuer und lächelte ein wenig: es ſah beinah kindlich froh aus. Iſch hatte die Hände ſinken laſſen und ſchaute auf ihn, und eine unausſprechliche Weichheit kam über mich. Ich ſah den blonden Kopf mit dem gelichteten Haar an den Schläfen, dem nervöſen Zug um den Mund, und mit dem etwas angeſtrengten, geſpannten Ausdruck. der faſt nie mehr von ſeinem Geſichte wich. Und ich ſah vor mir die Oede, durch die er gewandert war, die Summe von Arbeit und Einſamkeit, die hinter ihm lag. Wie ein neuer, zuvor nie in ſeiner Wirklichkeit von mir geſchauter Menſch kam er mir vor; der „ge⸗ panzerte“ Mann meiner Backfiſchromantik legte ſeine Rüſtung ab, und dahinter ſtand ein kindguter, liebe⸗ bedürftiger Menſch, der keinen, — nein keinen, mit har⸗ tem Fuß niederzutreten vermöchte. „Um den Hals fallen ſollte man ihm, und ihm alles Liebe anthun!“ dachte ich weich und erſchüttert. Aber in meinem Herzen blieb dennoch dieſelbe große Traurig⸗ keit und Enttäuſchung, wie wenn er mir etwas Bitteres zu leide gethan hätte. Er ſtand in ſeiner Unruhe wieder auf und ſagte be⸗ fangen: „Was es mich damals gekoſtet hat, — nur deine Mutter weiß es, was es mich gekoſtet hat, dich fort⸗ zulaſſen. Du durfteſt es ja nicht wiſſen. Und um deinet⸗ 153 willen mußte es ſein. Ich ſchuldete deinen Eltern ſo viel, — ich hätte ja auch nie um dich zu werben ge⸗ wagt, — ich konnte dich nicht kranken und verkümmern laſſen. Jetzt, — jetzt würd es anders ſein, Adine.“ „— Benno —!“ ſagte ich leiſe, verwirrt, wie geſtern, und auch in abwehrender Furcht wie geſtern, vor den Worten, die nun kommen mußten. Aber es war doch nicht dieſelbe Furcht, und nichts erzitterte in mir dabei in lähmendem Unterliegen, und nichts durchſchauerte mich, wie geſtern. Ich dachte in dieſem Augenblick überhaupt nicht an mich, ſondern nur allein an ihn, und alles, was ich fürchtete, war, ihn leiden zu ſehen, ihm weh thun zu müſſen. Nie, noch nie bin ich ihm menſchlich, in menſch⸗ licher Anteilnahme, mitempfindend ſo nahe geweſen, — nie aber auch war ich gleichzeitig ſo fern von ihm, ſo weit, weit fort, — als Weib. „Ja, vielleicht haſt du recht!“ ſagte ich atemlos, überſtürzt, und richtete mich auf, „— vielleicht hätten wir von allem Anfang an anders miteinander ver⸗ ſchmelzen können, ohne Kampf, ohne Hemmnis, auch ohne Unterordnung oder Ueberordnung des einen oder des an⸗ dern! Einfach in der Freude und im Rauſch unſrer friſchen Jugend. Ja vielleicht! Vielleicht giebt es eine ſolche Liebe, und iſt ſie möglich und iſt ſie ſchön,“ — ich ſtockte, und ein Schmerz, den ich ſelbſt nicht begriff, machte mir die Bruſt eng; ich fügte mühſam hinzu: „— aber das iſt verſcherzt, das iſt für mich zu ſpät — „Nein, — nicht! bitte, ſage nichts!“ bat er haſtig und durch meinen plötzlichen Ausbruch erſchreckt, „— du 154 ſollſt gar nicht ſo übereilt — du ſollſt dir Zeit laſſen, — prüfen —; nur mir von der Seele ſprechen mußt ich es gegen dich - Er brach ab, weil im anſtoßenden Wartezimmer eine Thür knarrte; ein leichtes Geräuſch, wie von einem Stock, der den Boden berührte, wurde hörbar. Benno blickte unruhig auf die kleine Standuhr auf dem Kaminſims. „Unmöglich kommt ſie ſo früh,“ murmelte er ver⸗ wirrt, „ich habe ihr doch geſtern abend die Stunde genannt. Doch ſchon pochte es leiſe, und er öffnete die Thür ins Wartezimmer. Vor ihm, ganz hell vor Freude, Er⸗ wartung und Ungeduld, ſtand die kleine Baroneſſe. Sie begrüßte mich wie eine alte Bekannte, ohne irgend etwas von der Benommenheit zu merken, worin ſie Benno und mich vorfand; ſie war dazu ſelbſt zu benommen. „Wir ſind geſtern ſchon ganz ſchnell die beſten Freunde geworden,“ erklärte ich Benno, der ihr den Krückſtock aus der Hand nahm und ihr den bequemſten Seſſel heranrückte. „Das wundert mich gar nicht,“ erwiderte er mit der ruhigen und beruhigenden Stimme, die er als Arzt zur Verfügung zu haben ſchien, wie eine bereitliegende Maske, „du würdeſt auch in ganz Brieg ſchwerlich einen zweiten Menſchen finden, mit dem du ſo gut zuſammen⸗ paßt, wie die Baroneſſe Daniela. „Nicht in allem!“ ſagte die kleine Verwachſene lä⸗ chelnd, „man dürfte uns zum Beiſpiel ſchon nicht zuſammen 155 auf der Straße ſehen; wie ſchön würd ich da nach⸗ humpeln müſſen. Benno warf ihr durch ſeine Brille einen forſchenden Blick zu. ſo ſchlank gewachſen wie eine Tanne im Walde, ſo wür⸗ „Grade deshalb!“ bemerkte er, „denn wären Sie den Sie in andrer Hinſicht ſchwerlich ſo hoch in die Höhe gewachſen, ſondern recht oberflächlich ausgefallen ſein, und unſrer Dina in allen Stücken nachhumpeln müſſen. Sie ſtrahlte ihn ſtatt jeder Antwort mit ihren dank⸗ baren, glücklichen Augen an, und ich ſah es ihr an, wie völlig geborgen ſie ſich vorkam, — auf eine Stunde vor allem Ungemach geborgen, und mit ihm zu zweit allein. die Hand, „ich denke aber, daß wir bald wieder mit⸗ „Ich gehe nun hinüber,“ äußerte ich und gab ihr einander plaudern.“ „Bald, ja!“ verſetzte ſie zerſtreut und blickte unver⸗ ſehens Benno an, ſtatt mich, „— wenn man mich nur bald wieder herläßt. Jetzt gibt es ſo viele Abhaltungen vor Weihnachten. Deswegen mußt ich heute ſchon ſo früh kommen, — ſpäter käm ich nicht frei.“ Ich verließ das Zimmer faſt mit einer wunderlichen Regung von Neid. Ja, ich beneidete beinah die kleine Verwachſene um die harmloſe Romantik, womit ſie da drinnen bei Benno ihren Anteil an Menſchenglück ſich vorweg nahm. Sie konnte ihn hoch über ſich ſtellen, ſich ſelbſt demütig unter ihn, ohne daß dieſe halb er⸗ träumte Situation ſich jemals zu ändern brauchte, ohne daß die Wirklichkeit des Lebens ſie jemals in ihren Illu⸗ 156 ſionen und Phantaſien ſtören würde, — denn Leben und Wirklichkeit blieben ihr doch wohl immer fern. Sie ſetzte jetzt den Becher an die Lippen und nippte von derſelben Sklavenſeligkeit, woran ich mich einſt Benno gegenüber ſo bis zur bewußtloſen Selbſt⸗ vernichtung berauſcht hatte, — und die es für mich ihm gegenüber nun nicht mehr gab. Und arglos hielt er ihr dieſen betäubenden, gefährlichen Trank an die Lippen. Von mir aber, die damit bis in die letzten Nervenfaſern vergiftet geweſen war, heiſchte er ebenſo arglos, daß ich, mit ernüchtertem Herzen und ernüchterten Augen, ihn lie⸗ ben ſollte —. Bei uns im Wohnzimmer traf ich Gabriele. Meine Mutter ſchien eben erſt von Weihnachtsbeſorgungen in der Stadt heimgekehrt zu ſein; ſie ſtand noch im Hut da und trug die einzelnen Ausgaben in ihr Notizbüchel⸗ chen ein. Gabriele drehte ſich raſch nach mir um und rief: „Ich bin nur da, um dich zu fragen, ob du nicht heute abend ein wenig zu uns heraufkommen willſt? Es ſind lauter alte Bekannte bei uns, die neugierig ſind, dich wiederzuſehen, wie du dir wohl denken kannſt.“ „Ja, danke. Vielleicht. Nimm es lieber nicht als gewiß,“ entgegnete ich, von der Vorſtellung erſchreckt, den Abend geſellig verbringen zu ſollen, und ſetzte mich an den Tiſch, auf dem mehrere aufgeſchnürte Pakete mit blitzenden Anhängſeln zum Chriſtbaum lagen. „Auf mich mußt du keine Rückſicht nehmen,“ be⸗ merkte die Mutter und legte ihr Notizbuch neben mich hin, „ſo früh, wie ich's gewohnt bin, kannſt du dich ohne⸗ 157 hin nicht zur Ruhe begeben. Aber ich wache nicht davon auf, wenn du ſpäter ins Schlafzimmer kommſt. am Notizbuch und begann zerſtreut auf dem harten grau⸗ Ich langte nach dem kleinen abgenutzten Bleiſtift weißen Paketumſchlag zu zeichnen. herauf?“ fragte Gabriele zögernd. „Doktor Frensdorff kommt wohl ſicher nicht mit tags weit über Land und kehrt erſt ſpät zurück.“ „Schwerlich,“ verſetzte die Mutter, „er fährt mit⸗ reſigniertem Ton, daß ich unwillkürlich aufblickte. „Alſo nicht!“ bemerkte Gabriele in ſo merkwürdig feinem Kraushaar wie von einer leuchtenden Wolke um⸗ Ich vermochte in dem geſenkten Geſicht, das von ſchattet wurde, nichts zu leſen. Aber jetzt nachträglich fiel mir Gabrielens fortwährendes Erröten bei unſerm geſtrigen Geſpräch und manches ihrer Worte auf. Faſt kam mir ein Lächeln. Wenn ſie wirklich in Benno verliebt war, ſo mußte man es humoriſtiſch nen⸗ nen, um wie verſchiedener, ja einander ausſchließender Eigenſchaften willen wir drei uns für ihn intereſſiert hatten. Was iſt nun ein Menſch weſentlich andres, als was wir uns aus ihm zurechtmachen? Aber von uns dreien traute ich Gabriele das beſte Urteil über ihn zu. Vermutlich hatte ſie ganz recht damit, daß ſie eine paſſende Frau für Benno wäre, von der er ſich dann ſicher auch genau ſo erziehen ließe, wie es ſich nach Gabrielens Meinung für die Frau von heute ſchickte. Da bemerkte Gabriele: „Doktor Frensdorff iſt überanſtrengt und über⸗ 158 beſchäftigt, daher geht er nirgends hin. Jemand ſollte ihm das ausreden. Das ſollteſt du thun, Adine. „Er hört doch nicht drauf,“ meinte die Mutter und ging hinaus, um ihren Hut abzulegen. „Auf dich würd er wohl hören,“ ſagte Gabriele halblaut. Ich ließ überraſcht den Bleiſtift fallen und ſah ſie an. „Wär es dir denn im Ernſt angenehm, wenn ich mich drum kümmerte oder ihn beeinfluſſen wollte?“ „Ja. Wenn es zu ſeinem Wohl dient,“ verſetzte Gabriele finſter. Etwas von meiner alten Bewunderung für ſie regte ſich in mir. Und eine warme Bereitwilligkeit, ihr zu helfen. Sie ſollte wiſſen, daß ich ihr nicht in den Weg treten würde. „Meine Sache iſt das aber gar nicht,“ ſagte ich raſch und in leichtem Ton, während ich fortfuhr zu zeich⸗ nen, „du weißt ja: ich gerate lieber ſelbſt unter je⸗ mandes Einfluß. Ich will aber beides nicht. Es iſt alſo beſſer, wenn dir das zugehört, und niemand anders teil dran nimmt. Gabriele ſtand auf. „Ich muß hinaufgehn, um nach unſerm Mittag zu ſehen, auf Mutchen iſt kein Verlaß,“ bemerkte ſie ruhig, dann aber, als ich ihr die Hand gab, ſah ſie mir feſt und faſt etwas hochmütig in die Augen und fügte ernſt hinzu: „Was uns wahrhaft gehört, Adine, das nimmt nie⸗ mand uns fort. Was uns wahrhaft gehört, das fällt 159 uns zu, früher oder ſpäter. Daher ſind alle kleinlichen Sorgen um Dein und Mein niedrig. Alles was wir zu thun haben iſt, ſelber vorwärts zu gehn; wer zu uns gehört, geht mit, wer das nicht thut,“ — ſie hielt inne und atmete tief auf, — „der — ja der darf uns auch nicht aufhalten. papier. Leidenſchaftsloſigkeit und Ueberzeugungskraft ſind Ich beugte mich, etwas verdutzt, über mein Paket⸗ gewiß hohe Tugenden. Und ich —? Ach, ich! wieder eintrat und mir über die Schulter ſah. Ich blickte erſt wieder verwundert auf, als die Mutter Mutter überraſcht, „nur gar ſo ſchön, wie du ihren Kopf „Aber das iſt ja die kleine Baroneſſe!“ rief die gezeichnet haſt, iſt ſie doch nicht, Kind. „Nicht ſchön —? — Uebrigens iſt es eigentlich auch nicht grade die Baroneſſe Daniela. Es iſt nur das Glück, Mama.“ „Das Glück —?!“ „Ja. So ungefähr ſchaut es aus. Aus ſolchen Augen ſchaut es das Leben an. „Arme Daniela,“ meinte die Mutter, „ſie hat es ſchwer genug im Leben. Weißt du, daß ſie auch grade eine Majorstochter ſein muß, wo ſo viel laute Geſellig⸗ keit im Hauſe herrſcht —. Man möchte ihr ſchon ein wenig Glück zu Weihnachten wünſchen, als Chriſt⸗ geſchenk.“ „Ach Mama, kein Menſch weiß ja ſo recht, was der andre ſich wünſcht. Ich könnte mir zum Beiſpiel Da⸗ nielas Schickſal wünſchen. Oder einfach zu Weihnachten einen ſchön gewölbten Buckel, Mama. 160 „Aber Dienchen! ſo ſündhafte Scherze ſoll man nicht machen.“ Das Dienſtmädchen kam herein und brachte die ein⸗ gelaufene Poſt. Sie überreichte die paar Kartenbriefe mit einer Würde auf dem Präſentierteller, als wären es mindeſtens hochwichtige Depeſchen. „Ich möchte wohl wiſſen, warum die Anna immer ſo feierlich thut,“ bemerkte ich, nachdem ſie wieder hinaus⸗ gegangen war, „wenn ſie abends die Lampe bringt, trägt ſie ſie auch vor ſich her wie eine Gottesfackel. „Sie iſt krank geweſen. Das iſt ihr von der Krank⸗ heit verblieben. „Was — die Feierlichkeit?“ „Die Wahnvorſtellung, als ob alles, was ſie thut, die feierlichſte Bedeutung hätte. In ihrer Geiſteskrank⸗ heit war ſie nämlich ganz glückſelig. Da hat ſie gemeint, beim Kaiſer von China zu dienen. Das kann ſie ſich in ihren Manieren noch nicht recht abgewöhnen. Abex Benno meint, das ſchade nichts. „Und das nennt man nun Wahnſinn!“ ſagte ich ſeufzend. „Eine Fähigkeit, ſo beglückende Illuſionen ein⸗ fach feſtzuhalten. Ich glaube, Mama, ich wünſche mir zu Weihnachten außer dem Buckel auch noch einen ganz niedlichen kleinen Wahnſinn. „Aber, Kind! Du redeſt ja ſchon den reinen Wahn⸗ ſinn!“ meinte die Mutter unwillig, und las ihre Karten⸗ briefe. Ich legte die Arme auf den Tiſch und den Kopf darauf. Der Kopf war mir ſo leer, und das Herz ſo ſchwer, wie nach einer Vergeudung und Erſchöpfung Lou Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 11 161 aller Kräfte. Und dabei war der Morgen doch ſo idylliſch friedlich verlaufen. Ohne Not hatte ich mich vor den Morgenſtunden bei Benno gebangt, als drohte mir in ihnen eine Gefahr, die heimlich anzieht, wie Schwindel und Abgrund —. Da war gar kein Abgrund. Flache grüne Wieſe, eine Landſchaft geſchaffen zum Schäfer⸗ idyll — —. Und Sehnſucht und Enttäuſchung und ein Widerwille gegen alles, was nicht Abgrund und Gefahr ſein wollte, wachten in mir auf. In mir erwachte ganz dieſelbe Gemütsſtimmung und Gemütsſpannung, in der ich mich damals von Benno losriß, — weil mir der volle Becher zwiſchen den Lippen zerſchellte. 162 Ungern entſchloß ich mich gegen Abend, zum Ren⸗ danten in die kleine Geſellſchaft zu gehn. Aber es wäre mir ebenfalls ſchwer gefallen, dieſen Abend neben meiner Mutter im Wohnzimmer zu ſitzen und mit ihr heiter und eingehend zu plaudern. So kleidete ich mich denn auf ihr Zureden um und ſchickte mich an hinaufzugehn, um Gabriele nicht zu kränken. Als ich aus unſern Stuben in den Hausflur trat, fand ich ſeltſamerweiſe die Thür nach der Straße weit offen. Eh ich ſie zumachte, blieb ich einen Augen⸗ blick lang auf der Schwelle ſtehn und ſchaute hinaus. Draußen war es unwirtlich und häßlich. Der Froſt zeigte Neigung, in Tauwetter überzugehn; die Schnee⸗ ſchicht lag nur noch dünn und klebrig auf der Straße, und ein feiner Winternebel verſchleierte das gelbe Licht der Laternen. Da, wie aus der Erde gewachſen, ging ein junger Mann draußen vorüber und grüßte. Die Straße war er nicht herabgekommen, ich hätte ſeinen Schritt durch den getauten Schnee hören müſſen. Ich ſchloß die Thür, von der feuchten Kälte durch⸗ ſchauert, als im ſelben Augenblick jemand von der Hof⸗ ſeite durch das Hinterpförtchen in den Flur huſchte. Ich wandte mich um und erkannte Mutchen. Mutchen ſah erſchrocken aus; in einen Mantel ge⸗ hüllt, aus dem das helle Geſellſchaftskleidchen hervor⸗ leuchtete, ſtand ſie wie verſtört da und horchte nach oben, wo das Geräuſch herabkommender Schritte hörbar wurde. Arm und flüſterte haſtig und ängſtlich: Dann lief ſie plötzlich auf mich zu, faßte mich am Frensdorff hineinſchlüpfen, — er iſt nicht zu Hauſe, — „Ach, laſſen Sie mich um Gottes willen zu Doktor bitte, bitte, ich erkläre Ihnen gleich — und zog Mutchen dort hinein. Ich ſtieß die Thür zu Bennos Wartezimmer auf wer bedroht dich?“ „Was iſt denn geſchehen? vor wem fürchteſt du dich? Mutchen atemlos; „— bitte, bitte, ſagen Sie nur Papa „Ich glaube, das Mädchen geht nach Bier,“ flüſterte oder gar Gabriele nichts, — nein? Sie haben's ja ge⸗ ſehen, Sie ſtanden ja an der Hausthür, als Doktor Gerold vorüber mußte. „Doktor Gerold? war das der, der eben vorüber⸗ ging? wer iſt es denn? und wozu heimlich?“ Mutchen ſchmiegte ſich in der dunkeln Stube an mich und flüſterte halb ſchüchtern, halb ſchelmiſch: „— Wozu?! — ja, wie ſoll man denn anders? Haben Sie denn nie einen lieb gehabt? Ich kann ihn doch nicht plötzlich da oben hinſtellen zwiſchen Papa und die Tanten und Verwandten. Sie würden ja auf den Tod erſchrecken. Abgeſehen davon, daß Gabriele mich — na!“ 164 „Ihr ſeid wohl heimlich verlobt, Doktor Gerold und du?“ „Ich glaube,“ ſagte Mutchen zögernd. „Du glaubſt es nur?! Du weißt nicht, ob ihr ver⸗ lobt ſeid?“ „Ja, kann man denn das ſo ganz genau wiſſen?“ Mutchens Stimme klang kläglich, „wir ſind noch ſo jung alle beide, er kann ja eigentlich noch gar nicht etwas ſo Feſtes — — ach du, kann man denn daran denken, wenn man jung iſt und einen lieb hat?“ ſetzte Mutchen in raſchem Stimmungswechſel reſolut hinzu und merkte nicht einmal, daß ihr das vertrauliche „Du“ entſchlüpft war. „Laß mich jetzt ſchnell hinauf, ehe die Guſte mit dem Bier wiederkommt. Und ich danke dir! Nicht wahr, — o nicht wahr, du verrätſt es nicht? Von dir glaub ich's, eine andre würd ich nicht einmal erſt drum bitten. „Warum dann mich, Mutchen? „Ich weiß nicht. Du ſchauſt ſo aus. So, als müßteſt du's verſtehn. „Nun, Mutchen, verraten werd ich dich nicht. Aber unter einer Bedingung, hörſt du? nur wenn du mir alles ſagſt, — wenn du mir morgen ſagſt, was eigentlich zwiſchen euch iſt. Verſprichſt du mir das? „Ja, ja!“ murmelte Mutchen, küßte mich haſtig und ſchlüpfte aus dem dunkeln Zimmer. Ich ſtand und ſchüttelte den Kopf. „Ich bin wirklich eine ſchöne Autorität für ſolchen Mutchen⸗Fall!“ dachte ich ratlos, „was ſoll das nützen, wenn ſie mir auch alles erzählt? kann ich etwa entſchei⸗ den und eingreifen? Gewiß thut ſie unrecht mit dieſen 165 Heimlichkeiten. Gewiß, — vielleicht. Vielleicht hat ſie auch ganz recht.“ Ich tappte mich in die daneben gelegene Studier⸗ ſtube, wo die Zündholzſchachtel ſtets auf dem Rauch⸗ tiſchchen lag, und machte Licht. Jetzt, nach dieſem Zwiſchenfall, mochte ich nicht, wenigſtens nicht gleich, zu Gabriele hinaufgehn, — am liebſten hätt ich es ganz gelaſſen. Auf dem Kaminſims, zu beiden Seiten der kleinen Standuhr, ſtanden zwei Bronzeleuchter mit dicken Wachs⸗ kerzen, die durch die Länge der Zeit förmlich von Staub vergraut waren. Ich zündete eine davon an und ſah in Gedanken verſunken in die gelbe ruhige Flamme. Welch ein keckes, leichtblütiges Ding dieſes Mutchen mit ihren achtzehn Jahren ſein mußte! Ich ſelbſt war anders geweſen zu dieſer Zeit, trotzdem ſie eben verſichert hatte, ich ſchaute grade ſo aus, „als verſtände ich das“. Und wer weiß! vielleicht hatte es auch nur der Zu⸗ fall ſo gefügt. Der Zufall, der mich in eine rechte Schwärmerei voll Traumromantik führte, weil er mich von raſcher Erfüllung der Liebeswünſche fernhielt. Mutchen aber war nicht in lebensfremden Träumen groß geworden, ſie war ein rechtes Kind ihrer Zeit, das das Leben allzu früh ſo geſehen hatte, wie es iſt, und ſich nun mit heitern, liſtigen Augen einen Ausweg erſpähte aus den ſie beengenden ſtrengen Mädchenſitten. Heute liebte ſie Doktor Gerold, wie ſie behauptete; aber viel⸗ leicht hatte ſie ſich ſchon in der Tanzklaſſe heimlich mit halbwüchſigen Gymnaſiaſten angeſtoßen und ſich auf die 166 künftigen Liebesabenteuer gefreut wie auf ihr aller⸗ ſchönſtes Jugendvergnügen. Man konnte das bedauern. Man konnte in ſolchem Fall ſie ſelbſt bedauern, die ein koſtbares Kapital un⸗ achtſam in kleiner Münze verſtreute. Aber warum be⸗ dauerte man dann nicht wenigſtens auch den raſenden Gefühlsverbrauch, die erſchlaffende Gefühlsausſchweifung in den jugendlich romantiſchen Marlittiaden von uns andern? Verliefen die etwa harmloſer als ein Leichtſinn wie der Mutchens, nur weil man durch ſie am Leibe keinen Schaden nimmt, und weil ihre feinern und intimern Korruptionen des ſeeliſchen Lebens nach außen unmerk⸗ barer bleiben? In Wahrheit iſt es vielleicht minder ge⸗ fahrvoll, ſich bei oberflächlichen Genüſſen zu zerſtreuen, als hinabzuſinken in allerlei ſchwüle, dunkle Tiefen alter Gefühlselemente, gegen deren Ueberreizung die geſunden warmen Reize des Lebens nicht aufkommen —. Ich hatte mich auf das Fußende der Ottomane ge⸗ ſetzt und horchte unentſchloſſen nach oben, von wo das Geſumme durcheinanderredender Stimmen zu mir drang, und wo jetzt gar ein luſtiger Walzer auf dem Klavier geſpielt wurde. Da trat jemand von draußen in den Hausflur, man hörte, wie er ſich den lockern Schnee von den Stiefeln ſtampfte, ein Männerſchritt näherte ſich, — dann wurde die Thür zur Studierſtube geöffnet, und Benno ſtand auf der Schwelle. Ich wandte den Kopf nach ihm und ſagte entſchul⸗ digend: „Ich meinte, du kämſt erſt ſpät heim. Verzeih, daß 167 ich hier ſitze. Mama glaubt mich oben in der Geſell⸗ ſchaft. Ich ſoll auch hin. Zauderte aber hier, und blieb. Es war ſo ſchön ſtill hier.“ Er antwortete nicht. Im Thürrahmen ſtand er ſtill und ſchaute herüber zu mir. Seine Augen hingen an dem elfenbeinfarbenen Wollkleide, das ich angezogen hatte, und langſam ſtieg ſein Blick daran herauf bis zu meinem Geſicht. Das ſeine erſchien mir blaß und ſeltſam. Von ſeinen Lippen kam ein Laut, — kein Wort, nur ein ſchwacher, kurzer Laut, — und eh ich es noch hindern, eh ich noch aufſtehen konnte, lag er vor mir auf dem Teppich und umfaßte mich mit ausgeſtreckten Armen und geſchloſſenen Augen, und bedeckte meine Hände, meinen Hals, meinen Schoß mit Küſſen. Er küßte mich, ohne mich loszulaſſen, ohne in ſei⸗ nem Ungeſtüm nachzulaſſen, ohne mir Atem zu laſſen. Er küßte mit einer Gewaltſamkeit und Benommenheit, womit er mich faſt brutaliſierte, während er mich lieb⸗ koſte. Er küßte ſo, wie jemand trinkt, der, an der Stillung ſeines Durſtes verzweifelnd, ſchon verſchmachtend am Boden gelegen hat. Er küßte mit der Sehnſucht, Inbrunſt und Dankbarkeit jemandes, der ſich mit unaus⸗ ſprechlicher Wonne vom Tode freiküßt. Ich regte mich nicht und wehrte ihm nicht. Ich gab leiſe ſeinen Bewegungen nach, ohne ſie zu erwidern. Ich fühlte mit ſtaunendem Mitleid dieſen Ausbruch einer lange, lange und mit entſagender Kraft zurückgedämmten Leidenſchaft, die ſich in dieſem Augenblick blindlings ſättigte. Und während ich ſeinen unſinnigen Küſſen nach⸗ 168 gab, regte ſich in mir etwas Wunderliches, ganz Zartes und beinahe Mütterliches, — die Hingebung einer Mutter, die einem weinenden Kinde lächelnd ihre nahrungſchwellende Bruſt öffnet. So ruhte ich, feſt von ſeinen Armen umſchloſſen, die Augen weit offen zur Decke emporgerichtet, und dabei ging es mir ſtill und beinah ehrfürchtig durch den Sinn, — wie keuſch wohl das Leben dieſes Mannes hingegangen ſei —. Benno ließ mich endlich frei, mit einem ächzenden Laut, als ob er ſich eine Wunde zufügte. Zugleich ſprang er zitternd vom Boden auf und ſagte mit einem Aus⸗ druck leidenſchaftlicher Verzückung auf ſeinem Geſicht: „Ich danke dir! Du mein einziger, geliebteſter aller Menſchen, ich danke dir! Ich wäre erſtickt und zerbrochen, wenn du mich zurückgeſtoßen hätteſt!“ Es fiel ihm nicht ein, nicht einen einzigen Augen⸗ blick lang fiel es ihm ein, daß ich vielleicht ſeinen Rauſch nicht geteilt haben könnte. Um ins Mitempfinden des andern einzugehn, dazu gehört gewiß Liebe, aber bei einem gewiſſen Grad der Liebesleidenſchaft ſchlägt ſie zurück in ſo beſinnungsloſen Egoismus, daß ſich daraus keine Fühlfäden mehr in die äußere Welt erſtrecken, ſei es auch die Gefühlswelt des geliebten Menſchen, und daß ein ſtörender Mißton einfach dadurch unmöglich gemacht wird, daß man ihn eben nicht aufnimmt und nicht ver⸗ nimmt. Liebesleidenſchaft iſt wie die letzte und äußerſte Einſamkeit. So befangen Benno noch heute morgen geſchwankt und gezweifelt hatte, ſo ſiegesſicher fühlte er ſich jetzt. 169 Alle ängſtliche Ueberlegung, alle Mutloſigkeit war von ihm genommen. Ich richtete mich langſam auf, ohne die Augen von ihm zu wenden. Sonderbarerweiſe beſchäftigte mich dabei eine ganz gleichgültige Kleinigkeit. Benno hatte, während er auf den Knieen lag und mich küßte, ſeine Brille verloren. Sie lag auf dem Teppich neben der Ottomane, und die Gläſer, die ſonſt ſeinen Blick verdeckten, glänzten im Kerzenlicht. Und da ſchauten mir nun ſeine Augen brillenlos entgegen, ſo wie ſie in Wirklichkeit waren, — blau und treuherzig, mit dem etwas unſichern, etwas ſtarren Blick derer, die ſich immer ſcharfer Gläſer bedienen — —. Benno machte eine gewaltige Willensanſtrengung, um ſich zu faſſen und zu beruhigen, trat zurück und ſagte: „Verzeih mir. Ich wollte dir Zeit laſſen, — ich hätte es vielleicht ſollen, aber ich konnte nicht länger, Adine. Sieh, den ganzen Tag, den ganzen ſchrecklichen Tag trug ich eine ſinnloſe, würgende Angſt mit mir herum. Eine Angſt, weil du heute früh etwas geſagt hatteſt von „zu ſpät“, oder — oder „verſcherzt“ haſt du geſagt, — etwas Aehnliches; — ſiehſt du, der Zweifel brachte mich von Sinnen. Und er griff haſtig, wie um mich nun auch wirklich ſich nicht entgehen zu laſſen, nach meinen Händen und ſetzte ſich neben mich, dicht zu mir gebeugt. „Liebſte! — ſag' mir ein Wort,“ bat er mit einem glücklichen Lächeln, — und mein Blick mied ſcheu den ſeinen. Dieſe leuchtenden treuherzigen blauen Augen, dieſes 170 ganze von Glückszuverſicht verklärte Geſicht klagte mich laut an. Ich ſelbſt klagte mich an, und erſchrak über das Geſchehene. Und doch hätt ich nicht anders zu handeln vermocht, auch wenn es gegolten hätte, noch einmal zu handeln in den tollen vorübergeſtürmten Minuten ſeines Rauſches. Beſſer, tadelloſer wär es zweifellos geweſen, ihm zu ſagen: „Küſſe mich nicht! täuſche dich nicht! ich liebe dich nicht!“ Aber wie konnte ich ihn im Durſten und Darben zurückſtoßen und ſorgſam abwägen, was das Richtigere, das Tadelloſere war —? „Vielleicht fehlt mir jeder Stolz! vielleicht jede Scham!“ dachte ich, „und jetzt? und hinterher? was ſoll ich thun? wie ihn aufklären und kränken? Ach, ich kann ihn nicht kränken! Kann ihn nicht durch Mitleid belei⸗ digen. Ich bin ein feiges — ein ganz feiges Geſchöpf!" Jetzt fiel Benno doch meine Stummheit und innre Ratloſigkeit auf. Etwas wie eine dunkle Unruhe ging durch ſeine Augen und machte ſie rührend, wie erſtaunte Kinderaugen. „Adine, — ich — — ſprich zu mir!“ rief er faſt laut, „ich halt's nicht aus! Warum ſprichſt du nicht?“ „Lieber Gott!“ dachte ich, „hilf mir doch! gieb mir ein, was ich thun ſoll. Niemals, niemals kann ich ihm die ganze Wahrheit ſagen! niemals, niemals ihn vor mir demütigen, — ihn, den ich einſt, ach einſt —! Lieber laß mich klein und verächtlich werden in ſeinen Augen, daß er ſelber mich nicht mehr will, nicht mehr liebt. Laß mich lieber ganz zunichte werden, — Staub zu ſeinen Fußen —." 171 „Dina —!“ ſagte er mit erſtickter Stimme, und man konnte ſehen, wie ihn ein Schreckgefühl durchrieſelte. Ich mochte ja vor ihm daſitzen wie ein Bild der Selbſt⸗ anklage und Verwirrung. Und da mochten ſeine Zweifel plötzlich heraufſteigen, — Zweifel, die er mit ſich herum⸗ getragen, — Zweifel, die ihm erſt vor einer Woche den Brief an mich diktiert hatten, — Zweifel an der Un⸗ berührtheit meines Mädchenlebens. „— Nein nein!“ entfuhr es ihm wild abwehrend, grade als widerſpräche er jemand, „— nein, es kann nicht ſein! Nicht das kann es ſein, — Adine, auf meinen Knieen will ich es dir zuſchwören, daß du mir das Höchſte, das Reinſte biſt, das, wovor ich kniee, und das ſchon der leiſeſte Schatten eines Mißtrauens entſtellen würde. Was liegt an der ganzen Welt! Wenn du nur biſt, die du warſt!“ Ich ſtieß einen Seufzer aus, mir war wie einem Erſtickenden, der Luft bekommt. Unwillkürlich falteten ſich meine Hände. Ja, dies war ein Ausweg, — der Schatten von Mißtrauen, der Zweifel, der Brief, — wenn Benno an all das glaubte, dann war es ein Aus⸗ weg. Allzu hergebracht ſtreng dachte er doch in dieſem einen Punkt, und allzuſehr hatte ſeine Phantaſie mich verklärt, um darüber mit ſeiner Liebe hinwegzukom⸗ ien —. Benno war aufgeſprungen, er ſtarrte mich an und atmete kurz. Er hatte nach der Lehne des zunächſtſtehenden Stuhles gegriffen und umfaßte ſie gewaltſam mit beiden Händen, als wollte er ſie zerbrechen. Der ganze Mann zitterte. 172 Mit heiſerer rauh klingender Stimme brachte er hervor: „Wenn du — — haſt du — — iſt ein an⸗ drer — — Und als ich noch immer ſchwieg, ging er langſam auf mich zu, und leiſe, ganz leiſe, als fürchtete er ſich vor ſeiner eignen Stimme, ſagte er mit herzerſchütterndem Ausdruck: „Dina! — Dina! ſage, daß es nicht wahr iſt! daß du keine — Es durchfuhr mich in dieſem Augenblicke doch, wie von einem elektriſchen Schlag. Ich hörte nichts mehr und ſah nichts mehr, ein ſeltſamer Schwindel ſchien mir alle Gegenſtände und alle Gedanken zu verrücken und zu ver⸗ wandeln. „Staub zu ſeinen Füßen, — jetzt bin ich ihm das wirklich!“ dachte ich nur noch dumpf, und irgend eine unklare Vorſtellung dämmerte dunkel in mir auf, daß ſich da ſoeben etwas Sonderbares begäbe: irgend eine wahnſinnige Selbſterniedrigung und Selbſtunterwerfung, — irgend ein ſich zu Boden treten laſſen wollen —. Und doch löſte ſich dabei etwas in meiner innerſten Seele, was ſich bis zum äußerſten geſtrafft und ge⸗ ſpannt hatte wie ein Seelenkrampf, — und es über⸗ flutete mich mit einer zitternden Glut, und es ſchrie auf und frohlockte — —. Und dennoch war dieſe ganze Situation kein wirk⸗ liches, kein wahrhaftes Erleben, ſondern ſie war von mir nur geſchaffen, von Benno nur geglaubt, — ſie war nur ein Schein, ein Bild, ein Traumerleben, — ein Nichts. — — — — — 173 Ich weiß nicht, ob ich auf der niedrigen Ottomane ſitzen blieb, oder ob ich in die Kniee ſank und mein Geſicht in die Hände drückte, — jedenfalls hab ich dies meinem innern Verhalten nach gethan und habe ſo verharrt. Damit ſchloß für mich dieſe Scene; damit ſchloß meine Beziehung zu Benno. Trotzdem würde ich ja nie, im ganzen Leben nicht, imſtande ſein, die Liebe eines Mannes zu ertragen, der mich wirklich auf die Kniee feſtbannen oder mich in meiner Individualität ähnlich vergewaltigen wollte, wie Benno es ehedem unwiſſentlich verſucht hatte. Aber was hilft mir dieſe Erkenntnis? Hilft ſie mir etwa dazu, nun auch voll und ſtark und wahrhaft hingebend zu lieben ohne dieſe furchtbaren Nervenreize? Nein! Wenn ich das ſeitdem je geglaubt habe, ſo erwies es ſich ſofort als ein bloßes Trugſpiel, ja eben als ein unwillkürliches Spiel ohne Dauer und Tiefe. Es iſt, wie wenn ich mich feſtgenagelt fühlte zwiſchen der Oberflächlichkeit Mut⸗ chens und der hyſteriſchen Romantik der kleinen Ver⸗ wachſenen, dazu beſtimmt, zwiſchen dieſen beiden Polen des Gefühls hin und her zu pendeln wie zwiſchen Leicht⸗ ſinn und Wahnſinn —. Denn ich kann wohl als Künſtlerin entzückt und erregt werden, und zugleich mit tiefſter Sympathie nach einem mir teuren Menſchenweſen langen, — aber alles was dem Weib in mir an den Nerv greift, alles was inſtinktiv tiefer greift, als Freundſchaft und Phantaſie zu⸗ ſammen vermögen, — alles das iſt dunkel jenem letzten Schauer verwandt, der vielleicht eine lange, unendliche Generationen lange Kette duldender und ihres Duldens 174 ſeliger Frauen in mir wunderlich und widerſpruchsvoll abſchließt — —. Auch meine Mutter gehörte ja in irgend einem Sinne zu dieſen Frauen. In der Nacht, die der Scene mit Benno folgte. wachte ſie plötzlich von dem unterdrückten Weinen auf, das aus meinem Bett hinüberdrang. Sie richtete ſich auf und horchte beſorgt. „Gute Nacht, mein liebes Kind?“ ſagte ſie leiſe, fragend. „Gute Nacht, liebe Mama,“ erwiderte ich. „Wann biſt du denn von Rendants gekommen? Haſt du noch gar nicht geſchlafen? „Ich war gar nicht oben, Mama. Ich war bei Benno im Arbeitszimmer. „Aber Kind, du weinteſt ja! — — War Benno zu Hauſe?“ „Er kam nach Hauſe.“ Meine Mutter verſtummte. Sie mochte erraten, daß es zwiſchen uns eine Ausſprache gegeben hatte, denn nach einer längern Pauſe hob ſie wieder an: „Adine, mein Kind, du verlangſt zu viel vom Leben und von den Menſchen. Du bringſt dich noch um dein Glück. Alles in der Welt koſtet Opfer, und am meiſten das Glück. Mag ſein, daß Benno manches anders will als du. Den heutigen Frauen ſcheint es ſchwer, dem Mann dienſtbar zu ſein, aber glaube mir, es iſt noch das Beſte, was wir haben, und ich bin es deinem lieben Vater auch immer geweſen. Auf die Länge lieben wir keinen Mann ſo recht, wie den, der uns befiehlt — 175 „Ach Mama, das glaub ich gern. „Nun, — aber —?“ meiner Mutter Stimme klang ängſtlich geſpannt. Mama. „Aber Benno iſt ganz andrer Meinung darüber, verblüfft. Sie hatte mir ja ſo gut zureden wollen, und Meine Mutter verſtummte wieder, diesmal völlig hatte mir nun, ohne es zu wiſſen, abgeredet. Lange er⸗ trug ſie das nicht, mein liebes Mütterchen. Und im Drange ihres Herzens, zu helfen und das Glück zu bauen, wie ſie es meinte, verleugnete ſie heldenmütig alle ihre heiligſten Ueberzeugungen für mich und ſagte etwas un⸗ ſicher: eine Ehe, wo der Mann herrſcht. Du kannſt dir doch „Ach Kind, Schattenſeiten hat am Ende ja auch denken, daß das nicht immer grade leicht für die Frau iſt. Wenn ich ſo zurückdenke, iſt es auch nicht immer angenehm geweſen. Ich mußte in all meiner Betrübnis lächeln, und ihre fromme Lüge rührte mich. Und plötzlich überfiel mich die Angſt, die Mutter könnte jemals, durch einen unſeligen Zufall, aus Bennos Weſen erraten, was ich dieſen glauben ließ. Darauf durfte ich es nicht ankommen laſſen, dieſer Möglichkeit mußte ich vorbeugen. Und ich glitt aus dem Bett und ſchlich mich zu ihr hin. Ich taſtete nach dem lieben Kopf im Nachthäubchen. „Mama!“ flüſterte ich, „gieb mir noch einen Kuß.“ „Ja, mein Herzenskind. Weine nur nicht mehr. Ich kann's nicht ertragen. „Nein, Mama. Aber höre, was ich dir ſagen will. 176 Sollte Benno einmal — du haſt mir ja erzählt, weißt du. geſtern morgen wie wir aufſtanden, daß Benno ſich Gedanken macht über mein Leben draußen. Nun, ſollte dir einmal vorkommen, als ob er das wirklich thue, ſo achte nicht drauf. Laß ihn dabei, ſtreite nicht mit ihm, — aber du, laß dich nicht davon anfechten. Die Mutter hatte ſich haſtig aufgerichtet. Sie griff ängſtlich nach meinen Händen und zog ſie an ſich, wie um mich zu ſchützen. „— Benno —? — — was iſt geſchehen? Sage mir, was geſchehen iſt! Hat Benno dir unrecht gethan?! Weinteſt du deshalb? Das darf er nicht! Sag es mir, mein Kind. Wie darf er das thun! Kein Menſch ſoll dir ein Haar krümmen, hörſt du? Und ich — ich lag hier ſo getroſt und ruhig, und als ich ſchlafen ging, da dachte ich an euch beide, und ich dankte in meinem Herzen Benno, und betete zu Gott für ſein Glück, für ihn und für dich. Und er — er ging hin und that dir unrecht!“ Ich legte leiſe meine Hand auf die Lippen der Mutter und barg das Geſicht in dem Kiſſen neben ihrem Kopf. Mir wurde plötzlich ſo klar, — ſo ganz klar, daß was ich Benno nur glauben ließ, ja doch eine Wahrheit war, wenn nicht heute, ſo doch morgen, und daß, gleich⸗ viel was ich als Künſtlerin erreichen würde, aus meinem Liebesleben, aus meinem Leben als Weib, der Ernſt ver⸗ loren gegangen war. Und mich überkam heimlich und heiß eine kindiſche Sehnſucht, mich zur Mutter zurückzuretten und zurück in die erſte Jugend, die nicht wiederkam. Lou Andreas⸗Salomé, Fenitſchka. 12 177 „Mama!“ flüſterte ich, „Benno iſt gut, du miß⸗ verſtehſt das: ihn mußt du lieb — ſehr lieb mußt du ihn haben. Bete du nur getroſt weiter für ſein Glück, — und hilf ihm zu einem Glück. Und für mich bete, ach bete, Mama, — daß er unrecht behalte —! 178 K KM